Erster Band Erstes Kapitel Heiligabend Es war Weihnachten 1812 , Heiliger Abend . Einzelne Schneeflocken fielen und legten sich auf die weiße Decke , die schon seit Tagen in den Straßen der Hauptstadt lag . Die Laternen , die an lang ausgespannten Ketten hingen , gaben nur spärliches Licht ; in den Häusern aber wurde es von Minute zu Minute heller , und der » Heilige Christ « , der hier und dort schon einzuziehen begann , warf seinen Glanz auch in das draußen liegende Dunkel . So war es auch in der Klosterstraße . Die Singuhr der Parochialkirche setzte eben ein , um die ersten Takte ihres Liedes zu spielen , als ein Schlitten aus dem Gasthof » Zum grünen Baum « herausfuhr und gleich darauf schräg gegenüber vor einem zweistöckigen Hause hielt , dessen hohes Dach noch eine Mansardenwohnung trug . Der Kutscher des Schlittens , in einem abgetragenen , aber mit drei Kragen ausstaffierten Mantel , beugte sich vor und sah nach den obersten Fenstern hinauf ; als er jedoch wahrnahm , daß alles ruhig blieb , stieg er von seinem Sitz , strängte die Pferde ab und schritt auf das Haus zu , um durch die halb offenstehende Tür in dem dunklen Flur desselben zu verschwinden . Wer ihm dahin gefolgt wäre , hätte notwendig das stufenweise Stapfen und Stoßen hören müssen , mit dem er sich , vorsichtig und ungeschickt , die drei Treppen hinauffühlte . Der Schlitten , eine einfache Schleife , auf der ein mit einem sogenannten » Plan « überspannter Korbwagen befestigt war , stand all die Zeit über ruhig auf dem Fahrdamm , hart an der Öffnung einer hier aufgeschütteten Schneemauer . Der Korbwagen selbst , mutmaßlich um mehr Wärme und Bequemlichkeit zu geben , war nach hinten zu , bis an die Plandecke hinauf , mit Stroh gefüllt ; vorn lag ein Häckselsack , gerade breit genug , um zwei Personen Platz zu gönnen . Alles so primitiv wie möglich . Auch die Pferde waren unscheinbar genug , kleine Ponies , die gerade jetzt in ihrem winterlich rauhen Haar ungeputzt und dadurch ziemlich vernachlässigt aussahen . Aber wie immer auch , die russischen Sielen , dazu das Schellengeläut , das auf rot eingefaßten , breiten Ledergurten über den Rücken der Pferde hing , ließen keinen Zweifel darüber , daß das Fuhrwerk aus einem guten Hause sei . So waren fünf Minuten vergangen oder mehr , als es auf dem Flur hell wurde . Eine Alte in einer weißen Nachthaube , das Licht mit der Hand schützend , streckte den Kopf neugierig in die Straße hinaus ; dann kam der Kutscher mit Mantelsack und Pappkarton ; hinter diesem , den Schluß bildend , ein hochaufgeschossener junger Mann von leichter , vornehmer Haltung . Er trug eine Jagdmütze , kurzen Rock und war in seiner ganzen Oberhälfte unwinterlich gekleidet . Nur seine Füße steckten in hohen Filzstiefeln . » Frohe Feiertage , Frau Hulen « , damit reichte er der Alten die Hand , stieg auf die Deichsel und nahm Platz neben dem Kutscher . » Nun vorwärts , Krist ; Mitternacht sind wir in Hohen-Vietz . Das ist recht , daß Papa die Ponies geschickt hat . « Die Pferde zogen an und versuchten es , ihrer Natur nach , in einen leichten Trab zu fallen ; aber erst als sie die Königsstraße mit ihrem Weihnachtsgedränge und Waldteufelgebrumm im Rücken hatten , ging es in immer rascherem Tempo die Landsberger Straße entlang und endlich unter immer munterer werdendem Schellengeläut zum Frankfurter Tore hinaus . Draußen umfing sie Nacht und Stille ; der Himmel klärte sich , und die ersten Sterne traten hervor . Ein leiser , aber scharfer Ostwind fuhr über das Schneefeld , und der Held unserer Geschichte , Lewin von Vitzewitz , der seinem väterlichen Gute Hohen-Vietz zufuhr , um die Weihnachtsfeiertage daselbst zu verbringen , wandte sich jetzt , mit einem Anflug von märkischem Dialekt , an den neben ihm sitzenden Gefährten . » Nun , Krist , wie wär es ? Wir müssen wohl einheizen . « Dabei legte er Daumen und Zeigefinger ans Kinn und paffte mit den Lippen . Dies » wir « war nur eine Vertraulichkeitswendung ; Lewin selbst rauchte nicht . Krist aber , der von dem Augenblick an , wo sie die Stadt im Rücken hatten , diese Aufforderung erwartet haben mochte , legte ohne weiteres die Leinen in die Hand seines jungen Herrn und fuhr in die Manteltasche , erst um eine kurze Pfeife mit bleiernem Abguß , dann um ein neues Paket Tabak daraus hervorzuholen . Er nahm beides zwischen die Knie , öffnete das mit braunem Lack gesiegelte Paket , stopfte und begann dann mit derselben langsamen Sorglichkeit nach Stahl und Schwamm zu suchen . Endlich brannte es ; er tat , indem er wieder die Leine nahm , die ersten Züge , und während jetzt kleine Funken aus dem Drahtdeckel hervorsprühten , ging es auf Friedrichsfelde zu , dessen Lichter ihnen über das weiße Feld her entgegenschienen . Das Dorf lag bald hinter ihnen . Lewin , der sich's inzwischen bequem gemacht und durch festeren Aufbau einiger Strohbündel eine Rückenlehne hergerichtet hatte , schien jetzt in der Stimmung , eine Unterhaltung aufzunehmen . Ehe des Kutschers Pfeife brannte , wär es ohnehin nicht rätlich gewesen . » Nichts Neues , Krist ? « begann Lewin , indem er sich fester in die Strohpolster drückte . » Was macht Willem , mein Päth ? « » Dank schön , junger Herr , he is ja nu wedder bi Weg . « » Was war ihm denn ? « » He hett sich verfiert . Un noch dato an sinen Gebortsdag. Et is nu en Wochner drei ; ja , up 'n Dag hüt , drei Wochen . Oll Doktor Leist von Lebus hett em aber wedder torecht bracht . « » Er hat sich verfiert ? « » Ja , junger Herr , so glöwen wi all . Et wihr wol so um de fiefte Stunn , as mine Fru seggen däd : › Willem , geih , un hol uns en paar Äppels , awers von de Renetten up 'n Stroh , dicht bi de Bohnenstakens . ‹ Un uns Lütt-Willem ging ooch , un ick hürt em noch flüten un singen un dat Klapsen von sine Pantinen ümmer den Floor lang . Awer dunn hürt ick nix mihr , un as he nu an de olle wackelsche Döör käm un in den groten Saal rinn wull , wo uns Äppels liggen und wo de Lüt seggen , dat de oll Matthias spöken deiht , da möt em wat passiert sinn . He käm nich un käm nich ; un as ick nu nahjung un sehn wull , wo he bliwen däd , da läg he , glieks achter de Schwell , as dod up de Fliesen . « » Das arme Kind ! Und Eure Frau ... « » De käm ooch , un wi drögen em nu torügg in unse Stuv un rewen em in . Mine Fru hätt ümmer en beten Miren-Spiritus to Huus . As he nu wedder to sich käm , biwwerte em de janze lütte Liew , un he seggte man ümmer : › Ick hebb em sehn . ‹ « Lewin hatte sich zurechtgerückt . » Es geht also wieder besser « , warf er hin , und wie um loszukommen von allerhand Bildern und Gedanken , die des Kutschers Erzählung in ihm angeregt hatte , fuhr er hin und her in Erkundigungen , worauf Krist mit soviel Ausführlichkeit antwortete , wie ihm die Raschheit der Fragen gestattete . Dem Schulzen Kniehase war einer von seinen Braunen gefallen ; bei Hoppenmarieken hatte der Schornstein gebrannt ; bei Witwe Gräbschen hatte Nachtwächter Pachaly einen mittelgroßen Sarg , mit einem Myrtenkranz darauf , vor der Haustür stehen sehn , » un wihl et man en mittelscher Sarg west wihr , so hedden se all an de Jüngscht , an Hanne Gräbschen , ' dacht . De is man kleen und piept all lang . « Die Sterne traten immer zahlreicher hervor . Lewin lupfte die Kappe , um sich die Stirn von der frischen Winterluft anwehen zu lassen , und sah staunend und andächtig in den funkelnden Himmel hinauf . Es war ihm , als fielen alle dunklen Geschicke , das Erbteil seines Hauses , von ihm ab und als zöge es lichter und heller von oben her in seine Seele . Er atmete auf . Zwei , drei Schlitten flogen vorüber , grüßten und sangen , sichtlich Gäste , die im Nebendorf die Bescherung nicht versäumen wollten ; dann , ehe fünf Minuten um waren , glitt das Gefährt unserer zwei Freunde unter den Giebelvorbau des Bohlsdorfer Kruges . Bohlsdorf war drittel Weg . Niemand kam . An den Fenstern zeigte sich kein Licht ; die Krügersleute mußten in den Hinterstuben sein und das Vorfahren des Schlittens , trotz seines Schellengeläutes , überhört haben . Krist nahm wenig Notiz davon . Er stieg ab , holte eine der Stehkrippen heran , die beschneit an dem Hofzaun entlang standen , und schüttete den Pferden ihren Hafer ein . Auch Lewin war abgestiegen . Er stampfte ein paarmal in den Schnee , wie um das Blut wieder in Umlauf zu bringen , und trat dann in die Gaststube , um sich zu wärmen und einen Imbiß zu nehmen . Drinnen war alles leer und dunkel ; hinter dem Schenktisch aber , wo drei Stufen zu einem höher gelegenen Alkoven führten , blitzte der Christbaum von Lichtern und goldenen Ketten . In diesem Weihnachtsbilde , das der enge Türrahmen einfaßte , stand die Krügersfrau in Mieder und rotem Friesrock und hatte einen Blondkopf auf dem Arm , der nach den Lichtern des Baumes langte . Der Krüger selbst stand neben ihr und sah auf das Glück , das ihm das Leben und dieser Tag beschert hatten . Lewin war ergriffen von dem Bilde , das fast wie eine Erscheinung auf ihn wirkte . Leiser , als er eingetreten war , zog er sich wieder zurück und trat auf die Dorfstraße . Gegenüber dem Kruge , von einer Feldsteinmauer eingefaßt , lag die Bohlsdorfer Kirche , ein alter Zisterzienserbau aus den Tagen der ersten Kolonisation . Es klang deutlich von drüben her , als würde die Orgel gespielt , und Lewin , während er noch auf horchte , bemerkte zugleich , daß eines der kleinen , in halber Wandhöhe hinlaufenden Rundbogenfenster matt erleuchtet war . Neugierig , ob er sich täuschte oder nicht , stieg er über die niedrige Steinmauer fort und schritt , zwischen den Gräbern hin , auf die Längswand der Kirche zu . Ziemlich inmitten dieser Wand bemerkte er eine Pforte , die nur eingeklinkt , aber nicht geschlossen war . Er öffnete leise und trat ein . Es war , wie er vermutet hatte . Ein alter Mann , mit Samtkäppsel und spärlichem weißen Haar , saß vor der Orgel , während ein Lichtstümpfchen neben ihm eine kümmerliche Beleuchtung gab . In sein Orgelspiel vertieft , bemerkte er nicht , daß jemand eingetreten war , und feierlich , aber gedämpften Tones klangen die Weihnachtsmelodien nach wie vor durch die Kirche hin . Übte sich der Alte für den kommenden Tag , oder feierte er hier sein Christfest allein für sich mit Psalmen und Choral ? Lewin hatte sich die Frage kaum gestellt , als er , der Orgel gegenüber , einen zweiten Lichtschimmer wahrnahm ; auf der untersten Stufe des Altars stand eine kleine Hauslaterne . Als er näher trat , sah er , daß Frauenhände hier eben noch beschäftigt gewesen sein mußten . Ein Handfeger lag da , daneben eine kurze Stehleiter , die beiden Seitenhölzer oben mit Tüchern umwunden . Das Licht der Laterne fiel auf zwei Grabsteine , die vor dem Altar in die Fliesen eingelegt waren ; der eine zur Linken enthielt nur Namen und Datum , der andere zur Rechten aber zeigte Bild und Spruch . Zwei Lindenbäume neigten ihre Wipfel einander zu , und darunter standen Verse , zehn oder zwölf Zeilen . Nur die Zeilen der zweiten Strophe waren noch deutlich erkennbar und lauteten : Sie sieht nun tausend Lichter ; Der Engel Angesichter Ihr treu zu Diensten stehn ; Sie schwingt die Siegesfahne Auf güldnem Himmelsplane Und kann auf Sternen gehn . Lewin las zwei- , dreimal , bis er die Strophe auswendig wußte ; die letzte Zeile namentlich hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht , von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte . Dann sah er sich noch einmal in der seltsam erleuchteten Kirche um , deren Pfeiler und Chorstühle ihn schattenhaft umstanden , und kehrte , die Türe leise wieder anlehnend , erst auf den Kirchhof , dann , mit raschem Sprung über die Mauer , auf die Dorfstraße zurück . Der Krug hatte indessen ein verändertes Ansehen gewonnen . In der Gaststube war Licht ; Krist stand am Schenktisch im eifrigen Gespräch mit dem Krüger , während die Frau , aus der Küche kommend , ein Glas Kirschpunsch auf den Tisch stellte . Sie plauderten noch eine Weile auch über den alten Küster drüben , der , seitdem er Witmann geworden , seinen Heiligen Abend mit Orgelspiel zu feiern pflege ; dann , unter Händeschütteln und Wünschen für ein frohes Fest , wurde Abschied genommen , und an den stillen Dorfhütten vorbei ging es weiter in die Nacht hinein . Lewin sprach von den Krügersleuten ; Krist war ihres Lobes voll . Weniger wollt er vom Bohlsdorfer Amtmann wissen , am wenigsten vom Petershagener Müller , an dessen abgebrannter Bockmühle sie eben vorüberfuhren . Aus allem ging hervor , daß Krist , der allwöchentlich dieses Weges kam , den Klatsch der Bierbänke zwischen Berlin und Hohen-Vietz in treuem Gedächtnis trug . Er wußte alles und schwieg erst , als Lewin immer stiller zu werden begann . Nur kurze Ansprachen an die Ponies belebten noch den Weg . Die regelmäßige Wiederkehr dieser Anrufe , das monotone Schellengeläut , das alsbald wie von weit her zu klingen schien , legte sich mehr und mehr mit einschläfernder Gewalt um die Sinne unseres Helden . Allerhand Gestalten zogen an seinem halb geschlossenen Auge vorüber ; aber eine dieser Gestalten , die glänzendste , nahm er mit in seinen Traum . Er saß vor ihr auf einem niedrigen Tabouret ; sie lachte ihn an und schlug ihn leise mit dem Fächer , als er nach ihrer Hand haschte , um sie zu küssen . Hundert Lichter , die sich in schmalen Spiegeln spiegelten , brannten um sie her , und vor ihnen lag ein großer Teppich , auf dem Göttin Venus in ihrem Taubengespann durch die Lüfte zog . Dann war es plötzlich , als löschten alle diese Lichter aus ; nur zwei Stümpfchen brannten noch ; es war wie eine schattendurchhuschte Kirche , und an der Stelle , wo der Teppich gelegen hatte , lag ein Grabstein , auf dem die Worte standen : Sie schwingt die Siegesfahne Auf güldnem Himmelsplane Und kann auf Sternen gehn . Süß und schmerzlich , wie kurz vorher bei wachen Sinnen ihn diese Worte berührt hatten , berührten sie ihn jetzt im Traum . Er wachte auf . Noch eine halbe Meile , junger Herr « , sagte Krist . » Dann sind wir in Dolgelin ? « » Nein , in Hohen-Vietz . « » Da hab ich fest geschlafen . « » Dritthalb Stunn . « Das erste , was Lewin wahrnahm , war die Sorglichkeit , mit der sich der alte Kutscher mittlerweile um ihn bemüht hatte . Der Futtersack war ihm unter die Füße geschoben , die beiden Pferdedecken lagen ausgebreitet über seinen Knien . Nicht lange , und der Hohen-Vietzer