Erstes Buch Erstes Kapitel Eine Blume , die sich erschließt , macht keinen Lärm dabei ; auch das , was man von der Aloe in dieser Beziehung behauptet , halte ich für eine Fabel . Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit , das wahre Glück ; und das echte Heldentum . Unbemerkt kommt alles , was Dauer haben wird in dieser wechselnden lärmvollen Welt voll falschen Heldentums , falschen Glückes und unechter Schönheit ; und es ist kein eitles , sich überhebendes Wort , was ich hier zu Anfang dieser Blätter hinsetze ; denn es sind die Lebensgeschichten anderer Leute , die ich beschreiben will , nicht meine eigenen . Das Heldentum und die Schönheit der Rolle , die ich dabei abspiele , lassen sich wohl halten in der hohlen Hand . Aber eines ist auch wahr und darf gesagt werden Glück , viel Glück habe ich wohl nicht gehabt , aber doch dann und wann mein Behagen , meine Belustigung und meine Ergötzlichkeiten ; und das alles ist gleichfalls ganz natürlich und ziemlich unbemerkt gekommen und gegangen – so daß es heute in den gegenwärtigen stillen , nachdenklichen , überlegenden Stunden nichts Erstaunenswürdigeres für mich gibt als mein unleugbar vorhandenes Wohlgefallen nicht nur an der Welt , sondern auch immer noch an mir . Mein erstes Aufblicken in dieser Welt fällt in die Zeit der Gründung des Deutschen Zollvereins , also in den Anfang der vierziger Jahre dieses Säkulums . Wer eine Ahnung davon hatte , daß aus dieser anfangs etwas unbequemen und vielbestrittenen Institution einmal das einige Deutsche Reich aufwachsen könne , behielt dieselbe ruhig für sich , und eine kleine Ausnahme machte da vielleicht nur ein kleiner Mann im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Paris , M. Louis-Adolphe Thiers genannt . Das deutsche Volk ließ sich murrend , wenn auch nach seiner Art gutwillig die ersten Lebensbedürfnisse und vor allem das Salz durch den segensreichen politischen Schachzug verteuern . Da war nun so ein Stätlein ( auf die Landkarte bitte ich dabei nicht zu sehen ) , das diesem » preußischen Verein « beigetreten war , aber seine Planetenstelle nicht verändern konnte , sondern liegenbleiben mußte , wo es lag , nämlich ganz und gar umgehen von einem anderen Staat , der nicht » beigetreten « war , und das junge Reichsvolk von heute hat gottlob keine Idee davon , was das seinerzeit bedeutete , obgleich es eigentlich noch gar so lange nicht her ist . Zog der eine deutsche Bruder seinen Grenzkordon , so zog ihn der andere ebenfalls . Daß wir im ganzen das Deutsche Volk und der erlauchte Deutsche Bund dabei blieben , konnte den Zeitungsleser nur mäßig erquicken und ihn höchstens ganz kosmopolitisch in seiner Selbstachtung über dem Wasser erhalten . Die Hauptsache für mich , auch heute noch , ist , daß das , was damals von zivilversorgungsberechtigten Militärpersonen vorhanden war , fest darauf rechnen durfte , » unter die Steuer gesteckt zu werden « , und daß mein braver , seliger Vater mit dem Titel Herr Kontrolleur natürlich gleichfalls hineinfiel und meine Mutter ebenso selbstverständlich mit ihm . Meine erste deutliche Lebenserinnerung aber ist , daß ich von einem Wagen gehoben und in ein Haus getragen wurde , das mir aus einem einzigen großmächtigen , kindlich-ungeheuerlichen schwarzen Scheunenflur , einer Rauchwolke unter der Decke und zwei Reihen Kuhkrippen nebst den dazugehörigen heraäugigen , hauptschüttelnden , kettenrasselnden gekrönten Herrschaften zu bestehen schien . Dem war jedoch nicht ganz so . Es fanden sich in dem unteren Raume dieses Hauses noch zwei oder drei Gemächer , die den zu dem Feuerherde und den Haustieren gehörigen Menschen zu allerlei Gebrauche dienten ; und eine leiterartige , steile Stiege führte sogar in ein oberes Stockwerk , wenigstens in der Front des Gebäudes , empor – in unsere Wohnung , die einzige , die meinen Eltern bei ihrer Versetzung in dieses Gebirgsstädtchen offengestanden hatte . Dicht an unsere Wohnung stieß der Heuboden , und wir hatten deshalb mit Feuer und Licht sehr vorsichtig umzugehen , was wir denn auch taten , und vorzüglich ich , dem alles unnötige Spiel damit mehrfach in schlagender Weise verleidet wurde . Mein Vater , der reitende Steuerkontrolleur Hermann Langreuter , trug einen Säbel und eine Uniform , die mir heute in der Erinnerung den Eindruck von Grünblau und Blau und vielen gelben Metallknöpfen mit dem Landeswappen macht . Was den Anzug meiner Mutter betrifft , so halte ich es hell in dem Gedächtnis fest , daß sie stets in hellen Kleidern ging – bis zu dem Ereignis , das sie für immer in Schwarz und Grau warf . Die Salzschmuggler haben mir nämlich meinen Vater erschossen . Um einen Sack voll Salz mußte er damals sein Leben im Walde auf der lächerlichen Grenze lassen . Ich aber habe wahrlich später keine Verlustliste , die um des deutschen Volkes Einheit ausgegeben wurde , gelesen , ohne an den alten Griesgram auf seinem Felde der Ehre wehmütig und kopfschüttelnd zu denken . Der Donner der tausend Kanonen in den großen Siegesschlachten der Gegenwart hat die Schüsse , die seinerzeit hinüber und herüber gewechselt wurden , nicht übertönen können . Gottlob ist es heute nur höchstens ein Drittel der Nation , das sich jenes brüderliche Nachbargeplänkel zurückwünscht , was in Anbetracht des Nationalcharakters merkwürdig wenig ist , zumal wenn man noch die sehr verschiedenartigen Gründe , aus denen jener Wunsch aufwächst , in Betracht und in Rechnung zieht . Auch aus diesem letzten politisch-historischen Exkurs wird meinem Leser einleuchtend hervorgehen , daß der schöne Sommermorgen , an dem uns die schlimme Nachricht über den Vater gebracht wurde , ziemlich weit zurückliegt . So ist es ; es ist viel mehr als ein Menschenalter seit dem Tage hingegangen , und ich kann dreist die objektivsten Bemerkungen an ihn anknüpfen . Dessenungeachtet liegt jener Tag und alle seine Stimmungen heute schier klarer vor meiner Seele als der gestrige , an dem es mir zuerst einfiel , mir selbst einmal schriftlich von mir selber und dem , was dazu gehört , Rechenschaft zu geben . Daß der Sommermorgen schön war , sage ich , weil ich heute noch sein Licht , seine Wärme , seinen Landstraßenstaub und seinen Waldduft in mir und um mich spüre . Wir aber , meine Mutter und ich , sind um Sonnenaufgang mit der schrecklichen Nachricht geweckt worden , kurz vor dem längsten Tage . Ich saß aufrecht in meinem kleinen Bette , und meine Mutter hielt mich und hielt sich an mir . Da erscholl das ewige , jedenfalls Jahrhunderte alte Leibstücklein des Kuhhirten in der Gasse des Ackerstädtchens . Die Sonne schien mir auf die Bettdecke , unten im Hause brüllten die Kühe . Meine Mutter war in einem Weinkrampf , und die Hausgenossenschaft und ein paar Nachbarinnen und ein alter eisgrauer Kamerad und Steuerkollege meines Vaters waren auch in der Kammer , und die Stube nebenan war voll von Menschen . Unter den Leuten in der Stube aber befand sich ein Mann in einer fremden Uniform , wie es mir schien . Das war aber die Livree derer von Everstein , die ich nachher sehr genau kennengelernt habe . Der Herr Graf hatte den Diener mit dem Eberkopfe auf den Rockknöpfen an meine Mutter geschickt und seinen Wagen dazu . Mein toter Vater lag auf dem Hause Werden , dem Wohnsitze des Herrn Grafen , und ich hörte , wie der alte Kamerad des Vaters zu meiner Mutter sagte : » Frau Steuerkontrolleurin , liebe Frau , Sie müssen es ja leider Gottes , also fassen Sie sich ! Sehen Sie doch mal an , gefaßt mußten Sie ja immer im Grunde auf so was sein . Wie wäre es denn nun gewesen , wenn uns der liebe Herrgott während unserer Militärdienstzeit einen guten , braven Krieg beschert hätte ? Eben vielleicht nicht anders als jetzt ; nur wäre es vielleicht dann noch früher eingetroffen , und das wäre denn noch viel betrübter für Sie gewesen . Nicht wahr ? Sie sind doch nun gottlob eine Soldatenfrau , und Ihren Jungen haben Sie ja da auch noch , und er nimmt sich gewiß in dieser ernsthaften Stunde ein Beispiel an seinem lieben Vater und macht es ihm in allen Dingen nach . Nicht wahr , Fritz , das versprichst du uns ? « » Ja , ja ! « heulte ich , ohne im geringsten zu wissen , was alles ich hier versprach ; aber ich fühlte , wie meine Mutter mich fester faßte und heftiger mich an sich drückte , als werde sie mich nie mehr aus ihren lieben schützenden Armen loslassen : Fritz , du bleibst bei mir ! Du gehst nie von mir ! « » Ja , Mutter , ich fahre mit , ich darf mit ausfahren zum Vater ! Nicht wahr , und ich darf auf des Vaters Braunem nach Hause reiten ? « » Der Wagen hält schon seit einer Stunde vor der Tür « , sagte der alte Kamerad . » Und es ist doch auch recht freundlich von der Herrschaft auf Schloß Werden , daß sie ihre eigene Equipage schickt . Von Amts wegen sind wir schon längst zu Pferde hinaus ; da wird nicht das geringste verabsäumt werden , was Ihnen zum Trost gereichen kann , Frau . Und jetzt kommen Sie ; – die Nachbarinnen ziehen Ihnen den Jungen an , und dann fahren wir langsam nach . Es geht ja alles im menschlichen Leben hin und eins in das andere . Erinnern Sie sich nur recht genau an alles , was Sie mir so gut und brav zum Troste sagten , als ich so bei meiner seligen Frau saß und sie dalag . Sie wissen ja also alles Beste , was Ihnen einer jetzt sagen kann , schon von selber . Fritze , du kannst mitfahren . « Zweites Kapitel Was für eine Magie liegt selbst für die Erwachsenen in dem sich drehenden Rad ! Fahren ! ... Ausfahren ! Fahren durch einen frischen , sonnigen Sommermorgen in die weite , weite Welt hinein ! Gibt es ein glückseligeres Fieber als das , was bei diesem Worte und dieser Vorstellung das Kind ergreift und ihm in erwartungsvoller Wonne fast den Atem benimmt ? Ich war an jenem schrecklichen Morgen ungefähr fünf oder sechs Jahre alt ; aber wie deutlich steht er mir noch vor der Seele ! Mit allen seinen Einzelheiten ! Da war das hastige Ankleiden , bei dem ein Dutzend aufgeregte Hände helfen wollten . Da war das Geflüster rundum und dazwischen das stille Weinen und laute Schluchzen der Mutter , von Zeit zu Zeit ein neues Gesicht , das sich in die Tür schob und in einem Winkel sich » des genaueren « berichten ließ . Dazwischen immer wieder von neuem die braven , guten Worte des alten Kameraden und Kollegen und dann – das Peitschenknallen des Kutschers in der Gasse , das allmählich immer mehr von steigender Ungeduld zeugte . Und dann waren wir auf der Treppe und dann in der Gasse , und die Gasse rund um die gräfliche Kutsche war auch voll Menschen , die sich verhältnismäßig still verhielten , aber desto mehr und dichter sich im Kreis herandrängten und , wie mir schien , sämtlich nur allzugern mitgefahren wären in die Weite hinaus und nach Schloß Werden . Und die Mutter bekümmerte sich nun gar nicht mehr um mich . Ich hielt mich an ihrem Rocke , sie aber ließ sich starr , stumm und willenlos führen , und ich fürchtete mich vor ihren Augen , mit denen sie gar nichts mehr sah , selbst mich nicht . Ich aber sah auch nur beiläufig auf sie ; denn der hellblaue Kutscher sah auf mich , und er hatte zwei Braune vor seinem Wagen . Das holperige Pflaster der einzigen Hauptstraße des Städtchens – aus dem Tor , an den Gärten hin auf die Landstraße ; – ich neben der Mutter im Rücksitz des Wagens , und des Vaters Kamerad und Kollege uns gegenüber ! Da ist die Mühle , wo sich das Wasser aus ziemlicher Höhe auf das Rad stürzt und mir mit seinem ewigen Brausen und weißen Schäumen und eiligen Weitertosen im Bach immer einen so wonnigen Schauder einjagt . Da ist die Gänseweide , unser Hauptspielplatz ; Schulkinder mit ihren Schiefertafeln und Abc-Büchern stehen am Rande des Grabens und starren uns an und sind im nächsten Augenblick zurückgeblieben , während ich weiterfahre . Auf der weißen Landstraße liegt die Sonne schon ziemlich heiß ; – was wohl der Steinklopfer denkt , der uns auch nach sieht ? Was er wohl denkt über unseren Kutscher in dem hellblauen Rock und mit dem Silberstreifen um den Hut ? Und über den anderen Mann vor uns auf dem Bocke , auch in Hellblau und Silber ?! Ich sehe um die Schultern der beiden Leute von Schloß Werden auf die im Traben sich hebenden und senkenden Pferdeköpfe und die schwarzen Mähnen . Wer doch das alles immer so vor sich haben könnte und vorbeifahren immerzu an den Menschen und Bäumen , Zäunen und Hecken immer , auch wenn die Sonne noch heißer scheinen sollte ! ... Ich stehe auf , um in die zurückbleibenden weißen Staubwolken hineinzusehen . Meine Mutter zieht mich wieder auf den Sitz , und wir fahren in das Freie , Klare , Frische hinein . » Bald sind wir glücklicherweise im Schatten « , sagte der Kamerad . Seine Säbelscheide wird heiß ; ich habe den Finger darauf gelegt , weil die Sonne auch auf ihr blitzt und blinkert – zu verlockend , um nicht auch da von ihrem Glanze verlockt zu werden . Es ist acht Uhr am neuen Tage – auch das bemerkt der Kamerad , seine Uhr hervorziehend . » Nun sehen Sie einmal , liebe Frau , wie es doch immer viel später wird , als man denkt , wenn man es auch noch so eilig haben will . Da sind wir aber gottlob wenigstens endlich im Walde und im Schatten . « Ja , wir fuhren jetzt im Walde , und es gab nichts Schöneres als ihn an diesem Morgen . Die Buchen streckten ihre Zweige zu einem grünen Dache über uns hin . Wasserläufe rieselten hervor und begleiteten uns stellenweise . Dann und wann sah man hinein in ein Tal , und dann wieder trat der rote Sandstein bis dicht an den Weg hinan , und die Grillen schrillten in dem Spalte des heißen Gesteines , und nie in ihrem glücklichen Dasein und Weiterweilen gestörte Blumen – gelb und blau – sahen uns vorüberfahren . Doch uns drohte nun in all der Pracht , Lieblichkeit und Schönheit ein Schreckliches . Ein leises Klirren kam heran an einer Wendung der Chaussee und dazu Pferdehufschlag und eine andere Staubwolke . Zwei gefesselte Männer wurden inmitten dieser Staubwolke und zwischen den Pferden der begleitenden Landreiter geführt . Der Kamerad des toten Vaters zog seinen Säbel an sich und trat mit dem Fuß auf und sprach einen Fluch . Die Mutter aber richtete sich empor und bog sich vor und starrte auf die gebundenen zwei Männer aus ihren verweinten Augen : » Die ... ?! « » Da könnte man lernen , was es heißen muß , im Ernst einhauen ! « sagte leise der Kamerad , und er hatte die Hand auf den Wagenschlag gelegt und rüttelte daran . Die beiden Leute auf dem Bocke aber sahen auch zur Seite und dann auf meine Mutter und mich , und dann schlug der Kutscher plötzlich auf die Pferde , und vorüber ging das auch in Staubwolken , Sonnenlicht und Waldschatten . Im raschesten Trabe gingen die Gäule weiter , obgleich der Weg sich eben bergan zog . Es ist ein sehr angenehmes Waldgebirge , durch welches damals die Grenze gegen den Nachbarstaat , der das deutsche Salz in anderer Weise als wir besteuerte , sich zog . Eine Grenze ist dort auch heute noch vorhanden , aber jener Staat nicht mehr ; doch davon ist jetzt nicht die Rede , sondern von der Gegend – der Landschaft überhaupt . Forsten und Steinbrüche überwiegen ; das Ackerland läßt manches zu wünschen übrig ; doch es ist in den Händen der Bauern und Kleinbürger , und das ist immer viel wert . Nur einige große Landesdomänen bilden zusammenhängendere Komplexe , und zwei oder drei Rittergüter mit alten Geschlechtern darauf haben gleichfalls ihr größer Teil vom alten Erbe Adams festgehalten . Schloß Werden hatte in dieser Hinsicht den weitesten Besitz aufzuweisen , freilich aber auch , vom trefflichen Walde abgesehen , den steinigsten und unfruchtbarsten . Der Zweig der alten Familie , die es bewohnte , stammte von einem Bergschlosse , fünfzehn Meilen weiter nach Norden im Lande gelegen und durch viele andere bunte Grenzpfähle von dem Absenker getrennt , dazu auch nur als Ruine , zu der es schon , wenn wir nicht irren , im Jahre der Entdeckung Amerikas mit Aufwendung aller damaligen kriegerischen Ingenieurkünste