Erster Band Erstes Kapitel Lob des Herkommens Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe , welches seinen Namen von dem Alemannen erhalten hat , der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die Erde steckte und einen Hof baute . Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht im Volke verschwunden , machte ein Lehenmann den Dorfnamen zu seinem Titel und baute ein Schloß , von dem niemand mehr weiß , wo es gestanden hat ; ebensowenig ist bekannt , wann der letzte » Edle « jenes Stammes gestorben ist . Aber das Dorf steht noch da , seelenreich , und belebter als je , während ein paar Dutzend Zunamen unverändert geblieben und für die zahlreichen , weitläufigen Geschlechter fort und fort ausreichen müssen . Der kleine Gottesacker , welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer weiß geputzte Kirche legt und niemals erweitert worden ist , besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter ; es ist unmöglich , daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei , welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat . Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter , welche jedesmal mit in die Erde kommen und den ebenso alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen rings entstammen ; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden , welche auf diesen Fluren wuchs , gesponnen und gebleicht wurde und also so gut zur Familie gehört wie jene Tannenbretter und nicht hindert , daß die Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz sei als irgend eine . Es wächst auch das grünste Gras darauf , und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern in göttlicher Unordnung und Überfülle , so daß nicht einzelne Stäudlein auf ein frisches Grab gesetzt , sondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden , und nur der Totengräber kennt genau die Grenze in diesem Wirrsal , wo das frisch umzugrabende Gebiet anfängt . Das Dorf zählt kaum zweitausend Bewohner , von welchen je ein paar hundert den gleichen Namen führen ; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen , weil die Erinnerungen selten bis zum Urgroßvater hinaufsteigen . Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen , sonnen sich diese Menschen darin , so gut es gehen will , rühren sich und wehren sich ihrer Haut , um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu verschwinden , wenn ihre Zeit gekommen ist . Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen , so sind sie sattsam überzeugt , daß sie eine ununterbrochene Reihe von zweiunddreißig Ahnen besitzen müssen , und anstatt dem natürlichen Zusammenhange derselben nachzuspüren , sind sie vielmehr bemüht , die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen . So kommt es , daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können , ohne zu wissen , wie es zugegangen ist , daß der Großvater die Großmutter nahm . Alle Tugenden glaubt jeder selbst zu besitzen , wenigstens diejenigen , welche nach seiner Lebensweise für ihn wirkliche Tugenden sind , und was die Missetaten betrifft , so hat der Bauer so gut Ursache wie der Herr , die seiner Väter in Vergessenheit begraben zu wünschen ; denn er ist zuweilen trotz seines Hochmutes auch nur ein Mensch . Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches , unverwüstliches Vermögen der Bewohner . Dieser Reichtum blieb sich von jeher so ziemlich gleich ; wenn auch hie und da eine Braut einen Teil verschleppt , so unternehmen die jungen Bursche dafür häufige Raubzüge bis auf acht Stunden weit und sorgen für hinlänglichen Ersatz sowie dafür , daß die Gemütsanlagen und körperlichen Physiognomien der Gemeinde die gehörige Mannigfaltigkeit bewahren , und sie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einsicht für ein frisches Fortgedeihen als manche reiche Patrizier- oder Handelsstadt und als die europäischen Fürstengeschlechter . Die Einteilung des Besitzes aber verändert sich von Jahr zu Jahr ein wenig und mit jedem halben Jahrhundert fast bis zur Unkenntlichkeit . Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe , und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher , um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen . Mein Vater starb so früh , daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören ; ich weiß daher so gut wie nichts von diesem Manne ; nur so viel ist gewiß , daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner engeren Familie war . Da ich nicht annehmen mag , daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei , so halte ich es für wahrscheinlich , daß sein Vermögen durch eine zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde ; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vettern , welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß , die , wie die Ameisen krabbelnd , bereits wieder im Begriffe sind , ein gutes Teil der viel zerhackten und durchfurchten Grundstücke an sich zu bringen . Ja , einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kinder wieder arm geworden . Dazumal war es nicht ganz mehr jene Schweiz , welche dem Legationssekretär Werther so erbärmlich vorgekommen ist , und wenn auch die junge Saat der französischen Ideen durch einen ungeheuern Schneefall östreichischer , russischer und selbst französischer Quartierbilletts bedeckt worden war , so gestattete doch die Mediationsverfassumg einen gelindert Nachsommer und verhinderte meinen Vater nicht , die Kühe , die er weidete , eines Morgens stehenzulassen und nach der Stadt zu gehen , um ein gutes Handwerk zu erlernen . Von da an verscholl er so ziemlich für seine Mitbürger ; denn nach harten , aber gut bestandenen Lehrjahren führte ihn sein Trieb , einen immer kühnern Schwung nehmend , in die Ferne , und er durchschweifte als ein geschickter Steinmetz entlegene Reiche . Indessen aber hatte der sanftknisternde Papierblumenfrühling , welcher nach der Schlacht bei Waterloo aufging , wie überallhin , so auch in alle Winkel der Schweiz sein bläuliches Kerzenlicht verbreitet ; auch in meines Vaters Geburtsdorf , dessen Bewohner in den neunziger Jahren ebenfalls entdeckt hatten , daß sie seit undenklichen Zeiten mitten in einer Republik lebten , war die ehrwürdige Dame Restauration mit allen ihren Schachteln und Kartons feierlich eingezogen und richtete sich in dem Neste so gut ein , als sie konnte . Schattige Wälder , Höhen und Täler mit den angenehmsten Freudenplätzen , ein fischreicher , klarer Fluß und die Wiederholung aller dieser guten Dinge in einer weiten , belebten Nachbarschaft , welche sogar noch mit einigen bewohnten Schlössern geziert war , zogen den einwohnenden Herrschaften eine Menge jagender , fischender , tanzender , singender , essender und trinkender Gäste aus der Stadt zu . Man bewegte sich um so leichter , als man den Reifrock und die Perücke weislich da liegenließ , wohin sie die Revolution geworfen hatte , und das griechische Kostüm der Kaiserzeit , wenn auch in diesen Gegenden etwas nachträglich , angetan hatte . Die Bauern sahen mit Verwunderung die weißumflorten Göttergestalten ihrer vornehmen Mitbürgerinnen , ihre sonderbaren Hüte und noch merkwürdigeren Taillen , welche dicht unter den Armen gegürtet waren . Die Herrlichkeit des aristokratischen Regimentes entfaltete sich am höchsten im Pfarrhause . Die reformierten Landgeistlichen der Schweiz waren keine armen , demütigen Schlucker wie ihre Amtsbrüder im protestantischen Norden . Da alle Pfründen im Lande fast ausschließlich den Bürgern der herrschenden Städte offenstanden , so bildeten sie zu den weltlichen Ehrenstellen eine Ergänzung im Systeme der Herrschaft , und die Pfarrer , deren Brüder das Schwert und die Waage handhabten , nahmen teil an der Glorie , wirkten und regierten auf ihre Weise im Sinne des Ganzen kräftig mit oder überließen sich einem sorgenfreien , vergnüglichen Dasein . Sehr oft waren sie von Haus reich , und die ländlichen Pfarrhäuser glichen eher den Landsitzen großer Herren ; auch gab es eine Menge adeliger Seelenhirten , welche die Bauern Junker Pfarrer nennen mußten . Ein solcher war nun zwar der Pfarrer meines Heimatdorfes nicht , auch nichts weniger als ein reicher Mann ; doch sonst einer alten Stadtfamilie angehörend , vereinigte er in seiner Person und in seinem Hauswesen allen Stolz , Kastengeist und Lustbarkeit eines warmgesessenen Städtetumes . Er tat sich etwas darauf zu gut , ein Aristokrat zu heißen , und vermischte seine geistliche Würde ungezwungen mit einem derben , militärisch-junkerhaften Anstriche ; denn man wußte dazumal noch nichts weder von dem Namen noch von dem Wesen des modernen Traktätlein-Konservatismus . Es ging in seinem Hause geräuschvoll und lustig her ; die Pfarrkinder steuerten reichlich , was Feld und Stall abwarf , die Gäste holten sich selbst aus dem Forste Hasen , Schnepfen und Rebhühner , und da Treibjagden doch nicht landesüblich waren , so wurden die Bauern dafür zu großen Fischzügen freundschaftlich angehalten , was jedesmal ein Fest gab , und so war das Pfarrhaus