Kirchturm wurde sichtbar . An oberster Stelle eines Höhenzuges , der nach Osten hin die Landschaft schloß , stand die graue Masse , schattenhaft im funkelnden Nachthimmel . Dem Sohne des Hauses schlug das Herz immer höher , sooft er dieses Wahrzeichens seiner Heimat ansichtig wurde . Aber er hatte heute nicht lange Zeit , sich der Eigentümlichkeit des Bildes zu freuen . Die beschneiten Parkbäume traten zwischen ihn und die Kirche , und einige Minuten später schlugen die Hunde an , und zwischen zwei Torpfeilern hindurch beschrieb der Schlitten eine Kurve und hielt vor der portalartigen Glastüre , zu der zwei breite Sandsteinstufen hinaufführten . Lewin , der sich schon vorher erhoben hatte , sprang hinaus und schritt auf die Stufen zu . » Guten Abend , junger Herr « , empfing ihn ein alter Diener in Gamaschen und Frackrock , an dem nur die großen blanken Knöpfe verrieten , daß es eine Livree sein sollte . » Guten Abend , Jeetze ; wie geht es ? « Aber über diesen Gruß kam Lewin nicht hinaus , denn im selben Augenblick richtete sich ein prächtiger Neufundländer vor ihm auf und überfiel ihn , die Vorderpfoten auf seine Schultern legend , mit den allerstürmischsten Liebkosungen . » Hektor , laß gut sein , du bringst mich um . « Damit trat unser Held in die Halle seines väterlichen Hauses . Ein paar Scheite , die im Kamin verglühten , warfen ihr Licht auf die alten Bilder an der Wand gegenüber . Lewin sah sich um , nicht ohne einen Anflug freudigen Stolzes , auf der Scholle seiner Väter zu stehen . Dann leuchtete ihm der alte Diener die schwere doppelarmige Treppe hinauf , während Hektor folgte . Zweites Kapitel Hohen-Vietz In der Halle schwelen noch einige Brände ; schütten wir Tannäpfel auf und plaudern wir , ein paar Sessel an den Kamin rückend , von Hohen-Vietz . Hohen-Vietz war ursprünglich ein altes , aus den Tagen der letzten Askanier stammendes Schloß mit Wall und Graben und freiem Blick ostwärts auf die Oder . Es lag auf demselben Höhenzuge wie die Kirche , deren schattenhaftes Bild uns am Schloß des vorigen Kapitels entgegentrat , und beherrschte den breiten Strom wie nicht minder die am linken Flußufer von Frankfurt nach Küstrin führende Straße . Es galt für sehr fest , und jahrhundertelang hatten sie einen Reim im Lebusischen , der lautete : De sitt so fest up sinen Sitz As de Vitzewitz ' up Hohen-Vietz . Die Pommern lagen zweimal davor ; die Hussiten berannten es , als sie sengend und brennend in Lebus und Barnim vordrangen , aber die Heilige Jungfrau im Kirchenbanner schützte das Schloß , und als der damalige Vitzewitz , über dessen Vornamen die Urkunden verschiedene Angaben bringen , ein griechisches Feuer in das Lager der Hussiten warf , zogen sie ab , nachdem sie alle umhergelegenen Dörfer verwüstet hatten . Die Kunst des griechischen Feuers aber hatte der Schloßherr von Rhodus mit heimgebracht , wo er unter den Rittern an zwei Feldzügen gegen die Türken teilgenommen hatte . Das war 1432 . Ruhigere Zeiten kamen . Der hohe Ruf von Hohen-Vietz lebte fort , ohne daß er Gelegenheit gehabt hätte , sich neu zu bewähren . Erst der Dreißigjährige Krieg brachte neue und schwerere Prüfungen . Am 29. März 1631 fast genau zweihundert Jahre nach der Hussitenüberschwemmung , erschienen von Frankfurt aus sechs Compagnien Kaiserlicher vor Hohen-Vietz , das am Tage vorher , den Protesten des Schloßherrn Rochus von Vitzewitz zum Trotz , von den von Stettin und Garz her heranziehenden Schweden besetzt worden war . Oberst Maradas , der die Kaiserlichen führte , forderte die Übergabe des Schlosses . Als diese verweigert wurde , legten die Kaiserlichen , die aus je zwei Compagnien der Regimenter Butler , Lichtenstein und Maradas zusammengesetzt waren , die Leitern an , stürmten das Schloß , brannten es bis auf die nackten Mauern aus und ließen die schwedische Besatzung über die Klinge springen . Einen Augenblick stand Rochus von Vitzewitz in Gefahr , das Schicksal der Besatzung zu teilen ; seine beiden halberwachsenen Söhne aber , sie mochten siebzehn und sechzehn Jahre zählen , warfen sich dazwischen und retteten ihn durch ihre Geistesgegenwart . Oberst Maradas , an den jungen Leuten Gefallen findend , bot ihnen an , im kaiserlichen Heere Dienst zu nehmen , ein Anerbieten , das von seiten des jüngeren , Matthias , ohne langes Säumen , auch ohne Widerspruch des Vaters angenommen wurde . Es waren nicht Zeiten , um über erfahrene Unbill , wie sie der Lauf des Krieges für Freund und Feind gleichmäßig mit sich brachte , lange zu grübeln . Matthias trat als Cornet in das Regiment Lichtenstein ein , Anselm aber , der ältere , erklärte , bei dem Vater ausharren und demselben bei Wiederaufbau des Schlosses zur Seite stehen zu wollen . Dieser Wiederaufbau jedoch verzögerte sich . Als er endlich nach dem Abzug der feindlichen , nunmehr Süddeutschland zum Schauplatz ihrer Kämpfe wählenden Heere beginnen sollte , hatten sich unter den fortwährenden Opfern des Krieges die Verhältnisse derart verschlechtert , daß es an den nötigen Mitteln zu einem Schloßbau gebrach . Rochus entschied sich also , von der Hohen-Vietzer-Höhe , von der aus die Seinen dreihundert Jahre und länger ins Land geblickt hatten , herabzusteigen und zu Füßen derselben , am Nordrande des sich hier hinziehenden alten Wendendorfes , ein einfaches Herrenhaus herzurichten . Dies war 1634 . Anselm ging ihm dabei in allen Stücken zur Hand , und schon Sonntag Exaudi , elf Monate nach Beginn des Baues , konnte die neue Heimstätte der Vitzewitze bezogen werden . Es war ein Fachwerkhaus , lang , niedrig , mit hohem Dach . In dem Balken aber , der über der Türe hinlief , war ein Spruch eingeschnitten : Dies ist der Vitzewitzen Haus , Aus dem alten zog es aus ; Gottes Segen komm herein , Wird es wohl geschützet sein . Und fast schien es , als ob der Spruch sich erfüllen und inmitten aller Kriegstrübsal , die über dem Lande lag , an dieser neugegründeten Stätte ein neues Glück erblühen solle . Von Matthias , der aus dem Regiment Lichtenstein in das Regiment Tiefenbach übergetreten , bei Nördlingen verwundet und ein halbes Jahr später , erst zwanzig Jahre alt , zum kaiserlichen Hauptmann aufgestiegen war , trafen Nachrichten ein , die des alten Rochus Herz , trotzdem es den Schweden zuneigte , mit Stolz und Freude erfüllten . Anselm , ohne darum nachgesucht zu haben , sah sich an den Hof gezogen und trat in dieselbe Leibtrabantengarde , in der schon seit hundert Jahren alle Vitzewitze ihrem Herrn , dem Kurfürsten , gedient hatten ; was aber vor allem zu Dank und Hoffnung stimmte , das waren zwei gesegnete Fruchtjahre , die der Himmel der Hohen-Vietzer Feldmark schenkte , wahre Prachternten , aus deren Erträgen nunmehr die Mittel zur Aufführung eines stattlichen , rechtwinklig an das eigentliche Wohnhaus sich anlehnenden Anbaues entnommen werden konnten . Dieser Anbau , eine einzige mit Emporen , Wappen und Hirschgeweihen geschmückte Halle , richtete das Gemüt des alten Rochus , der eine hohe Vorstellung von den Repräsentationspflichten seines Hauses hatte , wieder auf und gemahnte ihn an alte gastliche Zeiten . Als er das erste Mal den Nachbaradel in diesem » Bankettsaal « , wie er die Halle gern nennen hörte , bewirtete , hielt er eine Ansprache an die Versammelten , die der Überzeugung Ausdruck gab , daß das Haus Vitzewitz auch wieder » bergan « ziehen und nicht immer » geduckt unterm Winde « stehen werde . All Ding , so etwa schloß er , habe seine Zeit , auch Krieg und Kriegesnot , und der Tag werde kommen , wo seine lieben Freunde und Nachbaren wieder auf der Höhe bei ihm zu Gaste sein und frei ostwärts mit ihm blicken würden . Alles stimmte ein . Aber wenn jemals unprophetische Worte gesprochen wurden , so waren es diese . Der Krieg kam wieder , mit ihm Hunger und Pest , und zerstörte entweder den Wohlstand der Dörfer oder diese selbst . Ganze Gemarkungen wandelten sich in eine Wüste , und die Hälfte der Hohen-Vietzer Hofestellen stand leer , weil ihre Insassen verflogen oder verstorben waren . Inmitten dieses Elendes , ehe noch der Schimmer besserer Zeiten heraufdämmerte , schloß Rochus die müden Augen , und sie trugen ihn bergan in die Gruft unterm Altar und stellten den kupfernen Sarg , mit Beschlägen und Wappentafeln und mit aufgelötetem silbernen Kruzifix , in die lange Reihe der ihm vorangegangenen Ahnen . Nichts fehlte ; denn der Zeiten Not hatte dem Vater die Ehren des Begräbnisses nicht kürzen sollen . So wollte es der älteste Sohn : der jüngere , mit seinem Regiment an der fränkischen Saale stehend , hatte der Bestattung nicht beiwohnen können . Anselm war nun Herr auf Hohen-Vietz . Es war nicht frohen Herzens , daß er das erste Korn in den nur schlecht gepflügten Boden warf : aber siehe da , die Saat ging auf , ohne daß Freund oder Feind – denn zwischen beiden war längst kein Unterschied mehr – die jungen Halme zerstampft hätte : der Krieg , so schien es , hatte sich ausgebrannt wie ein Feuer , das keine Nahrung mehr findet , und ehe das Jahrzehnt schloß , ging die Mär von Mund zu Mund , die Mär , daß Friede sei . Und es war Friede . Was niemand mehr mit Augen zu sehen gehofft hatte , es war da . Und als abermals zwei Jahre ins Land gezogen waren , ohne daß Schwede oder Kaiserlicher im Lebusischen gelagert und geplündert hätte , und jeder , selbst der Ungläubigste , seiner Zweifel sich entschlagen mußte , da traf ein Brief im Hohen-Vietzer Herrenhause ein , der führte die Aufschrift : » Dem wohledlen , gestrengen und festen Anselm von Vitzewitz , erbsessen auf Hohen-Vietz im Lande Lebus . « Der Brief selbst aber lautete : » Mein insonders vielgeliebter Bruder ! Von heut ab in zween Wochen , so Gott seinen Segen zu meinem Plane gibt , bin ich bei Dir in Hohen-Vietz . Ich erwarte nur noch die Permission aus Wien , die mir Kaiserliche Majestät nicht refüsieren wird . Vielleicht , daß uns tempora futura wieder zusammenführen , wie uns die Tage der Kindheit und adolescentia zusammen sahen . Wir Lutherischen – trotzdem sie zu Münster und Osnabrügge den Religionsfrieden mit vollen Backen proklamieret haben – sind wenig gelitten im kaiserlichen Heere , und kein Tag vergeht ohne Andeutung , daß man uns nicht mehr braucht . Ich höre , daß Unser gnädigster Herr Kurfürst , dem ich nie säumig gewesen , als meinen Lehns- und Landesherren zu konsiderieren , eine brandenburgische Armee wirbt , derowegen er aus schwedischem und kaiserlichem Heer Offiziers und Generals im beträchtlichen herübernimmt . Es sollte mir eine rechte Freude sein , so die Reihe auch an mich käme ; denn daß ich es sage , es zieht mich wieder heimb in mein liebes Land Lebus . Unsere Vettern und Nachbarn , die Burgsdorffs , die post mortem Schwarzenbergii das A und das O bei Hofe sind , werden doch etwas tun wollen für eine alte Kriegsgurgel , die den Dienst kennt wie den Catechismum Lutheri . Interim bene vale . Der ich bin Dein Bruder Matthias von Vitzewitz , kaiserlicher Oberst . « Und Matthias kam wirklich und hielt die angegebene Zeit . Ein Fest sollte seine Anwesenheit feiern . In dem großen Anbau waren drei Tische gedeckt : zwei standen unten und liefen , der Länge des Saales nach , nebeneinander her , der dritte Tisch aber stand quer auf einer mit Wappen und Bannern geschmückten Empore , zu der drei Stufen hinanführten . Die ganze Freundschaft aus Barnim und Lebus war geladen : die Brüder saßen einander gegenüber ; neben ihnen , an der Quertafel : Adam und Beteke Pfuel von Jahnsfelde , Peter Ihlow von Ringenwalde , Balthasar Wulffen von Tempelberg , Hans und Nikolaus Barfus von Hohen-und Nieder-Predikow , dazu Tamme Strantz , Achim von Kracht , zwei Schapelows , zwei Beerfeldes und fünfe von Burgsdorff . Sie waren alle , schon um Glaubens willen , mehr schwedisch als kaiserlich , besonders Peter Ihlow , der – ein Neffe Feldmarschall Ihlows – einen Groll gegen den Wiener Hof hatte , ihn anklagend , seinen Oheim in Schloß Eger meuchlings gemordet zu haben . Er wiederholte auch heute seine Anklage , wobei es dahingestellt bleiben mag , ob er die Gegenwart des Gastes momentan vergaß oder sie vergessen wollte . Matthias von Vitzewitz , als er seinen Kriegsherrn , den Kaiser , in so herausfordernder Weise schmähen hörte , erhob sich und rief : » Peter Ihlow , hütet Eure Zunge . Ich bin kaiserlicher Offizier . « » Du bist es « , rief jetzt Anselm , aus dem der Wein , aber noch mehr das protestantische Herz sprach , über den Tisch hinüber : » du bist es ; aber besser wäre es , du wärest es nie gewesen . « » Besser oder nicht , ich bin es . Des Kaisers Ehre ist meine Ehre . « » Ein Glück , daß du die Ehre satt hast . Die Fremden sind wenig gelitten im kaiserlichen Heere . « Matthias , der sich bis dahin mühsam bezwungen hatte , verlor alle Herrschaft über sich , als er sich , durch Vorhaltung seiner eigenen Briefworte , in so wenig großmütiger Weise besiegt und gefangen sah . Die Augen traten ihm aus der Stirn , und sein Kinn auf den Knauf des Degens stützend , schrie er : » Wer das sagt , der lügt . « » Wer es leugnet , der lügt . « In diesem Augenblicke zogen beide . Die Zunächstsitzenden sprangen auf , aber ehe noch ein Dazwischenspringen möglich war , hatte des jüngeren Bruders Degen die Brust des älteren durchdrungen . Anselm war tödlich getroffen . Matthias , außer sich über das Geschehene , wollte sich dem Kurfürsten stellen ; nur widerwillig gab er den Vorstellungen derer nach , die auf Flucht drangen . In seine Garnisonstadt Böhmisch-Grätz zurückgekehrt , machte er nach Wien hin Meldung von dem Vorgefallenen ; dabei hatte es sein Bewenden . Ihm zu zeigen , wie wenig die Kriegskanzelei den Vorfall beanstande , der ja in Verteidigung kaiserlicher Ehre seine erste Veranlassung hatte , ließ man ihn zum General aufsteigen und gab ihm ein Kommando in Ungarn . Aber diese Gnadenbezeugungen , dankbar , wie er sie entgegennahm , gaben ihm doch die Ruhe nicht wieder , nach der er dürstete , und von Peterwardein aus , wo er im Feldlager lag , schrieb er an den Kurfürsten und rief seine Gnade an , » um dessentwillen , der aller Menschen Heil und Gnade sei « . Der Kurfürst schwankte ; als aber durch die eidlichen Aussagen von Peter Ihlow , Beteke Pfuel und Ehrenreich von Burgsdorff erwiesen war , daß beide Brüder zu gleicher Zeit gezogen hätten , kam es zu einem Generalpardon , » gleichweis als ob die Geschichte