gemacht wurde . In Wien sitzen Fürsten zu Everstein , in München Freiherren desselbigen Namens , und hier in diesem Waldgebirge , verschollen wie Amerika nach der Entdeckung durch die Chinesen oder die Norweger , oder wer es sonst zuerst aufgefunden haben soll , Herr Friedrich Graf Everstein mit einer einzigen Tochter , Komtesse Irene ; und sonderbare Geschichten und Gerüchte gingen über den Herrn und seinen Haushalt im Lande herum . Je genauer man aber darauf hinhörte , desto weniger wirklich Genaues hat man darüber erfahren , außer daß » von Anfang an wenig dort zu suchen und noch weniger zu finden « war . Ein Verbrechen ist das gerade nicht , doch angenehm und behaglich ist 's auch nicht . So sagten wenigstens die Leute später . Noch eine Stunde hatten wir durch den Buchenwald zu fahren , dann kamen wir an einen sumpfigen Graben voll Riedgras und Binsen . Ein altersgrauer Grenzstein stand , halb versunken , dicht an der Chaussee . Um ihn herum war das Gras niedergetreten wie von vielen Füßen . Unser grauschnauzbärtiger Begleiter schob die Schultern plötzlich hin und her und sah grimmig verlegen auf den Platz hin und legte dann meiner Mutter die Hand auf das Knie und sah dann meine Mutter an , indem er sich mit den Knöcheln der anderen Hand die Stirn rieb . » Ich weiß nicht , ob es recht von mir ist , Frau , aber ich – der Junge – mag sich wohl einmal daran erinnern wollen . Da ! « » Da hat man ihn gefunden ! ... Gemordet ! ... Mir und unserem armen Kinde in seinem Blute ! « schrie meine Mutter , und – » Ja ! « sagte der alte Kamerad . » Zum Henker , Kutscher , fahr zu ! « Das kam wohl schroff und hart heraus , aber doch aus dem weichsten , teilnehmendsten Gemüte . Und es war auch in der Tat wohl sehr gut , daß der Kutscher wirklich rasch zufuhr . Es war wohl besser , die Frau sanft um den Leib zu fassen und sie zurückzuhalten , als sie blind nach dem Griff des Wagenschlages faßte , um sich hinaus und auf die schreckliche Stätte zu stürzen . Der Tau hing im Schatten noch überall an Gras , Blumen und Blättern ; aber da – unterm Erlenbusch – da , wo der Boden am meisten zerstampft war , mochte wohl noch ein anderer Tau an den Gräsern und dem niedergetretenen Gezweige hängen . Beiläufig , es erregt ganz eigentümliche Gefühle , wenn man sich heute nach so langen Jahren erinnert , damals , wenn auch nicht auf der schweren Fahrt , ein Wort aufgeschnappt zu haben , dahin lautend , daß » der Alte in der Tat merkwürdig viel Blut verloren habe « ! Fünf Minuten weiter von der furchtbaren Stelle entfernt zweigte sich ein Fahrweg von der Landstraße ab , quer über Wiesen . Da bog auch unser Wagen ein . Jenseits der Wiesen , über dichte Lindenwipfel und andere parkähnliche Baum- und Buschgruppen , erhoben sich die blauschwarzen Schieferdächer und die beiden altersgrauen Ecktürme von Schloß Werden . Ein Pfahl am Wege verbot hier das Fahren und Reiten . » Sonst fährt hier nur die Herrschaft « , erklärte der Kamerad und Steuerkollege ; und es war freilich für uns eine bittere Ausnahmswegegelegenheit ! Ich hörte das Wort ; aber nach dem Fahren hätte ich in diesem Augenblick wenig gefragt , wenn ich zu allem anderen freie Verfügung über die sonnige grüne Fläche gehabt hätte . Die große Wiese stand in der vollsten , buntesten Pracht ihrer sommerlichen Schönheit . Es schrillte tausendstimmig über ihr ; die Schmetterlinge , Käfer und Mücken flatterten und tanzten , es tanzte die heiße Luft über ihr . Wir aber , wir fuhren weiter diesmal – die Kinderjagd nach den Farben und den Tönen des Sommers sollte mir diesmal noch nicht erlaubt sein ; – wir fuhren an einem Teil der hohen Hecke des Parkes entlang und dann an einer noch höheren Mauer hin bis zu einem alten , aber immer noch festen und stattlichen Eingangstor , über dessen beiden Pfeilern zwei greifenartige Wappentiere auf Steinschilden in ihren Tatzen das Wappen mit dem Eberkopf der Morgensonne hinhielten . Der Wagen rasselte auf einen weiten , stillen Hof an ein langgedehntes graues Gebäude heran und dicht an eine breite Steintreppe , die hier zu einer großen offenen Tür führte , sich aber an der ganzen Fronte dieses Hauptflügels des Schlosses Werden hinzog . Der Diener sprang vom Bock und öffnete den Schlag , ein anderer älterer Mann in derselben Livree kam heran und nannte meine Mutter seltsamerweise » gnädige Frau « und fügte ganz leise hinzu : » Belieben auszusteigen . « Auf den stummen Jammerblick und die hastige Frage der armen Frau aber hob er nur die Achseln und sagte : » Da sind der Herr Graf schon selber ... Ach ja , es geht – den Umständen nach ! « Das letztere Wort bezog sich wohl auf meinen Vater und hieß soviel als : » Noch lebt er wohl , Frau reitende Steuerkontrolleurin , aber – wie lange ?! « Es ist ein nicht mehr ganz junger Mann gewesen , der uns aus der Pforte und an der Auffahrt entgegentrat und den Namen Graf Friedrich Everstein führte . Er hat manches Auffällige in seiner Erscheinung an sich getragen , mir aber ist nichts , aus jener Stunde wenigstens , davon bewußt . Nur sprach er so leise wie sonst niemand von allen anderen Menschen in meiner Umgebung . Drittes Kapitel Leise sagte er etwas zu meiner Mutter , und dann bot er ihr den Arm . Wir wurden durch die weite , kühle , mit Hirschkronen , alten Blumen- , Frucht- und Jagdstücken gezierte Halle geführt bis zu einer dunkeln Tür . Der ältere Diener öffnete diese Tür , und wir standen in dem Sterbezimmer meines Vaters . Mich hatten der plötzliche Übergang aus dem heißen Sonnentage in diese Kühle , die ganz veränderte Umgebung , die fremden Gesichter vollständig betäubt . Ich ging , den Rock meiner Mutter haltend , wie zu unserem Platz in der Kirche – es waren ganz die nämlichen Gefühle in Bangen , Frösteln , Unbehagen und – Behagen . Ich erinnere mich auch hier noch der Äußerlichkeiten : der braunen Täfelung dieses Gartensaales , des Grüns , das aus dem sonnigen Garten in die beiden hohen Bogenfenster hineinsah , der offenen Glastür , die zu den Gebüschen und Blumenbeeten führte , und des Pfaus , der wie neugierig in dieser Tür stand und seinen schönen Schweif gravitätisch langsam im Kreis über den feinen Kies zog . Wir haben nachher diesen Ort zu allen Jahreszeiten als Spielplatz gern gehabt , und es hat mich wenig gekümmert , daß man einst meinen sterbenden Vater dahin als in das nächst und bequemst gelegene Gemach bettete . An jenem Morgen waren viele Leute darin , und wahrscheinlich darunter auch ein Arzt . Meine Mutter warf sich jammernd über das Lager , und ich stand einen Augenblick wie allein unter den vielen Fremden . Es war der Herr Graf , der mich an der Hand nahm und mich gleichfalls zu dem Bette hinführte . Die Mutter lag da bewußtlos , und der Vater war tot . Das letztere Wort wurde im Kreise umhergeflüstert ; ich aber weiß nunmehr von jenem Tage nur noch , daß ich in ein anderes Zimmer geführt wurde und daselbst mit Irene , Komtesse Everstein , Milch trank und Weißbrot aß . Alles andere ist dämmerig , unbestimmt , dunkel – ist nichts . Es war mein Recht , durstig , hungrig und schläfrig zu sein von der Fahrt durch den heißen Sommermorgen ; nachher sehe ich mich wieder um in meiner Umgebung und – sie ist eine andere geworden , als sie war . Und hier ist die Stelle , ein weniges mehr von meiner Mutter zu reden , und wie sie in eine hohe Verwandtschaft gehörte und das Recht dazu von Gottes Gnaden besaß und aufweisen konnte . Den gottlob kaum erwähnenswerten Ansatz von Buckel , den mir das Schicksal zwischen die Schultern und , wie einige wissen wollen , in bedeutend höherem Grade auch auf die Seele gelegt hat , habe ich gewißlich nicht von ihr . Schlank , zart , scheu-mutig steht sie mir vor der Erinnerung , und ein Licht geht von ihr aus , das von keiner Dunkelheit und noch viel weniger von einem anderen Licht in der Welt überwältigt werden kann . Sie trägt ihre Freuden wie ihre bittersten , schwersten Schmerzen still und so , dem Schein nach , leicht . Ihr wurde alles zu einem Kranze , und woher sie ihre Bildung hatte , das bleibt ein Rätsel , und sie selber wußte vielleicht am allerwenigsten Rechenschaft darüber abzulegen . In der » Mädchenschule « einer kleinen Provinzialstadt hatte sie im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts Lesen , Schreiben , Rechnen und – Singen gelernt , das war alles ; aber wenn wo die ersten neun Worte , mit denen ich diesen meinen Lebensbericht eröffnet habe , zur Geltung kommen , so war das bei ihr der Fall . Sie ist dagewesen wie das große Kunstwerk von Gottes Gnaden ; sie ist vorübergegangen . Sie sind alle bei ihr wie bei ihresgleichen gewesen ; sie haben keine Ahnung davon gehabt , daß dem nicht so war ; ihr ist es nie in den Sinn gekommen , sie zu enttäuschen ; denn sie hatte ja eigentlich auch keine Ahnung davon . Ich bin fest überzeugt , sie hat einen argen Schrecken bekommen , als der Herr Graf sagte : » Meine verehrte Frau , Sie sind die Dame , die mir für die Erziehung meines armen Kindes in seiner jetzigen Lebensepoche gefehlt hat und die ich seit langem vergeblich gesucht habe . Bleiben Sie bei uns . Betrachten Sie sich als zu diesem Hause gehörig . Sie erziehen meine Tochter , und ich nehme die Erziehung Ihres Sohnes nach besten Kräften über mich . Wir haben einen recht gelehrten Pfarrer im Dorfe , der wird das Seinige dazugeben . Ist der Junge für das Gymnasium herangewachsen , so wird sich ja wohl auch das Weitere finden . Lassen Sie uns einander gegenseitig aushelfen , da uns das Schicksal in dieser Weise zusammengeführt hat . Sie wissen nicht , wie hülflos ich in hundert Beziehungen bin . « Nun war auch meine Mutter , wie sich das ja eigentlich von selber verstand , fast nach allen Richtungen und in allen Beziehungen hülflos . Außerdem aber , wie es sich baldigst herausstellte , für ihren und meinen Unterhalt nach dem Tode des Vaters auf eine Pension von sechzig Talern angewiesen , sonst aber auf ihrer Hände Arbeit . » Was soll ich Ihrem Kinde geben können ? « fragte sie in heftiger Aufregung ; aber der Herr Graf hat gelächelt , wenn auch sehr melancholisch . Er hat es sehr genau gewußt , was die arme Frau aus ihrem Reichtum zu geben hatte . Wir , das heißt meine Mutter und ich , siedelten im Laufe desselben Sommers nach Schloß Werden über . Der Herr Graf hatte sich aber nicht geirrt : wenn die Leute , die man in der Ferne aufsucht , sich stets in die Leute verwandeln , die man rundum in der nächsten Nachbarschaft wohnen hat , so ist das für seine Tochter und für ihn selber in Hinsicht auf die Witwe des reitenden Steuerkontrolleurs Langreuter nicht der Fall gewesen . Und ich – ich , wenn ich in die Sonne sehen will , so hebe ich nicht das Auge zu dem öden brennenden Stern auf , sondern denke mich in jene Tage und Jahre zurück , die da folgten . Viertes Kapitel Ich bin im Verlaufe der Tage in des Lebens Ernüchterungen wie andere tief genug hineingeraten , aber meine in Blau , Silber , Grün , Gold und Purpur schimmernden Märchenjahre habe ich auch gehabt . Hier beginnen sie und verwandeln mir auch den heutigen Tag in sein vollständiges Gegenteil . Daß ich ein poetisch Gemüt sei , das hat nachher wohl niemand von mir behauptet ( ich habe wenigstens alles dahin Einschlägige vorsichtig und fest für mich selber behalten ) , aber damals war doch manches Gedicht – echte Naturdichtung – in mir und um mich , und alles Heimweh – die Quelle aller Poesie – , das ich in leereren Tagen gefühlt habe , stammt aus dieser Zeit und geht dahin . Wir grübeln viel , wir gebildeten , klug , das heißt dumm gewordenen Menschen , über den Schein in dieser Welt , der sich den Anschein des Wesens gibt ; ach , wenn er nur schön war , dieser Schein , wer möchte ihn missen wollen aus seinen Tagen ? Wer möchte nicht dumm , das heißt klug gewesen sein , wenn auch nur in den Tagen , da er noch jung war ?!.. . Ich bin natürlich zuerst nur mit in den Kauf genommen worden auf Schloß Werden . Ich kam als ein Appendix meiner Mutter dahin ; und es war mir ganz recht so , und es war gut so ; es war alles ganz vortrefflich . Die Welt am siebenten Schöpfungstage konnte unserem Herrgott nicht um das mindeste besser gefallen ; das Behagen des einen wäre hier freilich ohne die Seligkeit des anderen gar nicht möglich gewesen ! » Gib mir deine Hand , Junge ; ich will dir alles zeigen , was ich habe « , sagte Komtesse Irene Everstein . » Du kommst aus der weiten Welt , und ich bin hier immer bei Papa gewesen . Mach dich aber nicht mausig ; Ewald wird dich sonst durchprügeln , wenn Eva nicht dabei ist . « Ich habe erst später , als wir » in das Griechische kamen « erfahren , daß der Name Irene eigentlich Friede oder die Friedliche bedeutet ; aber Namen und Sachen , Worte und Begriffe passen nicht zu jeder Zeit aufeinander . Es ginge so sonst ja wohl auch ein wenig zu glatt ab in dieser doch einmal auf das Rauhe gestellten Welt . » Weißt du , Junge « , sagte das Kind » ich bin die Prinzessin aus dem Bilderbuche , ich bin die Fee , ich zaubere . Wenn du nicht artig bist , so verwandle ich dich in einen schnurrenden buckeligen Kater . Wenn du aber Ewald was davon sagst , so prügele ich selber dich , denn ich will nicht , daß Ewald über mich lacht . Mein Vater lacht niemals über mich , oh , und ich will genau aufpassen , was deine Mutter tut , wenn sie aufgehört hat zu weinen . Aber deine Mutter ist gut , und so kannst du auch gut sein . Du kannst ja auch mit Eva gehen , wenn Ewald und ich dir nicht gefallen . « Der trübe Tag vermag nichts dagegen ; die Namen , die hier zum erstenmal auftauchen , liegen doch im ewigen Sonnenschein , und andere werden dazukommen ; wartet es nur ab , daß die Nebel sinken ; man sieht auch von der besten Aussichtsstelle nicht an jedwedem Tage , den Gott gibt , die Höhen über den Tälern leuchten vom Großglockner bis zum Monte Rosa . Es sind die beiden Kinder des Försters Sixtus im Dorfe Werden , von denen die Rede ist . Von dem Papst Sixtus dem Fünften stammte der alte Herr in Grün nicht ab ; aber der Zufall hatte ein altes Buch in seinen Besitz gebracht : » Leben des berühmten Papsts Sixti V. , beschrieben durch Gregorio Leti . Aus dem Italienischen übersetzt . Frankfurt , bei Thomas Fritschen , 1720 « ; und darauf hat oft seine brave schwere Hand , zur Faust geballt , gelegen , und heute klingt mir noch der Brummseufzer in den Ohren : » Das war ein Kerl , Fritze ! Alle Hagel , der ist ja gerade so mit seiner Satansbande umgesprungen wie der Doktor Luther hier bei uns mit uns , mit seiner , und wie ich mit euch umgehen werde , ihr Raubzeug und Teufelskinder , wenn ihr es mir zu bunt macht . Fritze , da sieht man 's wieder , daß der Herrgott mehr von einer Sorte im Sacke hat und nur hereinzugreifen braucht , um einen rauszulangen und hinzustellen , wo er zu brauchen ist . Aus dem Buch hat mir mein Junge vorlesen müssen und nachher mein Mädchen , und bei Gelegenheit kannst du auch an die Reihe kommen , aber die Hauptstellen lese ich doch lieber für mich allein , die passen für euch naseweises Geziefer jetzt noch nicht . So 'nen Papst laß ich mir gefallen , und es ist mir eine Ehre , daß er meinen Familiennamen sich angenommen hat . « Ich habe später über manchem anderen , in der Menschen Kunde abschmeckend gewordenen Tröster mit beiden Armen aufgestützt gelegen , aber nie wieder über einem so wie über diesem . Das langweilige Buch in dem edeln Deutsch von siebenzehnhundertzwanzig ist gottlob in meinen Besitz übergegangen und nimmt einen griffgerechten Ehrenplatz in meiner Bibliothek hier in Berlin ein . Ich brauche es nur wie ein richtiges Zauberbuch aufzuschlagen , um über seine vergilbten Blätter hinweg alles vor mir lebendig zu haben , was damals mein Leben nicht bloß bedeutete , sondern war . Treffe ich auf eine Daumenspur des Alten am Rande der Blattseite , so ist es noch besser und gibt die wärmere Farbe . Freilich eine wärmere Farbe ! Ich ergreife hier mit beiden Händen die Gelegenheit , zu versichern , daß hier nichts , gar nichts allzu reinlich , zierlich und frisch lackiert aus dem Putz und Schmuckkästchen der Romantik entnommen ist . Wir rochen um uns her alle Gerüche und sahen alle Dinge , wie sie die Menschen und die Natur im ewigen Hervorbringen vergänglich hinstellen . Alles war seit lange im Gebrauch gewesen und wurde weiter abgenutzt ; und wenn ich vorhin von den Livreen des Schlosses Werden gesprochen habe , so stelle der Leser sich dieselben ja nicht zu farbenfrisch und tressenglitzernd , sondern ganz im Gegenteil vor . Wir trugen sämtlich unsere Kleider so lange als möglich und schämten uns eines Flickens an der rechten Stelle wenig . Wir trugen den Frühjahrsregenschmutz , jegliche Gewitterspur und alles , was Herbst und Winter da geben , überallhin , wo eine Tür offen war . Wir hatten alle Wünsche , die nur durch mehr irdische Güter , als wir besaßen , befriedigt werden konnten , und der Herr Graf war da durchaus nicht ausgenommen , sondern auch im Gegenteil . Das Schloß war kein pomphaft Epos und die Försterei keine geleckte Idylle . Sie trugen inwendig und auswendig gleichfalls ihr Flickwerk und ihre Erdgerüche an sich und um sich , und was die letzteren anbetraf , so hatten der Wald mit seinen Buchen- und Tannendüften und die Wiesen mit ihrem Heugeruch recht häufig das Beste dazuzutun , um die Atmosphäre für fremde heikle Nasen zu verbessern . Da ist so eine Daumenspur – hier auf Seite 595 : » Wer unter dem itzigen Papste dem galgen entgehen will , der muß kein bedencken tragen , sich in ein kloster einzusperren , solte es auch das allerunglückseligste seyn . « Und ein süßer Duft weht über die Stelle , aber ein ganz eigentümlicher . Es war ein braver Tabak , den der Alte bei seiner absonderlichen Lektüre verqualmte , und ich erkenne die Sorte heute noch mit innigstem Behagen wieder auf Spaziergängen und im Eisenbahnwagen dritter Klasse . Rauchte ich selber , so würde ich nur diese rauchen ! Und nun , um es kurz zu machen und es mit dem treffendsten Idiotismus zu nennen : wir waren allesamt und auf Meilen in die Runde ein schmuddeliges Volk , ausgenommen vielleicht der Herr Graf , meine Mutter und Evchen Sixtus ; Komtesse Irene Everstein dagegen nicht ausgenommen . – Wir waren ein ganz unromantisches Völklein ; aber zu seinem Recht soll das hübsche Wort » romantisch « doch auch hier gelangen , und wir hängen es wie gewöhnlich an ein Haar . Ach , es gibt sich leider nichts leichter , als in irgendein Handwerk hineinzupfuschen ! Irene war eine Goldblondine , die die Leute ansahen und für sanft hielten ; Eva war dunkel und sanft , und Ewald hielt allen seinen Schulmeistern einen braunen Lockenkopf zum Dreingreifen und Zerzausen hin . Von dem , was der Herrgott auf meinem Schädel wachsen ließ , rede ich lieber nicht ; aber stimmungsvoll war's ! Es stimmte merkwürdig gut zu allem übrigen , und die gütige Vorsehung erhalte es mir so lange als möglich , wenn nicht der Schönheit , so doch der Nützlichkeit wegen . Es kam aber keinem von uns darauf an , wie er eigentlich aussah . Auch was die Mädchen angeht , so macht es mir heute den Eindruck in der Erinnerung , als ob sie sich wenig darum gekümmert hätten ; wenn ich dieses auch nicht als feste Behauptung hinstellen darf . Die Sonne lag uns auf den Köpfen bei jeglicher Witterung , und so trieben wir uns um in den Wäldern , auf den Wiesen und Feldern , in der Schulstube und in den Gängen und Sälen von Schloß Werden . Was jenseits der Berge war , davon wußten wir gar nichts ; und wie das so häufig geht , haben wir alle später viel davon erfahren – mehr jedenfalls , als zu unserem Glücke nötig war . Andere freilich haben das vielleicht dann und wann unser Glück genannt ; da ist eben mit der » anderen « Anschauungen und Einbildungen nicht zu rechnen . Das rechte Licht ! War es das rechte Licht , das damals über unsere Köpfe und Tage fiel ? Darüber ließe sich viel sagen ; und am Ende ist es gar nicht der einzelne Mensch mit seinen zwei Augen , der etwas darüber zu sagen hat . Nur die auserwähltesten Geister sind es , die hier und da in höchst seltenen Fällen ihre Meinung ausdrücken dürfen . Sie können dann wie der Maler der Heiligen Nacht den Schein vom neugeborenen Erlöser in der Krippe ausgehen lassen oder wie auf der Rubensschen Heuernte , die der alte Goethe seinem Eckermann entzückt vorweist , die Sonne von den Dingen zwei Schatten geradeweg einander entgegenwerfen lassen . Auch die allerniedrigsten oder einfachsten Geister reden da oft das Richtige . Aber alle zwischen der Höhe und der Tiefe liegende Verständigkeit der Erde hält einfach am besten den Mund und läßt sich bescheinen – schwitzt und ärgert sich , wenn es ihr zu heiß wird , und kriecht in die Sonne und lobt sie im Vorfrühling und Spätherbst oder im Winter , wenn die Knochen dürr werden , die Zähne wackeln oder ganz mangeln und die romantischen Locken verwehen , » gleich den Blättern der Bäume « , wie Vater Homer davon sang , nicht in einem seiner schläfrigen Augenblicke , sondern an einem der hellsten ionischen Sonnentage , wo er nicht schlief . Bin ich von der Daumenspur in dem kuriösen Geschichtsschreiber Gregorius Leti zu weit abgekommen ? Ich glaube nicht . Da sitzt der Alte noch vor mir in seiner Amtswohnung am Ende des Dorfes . Alle Türen und Fenster des Hauses stehen offen , und alle Lichter , Töne und Düfte haben freiesten Zutritt , Vieh und Mensch und also auch der Herr Graf . Da kommt er , ein wenig schwerfällig auf seinen Stock sich stützend und seinen Weg mit den Fußspitzen vorsichtig vorausfühlend . Ein gewisser Lehnstuhl wird ihm hingerückt , und da sitzt er , und eines von beiden wird sofort geschlossen , entweder die Tür oder das Fenster , meistens aber beides . » Wie steht das Befinden , alter Freund ? « » Danke , Herr . Ohne die verflixten Holzwrogen könnte man es vielleicht wohl zu einem hübschen Alter bringen ; aber nun sehen Sie mal diese Schandliste von Frevlern ! Und alle aus dem Dorf ! Und jeder Halunke mit einem Handbeil unter der Weste , und jedwedes Subjektum vom schönen Geschlecht mit einer Säge unterm Unterrock . Und die letzten sind die schlimmsten , denn sie ruinieren den Forst von unten auf . Kein junger Trieb ist da vor der ältesten Wackelliese sicher , und von den jungen Spitzbübinnen will ich gar nicht reden . Da möchte man doch lieber Papst in Rom sein ; und meinen Namensahnherrn wünsche ich mir auf vier Wochen hierher an meine Stelle . « Der Herr Graf lächelt matt und seufzt : » Wäre es mein Wald , so würde ich sagen , sehen Sie durch die Finger , Sixtus . Jetzt sehen Sie allein zu , wie Sie Ihr gutes Herz und die Feuerungsbedürfnisse unserer braven Nachbarn mit Ihrer Amtspflicht in Harmonie bringen . Das Kind ist auch wieder den ganzen Morgen durch aus unserem Gesichtskreise verschwunden und hilft wahrscheinlich ebenfalls beim Holzstehlen . Frau Langreuter ist in Verzweiflung und kündigt mir sicherlich demnächst ihr Gouvernantentum . Was haben Sie von Ihren Sorgen zu Hause ? « » Nichts ! Sie haben gesagt , sie seien in den Sommerferien , und sind auf und davon . Mein Evchen wollte eigentlich nicht ; aber es mußte . Der Junge muß mir zu Michaelis sicher auf die Schule ; der Pastor kommt nicht mehr mit ihm zu Rande . Das Fritzchen da hab ich nur allein noch am Hoftor erwischt und gesagt : › Hier ; halt mal ! ‹ und ihn mit an meine Rechnungen gesetzt . Da sitzt er , Herr Graf , und nun fragen Sie ihn selber einmal , wo die anderen stecken ! « ... Das » Fritzchen « , das war ich – der Weltweisheit Doktor Friedrich Langreuter , und der Herr Graf dreht seine silberne Dose zwischen den Fingern , nimmt bedächtig eine Prise und wendet sich in der Tat an mich und fragt : Wo ist Irene , mein Sohn ? « Und bei dieser Frage öffnet es sich vor mir breit , weit , sonnig , grün , Berghügel und Berghügel , Tal und Tal , und dann einmal zwischen zwei Bergen das Glitzern einer Flußwindung , und dann auf der Ferne rund um ein blauer , lichter , magischer Dunstschleier , den man – wie Ewald behauptet – sich am besten zwischen seinen ausgespreizten Beinen durch besieht : da ist Eva Sixtus und ihr Bruder Ewald und Irene Everstein und – ich auch , Friedrich Langreuter , der Weltweisheit Beflissener ! Den unsterblichen Göttern sei Dank , daß dem so war , daß wir einmal so da waren ! – – – Wir wissen noch nichts von den Vermögens- und Familienverhältnissen des Herrn Grafen und von unseren eigenen noch weniger . Wir leben in den Tag hinein , und wie kann man besser oder vielmehr angenehmer leben ? – Wenn die Frage : Wo ist Irene , wo sind Ewald und Eva , wo sind die anderen ? von neuem gestellt werden wird , dann hat sich alles geändert , und nicht zum Besseren . Wir leben dann nicht mehr in den Tag , in das Licht hinein ; wir wissen dann leider ganz genau , mit welcher Regelmäßigkeit die Dämmerung und die Nacht kommen und wie es am hellsten Mittage dunkel werden kann über dem Menschen und seinem Zubehör . Fünftes Kapitel Von dem gelehrten Herrn Pastor , den der Herr Graf gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft meiner Mutter rühmte , habe ich wenig zu sagen . Der Herr Graf verstand es wohl nicht besser , aber die Gelehrtheit des guten Mannes war nicht weit her und sein Einfluß auf uns unbedeutend . Hierüber aber erhält Ewald am besten das Wort . Er nahm mich seinerzeit beiseite , das heißt , indem er mich am Kragen faßte und , mich auf offener Dorfgasse abschüttelnd , bemerkte : » Tust du dumme Stadtpflanze noch ein einzig Mal da « ( dieses war von einer Schulterbewegung dem Pfarrhause zu begleitet ) , als wüßtest du mehr als ich von all den Dummheiten , so paß auf ! Wie die Engel im Himmel singen , das weißt du wohl noch nicht ? Hör mal , so ! « Nun ist es durchaus nicht angenehm , seiner Wissenschaften wegen an den Ohren auf- und von den Füßen gehoben zu werden . » Hörst du sie ?! Nicht wahr , sie singen wirklich wie die Engel ? Und nun tu 's nicht wieder und heb den Finger in die Höhe , wenn ich feststecke ! Frag nur Irene , ob die alten Ritter das getan haben . In der Dorfschule beim Kantor tun sie es alle , und da tue ich es auch , und du kannst es auch tun ; aber bei dem dummen Lateinischen und dem Herrn Pastor , da probiere es mir nur noch ein einziges Mal , und du sollst scheu , was du erlebst , und wenn du mir auch hundertmal deinen › Robinson ‹ und deine Campes › Eroberung von Mexiko ‹ geliehen hast . « » Was soll ich aber denn tun , wenn ich was weiß ? « heulte ich , während Irene lachte und Eva ihren Bruder am Hosenbund nach rückwärts zog . » Die dumme Schnauze halten ! Der Alte sagt es schon ganz von selber her . Ich gehe doch schon lange genug bei ihm in die Privatstunde und muß es wissen , was er alles weiß ! Oh , der weiß für uns beide noch lange genug ! « So war es ; aber leider war das , was der gute geistliche Herr wußte , auch wenig genug , und was das schlimmste war , seine Begabung zum Lehrer stand noch tief unter der Wasserhöhe seiner Wissenschaft . In der Hinsicht war es jedenfalls für uns sehr von Nutzen , daß die Jahre hingingen und wir ihm entwuchsen . Und der Herr Graf , der meiner Mutter wegen in der Tat allen Grund hatte , Wort zu halten , hielt es auch . Ich wurde mit Ewald auf das Gymnasium der größeren Provinzialstadt des anderen Staates jenseits des Flusses » getan « ; und wir kamen von da an nur in den Ferien nach Hause , das heißt zurück nach Schloß Werden , in das Försterhaus , das Dorf und den Wald und zu den beiden Mädchen . Die beiden Mädchen ! Als wir zum erstenmal abzogen , sagte Irene : Ihr habt es gut . « Worauf Ewald mit einem bedenklichen Griff nach seinem Rücken erwiderte : » Weißt du das ? Erst probieren und nachher weise Redensarten ! Na , was mich angeht , so ist die Hauptsache , daß ich endlich einmal aus dem dummen Dachsbau herauskomme . So 'n langweiliges Volk als euch findet man ja immer , und nachher geht der Weg ja auch weiter , und deshalb haben wir zwei es sicher besser als ihr beiden dummen Frauenzimmer . « » Und ich verbitte mir endlich diese ewigen dummen Dummheiten « , rief Irene . » Das wird auch auf die Länge dumm und langweilig , du – dummer Junge . Laß sie stehen , Eva , und komm in die französische Stunde ; so wie auf morgen , wo wir endlich mal Ruhe vor ihnen haben , habe ich mich noch auf keinen anderen Tag gefreut . Schafskopf ! ... Herrgott , Fritz , da ist deine Mama ! Ach , nun hat sie auch das wieder gehört ! Komm rasch , Evchen ! Adieu , messieurs , mademoiselle Martin nous attend . Ach Gott , ach Gott , ach Gott ! « Es war freilich meine Mutter , die um das Gartengebüsch trat und in der Tat das Wort » Schafskopf « noch vernommen hatte . Und obgleich sie die richtige Adresse sicherlich ganz genau kannte , wendete sie sich dessenungeachtet an die falsche , nämlich an mich , und sagte nichts weiter als : » Aber Fritz ?! « » Ich war es , mit dem sie sich gezankt haben « , murmelte Ewald kleinlaut , aber ehrlich . » Von deiner Schwester ist gar nicht die Rede , Kind « , sagte meine Mutter und ging weiter den sonnigen Kiesweg entlang , um als Frau Aja mit dem Strickstrumpf in einer Fensternische der französischen Stunde beizuwohnen und die Vokabeln leise mit nachzusprechen . Mademoiselle Martin aus Nanzig in Lothringen , die » alte Kammerfrau « der verstorbenen Frau Gräfin , befleißigte sich der besten Aussprache des Idioms . » Es ist zwar schauderhaft « , seufzte der Herr Graf , » aber ich habe das meinige doch auch nur in Wien gelernt , und sie hat es wenigstens aus Büchern und ist mit der Grammatik in ihrem Geburtsort in die Schule gegangen . In Nizza hat meine selige Frau sie gefunden , und sie hat treu bei uns ausgehalten durch Gut und durch Böse . Durch das letztere meistens mehr als durch das erstere . Ihre Eltern hatten sie zur sœur ignorantine bestimmt ; aber sie fand in sich keinen Beruf dazu , und mir ist es lieb , daß wir sie gefunden haben . Sie hat sehr treu bei mir ausgehalten , Madam Langreuter , und , wie gesagt , durch gute und durch böse Zeiten , und durch die letzteren mehr als durch die ersteren . « Auch mein Französisch stammt in seinen Elementen aus der Schule der Mamsell Martin , und es ist danach geblieben . Irene und Ewald hatten Gelegenheit , das ihrige sehr zu verbessern , und Ewald spricht und schreibt es heute fast ebenso gut wie das Englische , das er mit einer spaßhaften Neigung ins Irische zu seiner zweiten Muttersprache gemacht hat . Wir gingen ab nach dem Gymnasium und kamen von da an nur in den Ferien nach Schloß Werden zurück . Wenn ich anfangen wollte , davon zu reden und zu schildern , so würde wohl nicht an ein Aufhören zu denken sein . So ist es aber hundert und aber hundert Autobiographen und Biographen ergangen , und sie sollen für mich mit gesprochen und geschrieben haben . Es wiederholt sich und bleibt sich vieles gleich in der Welt , was an und für sich den Eindruck der individuellsten Originalität macht . Aber die großen italienischen Nußbüsche an der letzten Hecke des äußersten Gemüsegartens derer von Everstein und den Vetter Just hat nicht jedermann erlebt , und so machen wir die beiden zu unserer Spezialität , und den letzteren durch alle Blätter dieser Aufzeichnungen hindurch . Sie haben eigentlich nichts miteinander zu schaffen ; der Vetter hat nie in ihnen gesessen , in den Nußbüschen nämlich ; aber doch kann ich nie an den einen ohne die anderen denken . Sie gehören in der grünsten , lichtesten , lachendsten und doch zugleich ernsthaftesten Weise zusammen in meiner Seele . Wie hundertmal in der Wirklichkeit besuche ich heute in der Erinnerung den einen von dem anderen aus , den Vetter Just auf seinem Hofe jenseits des Flusses von dem Gezweige unseres alten Wunderbaums herunter . Es war eigentlich gar kein einzelner Baum , sondern ein Bündel dick- und hochstämmigen Gebüsches , das der liebe Gott aus einem halben Dutzend Kernen zu unserem Vergnügen auf einer