nie ohne Freude und Lärm . Man durchzog das Land ringsumher , stattete Besuche ab in Masse und empfing solche , schlug Zelte auf und tanzte darunter oder spannte sie über die lauteren Bäche , und die Griechinnen badeten darunter ; man überfiel in hellen Haufen eine einsame kühle Mühle oder fuhr in vollgepfropften Nachen auf Seen und Flüssen , der Pfarrer immer voran mit einer Entenflinte über dem Rücken oder ein mächtiges spanisches Rohr in der Hand . Geistige Bedürfnisse waren in diesen Kreisen nicht viele vorhanden ; die weltliche Bibliothek des Pfarrers bestand , wie ich sie noch gesehen habe , aus einigen altfranzösischen Schäferromanen , Geßners Idyllen , Gellerts Lustspielen und einem stark zerlesenen Exemplar des Münchhausen . Zwei oder drei einzelne Bände von Wieland schienen aus der Stadt geblieben und nicht mehr zurückgeschickt worden zu sein . Man sang Höltys Lieder , und nur die Jugend führte etwa einen Matthisson mit sich . Der Pfarrer selbst , wenn einmal von dergleichen Dingen die Rede war , pflegte seit dreißig Jahren regelmäßig zu fragen : » Haben Sie Klopstocks Messias gelesen ? « und wenn das , wie natürlich bejaht wurde , schwieg er vorsichtig . Im übrigen gehörten die Gäste nicht zu jenen feinsten Kreisen , welche die Kultur der herrschenden Interessen durch erhöhte Geistestätigkeit pflegen und durch eine edle Bildung zu befestigen suchen , sondern zu der gemütlichen Klasse , welche sich darauf beschränkt , die Früchte jener Bemühungen zu genießen und sich ohne weiteres Kopfzerbrechen lustig zu machen , solange es Kirchweih ist . Aber diese ganze Herrlichkeit barg bereits den Keim ihres Zerfalles in sich selbst . Der Pfarrer hatte einen Sohn und eine Tochter , welche beide in ihren Neigungen von denjenigen ihrer Umgebung abwichen . Während der Sohn , ebenfalls ein Geistlicher und dazu bestimmt , seinem Vater im Amte zu folgen , vielfache Verbindungen mit jungen Bauern anknüpfte , mit ihnen ganze Tage auf dem Felde lag oder auf Viehmärkte fuhr und mit Kennerblicke die jungen Kühe betastete , hing die Tochter , sooft sie nur immer konnte , die griechischen Gewänder an den Nagel und zog sich in Küche und Garten zurück , dafür sorgend , daß die unruhige Gesellschaft etwas Ordentliches zu beißen fand , wenn sie von ihren Fahrten zurückkehrte . Auch war diese Küche nicht der schwächste Anziehungspunkt für die genäschigen Städtebewohner , und der große gutbebaute Garten zeugte für einen ausdauernden Fleiß und treffliche Ordnungsliebe . Der Sohn endigte sein Treiben damit , daß er eine begüterte rüstige Bauerntochter heiratete , in ihr Haus zog und alle sechs Werktage hindurch ihre Äcker und ihr Vieh bestellte . In Anwartschaft seines höheren Amtes übte er sich , als Säemann den göttlichen Samen in wohlberechneten Würfen auszustreuen und das Böse in Gestalt von wirklichem Unkraut auszujäten . Der Schrecken und der Zorn hierüber waren groß im Pfarrhause , zumal wenn man bedachte , daß die junge Bäuerin einst als Hausfrau dort einziehen und herrschen sollte , sie , welche weder mit der gehörigen Anmut im Grase zu liegen noch einen Hasen standesgemäß zu braten und aufzutragen wußte . Deshalb war es der allgemeine Wunsch , daß die Tochter , welche allmählich schon über ihre erste Jugend hinausgeblüht hatte , entweder einen standesgetreuen jungen Geistlichen ins Haus locken oder sonst noch lange die zusammenhaltende Kraft desselben bleiben möchte . Aber auch diese Hoffnungen schlugen fehl . Zweites Kapitel Vater und Mutter Denn eines Tages geschah es , daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die Ankunft eines schönen , schlanken Mannes , der einen feinen grünen Frack trug nach dem neuesten Schnitte , enganliegende weiße Beinkleider und glänzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen . Wenn es regnerisch aussah , so führte er einen rotseidenen Schirm mit sich , und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen Anstrich . Dieser Mann bewegte sich mit einem edlen Anstande in den Gassen des Dorfes umher und trat freundlich und leutselig in die niederen Türen , verschiedene alte Mütterchen und Gevattern aufsuchend , und war niemand anders als der weitgereiste Steinmetzgeselle Lee , welcher seine lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte . Man kann wohl sagen ruhmvoll , wenn man bedenkt , daß er vor zwölf Jahren , als ein vierzehnjähriger Knabe , arm und bloß aus dem Dorfe gewandert war , hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte , mit einem dürftigen Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und nun solchergestalt als ein förmlicher Herr , wie ihn die Landleute nannten , zurückkehrte . Denn unter dem niedern Dache seiner Verwandten standen zwei mächtige Kisten , von denen die eine ganz mit Kleidern und feiner Wäsche , die andere mit Modellen , Zeichnungen und Büchern angefüllt war . Es gab etwas Schwungvolles in dem ganzen Wesen des etwa sechsundzwanzig Jahre alten Mannes ; seine Augen glühten wie von einem anhaltenden Glanze innerer Wärme und Begeisterung , er sprach immer hochdeutsch und suchte das Unbedeutendste von seiner schönsten und besten Seite zu fassen . Er hatte ganz Deutschland vom Süden bis zum Norden durchreist und in allen großen Städten gearbeitet ; die Zeit der Befreiungskriege in ihrem ganzen Umfange fiel mit seinen Wanderjahren zusammen , und er hatte die Bildung und den Ton jener Tage in sich aufgenommen , insofern sie ihm verständlich und zugänglich waren ; vorzüglich teilte er das offene und treuherzige Hoffen der guten Mittelklassen auf eine bessere , schönere Zeit der Wirklichkeit , ohne von den geistigen Überfeinerungen und Wunderseligkeiten etwas zu wissen , die in manchen Elementen dazumal durch die höhere Gesellschaft wucherten . Es waren nur wenige gleichgesinnte Arbeitsgenossen , welche die ersten , seltenen und verborgenen Keime bildeten zu der Selbstveredlung und Aufklärung , so den wandernden Handwerkerstand zwanzig Jahre später durchdrangen , und welche einen Stolz darauf setzten , die besten und gesuchtesten Arbeiter zu sein , und dadurch , verbunden mit Fleiß und Mäßigkeit , die Mittel erlangten , auch ihren Geist zu bilden und äußerlich wie innerlich schon in ihren Wanderjahren als achtungswerte , tüchtige Männer dazustehen . Überdies war dem Steinhauer in den großen Werken altdeutscher Baukunst ein Licht aufgegangen , welches seinen Pfad noch mehr erleuchtete , indem es ihn mit heitern Künstlerahnungen erfüllte und den dunklen Trieb jetzt erst zu rechtfertigen schien , welcher ihm von der grünen Weide hinweg dem gestaltenden Leben der Städte zugeführt hatte . Er lernte zeichnen mit eisernem Fleiße , brachte ganze Nächte und Feiertage damit zu , Werke und Muster aller Art durchzupausen , und nachdem er den Meißel zu den kunstreichsten Gebilden und Verzierungen führen gelernt und ein vollkommener Handarbeiter geworden war , ruhte er nicht , sondern studierte den Steinschnitt und sogar solche Wissenschaften , welche andern Zweigen des Bauwesens angehören . Er suchte überall an großen öffentlichen Bauten unterzukommen , wo es viel zu sehen und zu lernen gab , und brachte es durch seine Aufmerksamkeit bald dahin , daß ihn die Baumeister ebensoviel auf ihren Arbeitszimmern am Zeichnen- oder Schreibtische verwendeten als auf dem Bauplatze . Daß er dort nicht feierte , sondern manche Mittagsstunde damit zubrachte , alles mögliche durchzuzeichnen und alle Berechnungen zu kopieren , welche er erhaschen konnte , versteht sich von selbst . So wurde er zwar kein akademischer Künstler mit einer allseitigen Durchbildung , aber doch ein Mann , welcher wohl den kühnen Vorsatz fassen durfte , in der Hauptstadt seiner Heimat ein wackerer Bau- und Maurermeister zu werden . Mit dieser ausgesprochenen Absicht trat er nun auch im Dorfe zur großen Bewunderung seiner Sippschaft auf , und das Erstaunen wurde noch größer , als er , mit einem zierlichen Manschettenhemde bekleidet und sein reinstes Hochdeutsch sprechend , sich mitten unter die französisch-griechischen Gestalten des Pfarrhauses mischte und um die Pfarrerstochter warb . Der ländlich gesinnte Bruder mochte hiezu eine Vermittlung , wenigstens ein aufmunterndes Beispiel darbieten ; die Jungfrau schenkte dem blühenden Freier bald ihr Herz , und die Verwirrung , welche dadurch zu entstehen drohte , löste sich schnell , als die Eltern der Braut kurz hintereinander starben . Also hielten sie eine stille Hochzeit und zogen in die Stadt , sich weiter nicht nach der glanzvollen Vergangenheit des Pfarrhauses umsehend , in welches alsobald der junge Pfarrer mit ganzen Wagen voll Sensen , Sicheln , Dreschflegeln , Rechten , Heugabeln , mit gewaltigen Himmelbetten , Spinnrädern und Flachshecheln und mit seiner kecken , frischen Frau einzog , welche mit ihrem geräucherten Speck und mit ihren derben Mehlklößen schnell sämtliche Musselingewänder , Fächer und Sonnenschirmchen aus Haus und Garten vertrieben hatte . Nur eine Wand voll vortrefflicher Jagdgewehre , die auch der Nachfolger zu fahren wußte , lockte im Herbst einzelne Jäger auf das Dorf und unterschied das Pfarrhaus einigermaßen von einem Bauernhause . In der Stadt fing jener junge Baumeister damit an , daß er einige Arbeiter anstellte und , selbst arbeitend vom Morgen bis zum Abend , kleinere Aufträge aller Art annahm und darin so viel Geschick und Zuverlässigkeit zeigte , daß noch vor Ablauf eines Jahres sein Geschäft sich erweiterte und sein Kredit sich begründete . Er war so erfinderisch und einsichtsvoll , gewandt und schnell beraten , daß bald viele Bürger seinen Rat und seine Arbeit suchten , wenn sie im Zweifel waren , wie sie etwas verändern oder neu bauen lassen sollten . Dabei war er immer bestrebt , das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden , und war froh , wenn ihn seine Kunden nur gewähren ließen , so daß sie manche Zierde , manches Fenster und Gesims von reineren Verhältnissen erhielten , ohne daß sie deswegen den Geschmack ihres Baumeisters teurer bezahlen mußten . Seine Frau aber führte mit wahrem Fanatismus das Hauswesen , welches durch verschiedene Arbeiter und Dienstboten schnell erweitert wurde . Sie beherrschte mit Kraft und Meisterschaft das Füllen und Leeren einer Anzahl großer Speisekörbe und war der Schrecken der Marktweiber und die Verzweiflung der Schlächter , welche alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten mußten , einen Knochensplitter mit auf die Waage zu bringen , wenn das Fleisch für die Frau Lee gewogen wurde . Obgleich Meister Lee fast keine persönlichen Bedürfnisse hatte und unter seinen zahlreichen Grundsätzen derjenige der Sparsamkeit in der ersten Reihe stand , so war er doch so gemeinnützig und großherzig , daß das Geld für ihn nur Wert hatte , wenn etwas damit ausgerichtet oder geholfen wurde , sei es durch ihn oder durch andere ; daher verdankte er es nur seiner Frau , welche keinen Pfennig unnütz ausgab und den größten Ruhm darein setzte , jedermann weder um ein Haar zuwenig noch zuviel zukommen zu lassen , daß er nach Verfluß von zwei oder drei Jahren schon Ersparnisse vorfand , welche seinem unternehmenden Geiste nebst dem Kredite , den er bereits genoß , eine reichlichere Nahrung darboten . Er kaufte alte Häuser an für eigene Rechnung , riß sie nieder und baute an der Stelle stattliche Bürgerhäuser , in welchen er eine Menge Einrichtungen fremder oder eigener Erfindung anbrachte . Diese verkaufte er mehr oder weniger vorteilhaft , sogleich zu neuen Unternehmungen schreitend , und alle seine Gebäude trugen das Gepräge eines beständigen Strebens nach Formen- und Gedankenreichtum . Wein ein gelehrter Architekt auch oft nicht wußte , wohin er alle angebrachten Ideen zählen sollte und vieles der Unklarheit oder Unharmonie zeihen mußte , so gestand er doch immer , daß es Gedanken seien , und belobte , wenn er unbefangen war , den schönen Eifer dieses Mannes mitten in der geistesarmen und nüchternen Zeit des Bauwesens , wie sie wenigstens in den abgelegenen Provinzen des Kunstgebietes bestand . Dies tätige Leben versetzte den unermüdlichen Mann in den Mittelpunkt eines weiten Kreises von Bürgern , welche alle zu ihm in Wechselwirkung traten , und unter diesen bildete sich ein engerer Ausschuß gleichgesinnter und empfänglicher Männer , denen er sein rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen mitteilte . Es war nun um die Mitte der zwanziger Jahre , wo in der Schweiz eine große Anzahl gebildeter Männer aus dem Schoße der herrschenden Klassen selbst , die abgeklärten Ideen der großen Revolution wiederaufnehmend , einen frucht- und dankbaren Boden für die Julitage vorbereiteten und die edlen Güter der Bildung und Menschenwürde sorgsam pflegten . Zu diesen bildete Lee mit seinen Genossen , an seinem Orte , eine tüchtige Fortsetzung im arbeitenden Mittelstande , welcher von jeher aus der Tiefe des Volkes auf den Landschaften umher seine Wurzeln trieb und sich erneuerte . Während jene Vornehmen und Gelehrten die künftige Form des Staates , philosophische und Rechtswahrheiten besprachen und im allgemeinen die Fragen schönerer Menschlichkeit zu ihrem Gebiete machten , wirkten die rührigen Handwerker mehr unter sich und nach unten hin , indem sie einstweilen ganz praktisch so gut als möglich sich einzurichten suchten . Eine Menge Vereine , öfter die ersten in ihrer Art , wurden gestiftet , welche meistens irgendeine Versicherung zum Wohle der Mitglieder und ihrer Angehörigen zum Zwecke hatten . Schulen wurden gesellschaftsweise gegründet , um den Kindern des gemeinen Mannes eine bessere Erziehung zu sichern ; kurz , eine Menge Unternehmungen dieser Art , zu jener Zeit noch neu und verdienstlich , gab den braven Leuten zu schaffen und Gelegenheit , sich daran emporzubilden . Denn in zahlreichen Zusammenkünften mußten Statuten aller Art entworfen , beraten , durchgesehen und angenommen , Vorsteher gewählt und nach außen wie nach innen Rechte und Formen erklärt und gewahrt werden . Zu diesen verschiedenen Elementen kam und berührte sie gemeinschaftlich der griechische Freiheitskampf , welcher auch hier , wie überall , zum ersten Mal in der allgemeinen Ermattung die Geister wieder erweckte und erinnerte , daß die Sache der Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei . Die Teilnahme an den hellenischen Betätigungen verlieh auch den nicht philologischen Genossen zu ihrer übrigen Begeisterung einen edlen kosmopolitischen Schwung und benahm den hellgesinnten Gewerbsleuten den letzten Anflug von Spieß- und Pfahlbürgertum . Lee war überall mit voran , ein zuverlässiger , hingebender Freund für alle , seines reinen Charakters und seiner gehobenen Gesinnung wegen allgemein geachtet , ja geehrt . Er war um so glücklicher zu nennen , als er dabei nicht von Eitelkeit befangen war ; und erst jetzt fing er von neuem an zu lernen und nachzuholen , was ihm erreichbar war . Er trieb auch seine Freunde dazu an , und es gab bald keinen derselben mehr , der nicht eine kleine Sammlung geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Werke aufzuweisen hatte . Da fast allen in ihrer Jugend die gleiche dürftige Erziehung zuteil geworden , so ging ihnen nun besonders bei ihrem Eindringen in die Geschichte ein reiches und ergiebiges Feld auf , welches sie mit immer größerer Freude durchwandelten . Ganze Stuben voll waren sie an Sonntagsmorgen beisammen , disputierten und teilten sich die immer neuen Entdeckungen mit , wie allezeit die gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen hervorgebracht hätten und dergleichen . Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten , so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichltlichen Werken , und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen , welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen , ohne auf die künstlerische Rechenschaft , die jener Große sich selber gab , weiter eingehen zu können . Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden , das sie so befriedigt hätte . Seine gleichmäßige Glut und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes , bescheidenes Treiben als für das Wesen mancher Schillerverehrer der gelehrten heutigen Welt . Aber einfach und durchaus praktisch , wie sie waren , fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lektüre im Schlafrock ; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen , und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht die Rede war , so entschlossen sie sich , wiederum angefeuert von Lee , kurz und spielten selbst Komödie , so gut sie konnten . Die Bühne und die Maschinen waren freilich schneller und gründlicher hergestellt , als die Rollen erlernt wurden , und mancher suchte sich über den Umfang seiner Aufgabe selbst zu täuschen , indem er mit vergrößerter Kraft Nägel einschlug und Latten entzweisägte ; doch ist es nicht zu leugnen , daß ein großer Teil der Gewandtheit im Ausdruck und des äußern Anstandes , welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist , auf Rechnung solcher Übungen gesetzt werden darf . Wie sie älter wurden , ließen sie dergleichen Dinge wieder bleiben , aber sie behielten den Sinn für das Erbauliche in jeder Beziehung getreulich bei . Würde man heutzutage fragen , wo sie denn die Zeit zu alledem hergenommen haben , ohne ihre Arbeit und ihr Haus zu vernachlässigen so wäre zu antworten , daß es erstens noch gesunde und naive Männer und keine Grübler waren , welche zu jeder Tat und jeder außerordentlichen Arbeit einen Schatz von Zeit verschwenden mußten , indem sie alles zerfaserten und breitquetschten , ehe es genießbar war , und daß zweitens die täglichen Stunden von sieben bis zehn Uhr abends , gleichmäßig benutzt , eine viel ansehnlichere Masse von Zeit ausmachen , als der Bürger heute glaubt , welcher dieselben hinter dem Weinglase im Tabaksqualm verbrütet . Man war damals noch nicht einer Rotte von Schenkwirten tributpflichtig , sondern zog es vor , im Herbste das edle Gewächs selbst einzukellern , und es war keiner dieser Handwerker , vermöglich oder arm , der sich nicht geschämt hätte , am Schlusse