nie geschehen wäre « , und Matthias kehrte nach Hohen-Vietz zurück , das er seit dem Tage , an dem Maradas das Schloß gestürmt hatte , nur einmal , in jener unheilvollen Festesstunde , wiedergesehen hatte . Er kam und brachte , wie die Hohen-Vietzer noch lange erzählten , » eine Tonne Goldes mit sich « ; denn Dotationen und Landerwerbungen , wie sie damals herkömmlich waren , hatten ihn reich gemacht . Der Kurfürst empfing ihn in ausgezeichneter Weise und setzte ihn , unter Innehaltung herkömmlicher Formen , in den Vollbesitz des verfallenen Gutes ein . Unmittelbar darauf schritt der Neubelehnte zur Aufführung eines schloßartigen , mit breiter Treppe und hohen Stuckzimmern reich ausgestatteten Renaissanceneubaues , der , mit dem ärmlichen Fachwerkhaus parallel laufend , einen hufeisenförmigen Gebäudekomplex herstellte , in dem die » Banketthalle « , der mehrgenannte Saalanbau des alten Rochus , die verbindende Linie war . Diesen Saalanbau selbst aber , eingedenk dessen , was hier geschah , schuf Matthias von Vitzewitz in eine Kapelle um . Über dem Altar stiftete er ein Bild , dessen Inhalt der Erzählung vom verlorenen Sohn entnommen war ; daneben hing er die Klinge auf , mit der er den Bruder erstochen hatte . Er betrat die Kapelle nie anders als in der Dämmerstunde , er liebte nicht , daß man es wußte oder gar davon sprach , aber wer auf dem anstoßenden Fliesenflur des alten Fachwerkhauses zu tun hatte oder müßig lauschte , der hörte seine lauten Gebete . Seine Buße währte sein Leben lang , und sein Leben kam zu hohen Jahren . Noch spät hatte er sich vermählt . Im Herbste desselben Jahres , das seinen Herrn den Kurfürsten hinscheiden sah , schied auch er aus dieser Zeitlichkeit , und die Hohen-Vietzer , an ihrer Spitze der achtzehnjährige Sohn des Hauses , trugen ihn bis zur alten Hügelkirche hinauf und setzten ihn in die Gruft neben den Kupfersarg des Vaters derart , daß Anselm zur Rechten , Matthias aber zur Linken stand . Er war in der Zuversicht gestorben , daß Gott seine Buße angenommen habe ; auch die , die nach ihm kamen , waren dieses Glaubens voll . Aber dieser Glaube , wie festen Lebensgrund er ihnen gab , konnte ihnen doch den Frohsinn des Lebens nicht wiedergeben . Sie blickten ernst um sich her . Und dieser Zug begann sich fortzuerben . Der Familiencharakter , der in alten Zeiten ein joviales Aufbrausen gewesen war , wich einem Grübeln und Brüten , und ihr Hang zu Festen und Gelagen schlug in einen Hang zur Selbstpein und Askese um . Auch sahen sie sich durch manchen Vorgang , durch Spuk und Wirklichkeit , in diesem Hange genährt und gefestigt . In dem zur Kapelle umgeschaffenen Saalanbau , der , verstaubend und verfallend , längst wieder den Kapellencharakter abgestreift hatte und zu einem Vorratsraum für die kleinen Leute des Hauses geworden war , ging der alte Matthias um wie zu Lebzeiten und kniete vor dem Altar , den er gestiftet . Niemand im Hause zweifelte daran . Aber wenn auch ein einzelner den Spuk verneint und , sei es aus Glauben oder Unglauben , die Erscheinung als ein abergläubisch Gebilde verworfen hätte , so hätten doch andere Zeichen zu ihm gesprochen . Seit anderthalbhundert Jahren stand das Geschlecht auf zwei Augen ; es sah darin einen Finger Gottes ; zwei Brüder sollten nicht wieder in Waffen gegeneinander stehen . Die Dorfbewohner , wie kaum versichert zu werden braucht , hegten dies alles wie einen Schatz , und in den Spinnstuben wurde nichts eifriger verhandelt als die Frage , ob der alte Matthias gesehen worden sei oder nicht . Es war eine Art Ehrensache , ihn gesehen zu haben . Man scherzte über ihn und fürchtete sich . Die Bauern selbst waren nicht anders wie ihre Mägde . Auf dem Höhenzuge , dicht neben der Kirche , stand eine alte Buche , die teilte sich halbmannshoch über der Wurzel und wuchs in zwei Stämmen nach rechts und links . Das paßte den Hohen-Vietzern , und die Sage ging , daß beide Brüder , als sie noch Kinder waren , diesen Baum gemeinschaftlich gepflanzt hätten . Als aber Anselm von der Hand des jüngern gefallen sei , da habe sich der Stamm geteilt . Und noch andere wußten , daß Matthias , wenn er unten in der Kapelle gebetet , die große Nußbaumallee bis zur Kirche hinaufsteige und den Buchenstamm da , wo er sich teilt , zu umfassen und zusammenzupressen suche . Aber umsonst . Er sitze dann zu Füßen des Baumes und klage laut . Aber wenn sich das nach dem Spukhaften und Schauerlichen drängende romantische Bedürfnis in diesen trüben Bildern mit Vorliebe aussprach , so drängte doch auch ein anderer Zug in den Herzen der Hohen-Vietzer ebenso entschieden auf endliche Versöhnung hin , und einen Reimspruch kannte jung und alt , der dieser Hoffnung auf Versöhnung Ausdruck gab . Auch im Herrenhause kannten sie ihn sehr wohl , und der Reimspruch lautete : Und eine Prinzessin kommt ins Haus , Da löscht ein Feuer den Blutfleck aus , Der auseinander getane Stamm Wird wieder eins , wächst wieder zusamm' , Und wieder von seinem alten Sitz Blickt in den Morgen Haus Vitzewitz . Drittes Kapitel Weihnachtsmorgen An Lewins Seele waren inzwischen unruhige Träume vorübergegangen . Die Fahrt im Ostwind hatte ihn fiebrig gemacht , und erst gegen Morgen verfiel er in einen festen Schlaf . Eine Stunde später begann es bereits im Hause lebendig zu werden : auf dem langen Korridor , an dessen Nordostecke Lewins Zimmer gelegen war , hallten Schritte auf und ab , schwere Holzkörbe wurden vor die Feuerstellen gesetzt und große Scheite von außen her in den Ofen geschoben . Bald darauf öffnete sich die Tür , und der alte Diener , der am Abend zuvor seinen jungen Herrn empfangen hatte , trat ein , einen Blaker in der Hand . Hektor blieb liegen , reckte sich auf dem Rehfell und wedelte nur , als ob er rapportieren wolle : Alles in Ordnung . Jeetze setzte das Licht , dessen Flamme er bis dahin mit seiner Rechten sorglich gehütet hatte , hinter einen Schirm und begann alles , was an Garderobestücken umherlag , über seinen linken Arm zu packen . Er selbst war noch im Morgenkostüm ; zu den Samthosen und Gamaschen , ohne die er nicht wohl zu denken war , trug er einen Arbeitsrock von doppeltem Zwillich . Als er alles beisammen hatte , trat er , leise wie er gekommen war , seinen Rückzug an , dabei nach Art alter Leute unverständliche Worte vor sich her murmelnd . An dem zustimmenden Nicken seines Kopfes aber ließ sich erkennen , daß er zufrieden und guter Laune war . Die Türe blieb halb offen , und das erwachende Leben des Hauses drang in immer mahnenderen , aber auch in immer anheimelnderen Klängen in das wieder still gewordene Zimmer . Die großen Scheite Fichtenholz sprangen mit lautem Krach auseinander , von Zeit zu Zeit zischte das Wasser , das aus den naß gewordenen Stücken in kleinen Rinnen ins Feuer lief , und von der Korridornische her hörte man den sichern und regelrechten Strich , mit dem Jeetzes Bürste der Hacheln und Härchen , die nicht loslassen wollten , Herr zu werden suchte . Alles das war hörbar genug , nur Lewin hörte es nicht . Endlich beschloß Hektor , der Ungeduld Jeetzes und seiner eigenen ein Ende zu machen , richtete sich auf , legte beide Vorderpfoten aufs Deckbett und fuhr mit seiner Zunge über die Stirn des Schlafenden hin , ohne weitere Sorge , ob seine Liebkosungen willkommen seien oder nicht . Lewin wachte auf ; die erste Verwirrung wich einem heiteren Lachen . » Kusch dich , Hektor « , damit sprang er aus dem Bett . Der Morgenschlaf hatte ihn frisch gemacht ; in wenig Minuten war er angekleidet , ein Vorteil halb soldatischer Erziehung . Er durchschritt ein paarmal das Zimmer , betrachtete lächelnd einen mit vier Nadeln an die Tischdecke festgesteckten Bogen Papier , auf dem in großen Buchstaben stand : » Willkommen in Hohen-Vietz « , ließ seine Augen über ein paar Silhouettenbilder gleiten , die er von Jugend auf kannte und doch immer wieder mit derselben Freudigkeit begrüßte , und trat dann an eines der zugefrorenen Eckfenster . Sein Hauch taute die Eisblumen fort , ein Fleckchen , nicht größer wie eine Glaslinse , wurde frei , und sein erster Blick fiel jetzt auf die eben aufgehende Weihnachtssonne , deren roter Ball hinter dem Turmknopf der Hohen-Vietzer Kirche stand . Zwischen ihm und dieser Kirche erhoben sich die Bäume des hügelansteigenden Parkes , phantastisch bereift , auf einzelnen ein paar Raben , die in die Sonne sahen und mit Gekreisch den Tag begrüßten . Lewin freute sich noch des Bildes , als es an die Türe klopfte . » Nur herein ! « Eine schlanke Mädchengestalt trat ein , und mit herzlichem Kuß schlossen sich die Geschwister in die Arme . Daß es Geschwister waren , zeigte der erste Blick : gleiche Figur und Haltung , dieselben ovalen Köpfe , vor allem dieselben Augen , aus denen Phantasie , Klugheit und Treue sprachen . » Wie freue ich mich , dich wieder hier zu haben . Du bleibst doch über das Fest ? Und wie gut du aussiehst , Lewin ! Sie sagen , wir ähnelten uns ; es wird mich noch eitel machen . « Die Schwester , die bis dahin wie musternd vor dem Bruder gestanden hatte , legte jetzt ihren Arm in den seinen und fuhr dann , während beide auf der breiten Strohmatte des Zimmers auf und ab promenierten , in ihrem Geplauder fort . » Du glaubst nicht , Lewin , wie öde Tage wir jetzt haben . Seit einer Woche flog uns nichts wie Schneeflocken ins Haus . « » Aber du hast doch den Papa ... « » Ja und nein . Ich hab ihn und hab ihn nicht ; jedenfalls ist er nicht mehr , wie er war . Seine kleinen Aufmerksamkeiten bleiben aus ; er hat kein Ohr mehr für mich , und wenn er es hat , so zwingt er sich und lächelt . Und an dem allen sind die Zeitungen schuld , die ich freilich auch nicht missen möchte . Kaum daß Hoppenmarieken in den Flur tritt und das Postpaket aus ihrem Kattuntuch wickelt , so ist es mit seiner Ruhe hin . Er geht an mir vorbei , ohne mich zu sehen . Briefe werden geschrieben ; die Pferde kommen kaum noch aus dem Geschirr ; zu Wagen und zu Schlitten geht es hierhin und dorthin . Oft sind wir tagelang allein . Ein Glück , daß ich Tante Schorlemmer habe , ich ängstigte mich sonst zu Tode . « » Tante Schorlemmer ! So findet alles seine Zeit . « » Oh , sie braucht nicht erst ihre Zeit zu finden , sie hat immer ihre Zeit , das weiß niemand besser als du und ich . Aber freilich , eines ist meiner guten Schorlemmer nicht gegeben , einen öden Tag minder öde zu machen . Möchtest du , eingeschneit , einen Winter lang mit ihr und ihren Sprüchen am Spinnrad sitzen ? « » Nicht um die Welt . Aber wo bleibt der Pastor ? Und wo bleibt Marie ? Ist denn alles zerstoben und verflogen ? « » Nein , nein , sie sind da , und sie kommen auch und sind die alten noch ; lieb und gut wie immer . Aber unsere Hohen-Vietzer Tage sind so lang , und am längsten , wenn im Kalender die kürzesten stehen . Marie kommt übrigens heute abend ; sie hat eben anfragen lassen . « » Und wie geht es unserm Liebling ? « » In den drei Monaten , daß du nicht hier warst , ist sie voll herangewachsen . Sie ist wie ein Märchen . Wenn morgen eine goldene Kutsche bei Kniehases vorgefahren käme , um sie aus dem Schulzenhause mit zwei schleppentragenden Pagen abzuholen , ich würde mich nicht wundern . Und doch ängstigt sie mich . Aber je mehr ich mich um sie sorge , desto mehr liebe ich sie . « So weit waren die Geschwister in ihren Plaudereien gekommen , als Jeetze – nunmehr in voller Livree – in der Türe erschien , um seinen jungen Herrschaften anzukündigen , daß es Zeit sei . » Wo ist Papa ? « » Er baut auf . Krist und ich haben zutragen müssen . « » Und Tante Schorlemmer ? « » Ist im Flur . Die Singekinder sind eben gekommen . « Lewin und Renate nickten einander zu und traten dann heiteren Gesichts und leichten Ganges , ein jeder stolz auf den andern , in den Korridor hinaus . In demselben Augenblick , wo sie an dem Treppenkopf angelangt waren , klang es weihnachtlich von hellen Kinderstimmen zu ihnen herauf . Und doch war es kein eigentliches Weihnachtslied . Es war das alte » Nun danket alle Gott « , das den märkischen Kehlen am geläufigsten ist und am freiesten aus ihrer Seele kommt . » Wie schön « , sagte Lewin und horchte , bis die erste Strophe zu Ende war . Als die Geschwister im Niedersteigen den untersten Treppenabsatz erreicht hatten , hielten sie abermals und überblickten nun das Bild zu ihren Füßen . Die gewölbte Flurhalle , groß und geräumig , trotz der Eichenschränke , die umherstanden , war mit Menschen , jungen und alten , gefüllt ; einige Mütterchen hockten auf der Treppe , deren unterste Stufen bis weit in den Flur hinein vorsprangen . Links , nach der Park- und Gartentür zu , standen die Kinder , einige sonntäglich geputzt , die anderen notdürftig gekleidet , hinter ihnen die Armen des Dorfes , auch Sieche und Krüppel ; nach rechts hin aber hatte alles , was zum Hause gehörte , seine Aufstellung genommen : der Jäger , der Inspektor , der Meier , Krist und Jeetze , dazu die Mägde , der Mehrzahl nach jung und hübsch , und alle gekleidet in die malerische Tracht dieser Gegenden , den roten Friesrock , das schwarzseidene Kopftuch und den geblümten Manchester-Spenzer . In Front dieser bunten Mädchengruppe gewahrte man eine ältliche Dame über fünfzig , grau gekleidet mit weißem Tuch und kleiner Tüllhaube , die Hände gefaltet , den Kopf vorgebeugt , wie um dem Gesange der Kinder mit mehr Andacht folgen zu können . Es war Tante Schorlemmer . Nur als die Geschwister auf dem Treppenabsatz erschienen , unterbrach sie ihre Haltung und erwiderte Lewins Gruß mit einem freundlichen Nicken . Nun war auch der zweite Vers gesungen , und die Weihnachtsbescherung an die Armen und Kinder des Dorfes , wie sie in diesem Hause seit alten Zeiten Sitte war , nahm ihren Anfang . Niemand drängte vor ; jeder wußte , daß ihm das Seine werden würde . Die Kranken erhielten eine Suppe , die Krüppel ein Almosen , alle einen Festkuchen , an die Kinder aber traten die Mägde heran und schütteten ihnen Äpfel und Nüsse in die mitgebrachten Säcke und Taschen . Das Gabenspenden war kaum zu Ende , als die große , vom Flur aus in die Halle führende Flügeltüre von innen her sich öffnete und ein heller Lichtschein in den bis dahin nur halb erleuchteten Flur drang . Damit war das Zeichen gegeben , daß nun dem Hause selber beschert werden solle . Der alte Vitzewitz trat zwischen Türe und Weihnachtsbaum , und Lewins ansichtig