Bodenerhöhung an der Hecke zu außergewöhnlicher Höhe und Pracht hatte aufschießen und sich ineinander weitästig verwirren lassen . In weit entlegene , uns ganz und gar vorgeschichtliche Zeit war das Aufsprießen gefallen , aber der Gipfel der Verwirrung nur allein für uns , wie wir glaubten , in die unserige , und das war das Schöne . Die Vorsehung hatte es auch in diesem Falle gewußt , was alles in dem Keime lag , den sie hier in seiner Hülse auf den Boden fallen ließ , den sie erst mit gelben Blättern , dann mit trefflicher Gartenerde bedeckte und ungestört Wurzeln nach unten in die Dunkelheit und zwei zarte grüne Blättchen nach oben in das Licht , in die Sonne treiben ließ ! Der Mensch denkt nie daran , wenn er im großen Walde geht , was alles in zwei solchen grünen Keimblättchen zu seinen Füßen für ihn und seine Art auseinanderklappt . Wo bliebe aber auch das Spazierengehen , wenn dem so wäre ? Es würden manche dafür danken , und unter diesen ich zuerst . Zu Hause , innerhalb seiner vier Wände , unter alledem , was man sich selber allgemach zusammengetragen hat , würde es bei weitem behaglicher sein als draußen im Freien . Es war natürlich Ewald Sixtus gewesen , der zuerst herausgefunden hatte , wozu dieses Baumgebüsch gut sei . Er hatte die Leiterstufen gezimmert , die an dem knorrigen Hauptstamm in die Höhe führten bis zu der ersten Gabelung , von wo dann Irenes Ruhe , Evas Höhe , Friedrichs Lust und Ewalds Heim mit mehr oder weniger Beschwerlichkeit und Gefahr des Hals- , Arm- und Beinbrechens zu erreichen waren . Die » Ruhe « und das » Heim « hingen selbstverständlich im schwanksten und luftigsten Gezweig ; Evas Höhe saß ebenso selbstverständlich am tiefsten und sichersten , und ich – ich wäre mit und zu meiner Lust am liebsten unten am Baum auf festem Erdhoden geblieben ; aber hinauf mußte ich wie die anderen , und wenn ich einmal oben saß , so gab es freilich auch für mich keinen besseren Platz im Himmel und auf Erden als diesen zwischen Himmel und Erde . Da waren es einzig und allein die Vögel , die es noch besser hatten als wir und die wir dann und wann immer noch beneiden durften . » Wer es wie die könnte ! « seufzte Irene im äußersten Gezweig , schon jenseits der Hecke des Schloß-Küchengartens in ihrer gefahrvollen Ruhe , zwanzig Fuß hoch über der Wiese hängend . Und das war wieder einmal an einem Sommermorgen , gerade als die Sonne aufging und alle Frische und aller Tau und alle Erwartungen vom Tage und sämtliche Pläne für die angenehmste Verwendung desselben noch vorhanden waren . Es ist kaum zu glauben , aber es war doch so : wir , Ewald und ich , wir schmauchten frech hinein in die heilige Frühe , und noch dazu Zigarren , von denen der Herr Pastor nie begreifen konnte ( während unserer Ferien ) , wie sie ihm so rasch zu Ende gingen . Der Herr Graf rauchte leider nicht ; er würde sich sonst gewiß an eine bessere Sorte gehalten haben . Den Knaster , den Vater Sixtus aus seiner kurzen Jägerpfeife verdampfte , hatten sich die beiden Herrinnen von Evenshöhe und Irenensruhe in » ihrem Baum und so früh in der Natur « ganz ernsthaft verbeten . Ich habe es schon gesagt , ich rauche heute auch nicht mehr ; aber ich weiß das Blatt aus jener Zeit her noch zu würdigen und zöge es jetzt jedem anderen vor . Ewald hatte gewöhnlich alle Taschen voll davon und meinte : » Das nenne ich gar nicht einem was ausführen , sondern nur gerechte Sühne ! Es ist einfach scheußlich , wie billig der Alte den himmlischen Äther ( nicht wahr , so heißt's , Fritz ? ) verstänkert . Es ist aber ganz sicher ganz dasselbe Kraut , was sich sein lieber Papst Sixtus der Fünfte hier im Walde verstattet haben würde ; nicht wahr , Fritzchen ? Du mußt es wissen . « Weshalb mußte ich das wissen ? . . . Weil ich den » Schlingel aus dem Försterhause « um drei Eselsohrenlängen in der Gymnasialbildung hinter mir zurückgelassen hatte ? Es hat sich nachher ausgewiesen , daß das ziemlich wenig zu bedeuten hatte . Da sitzt Eva im Zweig und sagt vorwurfsvoll : » Aber Ewald , sprich doch nicht so vom Vater ! « » Wozu hat man denn sein Taschengeld von ihm ? « klingt es zurück ; und – es ist immer noch der Sommer und der Sommermorgen , die Jugend und die Frage : Was fangen wir heute mit dem unendlichen Tage bis Sonnenuntergang an ? auf der Tagesordnung ! » Heute geben wir ihnen einmal recht ordentlich durch . Nachher kriegen wir dann alles auf einmal über die Köpfe und sind für ein Vierteljahr hübsch reuig . Übermorgen geht ihr ja doch wieder ab , und wir haben Zeit für alle guten Ermahnungen und Weisheit und Tugend , nicht wahr , Evchen ? « ruft die Gräfin von Everstein von ihrem Aste und greift nach dem nächsten über ihr und steht aufrecht , in tollster Lust sich wiegend . Das ganze jetzt von der vollsten , klarsten Morgensonne durchleuchtete grüne Haus schwankt bis in seine Grundfesten , das heißt bis in die äußersten Wurzelfasern . » Nicht schütteln ! O Irene ! « ruft Eva ängstlich ; aber wohl rüttelt und schüttelt sich alles rundum , der Nußbaum und die weite wonnige Welt . Die blitzenden Tautropfen sprühen im buntesten Glanze um uns hernieder , und jenseits der Hecke von seinem Zweige hängt Ewald bereits wie ein Affe auf die freie , weite Wiese herunter , mit den Füßen in freier Luft , nach dem nächsten Aste unter ihm tastend . Daß er das Experiment nicht mit dem Kopfe nach unten hängend ausführt , ist ein schöner Zug seiner Nachgiebigkeit und Herzensgüte ; versucht hat er's selbstverständlich , aber Eva hat es sich für » unseren Baum « verbeten , wie Irene eben dafür den Knaster aus der Schweinsblase seines Vaters . Er kommt richtig auch diesmal wieder mit ungebrochenen Gliedmaßen im hohen Grase und unter den Sternblumen und Kuckucksblumen der Wiese an und schlägt zur Erholung von der Anstrengung noch ein dutzendmal Rad im Kreise . Schon kriecht die Komtesse durch die Hainbuchenhecke , und mehr als daß sie springt , fliegt sie über die hohen Kletten- und Brennesselbüsche im Graben . Aus dem Wunderbaum erschallt noch ein flehend klägliches Stimmchen : » Ach Gott , Fritz ?! « Ich reiche beide Arme an der Leiter empor , um das ängstliche Vöglein aus dem Baum im Notfall im Fall auffangen zu können . » Da rennen sie schon über die Wiese nach dem Walde ! Mach rasch , Evchen ! « » Ach Gott , ja ! Sie hören ja nun wieder nicht ! Und ich ginge doch so gern erst hin und sagte es zu Hause , wo wir geblieben sind . « » Wir sind ja zu vier , Evchen ! Und einer wird doch wohl übrigbleiben und Nachricht bringen , wenn drei von uns zu Schaden kommen . « » Ja , und ihr wollt dann , daß ich das bin ! Mein Vater ängstigt sich wohl nicht ; der kommt vielleicht auch erst zum Abendessen heim . Aber deine Mutter !.. . Und Irenes Vater ?! « » Das ist nun zu spät . Sie rufen schon vom Walde her ; hörst du ? « Sie rufen wirklich , und wir kommen . Wir folgen der glücklichen , seligen Spur durch den Tau der Wiese ; und nun sind auch wir , Eva Sixtus und ich , in dem kühlen Schatten der Buchen , und – wunderte ! – ein Gewissen hatten wir bis eben , aber nun ist es uns gleichfalls abhanden gekommen . Sie haben alle kein Gewissen in den Gebrüdern Grimm , und wir stecken voll und ganz darin , in dem Märchen , in der Wonne des Abenteuers der Kinderwelt – ganz und gar darin wie die zwei anderen , Ewald Sixtus und Irene Everstein ! Was geht in der Menschheit Behagen über diese ganze volle Gewissenslosigkeit des Märchens oder noch besser der Jugendzeit ? – Die » ewige Seligkeit « ; denn die wird freilich in einem noch etwas höheren Grade gewissenslos sein . Sechstes Kapitel Sie hatten vom Walde , dem großen Walde her gerufen ; und hinter dem Walde saß der Vetter – der Vetter Just Everstein und wenn es für Namen kein besser Sieb gibt als ein Konversationslexikon in der Reihenfolge seiner Auflagen , so ist es sehr schade , daß der Vetter durch einen der gewöhnlichen Zufälle nicht hineingekommen ist . Er gehörte von Rechts wegen hinein und von Gottes Gnaden darin zum eisernen Bestande irdischen guten Gerüchtes . Jenseits unseres Waldes und jenseits des Flusses hatte sich da eine Seiten-Seitenlinie des Geschlechtes derer von Everstein allgemach von Generation zu Generation , von Glückswechsel zu Glückswechsel in den Bauernstand zurückverloren . Schon vor hundertundfünfzig Jahren , gerade als eben dem Bruchteil von Adams Geschlechte auf Schloß Werden das Grafentum als höhere Betitelung von oben zufiel , hatten die Vettern drüben den letzten Ring , der sie an den Adel des deutschen Volkes knüpfte , fallenlassen . Das Wörtlein von war ihnen abhanden gekommen , wie ein Taler in die Stubenritze rollt . Sie wußten selber nicht recht anzugeben , wie es eigentlich zugegangen war . » Das einzige , was ich gewiß darüber weiß , ist , daß wir damals scheußlich auf dem Hunde waren « , sagte der Vetter Just . » Was will ein Kotsasse , dem der Siebenjährige Krieg die letzte Kuh aus dem Stalle holt , mit einem adeligen Wappen über seiner Stalltür ? Sich bei den anderen Bauern und alle Abend im Kruge lächerlich machen ? Das kann er ! Siehst du , Fritze , das ist eben die Sache beim Kriege , daß er den einen zum Kaiserlichen Feldmarschall-Leutnant macht , wenn 's beim anderen um die letzte Kuh gilt . Studiere du deine mittelalterlichen Geschichtsquellen ruhig weiter ; aber meine laß mir lieber doch unaufgerührt . Ich meine , der alte Brunnen kommt immer doch noch klar genug aus der Tiefe in die Höhe . Nur immer kühl und klar , das ist die Hauptsache ; am Ende bleibt alles , was dem Menschen überhaupt auf dieser Erde passieren kann , in der Verwandtschaft , und das ist ein Trost ; – nicht etwa ? « » Jawohl , jawohl ! « holte ich die Antwort tief aus der Seele herauf . Das war aber alles nicht an dem Morgen , an dem wir wieder einmal von dem Nußbaum zum Vetter Everstein jenseits des Flusses » durchgingen « , sondern lange , beschwerliche Jahre später . – Der Nußbaum oder die Nußbäume waren damals längst ebenso unmotiviert umgehauen worden wie die , welche den Legationssekretär Werther in solche Wut gegen die neue Frau Pfarrern zu St. Brachten ; – » wie kühn und wie herrlich die Äste waren ! ... Abgehauen ! Ich möchte rasend werden , ich könnte den Hund ermorden , der den ersten Hieb dran tat ! ... Siehst du , ich komme nicht zu mir ! ... O wenn ich Fürst wäre ! Ich wollt die Pfarrern , den Schulzen und die Kammer – – – « Eine neue Chaussee führt über die Stelle weg , wo meine Nußbäume standen , und wer weiß , wie bald auch über diesen Weg sich ein Eisenbahndamm hinlegt und wie bald die Personen- und Güterzüge vom und zum Rhein über die Stätte brausen und keuchen . Es ändern sich stets die äußerlichen Umstände , unter denen die Natur und der Mensch ihren Adel gewinnen oder verlieren ! . . . » Passierte es nur einmal , so wäre es freilich schlimm « , sagte der Vetter Just . » Aber da es immerdar sich so ereignet hat und sich auch fernerhin nicht anders machen lassen will , so stelle ich mich auch hier auf den Fuß der Philosophie , nachdem ich mich geärgert habe . « – Das sagte er aber von den Nußbäumen . Selbst auf die Vetternschaft mit dem vornehmen Schloß Werden erhuben die Mannen jenseits des Flusses ihrerseits nicht den geringsten Anspruch mehr . Der » Vetter « war auch eigentlich nur dem gegenwärtigen letzten Sproß der Familie angehängt worden , und zwar von der Gegend . Es war so etwas von der » Vetter Michelschaft « dabei , aber im besten und vergnüglichsten Sinne . » Gestern abend war Vetter Just da ! « war ein Wort , das einen ungemein behaglichen Klang weit umher in jedem Hause hatte . » Wenn ich nur wüßte , wie es mit dem Kerl zuletzt einmal zu Ende gehen wird ! « war dann freilich ein Nachklang von etwas bedenklicherer Tonfarbe ; allein es waren immer nur die Unverständigsten im Lande , die sich also achselzuckend äußerten , und was überall in der Welt auf deren Bedenken und heimtückisch-wohlwollende Sorglichkeit für den lieben Nächsten zu geben ist , das weiß man ; – ich wenigstens weiß es . Ist es nicht leider meistens der Verstand der Verständigen , bei dem sich am liebsten die Schadenfreude hinter dem freundschaftlichen , sorgenvollen Nachdenken und teilnehmenden , bedauernden Kopfschütteln versteckt ? Welch ein Glück ist es da , daß wir soeben erst aus unserem Nußbaum in den Sonnenschein auf der morgendlichen , glitzernden , grünenden , blühenden Kindheitswiese hinuntergepurzelt , – geglitten und – gehüpft sind und uns immer noch , unverständig und sorgenlos , mit dem allermöglichst wenigsten Nachdenken über uns selbst und den Vetter Just Everstein auf dem Wege zu diesem Vetter befinden ! Auf dem Wege ? O ja , wenn nur nicht die Umwege gewesen wären ! Wann sind wir damals unseren Angehörigen je anders als auf Umwegen zu dem Vetter durchgegangen ? Gab es aber überhaupt noch eine andere Gegend , die » vier dumme Krabben « , wie der Vater Sixtus sich auszudrücken beliebte – in gleicher Weise zu Dummheiten und auf Seiten- und Schleichpfade zu verlocken imstande war ? Für uns nicht , wenn mich gleich das Leben gelehrt hat , einem jeden das Recht unverkümmert zu lassen , das theatrum mundi seiner Jugend in gleicher Weise allen anderen Feldern und Wäldern , hier den Fichten und dort den Palmen , wehmütig und freudig vorzuziehen . Nach rechts und links , im Schatten und Licht , im Trocknen und Feuchten lockte es , und natürlich da immer am verführerischsten , wo das Dickicht am verworrensten war , wo Berg und Fels am steilsten sich erhoben und wo der Bach am mutwilligsten durchs Tal schäumte . Wann hätte zur Zeit der Kibitzeier die Komtesse jemals eine Gelegenheit , bis an die Knie im Sumpfe zu versinken , verabsäumt ? Wann hätte Ewald Sixtus je ein heiles Knie einem zerschundenen , eine ganze Hose einer halben vorgezogen ? Und dann die Jahreszeiten , die wir zählten durch die Schneeglöckchen , die Maiblumen über die Erdbeeren weg bis in die Brombeeren und den Dohnenstieg ! Auch ich habe damals mit den anderen gelacht , wenn die liebe Eva ein bitteres Tränchen über die armen erhängten Krammetsvögel vergoß und den Sack nie tragen wollte , der die gefiederte Jagdbeute enthielt . » Wenn sie sie in der Schüssel auch nicht riechen könnte , so wollte ich gar nichts sagen « , brummte Ewald . » Dich meine ich nicht , Irene ; aber so seid ihr Frauenzimmer ! Nicht wahr , Fritze , wir genieren uns nicht : Was ich gebraten sehen kann , Seh ich nie als 'ne Mordtat an ! Also ist die Reihe an dir , den Ranzen zu schleppen , Irene . › Immer galant gegen die Damen ! ‹ sagt Mamsell Martin ; wenn es wieder bergan geht , nimmt ihn Fritzchen dir ab . Aber Riesenkreaturen haben wir diesmal , was ?! Es ist wahrhaftig ein Spaß , was für eine Menge unschuldig Blut so 'n paar rote Vogelbeeren an den Galgen bringen ! Nicht wahr , Eva ? « » Famos ! « ruft die Komtesse hochrot , zerzaust und glühend vor Jagdlust ; und der Herbstwind fegt und rasselt durch den Niederwald und treibt ihr die blonden Locken über das Gesicht und treibt mich zurück in den Sommermorgen , den ich immer von neuem unter der Federweg verliere , um mich immer wieder zu ihm zurückzufinden . » So ? Haben sich die beiden Puppen noch herangefunden ? « fragt Ewald grinsend , als seine Schwester und ich ihn und die Gräfin unter den Bäumen des Waldes wieder einholen . » Das ist schön ! Nun haben wir auch die Tugend und die Vorsicht in der Bande , und nun kann's losgehen ! Was an mir in Fetzen heute davonfliegt , das flickst du zusammen , Evchen . Für die schändlichen Redensarten , die heute abend über Irene losgelassen werden , bist du vorhanden , Fritzchen . Und nun rasch weiter ; – deine Alte merkt wahrscheinlich jetzt schon Unrat , Fritz , und hängt schon an der Sturmglocke – « » Und Papa kommt die Treppe herunter und schüttelt in dem Gartensaale den Kopf . Und deine Mama ringt die Hände , Fritz , und Papa ist zu allerletzt noch am wenigsten ärgerlich und in Sorgen . Ach , es soll aber heute auch das