der abendlichen Zusammenkünfte ein Glas derben Tischweines mangeln zu lassen oder denselben aus der Schenke holen zu müssen . Während des Tages sah man keinen , oder höchstens flüchtig und heimlich , vor den Gesellen es verbergend , ein Buch oder eine Papierrolle in die Werkstatt eines andern bringen , und sie sahen alsdann aus wie Schulknaben , welche unter dem Tische den Plan zu einer rühmlichen Kriegsunternehmung zirkulieren lassen . Doch sollte dies aufgeregte Leben auf andere Weise Unheil bringen . Lee hatte sich , bei seinen gehäuften Arbeiten in steter Anstrengung , eines Tages stark erhitzt und achtlos nachher erkältet , was den Keim gefährlicher Krankheit in ihn legte . Anstatt sich nun zu schonen und auf jede Weise in acht zu nehmen , konnte er es nicht lassen , sein Treiben fortzusetzen und überall mit Hand anzulegen , wo etwas zu tun war . Schon seine vielfältigen Berufsgeschäfte nahmen seine volle Tätigkeit in Anspruch , welche er nicht plötzlich schwächen zu dürfen glaubte . Er rechnete , spekulierte , schloß Verträge , ging weit über Land , um Einkäufe zu besorgen , war im gleichen Augenblick zuoberst auf den Gerüsten und zuunterst in den Gewölben , riß einem Arbeiter die Schaufel aus der Hand und tat einige gewichtige Würfe damit , ergriff ungeduldig den Hebebaum , um eine mächtige Steinlast herumwälzen zu helfen , hob , wenn es ihm zu lange ging , bis Leute herbeikamen , selbst einen Balken auf die Schultern und trug ihn keuchend an Ort und Stelle , und statt dann zu ruhen , hielt er am Abend in irgendeinem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in später Nacht ganz umgewandelt auf den Brettern , leidenschaftlich erregt , mit hohen Idealen in einem mühsamen Ringen begriffen , welches ihn noch weit mehr anstrengen mußte als die Tagesarbeit . Das Ende war , daß er plötzlich dahinstarb als ein junger , blühender Mann , in einem Alter , wo andere ihre Lebensarbeit erst beginnen , mitten in seinen Entwürfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen , welcher er mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte . Er ließ seine Frau mit einem fünfjährigen Kinde allein zurück , und dies Kind bin ich . Der Mensch rechnet immer das , was ihm fehlt , dem Schicksale doppelt so hoch an als das , was er wirklich besitzt ; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit Sehnsucht nach meinem Vater erfüllt , welchen ich nicht mehr gekannt habe . Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarerweise um ein volles Jahr vor seinen Tod zurück , auf einen einzelnen schönen Augenblick , wo er an einem Sonntagabend auf dem Felde mich auf den Armen trug , eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte , schon bestrebt , Erkenntnis und Dankbarkeit gegen den Schöpfer in mir zu erwecken . Ich sehe noch jetzt das grüne Kleid und die schimmernden Metallknöpfe zunächst meinen Wangen und seine glänzenden Augen , in welche ich verwundert sah von der grünen Staude weg , die er hoch in die Luft hielt . Meine Mutter rühmte mir nachher oft , wie sehr sie und die begleitende Magd erbaut gewesen seien von seinen schönen Reden . Aus noch früheren Tagen ist mir seine Erscheinung ebenfalls geblieben durch die befremdliche Überraschung der vollen Waffenrüstung , in welcher er eines Morgens Abschied nahm , um mehrtägigen Übungen beizuwohnen ; da er ein Schütze war , so ist auch dies Bild mit der lieben grünen Farbe und mit heiterm Metallglanze für mich ein und dasselbe geworden . Aus seiner letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verworrenen Eindruck behalten , und besonders seine Gesichtszüge sind mir nicht mehr erinnerlich . Wenn ich bedenke , wie heiß treue Eltern auch an ihren ungeratensten Kindern hangen und dieselben nie aus ihrem Herzen verbannen können , so finde ich es höchst unnatürlich , wenn sogenannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und preisgeben , weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben , und ich preise die Liebe eines Kindes , welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verläßt und verleugnet , und begreife das unendliche , aber erhabene Weh einer Tochter , welche ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schafotte beisteht . Ich weiß daher nicht , ob es aristokratisch genannt werden kann , wenn ich mich doppelt glücklich fühle , von ehrlichen und geachteten Eltern abzustammen , und wenn ich vor Freude errötete , als ich , herangewachsen , zum ersten Male meine bürgerlichen Rechte ausübte in bewegter Zeit und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir herantrat , mir die Hand schüttelte und sagte , er sei ein Freund meines Vaters gewesen und er freue sich , mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen ; als dann noch mehrere kamen und jeder den » Mann « gekannt haben und hoffen wollte , ich werde ihm würdig nachfolgen . Ich kann mich nicht enthalten , sosehr ich die Torheit einsehe , oft Luftschlösser zu bauen und zu berechnen , wie es mit mir gekommen wäre , wenn mein Vater gelebt hätte , und wie mir die Welt in ihrer Kraftfülle von frühester Jugend an zugänglich gewesen wäre ; jeden Tag hätte mich der treffliche Mann weitergeführt und würde seine zweite Jugend in mir verlebt haben . Wie mir das Zusammenleben zwischen Brüdern ebenso fremd als beneidenswert ist und ich nicht begreife , wie solche meistens auseinanderweichen und ihre Freundschaft außerwärts suchen , so erscheint mir auch , ungeachtet ich es täglich sehe , das Verhältnis zwischen einem Vater und einem erwachsenen Sohne um so neuer , unbegreiflicher und glückseliger , als ich Mühe habe , mir dasselbe auszumalen und das nie Erlebte zu vergegenwärtigen . So aber muß ich mich darauf beschränken , je mehr ich zum Manne werde und meinem Schicksal entgegenschreite , mich , zusammenzufassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken : Wie würde er nun an deiner Stelle handeln , oder was würde er von deinem Tun urteilen , wenn er lebte . Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebensschnur , deren Anfang niemand kennt , in meinen schwachen Händen zurückgelassen , und es bleibt mir nur übrig , sie mit Ehren an die dunkle Zukunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen , wenn auch ich sterben werde . – Nach vielen Jahren hat meine Mutter , nach langen Zwischenräumen , wiederholt geträumt , der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne , Glück und Freude bringend , zurückgekehrt , und sie erzählte es jedesmal am Morgen , um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken , während ich , von einem heiligen Schauer durchweht , mir vorzustellen suchte , mit welchen Blicken mich der teure Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde , wenn er wirklich eines Tages so erschiene . Je dunkler die Ahnung ist , welche ich von seiner äußeren Erscheinung in mir trage , desto heller und klarer hat sich ein Bild seines innern Wesens vor mir aufgebaut , und dies edle Bild ist für mich ein Teil des großen Unendlichen geworden , auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube . Drittes Kapitel Kindheit . Erste Theologie . Schulbänklein Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für seine Witwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge . Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und erforderte weitläufige Verhandlungen , um sie ins reine zu bringen . Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen , Unternehmungen gehemmt , große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche einzuziehen an allen Ecken und Enden ; Vorräte von Baustoffen mußten mit Verlust verkauft werden , und es war zweifelhaft , ob bei der augenblicklichen Lage der Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig bleiben würde , wovon die bekümmerte Frau leben sollte . Gerichtsmänner kamen , legten Siegel an und lösten sie wieder ; die Freunde des Verstorbenen und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu , halfen und ordneten ; es wurde durchgesehen , gerechnet , abgesondert , gesteigert . Käufer und neue Unternehmer meldeten sich , suchten die Summen herunterzudrücken oder mehr in Beschlag zu nehmen , als ihnen gebührte , es war ein Geräusch und eine Spannung , daß meine Mutter , welche immer mit wachsamen Augen dabei stand , zuletzt nicht mehr wußte , wie sie sich helfen sollte . Allmählich klärte sich die Verwirrung auf , ein Geschäft um das andere war abgetan , alle Verbindlichkeiten gelöst und die Forderungen gesichert , und es zeigte sich nun , daß das Haus , in welchem wir zuletzt wohnten , als einziges Vermögen übrigblieb . Es war ein altes hohes Gebäude , mit vielen Räumen und von unten bis oben bewohnt wie ein Bienenkorb . Der Vater hatte es gekauft in der Absicht , ein neues an dessen Stelle zu setzen ; da es aber von altertümlicher Bauart war und an Türen und Fenstern wertvolle Überbleibsel künstlicher Arbeit trug , so konnte er sich schwer entschließen , es einzureißen , und bewohnte es indessen nebst einer Anzahl von Mietsleuten . Auf diesem Hause blieben zwar noch einige fremde Kapitalien haften , jedoch hatte es der rührige Mann in der Schnelligkeit so gut eingerichtet und vermietet , daß ein jährlicher Überschuß an Mietgeldern den Hinterlassenen ein bescheidenes Auskommen sicherte . Das erste , was meine Mutter begann , war eine gänzliche Einschränkung und Abschaffung alles Überflüssigen , wozu voraus jede Art von dienstbaren Händen gehörte . In der Stille dieses Witwentumes fand ich mein erstes deutliches Bewußtsein , welches seinen Inhaber zur Übung treppauf und – ab im Innern des Hauses umherführte . Die untern Stockwerke sind dunkel , sowohl in den Gemächern wegen der Enge der Gassen als auf den Treppenräumen und Fluren , weil alle Fenster für die Zimmer benutzt wurden . Einige Vertiefungen und Seitengänge gaben dem Raume ein düsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu entdeckende Geheimnisse für mich ; je höher man aber steigt , desto freundlicher und heller wird es , indem der oberste Stock , den wir bewohnten , die Nachbarhäuser überragt . Ein hohes Fenster wirft reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs , welcher einen hellern Gegensatz zu den kühlen Finsternissen der Tiefe bildet . Die Fenster unserer Wohnstube gingen auf eine Menge kleiner Höfe hinaus , wie sie oft von einem Häuserviertel umschlossen werden und ein verborgenes behagliches Gesumme enthalten , welches man auf der Straße nicht ahnt . Den Tag über betrachtete ich stundenlang das innere häusliche Leben in diesen Höfen ; die grünen Gärtchen in denselben schienen mir kleine Paradiese zu sein , wenn die Nachmittagssonne sie beleuchtete und die weiße Wäsche darin sanft flatterte , und wunderfremd und doch bekannt kamen mir die Leute vor , welche ich fern gesehen hatte , wenn sie plötzlich einmal in unsrer Stube standen und mit der Mutter plauderten . Unser eigenes Höfchen enthielt zwischen hohen Mauern ein ganz kleines Stückchen Rasen mit zwei Vogelbeerbäumchen ; ein nimmermüdes Brünnchen ergoß sich in ein ganz grün gewordenes Sandsteinbecken , und der enge Winkel ist kühl und fast schauerlich , ausgenommen im Sommer , wo die Sonne täglich einige Stunden lang darin ruht . Alsdann schimmert das verborgene Grün durch den dunklen Hausflur so kokett auf die Gasse , wenn die Haustür aufgeht , daß den Vorübergehenden immer eine Art Gartenheimweh befällt . Im Herbste werden diese Sonnenblicke kürzer und milder , und wenn dann die Blätter an den zwei Bäumchen gelb und die Beeren brennend rot werden , die alten Mauern so wehmütig vergoldet sind und das Wässerchen einigen Silberglanz dazugibt , so hat dieser kleine abgeschiedene Raum einen so wunderbar melancholischen Reiz , daß er dem Gemüte ein Genüge tut wie die weiteste Landschaft . Gegen Sonnenuntergang jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an den Häusern in die Höhe und immer höher , je mehr sich die Welt von Dächern , die ich von unserm Fenster aus übersah , rötete und vom schönsten Farbenglanze belebt wurde . Hinter diesen Dächern war für einmal meine Welt zu Ende ; denn den duftigen Kranz von Schneegebirgen , welcher hinter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist , hielt ich , da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah , lange Zeit für eins mit den Wolken . Als ich später zum ersten Male rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen , ungeheuerlichen Daches saß und die ganze ausgebreitete Pracht des Sees übersah , aus welchem die Berge in festen Gestalten , mit grünen Füßen aufstiegen , da kannte ich freilich ihre Natur schon von ausgedehnteren Streifzügen im Freien ; für jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen , das seien große Berge und mächtige Zeugen von Gottes Allmacht , ich vermochte sie darum nicht besser von den Wolken zu unterscheiden , deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte , deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war wie das Wort Berg . Da die fernen Schneekuppen bald verhüllt , bald heller oder dunkler , weiß oder rot sichtbar waren , so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges , Wunderbares und Mächtiges wie die Wolken und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen , wenn sie mir Achtung und Neugierde einflößten . So nannte ich , ich höre das Wort noch schwach in meinen Ohren klingen , und man hat es mir nachher oft erzählt , die erste weibliche Gestalt , welche mir wohlgefiel und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war , die weiße Wolke , von dem ersten Eindrucke , den sie in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte . Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise ein langes hohes Kirchendach , das mächtig über alle Giebel emporragte , den Berg . Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein unermeßliches Feld , auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten , wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen , und diese schiefe , rotglühende Ebene über der dunklen Stadt war für mich recht eigentlich das , was die Phantasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden versteht . Auf diesem Dache stand ein schlankes , nadelspitzes Türmchen , in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte . Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete , so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten ; ich fragte : » Was ist Gott ? ist es ein Mann ? « und sie antwortete : » Nein , Gott ist ein Geist ! « Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten , das Licht klomm an dem Türmchen hinauf , bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte , und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens , daß dieser Hahn Gott sei . Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten , welche ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte . Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam , in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich dasitzend abgebildet war , ging meine Vorstellung von Gott allmählich auf diesen über , ohne daß ich jedoch , sowenig wie vom Hahne , je eine Meinung darüber äußerte . Es waren ganz innerliche Anschauungen , und nur wenn der Name Gottes genannt wurde , so schwebte mir erst der glänzende Vogel und nachher der schöne Tiger vor . Allmählich mischte sich zwar nicht ein klareres Bild , aber ein edlerer Begriff in meine Gedanken . Ich betete mein Unservater , dessen Einteilung und Abrundung mir das Einprägen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Übung gemacht hatte , mit großer Meisterschaft und vielen Variationen , indem ich diesen oder jenen Teil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann rückwärts betete und mit den Anfangsworten Vater unser schloß . Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen , daß Gott ein Wesen sein müsse , mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort sprechen ließe , eher als mit jenen Tiergestalten . So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem höchsten Wesen , ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit , kein Recht und kein Unrecht und ließ Gott herzlich einen guten Mann sein , wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde . Ich fand aber bald Veranlassung , in ein bewußteres Verhältnis zu ihm zu treten und zum ersten Mal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben , als ich , sechs Jahre alt , mich eines schönen Morgens in einen melancholischen Saal versetzt sah , in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und Mädchen unterrichtet wurden . In einem Halbkreise mit sieben andern Kindern um eine Tafel herum stehend , auf welcher große Buchstaben prangten , lauschte ich sehr still und gespannt auf die Dinge , die da kommen sollten . Da wir sämtlich Neulinge waren , so wollte der Oberschulmeister , ein ältlicher Mann mit einem großen groben Kopfe , die erste Leitung selbst für eine Stunde besorgen und forderte uns auf , abwechselnd die sonderbaren Figuren zu benennen . Ich hatte schon seit geraumer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehört , und es gefiel mir ungemein , nur wußte ich durchaus keine leibliche Form dafür zu finden , und niemand konnte mir eine Auskunft geben , weil die Sache , welche diesen Namen führt , einige hundert Stunden weit zu Hause war . Nun sollte ich plötzlich das große P benennen , welches mir in seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch vorkam , und es ward in meiner Seele klar , und ich sprach mit Entschiedenheit : » Dieses ist der Pumpernickel ! « Ich hegte keinen Zweifel , weder an der Welt noch an mir , noch am Pumpernickel , und war froh in meinem Herzen ; aber je ernsthafter und selbstzufriedener mein Gesicht in diesem Augenblicke war , desto mehr hielt mich der Schulmeister für einen durchtriebenen und frechen Schalk , dessen Bosheit sofort gebrochen werden müßte , und er fiel über mich her und schüttelte mich eine Minute lang so wild an den Haaren , daß mir Hören und Sehen verging . Dieser Überfall kam