werdend , der am Arm der Schwester dem Festzug voraufschritt , rief er ihm zu : » Willkommen , Lewin , in Hohen-Vietz . « Vater und Sohn begrüßten sich herzlich ; dann setzten die Geschwister ihren Umgang um die Tafel fort , während draußen im Flur die Kinder wieder anstimmten : » Lob , Ehr und Preis sei Gott , Dem Vater und dem Sohne , Und auch dem Heil'gen Geist Im hohen Himmelsthrone . « Der Zug löste sich nun auf , und jeder trat an seinen Platz und seine Geschenke . Alles gefiel und erfreute , die Shawls , die Westen , die seidenen Tücher . Da lagerte kein Unmut , keine Enttäuschung auf den Stirnen ; jeder wußte , daß schwere Zeiten waren und daß der viel heimgesuchte Herr von Hohen-Vietz sich mancher Entbehrung unterziehen mußte , um die gute Sitte des Hauses auch in bösen Tagen aufrechtzuerhalten . Zu beiden Seiten des Kamins , über dessen breiter Marmorkonsole das überlebensgroße Bild des alten Matthias aufragte , waren auf kleinen Tischen die Gaben ausgebreitet , die der Vater für Lewin und Renaten gewählt hatte . Lieblingswünsche hatten ihre Erfüllung gefunden , sonst waren sie nicht reichlich . An Lewins Platz lag eine gezogene Doppelbüchse , Suhler Arbeit , sauber , leicht , fest , eine Freude für den Kenner . » Das ist für dich , Lewin . Wir leben in wunderbaren Tagen . Und nun komm und laß uns plaudern . « Beide traten in das nebenangelegene Zimmer , während in der Halle die Weihnachtslichter niederbrannten . Viertes Kapitel Berndt von Vitzewitz Der Vater Lewins war Berndt von Vitzewitz , ein hoher Fünfziger . Mit dreizehn Jahren bei den zu Landsberg garnisonierenden Knobelsdorff-Dragonern eingetreten , hatte er , nach beinahe dreißigjährigem Dienst , das Kommando des berühmten Regiments eben übernommen , als ihn , im Frühjahr 1795 , der Abschluß des Basler Friedens veranlaßte , seinen Abschied zu fordern . Voller Abscheu gegen die Pariser Schreckensmänner sah er in dem » Paktieren mit den Regiciden « ebenso eine Gefahr wie eine Erniedrigung Preußens . Er zog sich verstimmt nach Hohen-Vietz zurück . Vielleicht war es ein Ausdruck seiner Verstimmung , daß er es , wenigstens im geselligen Verkehr , vorzog , seinen militärischen Rang ignoriert und sich lediglich als Herr von Vitzewitz angesprochen zu sehen . Das Gut selbst war ihm schon sieben Jahre früher zugefallen , unmittelbar fast nach seiner Vermählung mit Madeleine von Dumoulin , ältesten Tochter des Generallieutenants von Dumoulin , der bei Zorndorf , als jüngster Offizier in der Schwadron des Rittmeisters von Wakenitz . Wunder der Tapferkeit verrichtet und nach zweimaligem Durchbrechen der russischen Carrés den Pour le mérite auf dem Schlachtfelde empfangen hatte . Madeleine von Dumoulin , groß , schlank , blond , eine typische deutsche Schönheit , wie so oft die Töchter des altfranzösischen Adels , war der Abgott ihres Gemahls . Und doch sah sie zu ihm hinauf ; ohne Prätensionen , fast ohne Laune , beugte sie sich vor der Überlegenheit seines Charakters . Die Geburt eines Sohnes , noch in der Garnisonstadt des Regiments , schuf ein gesteigertes Glück , das aus beider Augen noch lebhafter sprach , als ihnen , bald nach ihrer Übernahme von Hohen-Vietz , auch eine Tochter geboren wurde . Es war im Mai 1795 , ein Frühlingsregen sprühte , und das Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen , ein Regenbogen , stand verheißungsvoll über dem alten Hause . Aber die Verheißung , wenn sie dem Kinde gelten mochte , galt nicht dem Vater . Ein Allerschmerzlichstes blieb auch ihm , wie so vielen seiner Ahnen , unerspart . Es traf ihn anders , aber nicht minder schwer . Der Tag von Jena hatte über das Schicksal Preußens entschieden ; elf Tage später hielten bereits angemeldete französische Offiziere vor dem Herrenhause in Hohen-Vietz , zu deren Bewillkommnung , um nicht Anstoß zu geben , auch die kaum von einem hitzigen Fieber wiederhergestellte , noch die Blässe der Krankheit zeigende Dame vom Hause erschienen war . In der Halle war gedeckt . Frau von Vitzewitz blieb und schien ihren Zweck , ein leidliches Einvernehmen zwischen Wirt und Gästen herzustellen , erreichen zu sollen , als sich , während schon der Nachtisch aufgetragen wurde , ein ihr gegenüber sitzender Kapitän , von der spanischen Grenze , olivenfarbig , mit dünnem Spitzbart , erhob und in unziemlichster Huldigung Worte lallte , die der schönen Frau das Blut in die Wangen trieben . Berndt von Vitzewitz fahr auf den Elenden ein , andere Offiziere , dazwischenspringend , trennten die miteinander Ringenden , und Partei ergreifend für den beleidigten Gemahl , steckten sie draußen im Park den Platz ab , wo der Handel auf der Stelle ausgemacht werden sollte . Berndt , ein Meister auf den Degen , verwundete seinen Gegner schwer am Kopf , und die Franzosen , in der ihnen eigenen ritterlichen Gesinnung , beglückwünschten ihn , ohne die geringste Verstimmung zu zeigen , zu seinem Triumph . Aber es war ein kurzer Sieg , zum mindesten ein teuer erkaufter . Die heftigen , von solchen Vorgängen unzertrennlichen Erregungen warfen die schöne Frau aufs Krankenbett zurück , am dritten Tag war sie aufgegeben , am neunten trugen sie sie die alte Nußbaumallee hinauf , bis an die Hohen-Vietzer Kirche , und senkten sie unter Innehaltung aller von ihr gegebenen Bestimmungen ein . Nicht in die Gruft , sondern in » Gottes märkische Erde « , wie sie so oft gebeten hatte . Die Glocken klangen den ganzen Tag ins Land , und als der Frühling kam , lag ein Stein auf der Grabesstelle , ohne Namen , ohne Datum , nur tief eingegraben : » Hier ruht mein Glück . « Berndts Charakter hatte sich unter diesen Schlägen aus dem Ernsten völlig ins Finstere gewandelt . Die Lage des zerbröckelten , nahezu aus der Reihe der Staaten gestrichenen Vaterlandes war nicht dazu angetan , ihn aufzurichten . Sein eigner Besitz entwertet , die Ernten geraubt , das Gehöft von Räuberhänden halb niedergebrannt – so verfiel er auf Jahr und Tag in brütenden Trübsinn und lebte erst wieder auf , als Sorge und Mißgeschick , die beinahe unausgesetzt auf ihn eindrangen , einen großen Haß in ihm gezeitigt hatten . Er wurde rührig , regsam , er hatte Ziele , er lebte wieder . Der Haß , dem er dieses dankte , richtete sich gegen alles , was von jenseit des Rheines kam , aber doch war ein Unterschied in dem , was er gegen den Machthaber und gegen die französische Nation empfand . Für diese letztere , deren Mut , Begeisterung und Opferfähigkeit er so oft gepriesen , so oft vorbildlich hingestellt hatte , hatte er , wie fast alle Märker , im tiefsten Herzen eine nicht zu ertötende Vorliebe , und aller Haß , den er , dieser Liebe zum Trotz , stark und ehrlich zur Schau trug , war viel mehr Absicht und Kalkül als unmittelbare Empfindung , emporgewachsen aus der unablässigen , mit Geflissentlichkeit gehegten Betrachtung , daß – um ihn selber sprechen zu lassen – » das undankbarste aller Völker einen guten König geschlachtet habe , um sich vor den Triumphwagen eines freiheitsmörderischen Tyrannen zu spannen « . Ganz anders sein Haß gegen den Bonaparte selbst . Ungemacht und ungekünstelt sprang er wie ein heißer Quell aus seinem Herzen . Schon der Name widerte ihn an . Er war kein Franzos , er war Italiener , Korse , aufgewachsen an jener einzigen Stelle in Europa , wo noch die Blutrache Sitte und Gesetz ; und selbst die Größe , die er ihm zugestehen mußte , war ihm staunens- , aber nicht bewundernswert , weil sie alles himmlischen Lichtes entbehrte . Er sah in ihm einen Dämon , nichts weiter ; eine Geißel , einen Würger , einen aus Westen kommenden Dschingis-Khan . Als Mitte November bekannt wurde , daß der Kaiser Küstrin passieren werde , um bis an die Weichsel zu gehen führte Berndt seine beiden halberwachsenen Kinder , Renate zählte elf , Lewin eben sechzehn Jahre , nach der alten Oderfestung und nahm Stand an dem Müncheberger Tore , um ihnen den zu zeigen , » den Gott gezeichnet habe « . Und als dieser nun unter dem gewölbten Portal hin in die stille Stadt einritt und das gelbe Wachsgesicht wie ein unheimlicher Lichtpunkt zwischen dem Bug des Pferdes und dem tief in die Stirn gerückten Hute sichtbar wurde , da schob er die Kinder in die vorderste Reihe und rief ihnen vernehmlich zu : » Seht scharf hin , das ist der Böseste auf Erden . « Aber wer zu hassen versteht , so es nur der rechte Haß ist , der weiß auch zu lieben , und die leidenschaftliche Zuneigung , die Berndt so viele Jahre lang gegen die zu früh Heimgegangene als sein höchstes irdisches Glück im Herzen getragen hatte , er übertrug sie jetzt auf die Kinder , die als die Ebenbilder der Mutter heranwuchsen . Schlank aufgeschossen , blond und durchsichtig , wichen sie in jedem Zuge von der äußeren Erscheinung des Vaters ab , zu dessen gedrungener Gestalt sich dunkelster Teint und ein schwarzes , kurzgeschnittenes , mit nur wenig Grau erst untermischtes Haar gesellte . Und wie verschieden die Erscheinung , so verschieden auch waren die Charaktere . Leichtbeweglich und leichtgläubig , immer geneigt , zu bewundern und zu verzeihen , hatten die Kinder das heitere Licht der Seele , wo der Vater das düstere Feuer hatte . Demütig und trostreich , angelegt , um zu beglücken und glücklich zu sein , leuchtete ihren Wegen die alles verklärende Phantasie . Der Vater freute sich dessen . Er träumte von einer Wandlung , die mit ihnen über das Haus kommen werde . Berndt von Vitzewitz , wie alle , die ihr Herz an etwas setzen , machte wenig davon ; er hatte das Schamgefühl der Liebe . Aber ebensowenig gefiel er sich darin , eine rauhe Außenseite herauszukehren . Weil er Autorität hatte , durfte er darauf verzichten , sie jeden Augenblick geltend zu machen . Er liebte es , im Gespräch den Unterschied der Jahre zu überspringen , und bespöttelte jene Väter und Mütter , die , aus der Not eine Tugend machend , ihre Gefühls- und Gedankenwelt in zwei Rubriken , in eine für die » Intimen « und in eine andere für die Kinder bestimmte Hälfte , zu teilen pflegen . Er war offen , entgegenkommend gegen Lewin , reich an Aufmerksamkeiten gegen Renate . Nur in den letzten Wochen , wie die Schwester dem Bruder bereits geklagt hatte , war eine Änderung eingetreten ; er mied jede Begegnung , sprach wenig und saß halbe Nächte lang , wenn ihn nicht Besuche in die Umgegend führten , an seinem Schreibtisch oder durchschritt im Selbstgespräch das einfensterige Cabinet , das sein Arbeitszimmer bildete . Dies Arbeitszimmer war ebenso tief wie schmal , so daß die gelben , von Tabak- und Lampenrauch längst grau gewordenen Wände , bei dem wenigen Licht , das einfiel , noch dunkler erschienen , als sie waren . Von Luxus keine Spur . Nur für Bequemlichkeit war gesorgt , für jenes Alles- zur-Hand- Haben geistig beschäftigter Männer , denen nichts unerträglicher ist , als erst holen , suchen oder gar warten zu müssen . Die beiden Türen des Cabinets , von denen die eine nach der Halle , die andere nach dem Damenzimmer führte , lagen dem Fenster zu , wodurch zwei breite Wandflächen zur Aufstellung eines Schreibtisches und eines Ledersofas , beide von beträchtlicher Länge , gewonnen waren . Ein dazwischen stehender gartenstuhlartiger Holzschemel würde die Kommunikation vollständig geschlossen haben , wenn nicht die Tischplatte eine entsprechende Einbuchtung gehabt hätte . Über dem Schreibtisch hing ein schönes Frauenporträt , Brustbild , nachgedunkelt , über dem Sofa ein schmaler , länglicher Spiegel , dessen völlig verblaktes Glas über seine Nutzlosigkeit an dieser Stelle keinen Zweifel ließ . Ein Schlüsselbrett , dazu zwei , drei Hirschgeweihe mit allerhand Mützen und Hüten daran , vollendeten die Einrichtung . In den Ecken standen Stöcke umher , eine Entenflinte und ein Kavalleriedegen , während an den Paneelen der Fensternische mehrere Spezialkarten von Rußland , mit Oblaten und Nägelchen , je nachdem es sich am bequemsten gemacht hatte , befestigt waren . Zahllose rote Punkte und Linien zeigten deutlich , daß mit dem Zeitungsblatt in der Hand zwischen Smolensk und Moskau bereits viel hin und her gereist worden war . Dies war das Zimmer , in das , wie am Schlusse des vorigen Kapitels erzählt , Vater und Sohn eintraten . Beide nahmen auf dem Sofa Platz , gegenüber dem Frauenporträt , das jetzt auf sie niedersah . Berndt , der in seinem gewöhnlichen Hauskostüm war : weite Beinkleider von schottischem Stoff , dunkler Samtrock , dazu ein rotseidenes Tuch leicht um den Hals geschlungen , streckte den rechten Fuß auf ein hohes , tabouretartiges Doppelkissen . Lewin , aus Respekt und Gewöhnung , saß gerade aufrecht neben ihm . » Nun , was gibt es , Lewin , was bringst du ? « » Vielleicht eine Neuigkeit . Morgen werden unsere Blätter das Bulletin bringen , das die Vernichtung des Heeres zugesteht . Ladalinskis hatten den französischen Text ; Kathinka las uns die Hauptstellen vor . Es hat mich erschüttert . « » Auch mich , aber noch mehr hat es mich erhoben . « » So kennst du schon den Inhalt ? und ich komme wieder zu spät . « » Tante Amelie empfing den Zeitungsausschnitt schon gestern ; du kennst ihre alten Beziehungen . Graf Drosselstein , der gestern bei ihr war , erbot sich , mir persönlich die Nachricht zu bringen . Wir haben wohl eine Stunde geplaudert . Und glaube mir , das Bulletin sagt nicht die Hälfte . Wir haben Briefe aus Minsk und Bialystock ; sie sind total vernichtet . « » Welch ein Gericht ! « » Ja , Lewin , du sprichst das Wort . Die große Hand , die beim Gastmahl des Belsazar war , hat wieder ihre Zeichen geschrieben und diesmal keine Rätselzeichen . Jeder kann sie lesen : › Gezählt , gewogen und hinweggetan . ‹ Ein Gottesgericht hat ihn verworfen . Und doch fürchte ich , Lewin , wir haben Neunmalweise am Ruder , die dem zornigen Gott in den Arm fallen wollen . Sie dürfen es nicht . Wagen sie es , so sind sie verloren , sie und wir . – Wie ist die Stimmung ? « » Gut . Es ist mir , als wäre eine Wandlung über die Gemüter gekommen . Das ganze Fühlen ist ein höheres ; wo noch Niedrigkeit der Gesinnung ist , da wagt sie sich nicht hervor . Was fehlt , ist eins : ein leitender Wille , ein entschlußkräftiges Wort . « » Das Wort muß gesprochen werden , so oder so . Wenn die Menschen stumm sind , so schreien es die Steine . Gott will es , daß wir seine Zeichen verstehen . Lewin , wir alle sind hier entschlossen . Wir alle stehen hier des Wortes