allerletzte Mal sein , daß wir so böse sind ! Ich gehe ganz gewiß nicht wieder mit durch , ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben . « » Ich auch nicht « , ruft Eva Sixtus mit Tränen in den Augen . » Ich auch nicht ! « sage ich kleinlaut , und – » Na , denn ich auch nicht ; aber fürs erste stecke ich mir jetzt 'ne Pfeife an . Hier sind wir auf Staatsforstgrund , und die Grafen von Everstein können mir meinetwegen kommen . Übrigens könnt ihr ja alle noch umkehren ; im Notfall laufe ich ganz gern allein , und dem Vetter Just ist es auch recht . Geh du dreist wieder nach Hause , Fritzchen , und nimm alles ruhig mit , was sonst noch von Teesimpeln da ist . Au ! ... Alle Donner ! « Eine gute Handvoll Haare aus der Lockenfülle des » höhnischen Hanswurstes « streut Irene Everstein in die Morgenlüfte , und fünf Minuten später sind wir allesamt so weit von dem Schlosse Werden fern , daß uns auch der lauteste Klage- oder Warnungsruf von dorther nicht mehr zu erreichen vermöchte . Wir sind gerettet aus aller Kultur in die schönste Wildnis , in die sich der gebildete , älter gewordene Mensch nur in seinen allerhöchsten Feierstunden zurückdenken kann – in den Stunden oder Augenblicken , die wie ein leichter schöner Rausch kommen und schwinden und leider nicht jeden Tag auf der Tagesordnung stehen , was auch die Leute , die es so ausnehmend gut verstehen , » zur Sache ! « zu rufen , davon halten mögen . In an indian file , wie Ewald , der damals mit größestem Eifer seine amerikanischen Abenteuerromane englisch las , sagte , schlüpften wir durch die Büsche ; und wenn die beiden Mädchen alle Augenblicke aus der Bahn brachen und ins Blumenpflücken gerieten , so fand sich für uns zwei Jungens wieder mancherlei anderes , was uns auf dem Wege aufhielt . Gut zehn Uhr wird es in Bodenwerder geschlagen haben , wenn wir endlich eine halbe Stunde weiter stromaufwärts das Flußufer , den Vater Klaus und den Kahn desselbigen bei seiner Fischerhütte erreichen . Es führt eine Schiffbrücke bei Bodenwerder über den Fluß . Das weiß ein jeder , so gut als ein jeder den Freiherrn von Münchhausen aus Bodenwerder kennt . Was wäre aber unsere Fahrt zu dem Vetter Just Everstein ohne den Vater Klaus und seinen Kahn inmitten des Weges ? Unbedingt nur das halbe Vergnügen . Wenn wer mit in die Lust des wolkenlosen Tages hinein gehörte , so war's der alte Fischer Klaus , obgleich Ewald jedesmal bemerkte : » Wären die Mädchen nicht dabei , so sparte ich sicher meinen Groschen dem Alten am Leibe ab . Wer schwimmen kann , braucht auf dem Lumpenwasser noch lange keine Bretter unter sich . « » O du Renommist ! « ruft Irene , die , wenn sie sich ganz allein zwischen den Buchen und Weiden hüben und drüben gewußt hätte , wahrscheinlich gleichfalls keine Bretter und Balken zwischen sich und das sonnenbeglänzte , weich hingleitende Element gelegt haben würde . Schon zupft mich Eva Sixtus scheu und erschreckt am Rockärmel . » Sei nur ruhig , Evchen . Sie renommieren beide furchtbar . Das Großmaul da mit seinen Händen in den Hosentaschen und Irene – innerlich ! Komm nicht ins Rutschen den Abhang herunter . Da liegt der Vater Klaus bei seinen Reusen , und da steigt sein Rauch auf von seinem Herde . Irene kann ja gar nicht schwimmen ! « Dieser Rauch von dem Feldsteinherde des Alten am Wasser ist wahrscheinlicherweise die Rettung meiner Nase vor zwei Fäusten , die von rechts und links her dicht unter sie gehalten werden . » Hurra , der Vater Klaus ! « schreit Ewald und rutscht bereits auf seines Vaters erst vor einem halben Jahre an den Dorfschneider abgegebenen Hochzeitshosen über das Steingeröll in die Tiefe , als ob er den Stoff gleichfalls für » absolut unverwüstlich « erachte . Die Komtesse wirft mir noch ein » Ach , so 'n gutes Fritzchen ! « zu und folgt dem Kameraden bergunter gleichfalls in sitzender Stellung und nur um ein weniges mehr als er um den äußerlichen Anstand besorgt . » Na , na , wat kummt mi da ? Ach , Herrje , i sehn Sie mal ! « meint der Vadder Klaus , und wir sind alle bei ihm angelangt alle mit heiler Haut , bis auf den Meister Ewald , der sich etwas nachdenklich die Posteriora reibt und mehrfach den vergeblichen Versuch macht , sich dieselben über die Schulter genauer zu betrachten und seinen Schaden zu besehen . Nach dem Walde das Wasser ! Es ist sehr heiß an dem Ufer ; aber keiner merkt es . Der Fluß ist breit genug , um alles , was in der jungen Brust noch gebunden lag , frei zu machen . Eilig drängen sich und lautlos die Wirbel vorbei und nehmen uns geheimnisvoll verführerisch in der Phantasie mit sich in das Hellste , Kühlste , Grenzenloseste – immer weiter und weiter durch alle geographischen Schulstubenerinnerungen bis hin auf das große Meer . Juan Fernandez und Salas y Gomez liegen im magischen Blau als einzige feste Punkte , an denen die Erfahrung mit wonnigem Herzpochen haften kann ; darüber hinaus in wiederum undenklicher Ferne spült und sprüht's nur in die Buchten und Palmenwälder von Traumland hinein , selbst für Ewald Sixtus , der schon ganz genau weiß , daß die Weser einfach bei Bremerhaven in die Nordsee mündet , daß vor Neuyork Long Island liegt und daß Staat und Stadt Neuyork zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika gehören . Auch für mich , der ich in der neueren Geographie ziemlich und in der alten recht gut Bescheid weiß , der ich den Weg des Königs Alexander zum Indus und nachher die unvereinigten Staaten von Asia minor ganz genau auf der Karte zeigen kann . Während nun Vater Klaus seinen langgedienten Kahn zur Überfahrt bereit macht , durchstöbern die zwei Mädchen » zum wer weiß wievielten Male « sein einsiedlerisch halbwildes Hauswesen . » Eins steht fest « , ruft Irene , den blonden Lockenkopf aus der Pforte der Hütte vorstreckend ; » das nächstemal bitten wir zu Hause um die Erlaubnis , und dann bleiben wir eine Nacht hier . Da liegen wir hier am Feuerherde und braten uns unsere Fische selber , und der Mond muß scheinen , und wir singen dazu und rufen die Kähne und Flößer an – « » Und kriegen dumme Redensarten zurück « , grinst Ewald . » Und dumme Jungen werden draußen mit dem Kopf ins Nasse untergeduckt – « » Und ich bin dabei ! « schreit Ewald mit einem Sprunge und die Mütze schwingend . » Das ist eine ganz rasend heitere Idee ! Das nächstemal gehen wir ihnen sicherlich erst bei Sonnenuntergang durch ! « Und der Alte am Wasser , bedenklich seine Kappe von einem Ohr aufs andere schiebend , meint : » Ich wäre wohl schon dabei , und zu Schaden sollten die jungen Herrschaften bei mir auch wohl nicht kommen ; aber schriftlich muß ich die Erlaubnis doch wohl vor mir haben ; denn nachher kenne ich sonst die Herren beim Amte gut genug , wenn ich wieder von wegen meiner Berechtigung allhier vor sie muß . In alten Zeiten , allwo man noch gar keine Papiere nötig hatte , soll das alles viel besser gewesen sein , und da hätte auch ich , nichts Schriftliches verlangt , sondern im Gegenteil . « » Dies ist doch großartig ! « meint Irene Everstein , eine der gewohntesten Redensarten ihres Freundes Ewald sich aneignend . Nun fahren wir über . » Nicht schaukeln ! Bitte , bitte , nicht schaukeln , Irene ! « fleht Eva , wie sie vorhin » Nicht schütteln ! « ängstlich gerufen hat . Die Strömung ist ziemlich heftig und das » Schaukeln « in der Tat durchaus nicht notwendig . » Ja , lassen Sie es lieber , junge Herrschaft « , meint der Vater Klaus . » Erst vor acht Tagen habe ich da ein bißchen weiter unten eine herausgeholt . Die mußte ziemlich weit von oben her zugereist sein ; hier herum , und so weit unsere Gerichtsherren hinreichen , hat sie niemand gekannt . In Bodenwerder haben wir sie denn auch unbekannterweise beerdigt , und ich bin auch der einzigste gewesen , der mit ihr gegangen ist ; und das ist nicht das erstemal in meinem Leben gewesen . So 'n alter Fischersmann will doch nicht so ganz als ein Vieh an seinem Wasser sitzen , sondern sie geben sich , mit Respekt zu sagen , gegenseitig alle Ehren . Ja , so 'nen Wasserlauf soll man nur recht kennen durch die Jahre und Tage und Nächte und alle Witterungen – das ist wohl was Nachdenkliches , junge Herrschaften ! « Wir sahen alle nach dem Weidenbusch hinüber , wo die unbekannte Fremde anlandete nach ihrer langen Reise . Irene schaukelt nicht mehr ; aber nun sind wir mitten im Strom , und wo ist der Sonnenschein heller als mitten auf den Wassern ? Die Wellen flimmern , silberne Flossen schnellen rundum auf , um blitzschnell wieder in der Tiefe zu verschwinden . Wir lassen alle eine Hand in die laue Flut herniederhängen und sie um die erhitzten Pulse spülen . » Na aber , Fritze , dein zarter Teint ! « grinst Ewald . . . » Nun guckt nur , ob seine liebe Nase bei der Temperatur nicht schon abblättert wie eine Zwiebel . Von euch zwei Backfischen sage ich gar nichts ; denn ihr seid ja ganz in eurem Elemente , und übrigens wird es euch auch Fritzchens Mama heute abend schon sagen und morgen früh noch einmal . « Die beiden Mädchen unter ihren breiten Sommerstrohhüten glühen freilich wie die Pfingstrosen ; aber von der unbekannten Leiche , welcher neulich unser alter Fährmann in Bodenwerder allein das letzte Ehrengeleit zu Ehren seines Flusses gab , ist nicht weiter die Rede . Wir landen auf dem anderen Ufer , der Vater Klaus bekommt seinen Fährlohn und ruft uns nach : » Also auf das schriftliche Attestat verlasse ich mich . Nachher wünsche ich mir nichts Besseres als die junge Herrschaft bei mir zu Gaste , wenn mal der Mond voll im Kalender steht und der Fisch zutunlich gewesen ist . Und mitsingen tu ich auch . In meinen jungen Jahren habe ich immer über der Bratpfanne alle hübschen jungen Mädchens hüben und drüben in den schönsten Liedern vom Jahrmarkt mit besungen . « Es schlägt eben in der Ferne , in Bodenwerder , elf Uhr , als wir lachend , die Mützen und die Taschentücher schwenkend , unseren Weg auf dem Schifferpfade durch Weiden , Röhricht , über die harten Kiesel und Flußmuscheln fortsetzen stromabwärts . Unser grauer Charon bleibt noch eine ziemliche Weile auf seine Ruderstange gelehnt stehen und sieht uns nach – lächelnd , kopfschüttelnd und eine Prise nehmend . Er hat zu allen diesen drei Äußerungen seiner Meinung und Ansichten über uns vollkommen die Berechtigung und braucht sich nicht im geringsten auf irgend etwas Schriftliches einzulassen . Siebentes Kapitel Es ist , als schwände der Vetter in immer unbestimmtere , idealere Ferne Aber wir erreichen ihn und das Seinige doch ; und wenn wir ihn haben werden , so wird er hoffentlich um so näher zu Sinn und Herzen wirken und also in der einzig wahren Weise ganz realistisch dasein . Mein Wort darauf , wir wissen Bescheid und stehen mit den echten Wirklichkeiten oder Realien in dieser Welt auf ganz gutem Fuße und verkehren miteinander nicht bloß in Schlafrock und Pantoffeln – denn das will nicht viel bedeuten ! – , sondern auch dann und wann im Fest- und Feiertagskleide , und das will viel sagen ! Nun querlandein durch die Sommerglut ! Wir haben jedoch glücklicherweise nur noch eine kleine halbe Stunde zu marschieren , bis wir den Steinhof erreichen , und wir legen den Weg nunmehr rasch genug zurück , denn jetzt hält uns nichts mehr auf demselbigen auf . Die Mädchen wollen zwar anfangen , ihre Füße nachzuziehen ; aber Ewald , im kurzen Trabe sich zu mir wendend , meint grinsend : » Jetzt ist es ein wahres Glück , daß sie ihren Magen geradesogut als wir spüren , sie drehten sonst richtig noch um und gingen nach Hause . – Alle Donner , Rührei und Schinken , Kinder , ich sage euch , so fressig wie jetzt ist's mir – seit gestern mittag noch nicht im Leibe zumute gewesen ! Ho , jetzt will ich nur wünschen , daß dem Vetter diese letzte Nacht recht lebendig von mir geträumt hat und er sich wenigstens annähernd anständig auf die Visite eingerichtet hat . Nun , Leute , im Notfall steigen wir ihm selber in die Rauchkammer und brechen ihm wie Schillers ganze Bande in seine Würste ein . Die anderen Stücke von ihm , ich meine Schillern – kann er ja dann derweilen mit euch herdeklamieren . Von mir weiß ich Bescheid und sage , erst essen , und zwar ordentlich , und dann meinetwegen soviel Poesie und Geschichte und Philosophie und Ästhetik , als ihr wollt und leisten könnt . Was sagst du , Fräulein Gräfin ? « » Nach dem Essen ! In dem Grasgarten im Grase und im Schatten . Laß aber jetzt nur das lange Reden ; die Sonne sticht zu arg. Evchen , ach Gott , am besten ist's , man macht die Augen zu und läuft zu und denkt sich lang hin in das Gras in dem Grasgarten unter den großen Kirschbaum . « » Siehst du ! Und heute abend müssen wir auch wieder nach Haus . Oh , ihr habt ja nicht auf mich hören wollen ! « Mit einer Mamsell wie du drei Schritte über die Gartenhecke hinaus spazierenzugehen ist wirklich ein Pläsier « , brummt Ewald halb höhnisch , halb verdrießlich . Wäre der Weg noch eine Viertelstunde länger , so ist nicht abzusehen , wie tief unsere Stimmung noch sinken könnte . Das ist die gewichtige Viertelstunde , auf die es in so vielen Erdenlagen und Stimmungen ankommt zu unserem Behagen oder Elend . Wir haben diesmal glücklicherweise nur noch fünf Minuten in einem steinigen , holperichten , ausgefahrenen Feld-und Hohlwege zurückzulegen , um wieder auf allen Höhen unseres jungen , taufeuchten Sommer- und Sonnenrausches festen Fuß zu fassen . » Hurra , der Steinhof ! ... Vivat der Vetter Just Everstein ! « » I , i , wat kümmt mi denn da ? « sagte der Vetter . » Das ist aber schön ! I , siehst du wohl , hier sitze ich nun schon den halben geschlagenen Morgen und warte auf Trost . Da kommt er mir vierspännig , gerade als ich denke , Just , jetzt gehst du zum Essen , ohne daß sie dich suchen , sonst gibt es noch mehr Spektakel und Unfrieden auf dem Hofe , und du hast eigentlich gerade genug für heute davon . « Er saß wirklich auf einem Stein am Wege unter einem Dornbusch außerhalb seines Erbsitzes , dieser kuriose Vetter ; und als er damals aufsteht und gähnt und grinst und sich reckt und dehnt , ist er ein lang aufgeschossener Junge von nicht ganz zwanzig Jahren . Ein vollkommener , aber aus allem rund um ihn und an ihm herausgewachsener Junge . Daß also alles was aus ihm noch werden kann , augenblicklich noch in ihm steckt , ist sicherlich etwas , was nur sehr wenige meiner fraglichen Leser vermuteten . So einer , der etwas selber erlebt und erfahren hat , ist immer klüger als derjenige , welchem er nachher davon erzählt . » Holla , was schiebst du in die Tasche , Vetter ? Richtig , da sitzt er in der Sonne und verstudiert sich weiter ! Zeig gutwillig , oder ich ziehe dir mit der Jacke das Fell vom Leibe ! « ruft Ewald . » Kinder , jetzt macht er auch Verse ! ... Gedankenspiele beim Pflügen !.. . Als Hannchen in die Flachsrotte fiel ! ... Und da hat er den alten Urlateiner , Vater Bröder , auf dem Feldsteine warm gesessen . Ei , guck mal , Fritze , gerade wie wir auf dem dummen Gymnasium ! Was nicht von oben in den Kopf will , dem kommt man viel bequemer mit einem anderen Körperteile bei . Hat jemals jemand so einen verrückten Kerl erlebt ? Es ist doch reinewegs nicht zu glauben , was die Menschheit alles leisten kann . Und dann möchte man sich da nicht die Haare darüber ausraufen , daß man nicht die Häute mit seinem Nebenmenschen austauschen kann ? O ihr gottverdammten Götter von Rom und Griechenland , was gäbe ich dafür , wenn ich der Bauer auf dem Steinhofe wäre und dieses urverbohrte Monstrum mit seiner lateinischen Grammatik hier ich ! « » Jetzt höre auf oder du wirst langweilig , Ewald « , rief Irene Everstein . » Kommen Sie , Vetter Just , und hören Sie nicht auf den albernen Bengel – « » Und du bist doch nicht böse , daß wir schon wieder da sind , lieber Just ? « fragt Eva . » Die beiden Jungen sind schuld daran ; ich wollte eigentlich nicht mit – « » Und wenn sie alle im Grasgarten im Grase liegen und schnarchen , dann sitzen wir beide wach zusammen , Just ! « sage ich , und der Vetter , blöde , freundlich , seelenvergnügt und nicht » urverbohrt « , sondern urverschämt sein glänzend Gebiß im Kreise herum zeigend , steht in unserer Mitte ; und es hat gewiß selten einen anderen Menschen gegeben , der sich so wenig wie er um diese Lebenszeit gegen Güte und Bosheit der Welt zu wehren wußte . Gottlob kommt ihm auch jetzt ein Trost und eine Hülfe aus der Ferne her , nämlich vom Zaun des Steinhofes . » Da ruft sie zum Essen ! Und wir haben gestern ein Rind ich will lieber nicht sagen gegen meinen Willen , sondern wegen Futtermangel , wie sie sagt , geschlachtet . Und jetzt kommt nur rasch ; ihr kennt sie ja ! « In Bodenwerder wird es wahrscheinlich gerade zwölf Uhr schlagen . – – Es ist ein schlechter Boden , sagten die Leute , die sich darauf verstanden , von dem Steinhofe und der dazugehörigen Länderei , und sie konnten nichts dafür , wenn sie es nicht ahnten , was für Prachtgewächse die ser schlechte Boden hervorzubringen vermochte . Es war Jule Grote , die über den Zaun rief , und zwar mit einer Stimme , in die der Himmel alles Gift , was er eben vorrätig hatte gegen die irdischen Zustände , hineingelegt zu haben schien . Ich kenne es heute viel besser als damals , das gute alte Mädchen nämlich , und weiß , was der Vetter an ihr hatte . Er weiß es ebenfalls heute besser als damals . Damals , das heißt an jenem Tage , schob er uns sich voran auf dem Feldwege durch den kärglichen Haferacker und brummte : » Ich komme mit ; aber , Kinder , ich sage euch , gerne wäre ich heute allein nicht nach Hause gegangen ! Es ist alles mal wieder vom frühen Morgen an kopfüber kopfunter gegangen , und ich bin an allem schuld gewesen . Ach Gott , ach Gott , wo ich meine Hände habe , soll ich meinen Kopf haben , und wo ich meinen Kopf habe , da will sie meine Hände sehen . Und dann soll ich meine fünf gesunden Sinne zusammennehmen und bedenken , wozu mich der liebe Herrgott in die Welt und hier auf den Steinhof hingesetzt hat . Und wenn sie nur wüßte , wer ihr all das Elend mit mir eingebrockt hat , sagt sie . Es muß wohl von weit her kommen , meint sie , und das ist das einzige , was sie darüber weiß ; und ich , Fritz , ich weiß auch nicht mehr . Sie hat doch meinen Vater gekannt , und meinen Großvater dunkel ; von den zwei habe ich es wohl auch etwas , aber nicht ganz , sagt sie , wenn ihr die Hände anfangen vor Ärger zu zittern und sie mit der Schürze vor den Augen abgeht und ich auch und ihr doch nichts in der Wirtschaft in den Weg lege , sondern sie mit der Vormundschaft ruhig regieren lasse hier auf dem Steinhofe . Und dann werde ich doch auch erst nächste Ostern übers Jahr mündig und mein eigener Herr ! « Mit einer uns an ihr ganz fremden Grazie schiebt Irene Everstein ihren Arm in den des armen Teufels und sagt : » Bitte , Herr Just . « Das war ganz und gar meine Mutter in ihrem Verkehr mit ihrer Umgebung ; aber bei meiner Mutter hatte ich noch nie darauf geachtet , wie vornehm sie mit den Leuten umzugehen wußte . In diesem Moment aber war es natürlich Herr Ewald Sixtus , Untersekundaner usw. , der's bewies , wie weit man mit einer guten Lunge und mit zärtlich tuender Unverschämtheit in der Welt reicht . Mit der ersten erschütterte er durch ein Jubelgeschrei die Lüfte auf eine Viertelstunde im Umkreis , mit der zweiten sprang er über den Zaun des Steinhofes und hing sich der braven Jungfer Grote an den Hals : » Da sind wir wieder , Jule ! Sehen Sie , so wird die Sehnsucht endlich doch belohnt ! Wie lange stehen Sie denn schon hier und gucken nach mir aus über die Planken , Mamsell Grote ? Komm her , Fritz , und gib Pfötchen . Gibt sie dir aber auch einen Kuß , so morde ich dich heute abend auf dem Rückwege . Lebendig kommst du dann nicht wieder auf Schloß Werden an . Und nun rasch , Jule , Sie wissen es , daß Sie für mich zum Fressen sind ! Rasch – jeder holt sich Messer und Gabel und seinen Teller selber aus der Küche . « » O herrje , herrje – und die jungen Damens auch wieder ! « rief die wackere Haushälterin und Vormünderin auf dem Steinhofe , ächzend sich aus den Armen ihres stürmischen Verehrers und zweiten Lieblings frei machend . » Ich habe es seiner Mutter im Kindbett und Totenbett versprochen , daß ich so lange bei ihm aushalte , als er mich bei sich behält ! « sagte sie von ihrem ersten Liebling – dem Vetter Just Everstein . Nun bekommt Eva Sixtus eine bewillkommnende Hand und dann Irene auch ; letztere aber erst , nachdem diese Hand vorher noch einmal in der blauen Kattunschürze unnötigerweise abgetrocknet und abgewischt worden ist . » Aber das ist mal schön ! Nehmen sie es nur nicht übel ; aber es ist mein Schicksal : jedesmal , wenn wir die Ehre haben , haben wir gemistet auf dem Steinhofe und ist der Herr Just den ganzen Morgen durch nicht aufzufinden und abzurufen gewesen . Ich brauche nur am Abend zu sagen : › Just , jetzt paßt du mir aber auf die Gottesgabe morgen früh ‹ , so geht er durch mit sei nen Lateinerbüchern , und ich sitze allein mitten drin in der Wirtschaft und den Tagelöhnern . Was daraus werden soll , weiß ich nicht ; na , aber Essenszeit ist's freilich jetzo längst , und nächste Ostern übers Jahr wird er einundzwanzig alt und sein eigener Herr . Ach Gott , gnädigstes Fräulein Gräfin , Ihr Herr Vater sollte nur einmal einen einzigsten Tag lang an meiner Stelle sein ! Und – Ihre Mutter auch , Herr Langreuter , aber davon will ich weniger sagen , denn die ist ja auch ein Frauenzimmer und hat das Ihrige durchgemacht in ihrem eigenen Haushalt und bei anderen Leuten . « Achtes Kapitel Wie viele schöne , geistreiche , vornehme Menschen habe ich auf meinem Lebenswege kennengelernt ! Auf die körperliche Schönheit am Menschen achte ich sehr genau und mit größester Teilnahme und bin noch heute imstande , einen ziemlichen Umweg zu machen , um ihr in den Gassen und Häusern begegnen zu können . So bin ich zu der festen Überzeugung gelangt , daß ihrer nicht weniger wird in der Welt . Geist ist im Überfluß vorhanden . Dies weiß ja ein jeder selbst am besten . Wer glaubt nicht , von seinem Überfluß an tausend und aber tausend reichlich abgeben zu können ? Von der Vornehmheit brauche ich eigentlich gar nicht zu reden . Ich habe da nur sehr wenige kennengelernt , die sich in ihrem innersten Herzen nicht zum allerhöchsten Adel der Schöpfung rechneten und jedwede Vernachlässigung , ein jeglich Übersehenwerden dieser schmeichelhaften , aber wahren Tatsache nicht mit den grimmigsten Zugen in das goldene Buch ihrer Selbstschätzung eintrugen . Und je kälter sie dabei lächelten , desto schlimmer war 's für den schnöden , mehr oder weniger unbewußten Gleichmacher . Er sank jedenfalls sehr tief in ihren Augen und sofort unbedingt aus allem Anrecht auf irgendwelche Berücksichtigung ihrerseits vollständig heraus . Und das war recht – ist recht und – wird recht bleiben ; denn es ist allzu angenehm und kitzelt zu süß um das Zwerchfell herum , um jemals von uns als Recht aufgegeben zu werden . Nun hinke ich hier durch den kümmerlichen Hafer seines Feldes hinter dem Vetter Just her . Hübsch ist er nicht , schön noch weniger . Geistreich hat ihn noch niemand genannt , und was seine Vornehmheit anbetrifft – nun , so hat er es ja selber gesagt , daß er mit dem etwas recht fraglich gewordenen Wappen seiner Ahnen über seiner Stalltür nicht das mindeste mehr anzufangen wußte . Was ist es nun , das diesen lang aufgeschlodderten , wehleidigverblüfft um sich stierenden großen Jungen uns als ein Ideal alles dessen , was die Jugend liebhat an der Sonne , der Erde , den Weibern , den Professoren und den Königen , hinstellte ? Eine ganz einfache Sache , nämlich , daß er von allen diesen schönen und herrlichen und großartigen Dingen und Wesen etwas an sich hatte , und zwar das , was die Jugend am ersten und mit der glücklichsten Bewunderung aus ihnen herausfühlt . Die , welchen das zu hoch klingt , haben nie zwischen dem vierzehnten und fünfzehnten Lebensjahre an einem Julitage auf der Erde lang ausgestreckt gelegen und , die Hände unter dem Hinterkopfe , sich – die Sonne ins Maul scheinen lassen , wie die Redensart lautet . Sie haben nie die Großmutter am Winterofen erzählen hören und sie nachher auf dem Sterbebette gesehen ; sie haben nie die Wellen rauschen hören , die Aphrodite gebaren ; und auf das Rauschen und Leuchten der hellen Sommerkleider im Walde hinter ihnen haben sie auch wenig geachtet . Ihnen hat es , was die Gelehrten anbetrifft , nie imponiert , was die verrückten Kerle im Laufe der Jahrtausende alles möglich gemacht haben . Ganz umsonst für sie ist Alexander von Mazedonien bis zum Indus vorgedrungen und hat sich von dem König Porus durch Heldenhaftigkeit gutwillig besiegen lassen . Heldenhaftigkeit ist nicht in ihnen ; sie haben nie die Lebensbeschreibungen des Plutarch unter das Kopfkissen gelegt oder die Kirschblüten im Garten auf sie niederfallen lassen . Heldenhaftigkeit und somit die Sonne , das Geheimnis und Wunder der Erde , das Weib und die Wissenschaft steckten in dem Vetter Just Everstein . » Das ist ein ganz drolliger Patron ! « sagten diejenigen , welche es immerhin noch ganz gut mit ihm meinten und ihre wahre Meinung über ihn nicht zu schroff äußern wollten . » Kennen Sie diesen schnurrigen Kauz , den sogenannten Vetter Just , noch nicht ? « fragte sich die Gegend weit umher und fügte , ohne die Antwort abzuwarten , hinzu : » Oh , dann lernen Sie ihn doch ja recht bald können ; es wird Sie nicht gereuen . « » Düt is 'nen ganz verrückten Minschen « , meinte der zum Steinhofe gehörige Teil der in diesem Augenblicke in diesen Memorabilien um den Eßtisch auf dem Steinhofe versammelten Tafelrunde . Die das sagten – die Knechte , Mägde und Tagelöhner des Steinhofes – , hatten recht , vollkommen , zweifellos recht : der Vetter Just Everstein war ein ganz und gar verrückter , das heißt ihnen und noch vielen anderen gänzlich ins namenlose Weite entrückter Mensch . Es war eine Bauernstube der alten , rechten Art , in der wir uns jetzt mit zu Tische setzen . Und es ist der richtige alte Tisch mit den richtigen Näpfen und Schüsseln darauf . Es hat seit dem Jahre 1838 , in welchem Jahre der Freiherr von Münchhausen seinen Gastfreund , den Baron Schnuck-Puckelig-Erbsenscheucher , in der Bocage zum Warzentrost als Syndikus bei seiner Luftverdichtungs-Aktienkompanie anstellte , manch liebes Mal mehr voll , ein Viertel , halb und drei Viertel auf dem Kirchtürme von Bodenwerder geschlagen . Der Fortschritt ist wieder ungeheuer gewesen ; unsere Bauern sind die » Herren Ökonomen « geworden und gründen längst selber Zuckerfabriken und Luftverdichtungs-Aktiengesellschaften . Ihre Jungfern haben sich » mamsellen « lassen und werden Fräuleins genannt . Fräulein Emerentia von Schnuck-Puckelig ist eine Wahrheit geblieben ; aber die Tochter vom Oberhofe ist zu einem schönen Phantasiebild geworden : der treue Eckart – diesmal Karl Leberecht Immermann genannt hat wieder einmal vergeblich am Wege gestanden und warnend die Hand erhoben . Wir haben uns ein Unterhaltungsstücklein aus seinem weisen , bitterernsten Buche zurechtgemacht ; – kehren wir rasch auf den Steinhof zurück . Was bleibt auch mir anderes übrig , als mir heute aus den Zuständen der Vergangenheit eine angenehme Gegenwartsunterhaltung künstlerisch-chemisch abzuziehen und das Caput mortuum in den frischesten Wind zu streuen , der augenblicklich vor dem Fenster weht ?! Sie saß schon um den Tisch , die Hausgenossenschaft des Steinhofes , als wir dran und drüber hinfielen . Und da Jule Grote vollständig recht hatte und der Meister bis jetzt noch fehlte , so ging es um ein beträchtliches weniger lehrhaft an der Tafelrunde zu als damals auf dem Oberhofe , als der Jäger zum erstenmal der Unterhaltung zwischen dem Hofschulzen und seinen Leuten zuhörte . Große Bohnen und gekochten Schinken gab es heute auch hier wie damals auf dem Oberhofe , als der Jäger dort zum erstenmal seinen Platz am Tische einnahm . Auf des Meisters Stuhl , obgleich er kein Meister war , saß der Vetter . Ihm zur Rechten Jule Grote , ihm zur Linken Irene Everstein . Der zur Seite saß Eva Sixtus und ihr gegenüber ich neben der grimmig-klugäugigen Haushälterin und unbestrittenen Herrin des Steinhofes . Dem Freund Ewald gegenüber lag schwer auf den Tisch hin der Oberknecht , ihm zur Seite saß die Großmagd , und die anderen bis zum Hofjungen schlossen sich in bunter Reihe an . Millionen von Fliegen waren gleichfalls vorhanden , auch Bienen und anderes Flügelgesindel kamen aus dem Garten und der übrigen freien Natur , gerade wie wir von Schloß Werden , ohne vorher um Erlaubnis anzufragen . Die Temperatur in der niedrigen Stube war sehr hochgradig ; die Balken der geweißten Decke drückten schwer herab , und es half gar nichts zur Kühle , daß die schmalen , niedrigen Fenster geöffnet standen . Über die Schwelle der offenen Stubentür traten Hahn und Hühner mit erhobenen Füßen ungeniert und ließen auch ihre Naturlaute nicht etwa blöde auf dem Hofe zurück . Hund und Katze konnten frei ein und aus gehen , hielten sich aber so dicht als möglich an uns ; und da sie nicht auf dem Tische geduldet wurden , so trieben sie sich wenigstens unter ihm herum und warteten mit nervöser Ungeduld auf alles , was von ihm für sie abfiel . Von der Wand hinter dem Vetter Just mahnten die Zehn Gebote , sehr bunt unter Glas und Rahmen , zu ihrer Beobachtung . Hinter dem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern fehlten die Pfauenfedern und neben ihm der Kalender des laufenden Jahres nicht . Seltsam berührte ( ich darf diese kitzelnd zugespitzte moderne Redensart an dieser Stelle wohl anwenden ) nur der Ofen hinter mir , und nicht als solcher , sondern durch das , was auf ihm stand . Auf ihm stand nicht etwa der alte Fritz in Gips mit seinem Krückstock oder der Kaiser Napoleon mit untergeschlagenen Armen ( beides hätte durchaus nicht seltsam berührt ! ) , sondern es stand da in einem hübschen Miniaturgipsabguß , wenngleich ziemlich gelb angeschmaucht – die Mediceische Venus der gesamten Tafelrunde des Steinhofes gegenüber . » Und da ich sie mir einmal von so ' nem wandernden Italiener mit seinem Brett auf dem Kopfe angeschafft habe , so bleibt sie da auch stehen , Fritz ! « hatte mir der Vetter gesagt . » Es braucht ja keiner s' anzugucken , wenn er nicht mag ; – ich habe mein Geld dafür gegeben , Fritz . Sieh mal , ihr anderen und dann alle berühmten Menschen in der Welt habt nur das vor uns voraus , daß ihr euch vor dergleichen nicht fürchtet und schämt . Guck mal , mir geht es noch schwer ab , daß ich darüber rede , und ich täte es auch ganz gewiß nicht , wenn du nicht auch mit den anderen deine schlechten Witze darüber gemacht hättest . Laß mir aber nur mal einer einen mit dem Besenstiel dran rühren ! Dafür hat die weiße Gipsmadam doch zuviel gekostet ! « Dieses letzte Wort bringt mich auf die wenigstens auf dem Papier noch gegenwärtige Stunde zurück . » Anderwärts als hier auf dem Steinhofe esse ich sie nicht , und wenn der Tod darauf stünde « , sagt Ewald , schmatzend wie eines jener unwählerischen Tiere , für welche der Schöpfer die wackere Hülsenfrucht Vicia Faba hauptsächlich erschaffen haben soll . » Evchen mag sie nur ihres Geruches in der Blüte wegen , und Irene ißt sie nur , weil sie schauderhaft hungrig ist und meinetwegen , nämlich weil sie im Heroismus nicht hinter mir bleiben will . Fritze frißt natürlich alles herunter , ohne darüber nachzudenken ; und Sie , Jungfer Grote , bitte , noch 'n Stück aus dem Fetten . Schad't nichts , wenn auch ein bißchen nah vom Knochen . Die Würmer sind ja mit im Kessel gewesen , Jungfer Jule – « » I , so höre einer ! Ein ganz nichtsnutziger Junge bist du « , stammelt die Wirtschafterin des Steinhofes , » und – « » Und beißen einen Sekundaner , den seine Herren Lehrer längst schon Sie anreden müssen , nicht mehr . « Ein breites , glänzendes , zähnefletschendes Grinsen