mir seiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein böser Traum vor , und ich machte augenblicklich nichts daraus , als daß ich , stumm und tränenlos , aber voll innerer Beklemmung den Mann ansah . Die Kinder haben mich von jeher geärgert , welche , wenn sie gefehlt haben oder sonst in Konflikt geraten , bei der leisesten Berührung oder schon bei deren Annäherung in ein abscheuliches Zetergeschrei ausbrechen , das einem die Ohren zerreißt ; und wenn solche Kinder gerade dieses Geschreies wegen oft doppelte Schläge bekommen , so litt ich am entgegengesetzten Extrem und verschlimmerte meine Händel stets dadurch , daß ich nicht imstande war , eine einzige Träne zu vergießen vor meinen Richtern . Als daher der Schulmeister sah , daß ich nur erstaunt nach meinem Kopfe langte , ohne zu weinen , fiel er noch einmal über mich her , um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gründlich auszutreiben . Ich litt nun wirklich ; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen , rief ich flehentlich in meiner Angst : » Sondern erlöse uns von dem Bösen ! « und hatte dabei Gott vor Augen , von dem man mir so oft gesagt hatte , daß er dem Bedrängten ein hilfreicher Vater sei . Für den guten Lehrer aber war dies zu stark ; der Fall war nun zum außerordentlichen Ereignisse gediehen , und er ließ mich daher stracks los , mit aufrichtiger Bekümmernis darüber nachdenkend , welche Behandlungsart hier angemessen sei . Wir wurden für den Vormittag entlassen , der Mann führte mich selbst nach Hause . Erst dort brach ich heimlich in Tränen aus , indem ich abgewandt am Fenster stand und die ausgerissenen Haare aus der Stirn wischte , während ich anhörte , wie der Mann , der mir im Heiligtum unserer Stube doppelt fremd und feindlich erschien , eine ernsthafte Unterredung mit der Mutter führte und versichern wollte , daß ich schon durch irgendein böses Element verdorben sein müßte . Sie war nicht minder erstaunt als wir beiden andern , indem ich , wie sie sagte , ein durchaus stilles Kind wäre , welches bisher noch nie aus ihren Augen gekommen sei und keine groben Unarten gezeigt hätte . Allerlei seltsame Einfälle hätte ich allerdings bisweilen , aber sie schienen nicht aus einem schlimmen Gemüte zu kommen , und ich müßte mich wohl erst ein wenig an die Schule und ihre Bedeutung gewöhnen . Der Lehrer gab sich zufrieden , doch mit Kopfschütteln , und war innerlich überzeugt , wie sich aus wiederholten Fällen ergab , daß ich gefährliche Anlagen zeige . Er sagte auch sehr bedeutsam beim Abschiede , daß stille Wasser gewöhnlich tief wären . Dieses Wort habe ich seither in meinem Leben öfter hören müssen , und es hat mich immer gekränkt , weil es keinen größern Plauderer gibt als mich , wenn ich zutraulich bin . Ich habe aber bemerkt , daß viele Menschen , welche immer das große Wort führen , aus denen nie klug werden , welche ihretwegen nie zu Worte kommen ; sie fassen dann ein ungünstiges Vorurteil , sobald sie mit Schwatzen fertig sind und es still geworden ist . Sprechen jene aber einmal unerwarteterweise , so kommt es ihnen noch verdächtiger vor . Im Umgange mit stillen Kindern aber kann es ein wahres Unglück werden , wenn die großen Schwätzer sich nicht anders zu helfen wissen als mit dem Gemeinplatze Stille Wasser sind tief ! Am Nachmittage wurde ich wieder in die Schule geschickt , und ich trat mit großem Mißtrauen in die gefährlichen Hallen , welche die Verwirklichung seltsamer und beängstigender Träume zu sein schienen . Ich bekam aber den bösen Schulmann nicht zu Gesicht ; er hielt sich in einem Verschlage auf , welcher eine Art Geheimzimmer vorstellte und ihm zur Einnahme von kleinen Kollationen diente . An der Türe dieses Verschlages befand sich ein rundes Fensterchen , durch welches der Tyrann öfters den Kopf zu stecken pflegte , wenn draußen ein Geräusch entstand . Die Glasscheibe dieses Fensterchens fehlte seit geraumer Zeit , so daß er durch den leeren Rahmen sein Haupt weit in die Schulstube hineinstrecken konnte zur sattsamen Umsicht . An diesem verhängnisvollen Tage nun hatte der Hausmeister gerade während der Mittagszeit die fehlende Scheibe ersetzen lassen , und ich schielte eben ängstlich nach derselben , als sie mit hellem Klirren zersprang und der umfangreiche Kopf meines Widersachers hindurchfuhr . Die erste Bewegung in mir war ein Aufjauchzen der herzlichsten Freude , und erst als ich sah , daß er übel zugerichtet war und blutete , da wurde ich betreten , und es ward zum dritten Male klar in meiner Seele , und ich verstand die Worte Und vergib uns unsere Schulden , wie auch wir vergeben unsern Schuldigern ! So hatte ich an diesem ersten Tage schon viel gelernt ; zwar nicht , was der Pumpernickel sei , wohl aber , daß man in der Not einen Gott anrufen müsse , daß derselbe gerecht sei und uns zu gleicher Zeit lehre , keinen Haß und keine Rache in uns zu tragen . Aus dem Gebote , seinen Beleidigern zu vergeben , entsteht , wenn es befolgt wird , von selbst die Kraft , auch seine Feinde zu lieben ; denn für die Mühe welche uns jene Überwindung kostet , fordern wir einen Lohn , und dieser liegt zunächst und am natürlichsten in dem Wohlwollen , welches wir dem Feinde schenken da er uns einmal nicht gleichgültig bleiben kann . Wohlwollen und Liebe können nicht gehegt werden , ohne den Träger selbst zu veredeln , und sie tun dieses am glänzendsten , wenn sie dem gelten , was man einen Feind oder Widersacher nennt . Diese eigentümlichste Hauptlehre des Christentums fand eine große Empfänglichkeit in mir vor , da ich , leicht verletzt und aufgebracht , immer ebenso schnell bereit war zu vergessen und zu vergeben , und es hat mich später , als mein Sinn sich der Offenbarungslehre zu verschließen anfing , lebhaft beschäftigt zu ermitteln , inwiefern jenes Gesetz nur der Ausdruck eines schon in der Menschheit vorhandenen und erkannten Bedürfnisses sei ; denn ich sah , daß es nur von einem bestimmten Teile der Menschen rein und uneigennützig befolgt wurde , von denjenigen nämlich , welche ihre natürlichen Gemütsanlagen dazu trieben . Die andern , welche ihr ursprüngliches Rachegefühl überwanden und auf das Vergeltungsrecht mit Mühe verzichteten , schienen mir oft dadurch mehr Vorteil über ihren Feind zu gewinnen , als sich mit dem Begriffe der reinen Selbstentäußerung vertrug ; weil zufolge der tiefen Vernunft und Klugheit , die zugleich im Verzeihen liegt , der Widersacher allein es ist , welcher sich in seiner unfruchtbaren Wut aufreibt und vernichtet . Dies Verzeihen ist es auch , was in großen geschichtlichen Kämpfen die Überlegenheit des Siegers , nachdem er einen Handel männlich ausgefochten hat , vermehrt und beurkundet , daß dieselbe auch moralisch eine reifgewordene ist . So ist das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweisheit ; das eigentliche Lieben aber des Feindes , in voller Blüte und solange er uns Schaden zufügt , habe ich nirgends gesehen . Viertes Kapitel Lob Gottes und der Mutter . Vom Beten Im Verlaufe der ersten Schuljahre fand ich nun häufige Gelegenheit , meinen Verkehr mit Gott zu erweitern , da die kleinen Erlebnisse sich vermehrten . Ich hatte mich bald in den Weltlauf ergeben und tat , wie die andern Kinder , was ich nicht lassen konnte . Dadurch war ich abwechselnd zufrieden und geriet in Bedrängnis , wie es das Wohlverhalten oder die Vernachlässigung meiner Pflichten nebst allerhand kindischem Unfuge mit sich brachten . In jeder üblen Lage aber rief ich Gott an und betete in meinem Innern in wenigen wohlgesetzten Worten , wenn die Krisis zu reifen begann , um eine günstige Entscheidung und um Rettung aus der Gefahr , und ich muß zu meiner Schande gestehen , daß ich immer entweder das Unmögliche oder das Ungerechte verlangte . Oft war es der Fall , daß meine Sünden übersehen wurden ; und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen , welche um so vergnüglicher waren , als mir der Sinn für die Verdientheit der Strafe so lange verschlossen blieb , bis ich bewußte Fehler beging . So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechenexempels oder daß der Vor gesetzte für einen Tintenklecks in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde ; das andere Mal , ein zweiter Josua , um Still stand der Sonne , wenn ich mich zu verspäten drohte , oder auch um Erlangung eines fremden leckeren Backwerkes . Als die Jungfrau , welche ich die weiße Wolke nannte , einst für lange Zeit verreiste und eines Abends bei uns Abschied nahm , während ich schon in meinem Bettchen lag , jedoch alles hörte , bat ich meinen himmlischen Vater in sehnlichen Ausdrücken , er möchte bewirken , daß sie mich hinter meinen Vorhängen nicht vergesse und noch einmal tüchtig küsse . Ich schlief über der steten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes endlich ein und weiß zur Stunde noch nicht , ob meine Bitte in Erfüllung gegangen ist . Eines Tages wurde ich zur Strafe über die Mittagszeit in der Schule zurückbehalten und eingeschlossen , so daß ich erst auf den Abend zu essen bekam . Das