gewärtig ; wird es nicht gesprochen , so folgen wir dem lauten Wort , das in uns klingt . Es begräbt sich leicht im Schnee . Nur kein feiges Mitleid . Jetzt oder nie . Nicht viele werden den Njemen überschreiten , über die Oder darf keiner . « Lewin schwieg eine Weile ; er mied es , dem Blick des Vaters zu begegnen . Dann sprach er halb vor sich hin : » Wir sind die Verbündeten des Kaisers . Wir wollen das Bündnis lösen , Gott gebe es , aber – « » So mißbilligst du , was wir vorhaben ? « » Ich kann nicht anders . Das , was du vorhast und was Tausende der Besten wollen , es ist gegen meine Natur . Ich habe kein Herz für das , was sie jetzt mit Stolz und Bewunderung die spanische Kriegsführung nennen . Alles , was von hintenher sein Opfer faßt , ist mir verhaßt . Ich bin für offenen Kampf , bei hellem Sonnenschein und schmetternden Trompeten . Wie oft habe ich in Entzücken geweint , wenn ich auf der Fußbank neben Mama saß und sie von ihrem Vater erzählte , wie er , kaum achtzehnjährig , in die russischen Vierecke einbrach und wie dann Rittmeister von Wakenitz vor der Schwadron ihn küßte und ihm zurief : › Junker von Dumoulin , lassen Sie uns die Degen tauschen . ‹ Ja , ich will Krieg führen , aber deutsch , nicht spanisch , auch nicht slawisch . Du weißt , Papa , ich bin meiner Mutter Sohn . « » Das bist du , und ein Glück , daß du es bist . Über deiner Mutter Kindheit haben helle Sterne gestanden , und ich bitte Gott , daß der Segen ihres Hauses über dir und über Renaten sei . « Lewin sah wieder vor sich hin . Berndt von Vitzewitz aber fuhr fort : » Ich weiß , was eine Natur zu bedeuten hat ; alles An- und Eingeborene , das nicht gegen die Gebote Gottes streitet , ist mir heilig ; gehe deinen Weg , Lewin , ich zwinge dich in nichts . Aber ich , in stillen Nächten habe ich mir's geschworen , ich will den meinen gehen ! « Eine kurze Pause folgte , während welcher Berndt in dem schmalen Zimmer auf und nieder schritt . Dann , ohne des Schweigens zu achten , in dem Lewin verharrte , sprach er weiter : » Ihr in den Städten , und du bist ein Stadtkind geworden , Lewin , ihr wißt es nicht , ihr habt es nicht recht erlebt . Unter den Augen der Machthaber nahm die Unterdrückung Maß und das Ungesetzliche gesetzliche Formen an . Sie rühmen sich dessen sogar und glauben es beinahe selbst , daß sie unsere Ketten gebrochen haben . Aber wir auf dem Lande , wir wissen es besser , und ich sage dir , Lewin , die rote Hand , die Feuer an die Scheunen legte , die die Goldringe von den Fingern unserer Toten zog , sie ist unvergessen hierherum , und eine rötere Hand wird ihr die Antwort geben . « Lewin wollte dem Vater antworten ; aber dieser , die Heftigkeit seiner Rede plötzlich umstimmend , fuhr mit ersichtlicher Bewegung fort : » Du warst noch ein Knabe , als der böse Feind ins Land kam : der Glanz seiner Taten ging vor ihm her . Was er damals im Übermut seines Glückes unsere Königin zu fragen sich erdreistete : › Wie mochten Sie 's nur wagen , den Kampf gegen mich aufzunehmen ? ‹ , diese Frage ist seitdem von tausend Schwachen und Elenden im Lande selber nachgesprochen worden , als ob sie das A und das O aller Weisheit wäre . Und in dieser Vorstellung unserer Ohnmacht bist du herangewachsen , du und Renate . Ihr habt nichts gesehen als unsere Kleinheit , und ihr habt nichts gehört als die Größe unseres Siegers . Aber , Lewin , es war einst anders , und wir Alten , die wir noch das Auge des großen Königs gesehen haben , wir schmecken bitter den Kelch der Niedrigkeit , der jetzt täglich an unseren Lippen ist . « » Und ich bin es sicher « , fiel jetzt Lewin ein , » er wird von uns genommen werden . Wir werden einen frohen , einen heiligen Krieg haben . Aber zunächst sind wir unseres Feindes Freund , wir haben mit und neben ihm in Waffen gestanden ; er rechnet auf uns , er schleppt sich unserer Türe zu , hoffnungsvoll wie der Schwelle seines eigenen Hauses ; das Licht , das er schimmern sieht , bedeutet ihm Rettung , Leben , und an der Schwelle eben dieses Hauses faßt ihn unsere Hand und würgt den Wehrlosen . « In diesem Augenblick begannen die Glocken zu klingen , die von dem alten Hohen-Vietzer Turm her zur Kirche riefen . Sie klangen laut und voll in dem klaren Wetter , Berndt horchte auf ; dann mit der Hand nach Osten deutend , von wo die Klänge herüberhallten , fuhr er seinerseits fort : » Ich weiß , daß geschrieben steht , › die Rache ist mein ‹ , und in menschlicher Gebrechlichkeit , das weiß der , der in die Herzen sieht , bin ich allezeit seinem Wort gefolgt . Ich fürchte nicht , daß ich lästere , wenn ich ausspreche : Es gibt auch eine heilige Rache . So war es , als Simson die Tempelpfosten faßte und sich und seine Feinde unter Trümmern begrub . Vielleicht , daß auch unsere Rache nichts anderes wird als ein gemeinschaftliches Grab . Sei 's drum ; ich habe abgeschlossen ; ich setze mein Leben daran , und , Gott sei Dank , ich darf es . Diese Hand , wenn ich sie aufhebe , so erhebe ich sie nicht , um persönliche Unbill zu rächen , nein , ich erhebe sie gegen den bösen Feind aller Menschheit , und weil ich ihn selber nicht treffen kann , so zerbreche ich seine Waffe , wo ich sie finde . Der große Schuldige reißt viel Unschuldige mit in sein Verhängnis ; wir können nicht sichten und sondern . Das Netz ist ausgespannt , und je mehr sich darin verfangen , desto besser . Wir sprechen weiter davon , Lewin . Jetzt ist Kirchzeit . Laß uns Gottes Wort nicht versäumen . Wir bedürfen seiner . « So trennten sie sich , als die Glocken zum zweiten Mal ihr Geläut begannen . Fünftes Kapitel In der Kirche Das Summen der Glocken war noch in der Luft , als Berndt von Vitzewitz , Renaten am Arm , aus einem in den Schnee gefegten Fußsteig in die große Nußbaumallee einbog , die , leise ansteigend , von der Einfahrt des Herrenhauses her in gerader Linie zur Hügelkirche hinaufführte . Dem voraufschreitenden Paare folgten Lewin und Tante Schorlemmer . Alle waren winterlich gekleidet ; die Hände der Damen steckten in schneeweißen Grönlandsmuffen ; nur Lewin , alles Pelzwerk verschmähend , trug einen hellgrauen Mantel mit weitem Überfallkragen . Die mehrgenannte Hügelkirche , der sie zuschritten , war ein alter Feldsteinbau aus der ersten christlichen Zeit , aus den Kolonisationstagen der Zisterzienser her ; dafür sprachen die sauber behauenen Steine , die Chornische und vor allem die kleinen hochgelegenen Rundbogenfenster , die dieser Kirche , wie allen vorgotischen Gotteshäusern der Mark , den Charakter einer Burg gaben . Wenig hatten die Jahrhunderte daran geändert . Einige Fenster waren verbreitert , ein paar Seiteneingänge für den Geistlichen und die Gutsherrschaft hergerichtet worden ; sonst , mit Ausnahme des Turmes und eines neuen Gruftanbaues der nördlichen Langwand , stand alles , wie es zu den Mönchszeiten gestanden hatte . War nun aber das Äußere der Kirche so gut wie unverändert geblieben , so hatte das Innere derselben alle Wandlungen eines halben Jahrtausends durchgemacht . Von den Tagen an , wo die Askanier hier ihre regelmäßig wiederkehrenden Fehden mit den Pommerherzögen ausfochten , bis auf die Tage herab , wo der große König an eben dieser Stelle , bei Zorndorf und Kunersdorf , seine blutigsten Schlachten schlug , war an der Hohen-Vietzer Kirche kein Jahrhundert vorübergegangen , das ihr nicht in ihrer inneren Erscheinung Abbruch oder Vorschub geleistet , ihr nicht das eine oder andere gegeben oder genommen hätte . Ein Gleiches , was hier eingeschaltet werden mag , gilt von der Mehrzahl aller alten märkischen Dorfkirchen , die dadurch ihren Reiz und ihre Eigentümlichkeit empfangen . Besonders im Gegensatz zu den weltlichen oder Profanbauten unseres Landes . Überblickt man diese , so nimmt man alsbald wahr , daß die eine Gruppe zwar die Jahre , aber keine Geschichte , die andere Gruppe zwar die Geschichte , aber keine Jahre hat . Burg Soltwedel ist uralt , aber schweigt . Schloß Sanssouci spricht , aber ist jung wie ein Parvenü . Nur unsere Dorfkirchen stellen sich uns vielfach als die Träger unserer ganzen Geschichte dar , und die Berührung der Jahrhunderte untereinander zur Erscheinung bringend , besitzen und äußern sie den Zauber historischer Kontinuität . Die Hohen-Vietzer Kirche hatte drei Eingänge , der erste für die Gemeinde von Westen her . Der Turm , durch den dieser Eingang ging , war aus Feldstein roh zusammengemörtelt ; es fehlte die Sauberkeit , die den älteren Bau auszeichnete . Von der Decke herab hing ein Seil , an dem die Betglocke geläutet wurde . Rechts an der Wand hin stand ein Grabscheit , eine Totenbahre ; auf ihr lagen Leinentücher , um die Särge hinabzulassen . An der Wand gegenüber waren wurmstichige Holzpuppen , Überreste eines Schnitzaltars aus der katholischen Zeit her , zusammengefegt ; daneben aufgeschichtetes Knubbenholz , wahrscheinlich um die Sakristei zu heizen . Das eigentliche Schaustück dieser Vorhalle war aber die » Türkenglocke « , berühmt wegen ihres Tones und ihrer Größe , die , nachdem sie lange oben im Turm gehangen und die Oder hinauf und hinabgeklungen hatte , jetzt gesprungen aus ihrer Höhe herabgelassen war . Sie war – so wenigstens ging die Sage – aus Geschützen gegossen , die Isaschar von Vitzewitz ( des alten Matthias Sohn ) aus dem Türkenkriege mit heimgebracht hatte . Inschriften bedeckten den Rand ; eine lautete : Ruf ich , öffne deinen Sinn , Gott zu dienen ist Gewinn . Der schwere Eisenklöppel stand in einer Ecke daneben . Aus dem Turm trat man in den Mittelgang der Kirche ; dicht an der Schwelle lag ein granitner Taufstein , ohne Fuß oder Träger , mitten durchgebrochen , noch aus der Zeit der Zisterzienser her . Weiter links , in der Ecke , wo Turm und Kirchenschiff zusammenstießen , war eine Nische in die nördliche Längswand gehauen : an einem Eisenstab hing eine Maria ( das Christkind war ihrem Arm entfallen ) , und ihr zu Häupten stand einfach die Jahreszahl 1431 . Das war das Hussitenjahr . Kein Zweifel , daß die Vitzewitze diesen Votivaltar nach Abzug des Feindes gestiftet hatten . Rechts und links vom Mittelgange , bis über die Hälfte der Kirche , liefen die Kirchenstühle hin , alle sauber und verschlossen ; nur die Tür des vordersten stand halb offen und hing in den Angeln . Dieser hieß der » Majorsstuhl « seit den Tagen , die der Kunersdorfer Schlacht unmittelbar gefolgt waren . Bis hierher , durch Flucht und Graus , hatten Grenadiere vom Regiment Itzenplitz ihren verwundeten Major getragen , auf diese Bank hatten sie ihn niedergelegt , hier hatte er sich aufgerichtet und die Binden abgerissen . » Kinder , ich will sterben . « Die Bank hatte einen Blutfleck seitdem , und jeder mied die Stelle . Einen Hauptschmuck der Hohen-Vietzer Kirche bildeten ihre Grabsteine . Einst hatten sie vom Altar an bis mitten in das Kirchenschiff hinein gelegen ; seitdem aber das alte Gewölbe zugeschüttet und die neue Gruft , deren wir schon erwähnten , angebaut worden war , standen sie aufrecht an der Nordwand der Kirche hin . Es waren meist einfache Steine , je nach der Sitte der Zeit mit langen oder kurzen Inschriften versehen , die von Malplaquet und Mollwitz erzählten oder auch von stilleren Tagen , in Hohen-Vietz begonnen und beendet . An zwei dieser Steine knüpfte die Sage an . Neben der Mariennische stand einer , größer als die andern und dicht beschrieben . Wer die Inschrift las , der wußte , daß Katharina von Gollmitz , eine Freundin des Hauses , einst unter diesem Steine gelegen hatte . Grete von Vitzewitz , der Verstorbenen in besonderer Liebe zugetan , hatte ihr , als sie während eines Besuches in Hohen-Vietz erkrankte und starb , einen Ehrenplatz in der Kirche angewiesen ; aber die Freundin im Grabe hatte kein Gefühl für diese Auszeichnung und sehnte sich nach Haus . Immer wenn Grete Vitzewitz über den Grabstein hinschritt , hörte sie eine Stimme : » Grete , mach auf ! « Da machten sie endlich auf und brachten den Sarg nach Jargelin , wo Katharina von Gollmitz ihre Heimat hatte . Nun wurde es still . Den Grabstein aber mauerten sie in die Wand . Ein anderer Stein , dessen Inschrift längst weggetreten war , lag noch dicht vor dem Altar . Er war der einzige , den man an alter Stelle belassen hatte , vielleicht weil er zerbrochen war . Er weigerte sich hartnäckig , mit den neben ihm liegenden Fliesen gleiche Linie zu halten , und bildete nach und nach eine Mulde . Wie oft auch seine zwei Hälften aufgenommen und Sand und Gerölle in die Vertiefung hineingestampft wurden , der Stein sank immer wieder . Das Volk sagte : » Da liegt der alte Matthias ; der geht immer tiefer . « Dies war nun freilich ein Irrtum , der alte Matthias lag an anderer Stelle , wohl aber gehörte ihm das große Grabmonument an , das , nach der künstlerischen Seite hin , den Hauptschmuck der Hohen-Vietzer Kirche bildete . Es war ein Marmordenkmal , überladen , rokokohaft , dabei jedoch von großer Meisterschaft der Arbeit . Dem Gegenstande nach zeigte es eine gewisse Verwandtschaft mit dem Altarbilde des Saalanbaues . Matthias von Vitzewitz und seine Gemahlin kniend , dabei voll Andacht zu einer Kreuzigung Christi emporblickend . Alles Basrelief , nur die Knienden fast in losgelöster Figur . Darunter ihre Namen und die Daten ihres Lebens und Sterbens . Ein niederländischer Meister hatte das Werk gefertigt und es persönlich zu Schiff bis in die Oder hinauf gebracht . Als die Bewohner des Herrenhauses die Kirche betraten , begann eben der Gesang der Gemeinde . Eine schmale Treppe , an einem der kleinen Seiteneingänge ausmündend , führte zu dem herrschaftlichen Stuhle hinauf . Dieser , ein auf Pfeilern ruhender , sehr einfacher Holzbau , war ursprünglich durch hohe Schiebefenster geschlossen gewesen , längst aber waren diese beseitigt , und nur noch zwei schmale Bretter , die von der Brüstung bis zur vollen Höhe der Decke aufstiegen , teilten den Raum in drei große Rahmen ab . Vorn an der Wandung war das Vitzewitzsche Wappen angebracht , ein Andreaskreuz , weiß auf rotem Grunde . In Front dieses herrschaftlichen Stuhles , hart an der Brüstung hin , nahmen die Eintretenden geräuschlos Platz : erst Berndt von Vitzewitz , links neben ihm Renate , dann Tante Schorlemmer . Lewin stellte seinen Stuhl in die zweite Reihe . So vernachlässigt alles war , so war es doch nicht ohne einen gewissen Reiz . Gleich zur Rechten Altar und