geht um den ganzen Tisch . Die Knechte stoßen ihre Nachbarn mit dem Knie an , die Mägde kichern , und nur der Hofjunge schlingt ungerührt weiter . » I , so soll mich doch !.. . Nun höre einer ! ... Ach , herrje , bist du auch schon so lateinisch ? Du ? ... Was kosten denn jetzt die Rohrstöcke bei euch auf Schulen ? Sind wohl höllisch dies Jahr mißraten in Hinterpommern oder wo sie wachsen , weil du mir hier Glocke zwölf am Tage so kommst wie ein Maikäfer , wenn's Abend wird ?! Herr Langreuter , Sie verdirbt er auch noch in Grund und Boden ; und er ist es auch allein , der alle Augenblicke mit Ihnen hierher nach dem Steinhofe hervagabundiert , daß Sie , Fritzchen , mir meinen Jungen da , meinen Just , noch mehr aus seinem Menschenverstande heraus verführen , was eine Sünde ist , mehr als ich sagen kann , und was seine Schwester auch wohl weiß , und wenn ich nur nicht die lieben Gesichterchen so gern auf dem Steinhof hätte , so wollte ich schon noch mehr sagen ; aber die gnädige Frölen Gräfin darf 's mir dreiste glauben , ich nehme es keinem übel , wenn er es anders gewohnt ist bei Tische , und große Bohnen sind freilich nicht jedermanns Sache , da hat der Junge recht . « » Wenn Sie den hier meinen , Jungfer Grote « , lacht Irene Everstein , mit ihrer Gabel auf Freund Ewald deutend , » so sollte ich nur mal 'nen Augenblick lang Ihren großen Löffel da in der Hand haben ! Ach , herrje , ich würde ihm deutsch auf sein Lateinisch geantwortet haben . Und übrigens haben sie ihn auch nur deshalb mit nach Sekunda genommen , weil er ihnen für Tertia zu lang geworden ist . Wachsen kann jeder , und wir auch ; nicht wahr , Eva ? « Sie stand auf , und da alle sie darauf ansahen , sagte sie : » Ich will mir nur ein Glas Wasser vom Brunnen holen . « » Bleib sitzen , das will ich dir besorgen « , sagte der Vetter Just , gleichfalls aufstellend . » Du weißt doch , Irene , daß dir die Winde zu schwer ist . Es springt hier nicht so bequem aus einem Löwenmaul wie bei euch auf Schloß Werden . « Er erhob sich tölpisch genug von seinem Stuhl ; aber Ewald Sixtus und ich , wir waren ruhig sitzen geblieben ; und es ist auch heute erst , in der Erinnerung der fernen Vergangenheit , daß mir das bemerkenswert erscheint . Ich schätze es übrigens jetzt für ein Glück , daß die Feinfühligkeit nicht bei allen Menschen mit den Jahren wächst . Wer würde es aushalten können in einer Welt , in welcher dieses die Regel wäre und die Leute ohne das in keiner Achtung stehen und es auch nicht zu Vermögen bringen könnten ? Jule Grote sah ihrem vierschrötigen , langen , unmündigen Mündel mit einem Ausdruck von verdrießlichem Jammer nach , der sich gar nicht beschreiben läßt . Sie hob den Löffel zum Munde ; aber sie ließ ihn wieder auf den Teller sinken und brummte : » Da danke einmal einer dem lieben Herrgott für die gute Gottesgabe ! « Und dann grimmig sich zu Ewald Sixtus wendend , rief sie : » Dich sollte dein Vater aus alter Freundschaft von Schulen abtun und hierher auf ein halb Jahr zur Probe in die Wirtschaft geben . Vielleicht brächtest du ihn noch aus der Unvernunft heraus und zu ordentlichem Sinn und Gedanken . Von euch anderen aber ist es mir eine große Ehre und Pläsier ; aber besser ist 's doch , ihr bleibt mir so weit als möglich weg vom Steinhofe . Was nutzt der Kuh Muskate ? Und was haltet ihr mir den Bauer auf dem Steinhofe noch mehr von der Arbeit ab ? Soweit meine Besinnung reicht , haben sie zwarst alle , vom Vater zum Sohn , hier auf dem Hofe 'nen Vogel im Kopfe mit in die Welt gebracht , aber solch ein nichtsnutzig ganzes Nest wie dieser doch keiner ! Du lieber Himmel , was daraus werden wird , weiß ich ; und doch liege ich Nacht für Nacht wach und bitte , daß einer kommt und es mir sagt , gerade als ob ich es wie das höchste Glück nie genug hören könnte ! O ihr junges Volk sollt es nur auch erst einmal erfahren haben , wie es dem Menschen zumute ist , wenn er sich so an seine Sorge anklammern muß und um seinen Willen gar nicht gefragt wird dabei ! « Das war gerufen und doch nur über den Tisch geächzt – » der Leute wegen « ; – als ob die nicht schon längst Bescheid und den Vetter Just zu nehmen gewußt hätten , wie sie ihn gebrauchen konnten . Ihnen war es ganz bequem so , wie er war ; und Jule Grote hatte recht , vollkommen recht in ihrem Jammer und Ingrimm : der Steinhof mußte zugrunde gehen unter einem Bauer wie der Vetter Just Everstein . Doch der Vetter Just ist eben mit dem Glase klaren Wassers aus seinem Ziehbrunnen für die Komtesse Irene zurückgekommen . Er hat fein ein Klettenblatt darunter gelegt , und ein Bär könnte es nicht zierlicher präsentieren . Endlich sind wir alle satt – sogar der Junge vom Hofe ist satt und äußert es durch einen klagevollen Laut , der aber nicht allein Seufzer ist und auch nicht bloß aus der Tiefe seines Busens sich emporringt . Ein jeder geht , mehr oder weniger gutwillig , wieder an seine Arbeit ; nur der Vetter Just nicht , der doch am gutwilligsten gehen sollte . Und wir nicht ; denn dazu sind wir wahrhaftig nicht vom Schloß Werden durchgebrannt ! Wir liegen , wie wir es uns auf jeder schattenlosen Stelle unseres Weges lockend ausgemalt haben , im hohen Grase , im Grasgarten des Steinhofes unter dem großen Kirschbaum ; der Vetter Just Everstein aber sitzt in unserer Mitte am Stamm des Kirschbaumes und hält die Knie mit den langen Armen umschlungen . In der Küche hält Jule Grote die Kaffeemühle im Schoße und schüttelt die Haube und wirft bedenkliche Blicke durch das kleine Fenster nach ihren Gästen und ihrem in aller Welt nichts nützen jungen Herrn und Meister . Dieses aber gehört besser in ein ander Kapitel , und ich beginne das sofort . Neuntes Kapitel Es war nicht der erste Everstein mit einem Nagel oder Vogel im Kopf , den der Steinhof erzeugte . Es hatten schon mehrere des Namens die Umgegend in Erstaunen gesetzt ; und dieser Freund Just war auch nicht der erste , den die Gegend » Vetter « nannte und von dem sie nach jedem Nachbarschaftsbesuche mit der Hand im Haar oder mit dem Knöchel des Zeigefingers vor der Stirn Abschied nahm und sich auf dem Heimwege fragte : Ist denn das 'ne Möglichkeit ? « Der Vetter Just mußte es aber doch wohl in der Absonderlichkeit allen seinen Ahnen zuvortun ; und was zuviel ist , das ist zuviel ! » Vieles hat er von seinem Großvater und seinem Vater , aber nicht alles « , sagte Jule Grote . » Der verfluchte Junge . Totschlagen könnte ich ihn alle Tage ein paar Male ! « pflegte sein seliger Vater zu seufzen . » Und totgeschlagen hätte ich ihn auch schon längst , wenn mir da nicht immer sein Großvater in das Gedächtnis käme , Nachbar , und ich mir denken müßte , was kann er denn eigentlich dafür , wenn 's ihm einmal im Blut steckt ?! Mich hat 's wohl gottlob übersprungen ; aber seinen Großvater hättet Ihr kennen sollen , Nachbar . Na , richtig , Ihr habt ihn ja gekannt , und so müßt Ihr doch auch sagen , daß so 'ne Weisheit , als der prästierte , auch nicht allenthalben und immer für Geld und gute Worte zu haben ist . – So nehme ich ihn denn am Kragen und schüttle ihn in der hellen Wut , und er sieht mich dumm an und sagt nichts oder sagt : › Ja , Vater ! ‹ , und dann muß ich ihn wieder laufen lassen ; – denn , Herr Amtmann , Sie sagen wohl : › Das müssen Sie eben nicht tun , Everstein , sondern Sie müssen sich und dem Bengel einen Zwang antun ‹ , aber nun ist denn dieses wieder nicht in meiner Natur . Ich kann leider Gottes den Grimm und die Wut über den Nichtsnutz nicht festhalten über dem Nachdenken über ihn . Es ist eben unsere Natur ! Was für die anderen Bauern der Mist ist , das sind für uns hier auf dem Steinhofe die Hirngespinste und Spintisierereien ; und seit Olims Zeiten ist das so mit uns gewesen . – Ja , Sie haben recht , Base , daß das nicht so weitergehen kann , wenn der Steinhof nicht zugrunde gehen soll , wenn ich mal die Augen zutue ; aber Sie sind ein verständig Frauenzimmer , Base , und so will ich Ihnen denn meinen letzten Trost nicht vorenthalten . Sehen Sie mal , was hat uns auf dem Steinhofe seit mehr denn hundert Jahren immer wieder rausgerissen ? Die gütige Vorsehung ! So ist das bei meinem Vater gewesen und bei dem seinen und so weiterfort rückwärts . Immer hat sich noch , wenn die Not am größten war – ein vernünftig Weibsbild gefunden , dem das Elend jammerte und das also ein gut Werk an uns tat und – uns nahm . Von meiner will ich nicht reden ; aber seit sie auf dem Kirchhofe liegt , vermisse ich sie doch auch recht sehr ! Aber meine Mutter , als was Justs Großmutter nun ist , das war eine Frau ! Wenn ich da an meinen seligen Vater denke , so kann ich nur die Hände zusammenlegen und sagen : Uh jemine !.. . Und sehen Sie , Base , auf so eine hoffe ich denn auch zum Besten von meinem Strick von Jungen da und bei allem , was nach uns kommt auf dem Steinhofe . Die Weibsleute haben uns noch immer aus dem blauen Nebel und allen Dummheiten herausgeholt . Denn was Sie auch sagen mögen , Base , angewiesen seid ihr ja doch allesamt mit eurem ganzen Interesse auf uns , wenn ihr uns mal genommen habt , eure uneigennützlichen Gefühle beim Jasagen ganz unbesehen . Sie brauchen da nur an den Ihrigen und sich selber zu denken , wenn Sie es mir erlauben , Frau Base . « Für die Richtige war es wohl noch ein wenig zu früh am Tage . » Wenn die Zeit kommt , werde ich mich nach ihr schon auf die Lauer legen , wie es mein Vater für mich getan hat und den sein Vater für ihn « , pflegte der Alte einer jeden solchen sorgenvollen Erörterung als Schluß anzuhängen . Leider erging es ihm wie den meisten Erdenbewohnern : er starb an einer Erkältung in der Heuernte , ehe er sich nach der Rechten auf die Lauer gelegt hatte ; und der Junge hatte dann auch nicht weiter nach ihr gesucht , sondern die Tage und sein Wachstum in ihnen hingenommen , wie's ihm kam , unter staatlicher Obervormundschaft und unter der Pflege und Vormundschaft von Jule Grote . Die Sommersonne scheint auf den dichtbelaubten Kirschbaum , und Licht und Schatten halten ihren flimmernden Tanz auf dem weichen Grase unter ihm . Irene hat ihren blonden Kopf in Evas Schoß gelegt und ist dem Schlafe näher als dem Wachen . Ewald liegt lang ausgestreckt auf dem Bauche , hält seinen Kopf auf beide Fäuste gestützt und starrt blinzelnd auf den Vetter und zuckt mit den Ellenbogen , als ob er die ganze Welt in die Seite stoßen und sie gleichfalls auf ihn aufmerksam machen möchte . Auch ich halte in der grünen Kühle die Augen nur mit Mühe offen ; aber annähernd horche ich doch auf alles , was hin und wieder gesagt wird , und gehe auch wohl mein Wort mit drein . Wenn du lange genug nachgedacht hast , so darfst du meinetwegen dreist sagen , was du denkst , Just . Wenn ich satt bin und weich liege , kann ich allen Unsinn ruhig anhören , Vetter Just « , spricht Ewald mit einer Miene , als ob er noch nie während seiner gelehrten Laufbahn vom Klassenlehrer einer unverschämten Redensart wegen zur Tür hinausbefördert worden sei . » Ich denke ja an gar nichts ! « antwortet der Vetter Just . » Was sollte ich denn denken ? « Irene von Everstein , ihre Augen halb öffnend , murmelt : » Solch einem dummen Jungen antwortete ich auch das nicht einmal , Just . Er soll drei Bäume weitergehen und uns hier unter unserem jetzt ungeschoren lassen . Das ist meine Meinung . « » Und meine auch ! « ruft Evchen Sixtus mit ganz ungewöhnlicher Energie . » I , sieh einmal , Jungfer Naseweis ! Bist du auch noch da ? In deiner Stelle wäre ich längst in der Küche , um Donna Julia Cichoria beim Kaffeekochen und in ihrem Kummer um ihren dummen Jungen zu unterstützen . Was ist deine Ansicht von der Sache , Fritzchen ? « » Halt's Maul und laß mich wenigstens in Ruhe , Ungeheuer . « » Und dies soll nun nicht grob sein ?! « brummt das » belebende Prinzip « in unserer Gesellschaft , dreht sich auf die Seite und grinst : » Bist du mir böse , Just ? « » Seit dem schönen Wetter zu Anfang voriger Woche habe ich euch hier schon voraufgerochen . Jetzt ist es nett von euch , daß ihr mal wieder da seid . Ne , böse bin ich dir gerade nicht ; denn Fritz und deine Schwester und Fräulein Irene wissen es , daß man auf keinen gern wartet , auf den man nicht jeden Morgen nach der Witterung ausguckt . « » Sehr schön gesagt ! « brummt Ewald , jetzt wirklich sich abseits und unter einen etwas entfernten Stachelbeerbusch wälzend . » Gute Nacht , alle miteinander ! Wenn wieder mal was Interessantes vorkommt , so weckt mich freundlichst . In Gehörweite für euren Unsinn bleibe ich euch zu liebe . Na , das Blech ! « Die Sonne liegt auf allen Bäumen des Grasgartens des Steinhofes ; aber die Vögel in den Bäumen haben bereits ihre Siesta beendigt und fangen von neuem an , munter zu werden , um den trotz seiner Länge so kurzen schönen Tag so vergnügt und glücklich als möglich auszunutzen – gerade wie wir . Die Komtesse sitzt wieder aufrecht und sehr helläugig da . Ihre Augen glänzen vor mädchenhaft lustiger Mutwilligkeit , als sie sagt : » Hört nur , er schnarcht schon , der Unmensch ! Jetzt sind wir unter uns . Rückt alle zusammen ; – und nun sagen Sie , Vetter Just – es hört keiner zu als ich und Eva , Fritz und die Spatzen im Baum , und wir meinen es alle ganz ernst – , haben Sie es hübsch weitergebracht , seit wir zum letztenmal hier auf Besuch waren ? « Mit seinem tölpischsten Lächeln sieht der Vetter in die Ferne : » Wieso soll ich es denn weiterbringen , wenn ich nicht mal weiß worin ? « » Ach , verstellen Sie sich nur nicht , Vetter ! Bitte , sehen Sie nicht so dumm aus ! Damit machen Sie anderen Leuten was weis , aber uns nicht . Sie studieren sich immer weiter hinein bis zum Klügsten von uns allen , und das sind Sie auch von Natur schon lange ; und nun werden Sie nur nicht rot , denn das nützt Ihnen noch viel weniger als das Dummaussehen . Sie studieren ja alles rundum verrückt , sagt Jule Grote ; – sich selber – sie – den ganzen Steinhof . Und wo das enden will , weiß sie nicht , sagt sie . « » Es ist auch nur Ewalds Neid , weil er für das , was einem anderen soviel Vergnügen macht , soviel Prügel von seinen Herren Lehrern gekriegt hat « , meint Evchen Sixtus schüchtern , und : » Unsinniges Volk ! « klingt es von dem Stachelbeerbusch faul und schlaftrunken her . » Ja , es ist ein Spaß ! « sagt der lange , im nächsten Jahre mündige Vetter Just Everstein und verzieht den Mund wie ein ausgelachtes Kind , und – heute weiß ich genauer als damals , was das Auslachen und Ausgelachtwerden unter den Menschen bedeutet seit den Tagen des Urvaters Noah . Ich lache viel seltener als damals aus eigenem Antrieb , und noch viel seltener lache ich mit . Damals lachte ich mit , und zwar in die grinsende Bemerkung von dem Stachelbeerbusche her : » Hu , der alte Bröder ! Schlag ihn doch mit unserem Zumpt auf den Kopf , Fritze ! Uh ; na , mein Junge soll 's besser haben als ich . « Wir achten , was unsere Unterhaltung unter dem Kirschbaum anbetrifft , von jetzt an nicht im mindesten mehr auf die Stimme vom Stachelbeerbusch her . » Es ist die lateinische Grammatik gar nicht « , stottert der Vetter . » Sondern deines Großvaters ganzer Bücherschrank , den du mit dem Steinhofe von deinem Vater geerbt hast , Just . Funkes Naturgeschichte , Blancs Geographie , der ganze Schiller , Goethes Götz von Berlichingen und Werthers Leiden , Engels Philosoph für die Welt , Nathan der Weise , Minna von Barnhelm , Emilia Galotti , das Mildheimische Not- und Hülfsbuch , das Mildheimische Liederbuch , Beckers Weltgeschichte und die Geschichte von dem Schweizer Schullehrer Pestalozzi – « » Hat der Kerl auch ein Buch geschrieben ? « fragt der Stachelbeerbusch . » Bist jetzt habe ich gemeint , daß der nur den General Wallenstein nicht mit ermordet hat . « » Ach , das war ja ein ganz anderer ! « ruft Eva Sixtus noch einmal gutmütig , und : » Halt endlich deinen Mund , Sixtus ! « rufe ich auch noch einmal , aber gutmütig gerade nicht , und : » Wer spricht denn eigentlich mit euch ? « klingt es unverschämt zurück . » Nicht einmal träumen darf man wohl mehr von euch verrücktem Volk ? Natürlich , der Herr Vetter darf ruhig am hellen , lichten Tage nachtwandeln gehen , ohne daß es einem anderen auffällt als höchstens der Jungfer Jule . Schön also – und noch einmal gute Nacht ! « Er trifft mit seinen nichtsnutzigen Redensarten dann und wann sonderbarerweise den Nagel auf den Kopf , der gute Freund unter dem Stachelbeerbusch . Wir betrachten uns alle von neuem den Vetter Just Everstein unter seinem Kirschbaum und sehen ihn uns auf das Wort von dem Nachtwandeln hin an . Er läßt die Knie fahren , reibt sich die langen Beine eine Weile sehr nachdenklich , windet sich sozusagen an sich selber langsam und mühselig in die Höhe , hat mich dabei , ohne daß ich den geringsten Widerstand zu leisten imstande bin , mit emporgezogen und sagt : » Komm du mal mit , Fritz . Ihr anderen könnt uns rufen , wenn der Kaffee fertig ist . « Er hält mich mit eisernem Griffe am Oberarm , tritt über den Kameraden unter dem Stachelbeerbusche weitbeinig hinweg und nimmt mich mit sich , und ich weiß schon wohin ; denn es ist nicht das erstemal , daß er mich in dieser oder doch einer ganz ähnlichen Weise abseits führt . Und ich weiß auch schon wozu ; denn es ist nicht das erstemal , daß er sich an mich hält , wenn die anderen und die Welt ihm und er selber sich zuviel werden . Damals lachte ich ebenfalls ; heute sehe ich sehr ernsthaft aus , wenn Leute Vertrauen in mich setzen , Rat von mir haben wollen und sich auf mich mehr als auf andere verlassen zu dürfen glauben . Ich habe im Laufe der Zeiten allzuviel von meinem Grundvermögen an Selbstvertrauen ausgegeben und eingebüßt , um das Ding jetzt noch bequem , leicht und vergnüglich nehmen zu können – ach , armer Vetter Just , und wie fest und angsthaft verließest du dich an jenem Sommertage auf meine Schülerweisheit und wolltest Licht daraus für deinen ganzen tapferen , guten , großen Lebensweg ! Mein bester Trost ist da heute , daß dir damals noch viel weniger damit geholfen gewesen wäre , wenn ich dir mit der vollen Summe meiner jetzigen Weisheit hätte aufwarten und zu Hülfe springen können ! Es befindet sich in einem Erker im Dache des Wohngebäudes auf dem Steinhofe ein einfenstriges Gemach , von dem aus man eine weite Aussicht hat über Wälder und Felder , ferne und nahe Hügel und Berge , eine Aussicht , so gut sie eben ein Blick , dem Lande Westfalen zu , liefern mag . Die Wände sind vor fünfzig Jahren vielleicht zum letztenmal geweißt worden . Der Gipsfußboden ist in den kuriosesten Mustern nach allen Richtungen hin gesprungen und senkt sich ziemlich schräg von dem Fenster der Tür zu . Urväterhausrat ist der Ofen , der Tisch und die zwei Stühle . Urväterhausrat ist der Schrank , der des Großvaters Bücherei enthält . Ein gut Drittel alles Raumes nimmt des Vetter Justs Bettsponde ein , in welcher der Vetter , ganz entgegen der landesüblichen Gewohnheit , auf Stroh schläft und auch nicht unter dem gewohnten Federgebirge und kugelartigen Deckbett . » Er ist ein Monster in allem , was er tut und läßt ! « stöhnt Jule Grote jedesmal , wenn sie den Schlüssel in der Tür steckend findet oder ihn sich mit Gewalt erobert . Der Vetter , der meinen Arm auch auf der Treppe nicht losgelassen hat , befördert mich mit einem plötzlichen Schub und Stoß in die Mitte seines Heiligtums . Hastig verschließt und verriegelt er die Pforte von innen , dann wendet er mir ein von verschämtem , aber glückseligstem Lächeln verklärtes Gesicht zu und seufzt aus tiefster Brust : » So ! Nun laß sie kommen ! ... Willst du eine Zigarre , Fritz ? « Ich weiß , obgleich ich selber nichts weiter als ein » dummer Junge « bin , womit ich dem alten wundervollen Jungen in diesem Raume zu Gefallen sein kann wie niemand sonst in der Welt . Und die Luft in diesen engen vier Wänden muß von sonderbaren Sporen und Keimen erfüllt sein : Dschinnistan ist für uns beide da ; die träge Verdauungsstunde unter den Bäumen des Grasgartens , aus dem wir eben die Treppe heraufgekommen sind , ist wie in ein fern vergangenes Jahrhundert entrückt , ich sitze auf dem Bette des Vetters , und er hält mir das brennende Schwefelholz an den dargebotenen Glimmstengel und flüstert glänzenden Auges : » Langreuter , ich habe ihn heraus ! « Es ist ein süßes Blatt , das ich da verqualme ; aber ins Husten gerate ich doch darüber , und zwischen dem Husten frage ich : » Wen hast du heraus , Just ? « Ein Schlag auf die Schulter wirft mich zurück auf den Strohsack und mit dem Hinterkopf an die Wand . » Den Magister matheseos !.. . Es ist , weiß Gott , richtig ! Das Quadrat der Hypotenuse ist wahrhaftig so groß wie die Summe der Quadrate der beiden Katheten am rechtwinkeligen Dreieck ! « Ich reibe mir wohl den Hinterkopf ein wenig ; aber so betäubt haben mich der körperliche Puff und die geistige Überraschung doch nicht , daß ich nicht mit Herz und Seele , mit Armen und Beinen und vor allem mit einem Hurra aus gesunder Lunge an der wissenschaftlichen Errungenschaft des Vetters teilnehmen könnte . » Das ist famos ! Das ist brillant ! Just , das ist großartig ! ... Und ganz allein aus dir selber ; – das ist riesig – « » Ich habe dich auch bloß dazu mit hier heraufgenommen . Jetzt brauchst du nur noch zu brüllen : Das ist borstig ! Das ist haarig ! – und wir können wieder zu Ewald und den Mädchen in den Garten hinuntergehen , Fritz ! « Es kommt einem gewöhnlich erst , lange nachdem man alle seine Examina hinter sich hat , wie schwer es ist , mit den wirklichen großen Herren aus Dschinnistan umzugehen , und – den meisten kommt es gar nicht . Die lobwürdigsten Examina in sämtlichen Brotfächern tun da nicht das geringste zur Sache . Mit wahrer Subtilität will nur immer das behandelt sein , was hinter dem berühmten Kanzler Oxenstjerna steckt , nicht der wenige Verstand in ihm – nach seinem eigenen Wort – , der dazu gehört , um die Welt militärisch und civiliter zu verwalten . » Du hast recht , Vetter « , sage ich kleinlaut zurück ; » vergib mir nur noch mal das Dumme-Jungen-Betragen . Na , alter Kerl , gib mir die Hand . Daß ich mich riesenhaft freue , wenn es dir gut geht , weißt du ja . Und daß du ein nobler Kerl bist und zwanzigmal mehr wert als wir anderen miteinander , das weiß ich . Und jetzt komm hierher an den Tisch und beweise mir das nichtsnutzige Untier Von Lehrsatz gleichfalls . Was die verdammte Bestie mich an Schweiß und Blut gekostet hat , das wissen die Götter . Und frage nur Ewald . Mathematik ist seine Force , aber drei Glatzköpfe könnten sich Perücken aus den Haaren machen lassen , die er sich darüber ausgerauft hat , und vom Oberlehrer Dr. Grimme weiß ich es fest : er trägt eine aus dem Busche , der auf Ewalds Kopf gewachsen ist , und hat sich das Material selber mit den Wurzeln ausgezogen . « » Den Witz habe ich schon einmal anderswo in Büchern gelesen , Fritz « , meint der Vetter . Dann kannst du dich fest darauf verlassen , daß es gar kein Witz ist , sondern eine richtige , schreckliche Wahrheit , Just . Frage nur Ewald danach . « Nun hängen wir über dem Tische , und der Vetter Just Everstein beweist mir den Magister . Es müßte ein gut Stück vom einstürzenden Himmel dem Erben und Meister des Steinhofes auf den Kopf fallen , um ihn zum Aufgucken zu Veranlassen . Er verwickelt sich und gerät auf falsche Fährten und gerät auch sich mit der Faust in den blonden Haarwulst . Er findet sich wieder zurecht , und es wird licht und immer lichter vor und in seinen Augen . Endlich ist er siegreich durch und sein autodidaktischer Triumph vollständig . » Hurra ! ... Weiß Gott , er hat den Pythagoras unter sich und kniet ihm auf der Brust ! ... Vetter , du bist ein Riese ! Und auch dies hast du alles aus dir selber ... ? « » Und aus Büchern ! « sagt der Vetter Just Everstein viel verschämter als ein junges Mädchen , dem man zum erstenmal sagt , daß es hübsch sei . Die junge Dame auf dem Ball erfährt da natürlich nichts , als was sie sich schon längst selber mitgeteilt hat ; der Vetter Just aber weiß von nichts , was ihn selber angeht , und glaubt am meisten noch der Mamsell Jule Grote , die ihm jeden Tag von neuem zu hören gibt , daß er der größte Nichtsnutz , Unverstand und Tagedieb sei , den der liebe Herrgott in seinem Zorn zu ihrem Elend in die Welt und auf den Steinhof habe hinsetzen können . Von den » Büchern « kommen wir natürlich auf des Großvaters Bücherschrank . Dschinnistan – Genieland , Geisterland öffnet seine Pforten immer weiter . Wir haben längst alle Berechnung darüber verloren , was es in Bodenwerder geschlagen haben mag auf dem Kirchturme . Wir kümmern uns nicht im geringsten darum , daß es auch auf dem Steinhofe eine Uhr gibt , die ziemlich richtig die Zeit anzeigt und von Jule Grote gewissenhaft immer von neuem aufgezogen wird . Wir sind zum Kaffee gerufen worden und haben nur geantwortet : » Ja , gleich . Im Augenblick ! « Irene hatte Freund Ewald die Augen mit ihrem Taschentuch verbunden , und er hat den Blinden im Blindekuhspiel recht gut zu spielen gewußt . Wir haben das helle Lachen und Kreischen wohl vernommen und dabei aufgeguckt und gefühlt , daß es in dieser engen Kammer unter dem Dache an diesem Julinachmittage ziemlich schwül sei trotz dem offenen Fenster ; aber wir haben auch diesen Lockungen nicht Folge geleistet , sondern nur wiederholt : » Ja , gleich ! Wir kommen ja schon ! « Damals brummte mir der Kopf , als Ewald Sixtus zuletzt eine Leiter mit Hülfe des Hofjungen vom Schafstall herüberschleppte , sie am Hause emporrichtete und plötzlich durch jaches Erscheinen in der Fensterbank und unbändig Geschrei uns mit roten Köpfen und offenen Mäulern aus Traumland und Literatur vom Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in die Welt der Wirklichkeit und in die Gegenwart zurückriß . Heute weiß ich ganz genau , wie das Schicksal , wahrscheinlich mit dem Finger an der Nase , über den Vetter Just Everstein dachte , nämlich : » Höre , lieber Sohn , dich kenne ich wie alles übrige gut genug , um dich wie alles übrige auswendig zu wissen . Du würdest mir ein netter Halm geworden sein , wenn ich dich von deinen Eierschalen an auf den Mist gesetzt hätte , der dir heute dein Ideal ist. Dich hätte ich wohl verbrauchen sollen als dyspeptischen Professor der Philologie und dysoptischen Doktor der Philosophie nicht wahr ?! Ne , ne ; nicht rühran ! Hier wächst du mir mit deinen Spinnen im Kopfe auf deinem angeerbten höchst realen väterlichen Dünger und in der Gesellschaft von Jule Grotes Ferkeln und Küken auf . Nachher werden wir weitersehen und den Kerlen mit ihren Systemen beweisen , daß doch auch in unserem Durcheinander und Kopfüber-Kopfunter ein gewisses System vorhanden ist ! Bitte , geniere dich ja nicht , du Tropf ! Rede mir nur drein und zappele dich ab , um dir und mir meine Widersinnigkeit zu beweisen . Es haben mich schon ganz andere Völkerschaften und Herrschaften als du für absolut ungereimt erklärt und das mir sogar auch schriftlich gegeben ; ich habe aber zuletzt immer doch noch einen ziemlich passenden Reim auf sie zu finden gewußt . Nur schade , daß ich nicht wie ihr sagen kann : Wer zuletzt lacht , lacht am besten . « Zehntes Kapitel » Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft ! « Es schläft auf allen Hügeln in der Ferne der Erinnerung für den rechten Menschen : die Sonne mag ihm noch so häufig hell und scharf aufgegangen sein im Leben . Und Porzia sagt : Das Licht , das wir da sehen , brennt im Saal : Wie weit die kleine Kerze Schimmer wirft ! Und Porzia sagt : » Horch , Musik ! « » Es sind die Musikanten Eures Hauses « , antwortet Nerissa ; und – one touch of nature makes the whole world kin : wer möchte nicht immer so nach Hause kommen , bei Mondenlicht und wenn der Schein der heimatlichen Lampe durch die Bäume flimmert und des Hauses Musik dem Heimkehrenden , der den heißen Tag mit seinen Freuden , Nichtigkeiten und Widerwärtigkeiten durchwanderte , leise und wehmütig , aber süßer und herzlösender als alles , was der Tag zu bieten hatte , von fernher entgegenklingt ? Das ist nicht bloß in Belmont so gewesen , das war lange vorher so , ehe Venedig existierte , und wird hoffentlich auch wohl noch so sein , wenn es längst wieder in dem Sumpfe , aus dem es emporstieg , versunken ist . Wie oft sind wir so heimgekommen , wir glücklichen Kinder damals ?! Aus den grünen Wäldern und aus den bereiften Wäldern . Aus der Maiblumenzeit und aus dem Herbststurm . Von der Johanniswürmerjagd und vom Eislauf . Sie behaupteten dann jedesmal , daß sie sich recht sehr um uns geängstigt hätten ; aber dieses gehörte ja ganz und gar zu der Musik , mit der uns die Heimat empfing , und wer möchte in späteren Jahren einen Ton der besorgten Liebe , die früher auf ihn achtete , in der Erinnerung vermissen ? Sie haben es uns nicht merken lassen , oder aber wir haben auch wohl nicht darauf geachtet , daß viel grimmigere Sorgen als unser spätes Nachhausekommen das Schloß Werden ängstigten . Der Herr Graf hat es seiner Tochter nicht mitgeteilt , welch einem schlimmen Shylock mit Messer und Waagschale seine Existenz verpfändet war . Er hat seine Lebensnot für sich behalten , wie meine Mutter ihre Ahnungen davon gleichfalls nicht laut werden ließ . Selbstverständlich haben doch viele Leute darum gewußt ; wir aber nicht , denn zu den » Leuten « gehörten wir eben damals noch nicht . Es gehört erst das richtige Alter dazu , ehe man zu seinem eigenen Schaden von der Welt unter jenes Sammelwort mit einbegriffen wird . Daß es schlecht um den Steinhof stand , wußten wir ; denn Jule Grote tat ihrer Zunge keinen Zwang an in ihren Warnungen und Vorwürfen , mit denen sie ihn ( den Vetter Just einbegriffen ) immer noch zu retten oder , wie sie sich ausdrückte , » herauszureißen « hoffte ; – aber wie schlimm es um Schloß Werden stand , das haben wir erst erfahren , als nichts mehr herauszureißen war . Die Leute hatten eben viel zuviel Respekt vor dem Herrn Grafen , um ihm mit ihren Warnungen , Redensarten , gutem Rat und Vorwürfen zu kommen . Aber aus Kindern werden Leute . Die Zeit steht nicht still – weder in dem grünen Walde noch im entblätterten , weder über der Weizensaat noch über dem Stoppelfelde , nicht auf dem Flusse noch diesseits und jenseits desselben , weder in Bodenwerder noch auf dem Steinhofe und auf Schloß Werden . Wir sind vier oder fünf Jahre älter geworden und , was uns Knaben anbetrifft , eben dem Gymnasium entwachsen . Ich habe mich der Philologie gewidmet und treibe die dahin einschlägigen Studien in der großen Stadt Berlin ; was daraus werden wird , ist mir augenblicklich noch recht dunkel ; ich habe eigentlich nicht gerade viel Lust , später einmal den gelehrten Schulmeister zu spielen und meinesgleichen wiederum heranzubilden und großzuziehen . Ewald Sixtus befindet sich auf einem süddeutschen Polytechnikum . Er hat die Absicht , Baumeister , Ingenieur oder dergleichen zu werden , und kostet vorderhand seinem » Alten « in dem » billigen Süden « ein Erkleckliches . » Unser römischer Namensvetter würde wohl andere Saiten gegen seinen Jungen aufgezogen haben , wenn die Wechsel nie reichen wollten « , brummt der Alte in dem Försterhause . » Aber der Wildkater weiß es einem immer so plausibel zu machen , Herr Graf ; – und dann ist da jedesmal , wenn die Ferien kommen , seine Schwester für ihn da , Frau Langreuter , und geht einem um den Bart ; und so ein gutes Kind wie das Mädchen , Frau Langreuter , das hat die Gegend hier herum noch nicht weiter aufgezogen ; die gnädige Komtesse ist natürlich ganz anders ein nettes , vornehmes Frauenzimmer . – Ei , sich mal , Fritze , bist du auch mal wieder da ? Jaja , der alte Kessel ! Nicht wahr , es rudelt sich doch immer wieder ganz gut daselbsten ? Na , morgen kommt auch mein Junge ; da werden ja denn wohl das stille Leben und die Friedlichkeit für anderthalb Monate ihr Ende haben . «