Kanzel ; in Front des Altars das Taufbecken , eine silberne , mit allegorischen Figuren und unentzifferbaren Inschriften reich ausgeschmückte Schüssel , die nur mit großer Mühe vor den Händen des Feindes gerettet worden war . An der Wand gegenüber das vorerwähnte Marmordenkmal des alten Matthias und seiner Gemahlin . Das Beste aber , was dieser unscheinbaren Stelle eigen war , war doch das große , fast einen Halbkreis bildende Fenster , das einen Blick auf den Kirchhof und weiter hügelabwärts auf einzelne zerstreute , wie Vorposten ausgestellte Hütten und Häuser des Dorfes gestattete . Neben diesem Fenster , hart an der Kirchwand , stand ein Eibenbaum , der von der Seite her die längsten seiner Zweige vorschob und regelmäßig an die Scheiben klopfte , wenn Pastor Seidentopf seine dreigeteilte Predigt den Hohen-Vietzern ans Herz legte . Lewin setzte sich immer so , daß er einen Blick auf das Fenster frei hatte . Er stand wohl fest auf dem Catechismo Lutheri , wie alle Vitzewitze , seitdem die gereinigte Lehre ins Land gekommen war , aber da war doch ein anderes in ihm , das ihn von Zeit zu Zeit trieb , mehr auf den Eibenbaum draußen als auf die Stimme von der Kanzel her zu achten , wäre diese Stimme auch mächtiger gewesen als die seines alten Lehrers und Freundes , dem die sonntägliche Erbauung oblag . Die Sonne schien hell , und ein einfallendes Streiflicht erleuchtete in plötzlichem Glanz die halbe Nordwand , vor allem das große Grabdenkmal dem herrschaftlichen Chorstuhl gegenüber . Die lebensgroßen Figuren waren wie von rosigem Leben angehaucht . Lewin hatte die Schönheit dieses Bildwerkes nie so voll empfunden ; er las die langen Inschriften , wie er sich gestand , zum ersten Mal . Der Gesang schwieg ; schon während des letzten Verses war Prediger Seidentopf auf die Kanzel getreten , ein Sechziger , mit spärlichem weißen Haar , von würdiger Haltung und mild im Ausdruck seiner Züge . Lewin hing an der wohltuenden Erscheinung , senkte dann den Blick und folgte in andächtiger Betrachtung dem stillen Gebet . Die Gemeinde tat ein Gleiches , neigte sich und schaute voll herzlichem Verlangen zu ihrem Geistlichen auf , als dieser sein Gebet beendet und sein Haupt wiederum erhoben hatte . Denn die Gemüter waren damals offen für Trost und Zuspruch von der Kanzel her und rechneten nicht nach , ob die Worte lutherisch oder kalvinistisch klangen , so sie nur aus einem preußischen Herzen kamen . Das wußte Seidentopf , der in gewöhnlichen Zeiten manche Widersacher unter den strenggläubigen Konventiklern seines Dorfes zu bekämpfen hatte , und ein heller Glanz , wie ihn ihm die innere Freude gab , umleuchtete seine Stirn , als er nach Lesung des Evangeliums die Textesworte zu erklären begann . Er sprach von dem Engel des Herrn , der den Hirten erschien , um ihnen die Geburt eines neuen Heiles zu verkünden . Solche Engel , so fuhr er fort , sende Gott zu allen Zeiten , vor allem dann , wenn die Nacht der Trübsal auf den Völkern läge . Und eine Nacht der Trübsal sei auch über dem Vaterlande ; aber ehe wir es dächten , würde inmitten unseres Bangens der Engel erscheinen und uns zurufen : » Fürchtet euch nicht , siehe , ich verkündige euch große Freude . « Denn das Gericht des Herrn habe unsere Feinde getroffen , und wie damals die Wasser zusammenschlugen und » bedeckten Wagen und Reiter und alle Macht des Pharao , daß nicht einer aus ihnen übrigblieb « , so sei es wiederum geschehen . An dieser Stelle , auf das Weihnachtsevangelium kurz zurückgreifend , hätte Pastor Seidentopf schließen sollen ; aber unter der Wucht der Vorstellung , daß eine richtige Predigt auch eine richtige Länge haben müsse , begann er jetzt , den Vergleich zwischen dem alten und dem neuen Pharao bis in die kleinsten Züge hinein durchzuführen . Und dieser Aufgabe war er nicht gewachsen . Dazu gebrach es ihm an Schwung der Phantasie , an Kraft des Ausdrucks und Charakters . Schemenhaft zogen die Ägypterscharen vorüber . Die Aufmerksamkeit der Gemeinde wich einem toten Horchen , und Lewin , der bis dahin kein Wort verloren hatte , sah von der Kanzel fort und begann seine Aufmerksamkeit dem Fenster zuzuwenden , vor dem jetzt ein Rotkehlchen auf der beschneiten Eibe saß und in leichtem Schaukeln den Zweig des Baumes bewegte . Nur Berndt folgte in Frische und Freudigkeit der Rede seines Pastors . Seine eigene Energie half nach ; wo die Konturen nicht ausreichten , zog er seine scharfen Linien in die unsicher schwankenden hinein . Was als Schatten kam , wurde zu Leben und Gestalt . Er sah die Ägypter . Bataillone mit goldenen Adlern , Reitergeschwader , über deren weiße Mäntel die schwarzen Roßschweife fielen , so stiegen sie in endlos langem Zuge vor ihm auf , und über all ihrer Herrlichkeit schlossen sich die Wellen des Meeres . Nur über einem schlossen sie sich nicht ; er gewann das Ufer , ein nördliches Eisgestade , und siehe da , über glitzernde Felder hin flog jetzt ein Schlitten , und zwei dunkle , tiefliegende Augen starrten in den aufstäubenden Schnee . Pastor Seidentopf hatte keinen besseren Zuhörer als den Patron seiner Kirche , der – und nicht heute bloß – die freundlich schöne Kunst des Ergänzens zu üben verstand . Aus der Skizze schuf er ein Bild und glaubte doch dies Bild von außen her , aus der Hand seines Freundes , empfangen zu haben . Nun war der Sand durch die Uhr gelaufen , die Predigt selbst geschlossen . Da trat der Pastor noch einmal an den Rand der Kanzel , und mit eindringlicher Stimme , der sofort alle Herzen wieder zufielen , hob er an : » Mit Christi Geburt , die wir heute feiern , beginnt das christliche neue Jahr . Ein neues Jahr ; was wird es uns bringen ? Es wissen zu wollen wäre Torheit ; aber zu hoffen ist unserem Herzen erlaubt . Gott hat ein Zeichen gegeben ; mögen wir es zum Rechten deuten , wenn wir es deuten : er will uns wieder aufrichten , unsere Buße ist angenommen , unsere Gebete sind erhört . Die Geißel , die nach seinem Willen sechs lange Jahre über uns war , er hat sie zerbrochen ; er hat sich unserer Knechtschaft erbarmt , und die Weihnachtssonne , die uns umscheint , sie will uns verkündigen , daß wieder hellere Tage unserer harren . Ob sie kommen werden mit Palmen oder ob sie kommen werden mit Schwerterklang , wer sagt es ? Wohl mischt sich ein Bangen in unsere Hoffnung , daß der Sieg nicht einziehen wird ohne letzte Opfer an Gut und Blut . Und so laßt uns denn beten , meine Freunde , und die Gnade des Herrn noch einmal anrufen , daß er uns die rechte Kraft leihen möge in der Stunde der Entscheidung . Das Wort des Judas Makkabäus sei unser Wort : › Das sei ferne , daß wir fliehen sollten . Ist unsere Zeit kommen , so wollen wir ritterlich sterben um unserer Brüder willen und unsere Ehre nicht lassen zuschanden werden . ‹ Gott will kein Weltenvolk , Gott will keinen Babelturm , der in den Himmel ragt , und wir stehen ein für seine ewigen Ordnungen , wenn wir einstehen für uns selbst . Unser Herd , unser Land sind Heiligtümer nach dem Willen Gottes . Und seine Treue wird uns nicht lassen , wenn wir getreu sind bis in den Tod . Handeln wir , wenn die Stunde da ist , aber bis dahin harren wir in Geduld . « Er neigte sich jetzt , um in Stille das Vaterunser zu sprechen ; die Orgel fiel mit feierlichen Klängen ein ; die Gemeinde , sichtlich erbaut durch die Schlußworte , verließ langsam die Kirche . Auf den verschiedenen Schlängelwegen , die von der Kirche ins Dorf herniederführten , schritten die Bauern und Halbbauern ihren halbverschneiten Höfen zu . Die Frauen und Mädchen folgten . Wer von der Dorfstraße aus diesem Herabsteigen zusah , dem erschloß sich ein anmutiges Bild : der Schnee , die wendischen Trachten und die funkelnde Sonne darüber . Die Gutsherrschaft nahm wieder ihren Weg durch die Nußbaumallee . Als sie , einbiegend , an die Hoftür kamen , stand Krist an der untersten Steinstufe und zog seinen Hut . Die silberne Borte daran war längst schwarz , die Kokarde verbogen . Berndt , als er seines Kutschers ansichtig wurde , trat an ihn heran und sagte kurz : » Fünf Uhr vorfahren ! Den kleinen Wagen . « » Die Braunen , gnädiger Herr ? « » Nein , die Ponies . « » Zu Befehl ! « Mit diesen Worten traten unsere Freunde ins Haus zurück . Sechstes Kapitel Am Kamin Punkt fünf Uhr war Krist vorgefahren ; Berndt liebte nicht zu warten . Von den Kindern hatte er kurzen Abschied genommen , um seiner Schwester auf Schloß Guse , oder der » Tante Amelie « , wie sie im Hohen-Vietzer Hause hieß , einen nachbarlichen Besuch zu machen . Daß er noch am selben Abend zurückkehren werde , war nicht anzunehmen ; er hatte vielmehr angedeutet , daß aus der kurzen Ausfahrt eine Reise nach der Hauptstadt werden könne . Die Unruhe seiner Empfindung trieb ihn hinaus . Den Weihnachtsaufbau , wie seit Jahren , hatte er sich auch heute nicht nehmen lassen wollen , aber kaum frei , im Gefühl erfüllter Pflicht , schlugen seine Gedanken die alte Richtung ein . Es drängte ihn nach Aktion oder doch nach Einblick in die Welthändel ; ein Bedürfnis , das ihm die Enge seines Hauses nicht befriedigen konnte . In der Unterhaltung , das hatte Lewin bei Tische empfunden , tat er sich Zwang an , und das Gefühl davon nahm auch dem Gespräch der Kinder jede freie Bewegung . Eine gewisse Befangenheit griff Platz . So kam es , daß man die Abwesenheit des Vaters , bei aufrichtigster Liebe zu ihm , fast wie eine Befreiung empfand ; Herz und Zunge konnten ihren Weg gehen , wie sie wollten . Unsere Hohen-Vietzer Geschwister empfanden übrigens , wie kaum erst versichert zu werden braucht , nicht kleiner oder selbstsüchtiger als andere im Lande ; sie wollten nur nicht gezwungen sein , über den » Bösesten der Menschen « immer wieder und wieder zu sprechen , als wäre nichts Sprechenswertes in der Welt als dieser eine . Sie hatten sich samt Tante Schorlemmer im Wohnzimmer eingefunden und saßen jetzt , es mochte die siebente Stunde sein , um den hohen altmodischen Kamin . Mit ihnen war Marie , die Freundin Renatens , des reichen Kniehase dunkeläugige Tochter , deren Besuch für diesen Abend angekündigt war . Jede der drei Damen war nach ihrer Weise beschäftigt . Renate , dem Kamin zunächst sitzend , hielt einen Palmenfächer in der Rechten , mit dem sie die Flamme bald anzufachen , bald sich gegen dieselbe zu schützen suchte ; Tante Schorlemmer strickte mit vier großen Holznadeln an einem Shawl , der wie ein Vlies neben ihrem Lehnstuhl niederfiel ; Marie blätterte neugierig in einer grönländischen Reisebeschreibung , die ihr Tante Schorlemmer zum Heiligen Christ beschert und mit einem Widmungsverse aus Zinzendorf ausgestattet hatte . Zwischen Marie und Lewin , aber keineswegs als eine Scheidewand , stand der Weihnachtsbaum , den Jeetze von der Halle her hereingetragen hatte . Das Plündern , das Sache Lewins war , nahm eben seinen Anfang . Jede goldene Nuß , die er pflückte , warf er in hohem Bogen über die Spitze des Baumes fort , an dessen entgegengesetzter Seite Marie mit glücklicher Handbewegung danach haschte . Im Werfen und Fangen jedes gleich geschickt . Lewin freute sich dieses Spieles ; zudem war er von alters her nie besserer Laune , als wenn er sich den Süßigkeiten des Weihnachtsbaumes gegenübersah . Das Naschen war sonst nicht seine Sache , aber die Pfennigreiter , die Nonnen , die Fische machten ihn kritiklos und ließen ihn einmal über das andere versichern , » daß in dem plattgedrücktesten Pfefferkuchenbild immer noch ein Tropfen vom himmlischen Manna sei « . Die gute Laune Lewins steigerte sich bald bis zu Neckerei , unter der niemand mehr zu leiden hatte als Tante Schorlemmer . » Du sollst den Feiertag heiligen « , rief er ihr zu und wies dabei auf die vier hölzernen Stricknadeln , die , wie sich von selbst versteht , nach dieser scherzhaften Reprimande nur um so eifriger zu klappern begannen . Endlich wurde es ihr zuviel . Sie verfärbte sich und resolvierte kurz : » Meine Grönländer können nicht warten . « Da wir nun im langen Verlauf unserer Erzählung nirgends einen Punkt entdecken können , der Raum böte für eine biographische Skizze unter dem Titel » Tante Schorlemmer « , so halten wir hier den Augenblick für gekommen , uns unseres Pflicht gegen diese treffliche Dame zu entledigen . Denn Tante Schorlemmer ist keine Nebenfigur in diesem Buche , und da wir ihr , nach flüchtiger Bekanntschaft in Flur und Kirche , an dieser Stelle bereits zum dritten Male begegnen , so hat der Leser ein gutes Recht , Aufschluß darüber zu verlangen , wer Tante Schorlemmer denn eigentlich ist . Tante Schorlemmer war eine Herrnhuterin . Eines Tages , das lag nun dreißig Jahre zurück , war ihr , der damaligen Schwester Brigitte , Mitteilung gemacht worden , daß Bruder Jonathan Schorlemmer , zur Zeit in Grönland , eine eheliche Gefährtin wünsche , bereit , ihm in seinem schweren Werke zur Seite zu stehen . Sie hatte diesem Rufe gehorsamt , ihre Wäsche gezeichnet und war mit dem nächsten dänischen Schiff von Hamburg aus gen Norden gefahren . An einem Tage , der keine Nacht hatte , war sie in Grönland gelandet , Bruder Schorlemmer hatte sie empfangen und ihren Bund persönlich eingesegnet . Die Ehe blieb kinderlos , dessen sich jedoch beide in christlicher Ergebung getrösteten . So vergingen ihnen zehn glückliche Jahre . Zu Beginn des elften starb Jonathan Schorlemmer an einem Lungenkatarrh und wurde in einem mit Seehundsfell beschlagenen Sarge begraben . Seine Witwe aber , nachdem sie die Bevölkerung mit allem , was sie hatte , beschenkt und jedem einzelnen versichert hatte , ihn nie vergessen zu wollen , kehrte mit dem Grönlandschiff zunächst nach Kopenhagen und von dort aus in die deutsche Heimat zurück . In die deutsche Heimat , aber nicht nach Herrnhut . Auf der weiten Rückreise Berlin berührend , wo ihr einige Anverwandte lebten , beschloß sie , im Kreise derselben zu verbleiben , und bezog in jenem Stadtteile , der fünfzig Jahre früher den einwandernden Böhmischen Brüdern und Herrnhutern als Wohnplatz angewiesen worden war , ein bescheidenes Quartier . In diesen kleinen Häusern der Wilhelmsstraße würde sie ihr stilles und treues Leben sehr wahrscheinlich beschlossen haben , wenn ihr nicht eines Tages ein Blatt ins Haus geflogen wäre , auf dem sie das Folgende las : » Eine ältere Frau , am liebsten Witwe , wird zur Führung eines Haushaltes auf dem Lande gesucht . Eine Tochter von zwölf Jahren soll ihrer besonderen Obhut anvertraut werden . Bedingungen : Verträglichkeit und Christlichkeit . Anfragen sind zu richten an : B. v. V. , poste restante Küstrin . « Tante Schorlemmer schrieb ; alles Geschäftliche erledigte sich schnell . Um Weihnachten 1806 traf sie in Hohen-Vietz ein , in dessen Herrenhause gerade damals ein trübes Christfest gefeiert wurde . Man trat sich gegenseitig vertrauungsvoll entgegen , und nach wenig Wochen schon begann der Einfluß unserer Freundin sich geltend zu machen . Nicht das Glück , aber Ruhe und Friede waren in ihrem Geleit . Renate hing ihr an , Lewin verehrte ihre Fürsorge , Berndt von Vitzewitz hatte einen tiefen Respekt vor ihrem Herrnhutertume . Und darin unterschied er sich freilich von seinen Kindern . Diese beugten sich wohl vor der Aufrichtigkeit , aber nicht vor der Tiefe von Tante Schorlemmers christlichem Gefühl . Ihre Leidenschaftslosigkeit , die dem Vater so wohl tat , erschien den Geschwistern einfach als Schwäche . Nach Ansicht beider gebrauchte sie ihr Christentum wie eine Hausapotheke ; und darin lag etwas Wahres . Für alle mehr gewöhnlichen Fälle hatte sie das Sal sedativum einer frommen Alltagsbetrachtung , wie » Rechte Treu kennt keine Scheu « oder » So dunkel ist keine Nacht , daß Gottes Auge nicht drüber wacht « ; für ernstere Fälle jedoch griff sie nach dem starken und nervenerfrischenden Sal volatile irgendeines Kraftspruches : » Was will Satan und seine List , wenn mein Herr Jesus mit mir ist . « Das unterscheidende Merkmal zwischen den schwachen und starken Mitteln bestand im wesentlichen darin , daß in den letzteren jedesmal der Böse herausgefordert und ihm die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen entgegengehalten wurde . Alle diese Sprüche aber , ob schwach oder stark , wurden ebensosehr im festen Glauben an ihre innewohnende Kraft wie mit der äußersten Seelenruhe vorgetragen . Und da steckte die Schuld oder doch das , was den Geschwistern als Schuld erschien . Diese Seelenruhe , die sich neben dem Maß geforderter Teilnahme oft wie Teilnahmlosigkeit ausnahm , reizte die jungen Gemüter und stellte ihre Geduld auf manche harte Probe . Berndt verstand dies stille Christentum besser und hatte an sich selbst erfahren , daß der Trost aus dem Worte Gottes mehr war als der Wortetrost der Menschen . So war Tante Schorlemmer . – Das Scherzen über ihre vorgeblich freie Stellung zum dritten Gebot hatte sie einen Augenblick ernstlich verdrossen ; Lewin aber , ohne dessen zu achten , fuhr in seinen Neckereien fort : » Unsere Freundin scheint übrigens keine Ahnung zu haben , welch hoher Besuch inzwischen vor dem Herrnhuter Gemeindehaus gehalten hat . « » Wer ? « riefen die beiden Mädchen . » Niemand Geringeres als Napoleon selbst . In der Nacht vom elften zum zwölften . Und die Herrnhuter haben wieder versäumt , sich heroisch in die Weltgeschichte einzuführen . Sie haben den Kaiser angegafft , soweit es bei Nacht und Schneetreiben möglich war , und haben ihn weiterfahren lassen . Das macht , weil der herrnhutische Mut im Auslande lebt , in China , in Grönland , in Hohen-Vietz . Überall ist er , nur nicht daheim . Tante Schorlemmer , dessen bin ich gewiß , hätte ihn verhaften und als Weltfriedensbrecher vor Gericht stellen lassen . « Die Angeredete drohte mit einer ihrer großen Nadeln zu Lewin hinüber , dem es übrigens nahe bevorstand , sich aus dem Angriff in die Verteidigung gedrängt zu sehen . Der » Empereur « war nicht umsonst zitiert worden ; einmal in das Gespräch hineingezogen , gleichviel ob im Ernst oder Scherz , begann er seine Macht zu üben , und Lewin , wenigstens momentan des neckischen Tones vergessend , begann ein Bild jener fluchtartigen Reise zu geben , die den zum ersten Mal von seinem Glück verlassenen Kaiser in vierzehntägiger Fahrt von Smolensk bis in seine Hauptstadt zurückgeführt hatte . Er gab Altes und Neues , bei einzelnen Punkten länger verweilend , als vielleicht nötig gewesen wäre . Tante Schorlemmer und Marie waren der Erzählung aufmerksam gefolgt ; Renate aber warf hin : » Vorzüglich , und wie belehrend ! Ein wahrer Generalbericht über russisch-deutsche Poststationen . Oh , ihr großstädtischen Herren , wie seid ihr doch so schlechte Erzähler , und je schlechter , je klüger ihr seid . Immer Vortrag , nie Geplauder ! « » Sei 's drum , Renate ; ich will nicht widersprechen . Aber wenn wir schlechte Erzähler sind , so seid ihr Frauen noch schlechtere Hörer . Ihr habt keine Geduld , und die Wahrnehmung davon verwirrt uns , läßt uns den Faden verlieren und fahrt uns , links und rechts tappend , in die Breite . Ihr wollt Guckkastenbilder : Brand von Moskau , Rostoptschin , Kreml , Übergang über die Beresina , alles in drei Minuten . Die Erzählung , die euch und euer Interesse tragen soll , soll bequem wie eine gepolsterte Staatsbarke , aber doch auch handlich wie eine Nußschale sein . Ich weiß wohl , wo die Wurzel des Übels steckt : der Zusammenhang ist euch gleichgiltig ; ihr seid Springer . « Renate lachte . » Ja , das sind wir ; aber wenn wir zuviel springen , so springt ihr zuwenig . Eure Gründlichkeit ist beleidigend . Immer glaubt ihr , daß wir in der Weltgeschichte weit zurück seien , und wir wissen doch auch , daß der Kaiser in Paris angekommen ist . Oh , ich könnte Bulletins von Hohen-Vietz aus datieren . Aber lassen wir unsere Fehde , Lewin . Was ist es mit den roten Scheiben im Schloßhof von Berlin ? In der Zeitung war eine Andeutung ; Kathinka schrieb ausführlicher davon . « » Was schrieb sie ? « » Wie du nur bist . Nun kümmert dich wieder , was Kathinka schrieb . Daß ich so töricht war , den Namen zu nennen . « Lewin suchte seine flüchtige Verlegenheit zu verbergen . » Du irrst , ich schweife nicht ab ; mich hat das Phänomen lebhaft beschäftigt . Es kam dreimal ; am dritten Tage habe ich es gesehen . « » Und was war es ? « » An allen drei Tagen , etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang , erglühten plötzlich die oberen Fenster des alten Schloßhofes . Die Wachen meldeten es . Da die Sonne längst unter war , so dachte man an Feuer . Aber es fand sich nichts . Auf dem neuen Schloßhof blieben die Fenster dunkel . Die Leute sagen , es bedeute Krieg . « » Ein leichtes Prophezeien « , bemerkte Tante Schorlemmer ruhig . » Wir hatten Krieg in diesem Jahre und werden ihn mit in das neue hinübernehmen . « » Ich glaube « , fuhr Lewin fort , » der ganze Vorgang wäre schnell vergessen worden , wenn nicht eines unserer Blätter , das euch nicht zu Händen kommt , am zweitfolgenden Tage schon eine Geschichte gebracht hätte , die bei allem Dunklen ersichtlich darauf berechnet war , der Erscheinung im Schloß eine tiefere Bedeutung zu geben , so etwas wie Zeichen und Wunder . « » O erzähle ! « » Ja . Aber du darfst nicht ungeduldig werden . « » Bist du empfindlich ? « » Wohlan denn . Es ist eine Geschichte aus dem Schwedischen . Die Überschrift , die das Blatt ihr gab , war : › Karl XI. und die Erscheinung im Reichssaale zu Stockholm ‹ . Ich bürge nicht dafür , daß ich alles genauso wiedergebe , wie 's in dem Blatte stand , aber in den Hauptstücken bin ich meiner Sache gewiß . Was man gern hat , behält man . › Gedächtnis ist Liebe ‹ , sagte Tubal noch gestern , und selbst Kathinka stimmte bei . « Bei dem Namen Tubal kam das Erröten an Renate . Lewin aber , als ob er es nicht bemerkt habe , fuhr fort : » Karl XI. war krank . Er lag schlaflos zu später Stunde in seinem Zimmer und sah nach der anderen Seite des Schloßhofes hinüber , auf die Fenster des Reichssaales . Bei ihm war niemand als der Reichsdrost Bjelke . Da schien es dem König , daß die Fenster des Reichssaales zu glühen anfingen , und darauf hindeutend , fragte er den Reichsdrosten : › Was ist das für ein Schein ? ‹ Der Reichsdrost antwortete : › Es ist der Schein des Mondes , der gegen die Fenster glitzert . ‹ In demselben Augenblick trat der Reichsrat Oxenstierna herein , um sich nach dem Befinden des Königs zu erkundigen , und der König , wieder auf die glühenden Scheiben deutend , fragte den Reichsrat : › Was ist das für ein Schein ? Ich glaube , das ist Feuer . ‹ Auch der Reichsrat antwortete : › Nein , gottlob , das ist es nicht ; es ist der Schein des Mondes , der gegen die Fenster glitzert . ‹ Die Unruhe des Königs wuchs aber , und er sagte zuletzt : › Gute Herren , da geht es nicht richtig zu ; ich will hingehen und erfahren , was es sein kann . ‹ Sie gingen darauf einen Korridor entlang , der an den Zimmern Gustav Erichsons vorüberführte , bis daß sie vor der großen Türe des Reichssaales standen . Der König forderte den Reichsdrosten auf , die Tür zu öffnen , und als dieser bat , in dieser Nacht die Tür geschlossen zu lassen , nahm der König selbst den Schlüssel und öffnete . Als er den Fuß auf die Schwelle setzte , trat er hastig zurück und sagte : › Gute Herren , wollt ihr mir folgen , so werden wir sehen , wie es sich hier verhält ; vielleicht daß der gnädige Gott uns etwas offenbaren will . ‹ Sie antworteten : › Ja . ‹ « Hier wurde Lewin unterbrochen . Jeetze trat ein , um eine Schale mit Obst auf den Tisch zu stellen , Erdbeeräpfel und Gravensteiner , die in Hohen-Vietz vorzüglich gediehen . Tante Schorlemmer benutzte die Unterbrechung , um einige wirtschaftliche Ordres zu geben , Renate aber bemerkte : » Ich vermisse die Beziehungen ; aber freilich , je geheimnisvoller , desto anregender für die Phantasie . « Lewin nickte zustimmend . » Dieser Eindruck wird sich bei dir steigern . « Dann fuhr er fort : » Als König Karl und die beiden Räte eingetreten waren , wurden sie eines langen Tisches gewahr , an dem eine Anzahl ehrwürdiger Männer saßen , in ihrer Mitte ein junger Fürst ; als solchen bezeichnete ihn der Thron , der , mit Wappenschildern und roten Teppichen behangen , unmittelbar in seinem Rücken aufgerichtet war . Es war ersichtlich , man saß zu Gericht . Am unteren Ende des Tisches stand ein Richtblock , und um den Block her , in weitem Halbkreis , standen Angeklagte , reich gekleidet , aber nicht in der Tracht , die damals in Schweden getragen wurde . Die zu Gericht sitzenden Männer zeigten auf die Bücher , die sie in Händen hielten ; sie wollten dem jungen Fürsten nicht zu Willen sein , der aber schüttelte hochmütig den Kopf und wies an das untere Ende des Tisches , wo jetzt Haupt um Haupt fiel , bis das Blut längs dem Fußboden fortzuströmen begann . König Karl und seine Begleiter wandten sich voll Entsetzen von dieser Szene ab ; als sie wieder hinblickten , war der Thron zusammengebrochen . Der König aber , indem er des Reichsdrosten Bjelke Hand ergriff , rief laut und bittend : › Welche ist des Herren Stimme , die ich hören soll ? Gott , wann soll das alles geschehen ? ‹ Und als er Gott zum dritten Male angerufen hatte , klang ihm die Antwort : › Nicht soll dies geschehen in deiner Zeit , wohl aber in der Zeit des sechsten Herrschers nach dir . Es wird ein Blutbad sein , wie nie dergleichen im schwedischen Lande gewesen . Dann aber wird ein großer König kommen und mit ihm Frieden und eine neue Zeit . ‹ Und als dies gesprochen war , schwand die Erscheinung . König Karl hielt sich mühsam . Dann , über denselben Korridor , kehrte er in sein Schlafgemach zurück . Die beiden Räte folgten . « Lewin schwieg . Im Wohnzimmer war es still geworden ; der Fächer ruhte , selbst die Stricknadeln ruhten ; jeder blickte vor sich hin . Nach einer Pause fragte Renate : » Wer war der sechste Herrscher in Schweden ? « » Gustav IV. ; sein Thron ist zusammengebrochen « . » So hältst du das Ganze für echt und ehrlich , für eine wirkliche Vision ? « Ich sage nicht ja und nicht nein . Das Schriftstück , das über diesen Hergang berichtet , liegt im Stockholmer Archiv . Es ist von des Königs Hand in selbiger Nacht geschrieben ; seine beiden Begleiter haben es mit unterzeichnet . Die Handschriften sind beglaubigt . Ich habe weder das Recht noch den Mut , solchen Erscheinungen die Möglichkeit abzusprechen . Laß mich sagen , Renate , wir haben nicht das Recht . « Lewin betonte das » wir « . Dann aber wandte er sich , einen scherzhaften Ton wieder aufnehmend , an Tante Schorlemmer und Marie und drang in sie , ihren Glauben oder Unglauben solchen Erscheinungen gegenüber auszusprechen . Marie stand auf . Jeder sah erst jetzt , welchen tiefen Eindruck die Erzählung auf sie gemacht . Sie drückte die Tannenzweige , die sie mittlerweile , ohne zu wissen warum , zerpflückt hatte , zu einem Knäuel zusammen und warf alles in die halb niedergebrannte Glut . Der rasch aufflackernden Flamme folgte eine Rauchwolke , in der sie nun , einen Augenblick lang , selbst wie eine Erscheinung stand , nur die Umrisse sichtbar und die roten Bänder , die ihr über Haar und Nacken fielen . Es bedurfte ihrerseits keines weiteren Bekenntnisses ; sie selber war die Antwort auf die Frage Lewins . Tante Schorlemmer aber , die Stricknadeln wieder aufnehmend , schüttelte unmutig den Kopf und zitierte dann , als ob sie ein Gespenster beschwörendes Vaterunser vor sich hin bete , mit rascher und deutlicher Stimme : » Unter Gottes Schirmen Bin ich vor den Stürmen Alles Bösen frei . Laß den Satan wittern . Laß den Feind erbittern , Mir steht Jesus bei . Siebentes Kapitel Im Kruge Dorf Hohen-Vietz ( es hatte auch » ausgebaute Lose « ) beschränkte sich in seinem Innenteil auf eine einzige langgestreckte Straße , die , dem Fuße des Hügels folgend , nach Norden hin mit dem Vitzewitzeschen Rittergute , nach Süden hin mit einem großen Mühlengehöft abschloß . Das Rittergut , soweit seine Baulichkeiten in Betracht kommen , bestand aus zwei hufeisenförmigen Hälften , von denen die eine sich aus den drei Flügeln des Herrenhauses , die andere aus Ställen und Scheunen des gutsherrlichen Gehöftes zusammensetzte . Die offenen Seiten beider Hufeisen waren einander zugekehrt , zwischen beiden lief ein zugleich als Auffahrt dienender Steindamm , der in seiner Verlängerung hügelansteigend in die mehrgenannte Nußbaumallee überging . Freundlicher noch als das Rittergut lag die Mühle , die eine Öl- und Schneidemühle war . Ein Wasser , das mit starkem Gefälle am Dorf vorüberfloß , trieb beide Werke . Jetzt war der Bach gefroren . Schnee und Eis aber , die in phantastischen Formen an den großen Triebrädern hingen , steigerten , wenn nicht den idyllischen , so doch den malerischen Reiz des weitschichtigen , aus Häusern , Schuppen und Lagerräumen bunt zusammengewürfelten Gehöftes . Rittergut und Mühle die Flügelpunkte ; dazwischen die Straße , die ihre dreißig Häuser oder mehr ziemlich unregelmäßig auf beide Seiten verteilt hatte . Die linke Seite , die östliche , war die bevorzugte . Hier lagen die Pfarre , die Schule , der Schulzenhof , während die rechte Seite , die fast ausschließlich von Büdnern und Tagelöhnern bewohnt wurde , nur ein einziges stattliches Gebäude aufwies : den Krug . In diesen treten wir jetzt ein . Er hatte nicht das Ansehen wie sonst wohl Dorfkrüge , dazu fehlte ihm der auf Holzsäulen ruhende , jedem vorfahrenden Wagen als Wetterdach dienende Giebelbau , vielmehr sprang eine doppelarmige , aus Backsteinen aufgemauerte Treppe vor , die fast ein Dritteil der unteren Hausfront ausfüllte . Auch das Geländer war von Stein . Dieser äußeren Erscheinung , die mehr Städtisches als Dörfisches hatte , paßte sich auch die innere Einrichtung an . Von den zwei Gastzimmern , die durch den fliesenbedeckten Flur getrennt waren , zeigte das eine mit seinen blankgescheuerten Tischen und hochlehnigen Schemelstühlen , in die ein Herz geschnitten war , allerdings noch den Krugcharakter , das andere aber mit Mullgardinen und eingerahmten Kupferstichen , darunter Schill und der Erzherzog Karl , glich fast in allem einer Bürgerressourcenstube und hatte sogar einen Lesetisch , auf dem , neben dem » Lebuser Amtsblatt « , der » Beobachter an der Spree « und die » Berlinischen Nachrichten von Staats und gelehrten Sachen « ausgebreitet lagen . Alles verriet Behagen und Wohlhabenheit und durfte es auch , denn über beides verfügten die Hohen-Vietzer Bauern , die hier ihr Solo spielten , in ausgiebigster Weise . Ihre Hörigkeit , wenn sie je vorhanden gewesen war , hatte in diesen Gegenden , wo dem herrenlosen Bruch- und Sumpflande immer neue Strecken fruchtbaren Ackers abgewonnen wurden , seit lange glücklicheren Verhältnissen Platz gemacht , und Berndt von Vitzewitz , weil er selbst frei fühlte , freute sich nicht nur dieser wachsenden Selbständigkeit , sondern kam ihr überall entgegen . Ein Ereignis aus seinen jüngeren Jahren her hatte dazu beigetragen . Kurz vor dem zweiundneunziger Feldzug , als er – noch von seiner Garnison aus – einen Besuch in der Salzwedler Gegend machte , hatte ein Schloß-Tylsener Knesebeck , ein ehemaliger Regimentskamerad , ihn vom Schloß aus ins Dorf geführt und dabei die Worte zu ihm gesprochen : » Seht , Vitzewitz , hier werdet Ihr etwas kennenlernen , was Ihr Euer Lebtag noch nicht gesehen habt : freie Bauern . « Und diese Worte , dazu die Bauern selbst , hatten eines tiefen Eindrucks auf ihn nicht verfehlt . Das lag nun zwanzig Jahre zurück , war aber unvergessen geblieben und den Hohen-Vietzern mehr als einmal zugute gekommen . Auch heute , am Weihnachtstage 1812 , hatten sich einige bäuerliche Honoratioren , alles Männer von Mitte Fünfzig und darüber , in der Gaststube versammelt . Es waren ihrer vier : Ganzbauer Kümmeritz , Anderthalbbauer Kallies , Ganzbauer Reetzke und Ganzbauer Krull , lauter echte Hohen-Vietzer , die , seit unvordenklichen Zeiten an dieser Stelle sässig , mit den Vitzewitzen das alte Höhendorf bewohnt und verlassen , dazu auch gemeinschaftlich mit ihnen die guten und schlechten Zeiten durchgemacht hatten . Alle waren festtäglich gekleidet , trugen lange , dunkelfarbige Röcke und saßen , mit Ausnahme eines von ihnen , grade aufrecht in den breiten , gartenstuhlartigen Holzsesseln , die zu acht oder zehn um einen großen , rotbraun gestrichenen Rundtisch herum standen . Als fünfter hatte sich ihnen der Wirt selber , der Krüger Scharwenka , zugesellt , der durch Erbschaft von Frauensseite her ein Doppelbauer und überhaupt der reichste Mann im Dorfe war , nichtsdestoweniger aber , trotz seiner sechshundert Morgen Bruchacker unterm Pflug , nicht für voll und ebenbürtig angesehen wurde . Das hatte zwei gute Bauerngründe . Der eine lief darauf hinaus , daß erst sein Großvater , bei Urbarmachung des Oderbruchs , mit andern böhmischen Kolonisten ins Dorf gekommen war ; der andere wog schwerer und gipfelte darin , daß er , allem Abmahnen zum Trotz , von dem wenig angesehenen Geschäft des » Krügerns « nicht lassen wollte . Scharwenka , sooft dieser heikle Punkt zur Sprache kam , pflegte sich auf seinen Großvater selig zu berufen , der ihm von Kindesbeinen an beigebracht habe : Dukaten seien nie despektierlich . Der eigentliche Grund aber , warum er den Bierschank und das » Knechte Bedienen « nicht aufgeben wollte , lag keineswegs bei den Dukaten . Es war dem reichen Doppelbauer viel weniger um den hübschen Krugverdienst als um die tagtägliche Berührung mit immer neuen Menschen zu tun ; das Plaudern , vor allem das Horchen , das Bescheidwissen in anderer Leute Taschen , das war es , was ihn bei der Gastwirtschaft festhielt . Er setzte seinen Stolz darin , die Nachricht von einer bäuerlichen , durch die Verhältnisse notwendig gewordenen Mesalliance vierundzwanzig Stunden früher zu haben als jeder andere . Subhastationen konnte er voraus berechnen wie die Kalendermacher das Wetter ; seine eigentliche Spezialität aber waren die der Feuerlegung verdächtigen Windmüller . Die Liste , die er darüber führte , umfaßte so ziemlich das ganze Gewerk . So Krüger Scharwenka . Seinen Platz hatte er gerade der Türe gegenüber genommen , um jeden Eintretenden sehen und begrüßen zu können . Unmittelbar neben ihm saßen Reetzke und Krull , die schon seit einer Stunde rauchten und schwiegen , ganz im Gegensatz zu Kümmeritz und Kallies , die beide von den Gesprächigen waren . Auch von ihnen ein Wort . Ganzbauer Kümmeritz , trotz seiner Fünfzig , hatte durchaus die Haltung und das Ansehen eines alten Soldaten . Und beides kam ihm zu . Er war erst Grenadier , dann Gefreiter im Regiment Möllendorf gewesen , hatte die Rheinkampagne mitgemacht und zweimal die Weißenburger Linien mit erstiegen . War dann bei Kaiserslautern verwundet worden und hatte den Abschied genommen . Er vertrat in diesem Kreise , neben dem Schulzen Kniehase , der heute zufällig ausgeblieben war , die Traditionen der preußischen Armee , kontrollierte den Kaiser Napoleon , malte seine Schlachten auf den Tisch und hielt die Ansicht aufrecht , daß Jena , » wo wir den Sieg ja schon in Händen hatten « , nur durch einen Schabernack verlorengegangen sei . Das volle Gegenteil von Kümmeritz war Anderthalbbauer Kallies , ein schmalschultriger , langaufgeschossener Mann . Geistig regsam , aber schwach und widerstandslos von Charakter , mußte er es sich gefallen lassen , geneckt und gehänselt zu werden , wozu schon , alles andere unerwogen , sein Beiname herauszufordern schien . Er war nämlich , als er kaum laufen konnte , in eine große Rahmbutte oder Sahnenschüssel gefallen und hieß seitdem in sehr bezeichnender Weise » Sahnepott « . Denn es war ihm sein lebelang etwas Milchernes geblieben . Alle fünf dampften jetzt aus langen holländischen Pfeifen ; neben jedem lag ein Zündspan . Kallies hatte das Wort . Aus allem ging hervor , daß eben ein anderer Gast , ein Reisender , ein Kaufmann , wie es schien , das Zimmer verlassen haben mußte . » Immer , wenn ich ihn so stehen sehe « , sagte Kallies mit Wichtigkeit , » fällt mir sein Vater , der alte Tiegel-Schultze , ein ; der stand auch immer so da , mit beiden Händen in den Hosentaschen , und war auch so ein schnackscher Kerl und sah aus , als hätt er den Gottseibeiuns beim Dreikart betrogen . Scharwenka , du mußt ja den alten Tiegel-Schultze auch noch gekannt haben . « Scharwenka nickte ; Kümmeritz aber , der eben eine neugestopfte Pfeife anrauchte , sprach in kurzen Pausen vor sich hin : » Tiegel-Schultze ? Soll mich das Wetter , wenn ich den Namen all mein Lebtag gehört habe . Und bin doch auch ein Hohen-Vietzer Kind . « » Das war , als du bei den Soldaten warst , Kümmeritz . So um die achtziger Jahre . Nachher war Tiegel-Schultze tot , wenn er überhaupt gestorben ist . « Kümmeritz , der wenigstens einen Teil seines wendischen Aberglaubens bei den Soldaten gelassen hatte , schmunzelte vor sich hin und sagte dann : » Sahnepott , keine Dummheiten . Immer räsonabel . Wer tot ist , ist tot . Spuken kann er ; aber sterben muß er . Warum hieß er Tiegel-Schultze ? « » Er hieß Schultze . Aber alle Welt nannt ihn Tiegel-Schultze . Ich bin oft bei ihm gewesen , wenn ich ihm den Rübsen brachte . Immer bar Geld . Die Schwedter sagten : › Der hat gut bezahlen . ‹ Er stand dann hinterm Tisch , immer die Hände in den Hosen , und sah einen so verflixt an , daß man ganz irre wurde . Aber nie kein Handel . Scharwenka , das mußt du ja wissen . « Scharwenka nickte wieder . Sahnepott fuhr fort : » Die Comptoirstube sah aus wie ein Gefängnis , hoch , weiß und Eisenstangen am Fenster . Nichts war drin als drei Wandbretter , und auf den Brettern standen viele hundert Tiegel , große und kleine , irdene und tönerne , darum hieß er Tiegel-Schultze . Ein paar sahen schwarz aus und waren aus Kohle geschnitten . « War er denn ein Schmelzer , ein Goldmacher ? « » Das war er , und für den Schwedter Markgrafen hat er manchen blanken Klumpen ausgeschmolzen . Als aber der Markgraf dachte , er könnt es nun selber und hätte Schultzen alles abgesehen , da wollt er ihn beiseite schaffen , lud ihn aufs Schloß , suchte Streit mit ihm und feuerte die beiden Läufe seines Suhler Doppelgewehrs auf ihn ab , die mit zwei goldenen Zwickeln geladen waren . Es waren solche , wie die pohlschen Edelleute an ihren Röcken tragen . Tiegel- Schultze aber lachte , fing die beiden Zwickel mit seiner Linken auf , denn er war eine Linkepoot , zeigte sie dem Markgrafen und sagte : › Die trag ich nun zum Andenken an meinen gnädigen Herrn . ‹ « Es war ersichtlich , daß Kallies , der jetzt volles Fahrwasser unterm Kiel hatte , den Zeitpunkt für gekommen hielt , sich über das Geschlecht der Tiegel-Schultzen , über Raps , Goldmachen und die Undankbarkeit des Schwedter Markgrafen des weiteren verbreiten zu dürfen . Aber ehe es geschehen konnte , trat ein neuer Gast ein , der nun der Unterhaltung eine andere Wendung gab . Der Neueintretende war der Müller Miekley , dem die Öl- und Schneidemühle am Südende des Dorfes zugehörte . Er war unter Mittelstatur , trug einen hellgrauen Rock und hatte in seinem Gesicht jenen eigentümlichen Ausdruck , den man bei fast allen Landleuten findet , die innerhalb der religiösen Kontroverse stehen , Sektierer sind oder es werden wollen . Wo geistige Arbeit von Jugend auf ihre Züge in das Antlitz schreibt , da ist der Sektiererzug nur ein Zug unter anderen Zügen , einer unter vielen , in deren Gesamtheit er wie verlorengehen oder doch übersehen werden kann ; bei Landleuten aber tritt er ganz unverkennbar hervor , und um so mehr , je weniger er die Herrschaft zu teilen hat . Dieser Sektiererzug , in dem sich Sinnlichkeit und Entsagung , Hochmut und Demut mischen , lag auch in Müller Miekley ausgesprochen , der im übrigen ein gewissenhafter Mann war , auf Hausehre hielt und sich der besonderen Protektion Tante Schorlemmers zu erfreuen hatte . Es konnte dies geschehen , ohne nach irgendeiner Seite hin Anstoß zu geben , da Miekley nicht eigentlich aus der Landeskirche ausgetreten war , vielmehr regelmäßig die Predigten Seidentopfs hörte und nur alle Vierteljahr einmal aus dem » tieferen Quell « des Kandidaten Uhlenhorst schöpfte , wenn dieser , das Bruch und die Neumark bereisend , in Hohen-Sathen alle Konventikler von diesseits und jenseits der Oder um sich versammelte . Das war denn freilich ein Fest- und Ehrentag . Alles ruhte , das beste Gespann kam aus dem Stall , und wenn die Wege grundlos gewesen wären , unser altlutherischer Müller hätte sich 's zur ewigen Sünde gerechnet , das Manna versäumt zu haben . Miekley setzte sich links neben Kümmeritz . Dieser , wohl wissend , daß jetzt ein geistlicher Diskurs unvermeidlich geworden sei , kam ihm zuvor und fragte : » Nun , Miekley , wie hat Euch heute die Predigt gefallen ? « » Gut , Kümmeritz , von Herzen gut , trotzdem er nichts davon gesagt hat , daß uns an diesem Tage zu Bethlehem im judäischen Lande das Heil geboren wurde . Noch weniger hat er von dem › eingeborenen Sohne Gottes ‹ gesprochen . Uhlenhorst würde den Kopf geschüttelt haben . Aber er hat gesprochen wie ein braver Mann . Ich kenn ihn wohl , er hat ein preußisches Herz . « » Und ein christliches dazu « , riefen die anderen alle wie aus einem Munde . » Er zetert nicht « , nahm Kallies das Wort , » er verdammt nicht ; er ist kein Pharisäer . Er hat die Demut , Miekley , und das ist die Hauptsache . « » Sahnepott hat recht « , bekräftigte Kümmeritz . » Da ist kein zweiter hier herum , der sich mit unserm Seidentopf messen könnte . Er hat nur einen Fehler , er ist zu gut und zu leichtgläubig und sieht alles , wie er es wünscht . Über der Ägypter Heer , so sagte er , seien die großen Wasser zusammengeschlagen . Aber König Pharao sitzt wieder in seiner Hauptstadt und spinnt die alten Fäden . Noch sind wir im Bündnis mit ihm , und der Himmel mag wissen , ob wir gnädig von ihm loskommen . Geb uns Gott einen ehrlichen Krieg . « » Den wirst du haben , Kümmeritz « , warf hier Miekley ein , der sich trotz seines Luthertums einen starken Glauben an Spuk- und Gespenstergeschichten bewahrt hatte , » den wirst du haben und wir alle mit dir . Die Alt-Landsberger Mäher haben wieder gemäht , und jeder von euch weiß , was das bedeutet . Sie haben sieben Tage gemäht , ehe der Alte Fritz in den Krieg zog , und die Stoppeln waren damals so rot , als ob es Blut geregnet hätte . In diesem November haben sie wieder gemäht auf kahlem Felde . « » Und von Sonnenuntergang her « , rief Scharwenka dazwischen , » das will sagen , daß der Feind von Westen kommt . Wir werden die Franzosen wieder im Lande haben , neues , frisches Volk , mit all seinen alten Kniffen und Pfiffen , und wer eine Tochter im Hause hat , der mag sich vorsehen . Sie haben eine freche Art , und die Weiber laufen ihnen nach . « » Das sollen sie nicht « , versicherte Miekley , » und wo sie 's tun , da falle die Schande auf uns . Wo böse Lust über Nacht in die Halme schießt , da lag von Anfang an eine schlechte Saat in den Herzen ; wo aber Zucht ist und Sitte und Gebet , da hat der Böse keine Macht , auch wenn er sich in einen schlechten Franzosen verkleidet . « Alle nickten zustimmend .