war das erste Mal , wo ich den Hunger kennen und zugleich die Ermahnungen meiner Mutter verstehen lernte , welche mir Gott vorzüglich als den Erhalter und Ernährer jeglicher Kreatur anpries und als den Schöpfer unsres schmackhaften Hausbrotes darstellte , der Bitte gemäß Gib uns heut unser tägliches Brot ! Überhaupt gewann ich für die Nahrungsdinge Interesse und manche Einsicht in die Beschaffenheit derselben , indem ich fast ausschließlich den Verkehr von Frauen mit ansah , dessen Hauptinhalt der Erwerb und die Besprechung von Lebensmitteln war . Auf meinen Wanderungen durch das Haus drang ich allmählich tiefer in den Haushalt der Mitbewohner ein und ließ mich oft aus ihren Schüsseln bewirten , und undankbarerweise schmeckten mir die Speisen überall besser als bei meiner Mutter . Jede Hausfrau verleiht , auch wenn die Rezepte ganz die gleichen sind , doch ihren Speisen durch die Zubereitung einen besondern Geschmack , welcher ihrem Charakter entspricht . Durch eine kleine Bevorzugung eines Gewürzes oder eines Krautes , durch größere Fettigkeit oder Trockenheit , Weichheit oder Härte bekommen alle ihre Speisen einen bestimmten Charakter , welcher das genäschige oder nüchterne , weichliche oder spröde , hitzige oder kalte , das verschwenderische oder geizige Wesen der Köchin ausspricht , und man erkennt sicher die Hausfrau aus den wenigen Hauptspeisen des Bürgerstandes ; ich meinerseits , als ein frühzeitiger Kenner , habe aus einer bloßen Fleischbrühe den Instinkt geschöpft , wie ich mich zu der Meisterin derselben zu verhalten habe . Die Speisen meiner Mutter hingegen ermangelten sozusagen aller und jeder Besonderheit . Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager , der Kaffee nicht stark und nicht schwach , sie verwendete kein Salzkorn zuviel , und keines hat je gefehlt ; sie kochte schlecht und recht , ohne Manieriertheit , wie die Künstler sagen , in den reinsten Verhältnissen ; man konnte von ihren Speisen eine große Menge genießen , ohne sich den Magen zu verderben . Sie schien mit ihrer weisen und maßvollen Hand , am Herde stehend , täglich das Sprichwort zu verkörpern Der Mensch ißt , um zu leben , und lebt nicht , um zu essen ! Nie und in keiner Weise war ein Überfluß zu bemerken und ebensowenig ein Mangel . Diese nüchterne Mittelstraße langweilte mich , der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte , und ich begann über ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu üben , sobald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt war . Da ich mit meiner Mutter immer allein bei Tische saß und sie lieber auf Gespräch und Unterhaltung dachte als auf ein genaues Erziehungssystem , so wies sie mich nicht kurz und strafend zur Ruhe , sondern widerlegte mich mit Beredsamkeit und stellte mir hauptsächlich vor , auf Menschenschicksale und Lebensläufe übergehend , wie ich vielleicht eines Tages froh sein würde , an ihrem Tische zu sitzen und zu essen ; dann werde sie aber nicht mehr dasein . Obgleich ich dazumal nicht recht einsah , wie das zugehen sollte , so wurde ich doch jedesmal gerührt und von einem geheimen Grauen ergriffen und so für einmal geschlagen . Machte sie alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerksam , welche ich gegen Gott beging , indem ich seine guten Gaben tadelte , so hütete ich mich mit einer heiligen Scheu , den allmächtigen Geber ferner zu beleidigen , und versank in Nachdenken über seine trefflichen und wunderbaren Eigenschaften . Nun geschah es aber , daß in dem Maße , als ich ihn deutlicher erfaßte und sein Wesen mir unentbehrlicher und ersprießlicher wurde , mein Umgang mit Gott sich verschämt zu verschleiern begann und , als meine Gebete einen gewissen Sinn erhielten , mich eine wachsende Scheu beschlich , sie laut herzusagen . Meine Mutter war eines einfallen und nüchternen Gemütes und nichts weniger als das , was man eine warm andächtige Frau nennt , sondern schlechthin gottesfürchtig . Ihr Gott war nicht der Befriediger und Erfüller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbedürfnisse , sondern klar und einfach der vorsorgende und erhaltende Vater , die Vorsehung . Ihr gewöhnliches Wort war Wer Gott vergißt , den vergißt er auch ; von der inbrünstigen Gottesliebe dagegen hörte ich sie nie reden . Desto eifriger aber hielt sie darauf ; es wurde ihr in unserer Verlassenheit für die lange und dunkle Zukunft eine Hauptsache , daß Gott , der Ernährer und Beschützer , mir immer vor Augen sei , und sie legte mit andauernder Sorge den Grund zu einem lebendigen Gottvertrauen in mich . Infolge dieses rührenden Bestrebens und auf das Zureden einer nichtsnutzigen Heuchlerin wollte sie eines Sonntags , als wir uns eben zu Tische gesetzt hatten , das Tischgebet einführen , welches bis dahin nicht üblich gewesen in unserm Hause , und sagte mir zu diesem Zwecke ein kleines altes Volksgebet vor , mit der Aufforderung , es jetzt und in Zukunft nachzubeten . Aber wie erstaunte sie , als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und nicht weiterkonnte ! Das Essen dampfte auf dem Tische , es war ganz still in der Stube , die Mutter wartete , aber ich brachte keinen Laut hervor . Sie wiederholte ihr Verlangen , aber ohne Erfolg ; ich blieb stumm und niedergeschlagen , und sie ließ es für diesmal bewenden , da sie mein Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt . Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt , und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte : » Warum willst du nicht beten ? Schämst du dich ? « Das war nun zwar der Fall , ich vermochte es aber nicht zu bejahen , weil , wenn ich es getan , es doch nicht wahr gewesen wäre in dem Sinne , wie sie es verstand . Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl , und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Zeremonie , welche mir alsobald unbesieglich , widerstand . Es war nicht Scham vor der Welt , wie es der Priester zu nennen pflegt ; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen , vor welcher ich , bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war ? Es war Scham vor mir selber ; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören und habe es auch nie mehr dazu gebracht , in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten . » Nun sollst du nicht essen , bis du gebetet hast ! « sagte die Mutter , und ich stand auf und ging vom Tische weg in eine Ecke , wo ich in grolle Traurigkeit verfiel , die mit einigem Trotze vermischt war . Meine Mutter aber blieb sitzen und tat so , als ob sie essen würde , obgleich sie es nicht konnte , und es trat eine Art düstrer Spannung zwischen uns ein , wie ich sie noch nie gefühlt hatte und die mir das Herz beklemmte . Sie ging schweigend ab und zu und räumte den Tisch ab ; als jedoch die Stunde nahte , wo ich wieder zur Schule gehen sollte , brachte sie mein Essen , indem sie sich die Augen wischte , als ob ein Stäubchen darin wäre , wieder herein und sagte : » Da kannst du essen , du eigensinniges Kind ! « worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Tränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ , sobald die heftige Bewegung nachließ . Auf dem Wege zur Schule ließ ich es nicht an einem vergnügten Dankseufzer fehlen für die glückliche Befreiung und Versöhnung . Als ich in späteren Jahren im Heimatdorfe auf Besuch war , wurde ich an das Ereignis lebhaft erinnert durch eine Geschichte , welche sich vor mehr als hundert Jahren mit einem Kinde dort zugetragen hatte und einen tiefen Eindruck auf mich machte . In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel eingelassen , welche nichts als ein halbverwittertes Wappen und die Jahrzahl 1713 trug . Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes und erzählten allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von demselben , wie es ein vornehmes Kind aus der Stadt , aber in das Pfarrhaus , in welchem dazumal ein gottesfürchtiger und strenger Mann wohnte , verbannt gewesen sei , um von seiner Gottlosigkeit und unbegreiflich frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden . Dieses sei aber nicht gelungen ; vorzüglich habe es nie dazu gebracht werden können , die drei Namen der höchsten Dreieinigkeit auszusprechen , und sei in dieser gottlosen Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstorben . Es sei ein außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem zarten Alter von sieben Jahren und dessenungeachtet die allerärgste Hexe gewesen . Besonders hätte es erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angetan , wenn es sie nur angeblickt , daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen böse Händel angefangen hätten . Sodann hätte es seinen Unfug mit dem Geflügel getrieben und insbesondere alle Tauben des Dorfes auf den Pfarrhof gelockt und selbst den frommen Herrn verhext , daß er dieselben öfters inbehalten , gebraten und zu seinem Schaden gespeist habe . Selbst die Fische im Wasser habe es gebannt , indem es tagelang am Ufer saß und die alten klugen Forellen verblendete , daß sie bei ihm verweilten und in großer Eitelkeit vor ihm herumschwänzelten , sich in der Sonne spiegelnd . Die alten Frauen pflegten diese Sage als Schreckmännchen für die Kinder zu gebrauchen , wenn sie nicht fromm waren , und fügten noch viele seltsame und phantastische Züge hinzu . Im Pfarrhause hingegen hing wirklich ein altes dunkles Ölgemälde , das Bildnis dieses merkwürdigen Kindes enthaltend . Es war ein außerordentlich zart gebautes Mädchen in einem blaugrünen Damastkleide , dessen Saum in einem weiten Kreise starrte und die Füßchen nicht sehen ließ . Um den schlanken feinen Leib war eine goldene Kette geschlungen und hing vorn bis auf den Boden herab . Auf dem Haupte trug es einen kronenartigen Kopfputz aus flimmernden Gold- und Silberflittern , von seidenen Schnüren und Perlen durchflochten . In seinen Händen hielt das Kind den Totenschädel eines andern Kindes und eine weiße Rose . Noch nie habe ich aber ein so schönes , liebliches und geistreiches Kinderantlitz gesehen wie das blasse Gesicht dieses Mädchens ; es war eher schmal als rund , eine tiefe Trauer lag darin , die glänzenden dunklen Augen sahen voll Schwermut und wie um Hilfe flehend auf den Beschauer , während um den geschlossenen Mund eine leise Spur von Schalkheit oder lächelnder Bitterkeit schwebte . Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkürliche Sehnsucht , das lebendige Kind zu sehen , ihm schmeicheln und es liebkosen zu dürfen . Es war auch der Erinnerung des alten Dorfes unbewußt lieb und wert , und in den Erzählungen und Sagen von ihm war ebensoviel unwillkürliche Teilnahme als Abscheu zu bemerken . Die eigentliche Geschichte war nun die , daß das kleine Mädchen , einer adeligen , stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig , eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte , die Gebetbücher zerriß , welche man ihm gab , im Bette den Kopf in die Decke hüllte , wenn man ihm vorbetete , und kläglich zu schreien anfing , wenn man es in die düstere , kalte Kirche brachte , wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab . Es war ein Kind aus einer unglücklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des Anstoßes sein . So beschloß man , als es durch keine Mittel von der unerklärlichen Unart abgebracht werden konnte , das Kind jenem wegen seiner Strenggläubigkeit berühmten Pfarrherrn versuchsweise in Pflege zu geben . Wenn schon die Familie die Sache als ein befremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes Unglück auffaßte , so betrachtete der dumpfe , harte Mann dieselbe vollends als eine unheilvolle infernalische Erscheinung , welcher mit aller Kraft entgegenzutreten sei . Demgemäß nahm er seine Maßregeln , und ein altes vergilbtes » diarium « , von ihm herrührend und im Pfarrhause aufbewahrt , enthält einige Notizen , welche über sein Verfahren sowie das weitere Schicksal des unglücklichen Geschöpfes hinreichenden Aufschluß geben . Folgende Stellen habe ich mir ihres seltsamen Inhaltes wegen abgeschrieben und will sie diesen Blättern einverleiben und so die Erinnerung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen aufbewahren , da sie sonst verlorengehen würde . Fünftes Kapitel Das Meretlein » Heute habe ich von der hochgebornen und gottesfürchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten , alsogleich quittiret und Bericht erstattet . Ferner der kleinen Meret ( Emerentia ) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft , indeme sie auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen züchtigte , nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren , daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge . Hat die Kleine zwaren jämmerlich geschrieen und de- und wehmüthig um Pardon gebeten , aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmähet , so ich ihr zum Lernen vorgehalten . Habe sie derowegen kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer , allwo sie gewimmert und geklaget , dann aber still geworden ist , bis sie urplötzlich zu singen und jubiliren angefangen , nicht anders wie die drey seligen Männer im Feuerofen , und habe ich zugehöret und erkennt , daß sie die nämliche versificirten Psalmen gesungen , so sie sonsten zu lernen refusirete , aber in so unnützlicher und weltlicher Weise , wie die thörichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben ; so daß ich solches Gebahren für eine neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nemen gezwungen ward . « Ferner : Ist ein höchst lamentables Schreiben arriviret von Madame , welche in Wahrheit eine fürtreffliche und rechtgläubige Person ist . Sie hat besagten Brief mit ihren Thränen benetzet und mir auch die große Bekümmerniß des Herren Gemahls vermeldet , daß es mit der kleinen Meret nicht besser gehen will . Und ist dieses gewißlich eine große Calamität , so diesem hochansehnlichen und berühmten Geschlecht zugestoßen und möchte man der Meinung seyn , mit Respect zu sagen , daß sich die Sünden des Herren Großpapa väterlicher Seits , welches ein gottloser Wütherich und schlimmer Cavalier ware , an diesem armseligen Geschöpflein vermerken lassen und rechen . Habe mein Tractament mit der Kleinen changiret und will nunmehr die Hungerkur probiren . Auch hab ich ein Röcklein von grobem Sacktuch durch meine Ehefrau selbsten anfertigen lassen und verbothen , der Meret ein ander Habit anzulegen , sintemal diese Bußkleidung ihr am besten conveniret . Verstocktheit auf dem gleichen Puncto . « » Sahe mich heute gezwungen , die kleine Demoiselle von allem Verkehr und Unterhalt mit denen Baurenkindern abzusperren , weill sie mit selbigen in das Holz gelauffen , allda gebadet im Holzweiher , das Bußhemdlein , so ich ihr ordiniret , an ein Baumast gehenkt hat und nackent davor gesprungen und getanzt und auch ihre Gespanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizet . Beträchtliche Correction . « » Heut ein großer Spectakel und Verdruß . Kame ein großer , starker Schlingel , der junge Müllerhans , und richtete mir Händel an von wegen der Meret , welche er alltäglich schreien und heulen zu hören vorgegeben , und disputirte ich mit demselben , als auch der junge Schulmeister , der Tropf , herankam und drohete , mich zu verklagen , und fiel über die schlimme Creatur her , herzete und küssete sie etc. etc. Ließ den Schulmeister alsochgleich arretiren und zum Landvogt führen . Dem Müllerhans muß ich auch noch beikommen , obgleich selbiger reich und gewaltthätig ist . Möchte bald selber glauben , was die Bauersleute sagen , daß das Kind eine Hexe sey , wenn diese Opinion nicht der Vernunft widerspräche . Jeden Falls steckt der Teufel in ihr und habe ich ein schlimmes Stück Arbeit übernommen . « » Diese ganze Woche habe ich einen Mahler im Hause tractiret , so mir Madame übersendet , damit er das Portrait der kleinen Fräulein anfertige . Die bedrängte Familie will das Geschöpfe nicht mehr zu sich nemen und allein zum traurigen Angedenken und zur bußfertigen Anschauung , auch von wegen der großen Schönheit des Kindes , ein Conterfey behalten . Insbesundere will der Herr nicht von dieser Idee lassen . Meine Ehefrau verabreicht dem Mahler alltäglich zwei Schoppen Wein , woran er nicht genug zu haben scheinet , da er allabendlich in den rothen Löwen gehet und dort mit dem Chirurgo spielet . Ist ein hochfahrendes Subject und setze ihm daher öfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor , welches in dem Quartal Conto der Madame zu vermerken ist . Wollte anfenglich mit der Kleinen sein Wesen und Freundlichkeit treiben und hat sie sich sogleich an ihn attachiret , daher ich ihme bedeutet habe , mir in meinem Procedere nicht zu interveniren . Wie man der Kleinen ihr verwahrte Habit und Sonntagsstaat herfürgehohlt und angelegt benebst der Schapell und der Gürtlen , so hat sie großen Plaisir gezeiget und zu tanzen begonnen Diese ihre Freude ist aber bald verbittert worden , als ich nach dem Befelch der Frau Mama 1 Todtenschedel hohlen ließe und in die Hand zu tragen gab , welchen sie partout nicht nemen wollen und hernachmalen weinend und zitternd in der Hand gehalten , wie wenn es ein feurig Eisen wär . Zwaren hat der Mahler behauptet , er könne den Schedel aufwendig mahlen , weill solcher zu denen allerersten Elementen seiner Kunst gehöre , habe es aber nicht zugegeben , sintemal Madame geschrieben hat : › Was das Kind leidet , das leiden auch wir , und ist uns in seinem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben , so wir für ihn 's thun können ; derohalb brechen Ew. Wohlehrwürden in Nichts ab , Euere Fürsorge und Education betreffend . Wenn das Töchterlein dereinst , wie ich zum allmächtigen und barmherzigen Gott verhoffe , hier oder dort erleuchtet und gerettet seyn wird , so wird es ohnzweifelhaft sich höchlich erfreuen , ein gutes Theil seiner Buße schon mit seiner Verstocktheit abgethan zu haben , welche über ihn's zu verhängen der unerforschliche Meister beliebt hat ! ‹ Diese tapferen Worte vor Augen , habe ich auch diese Gelegenheit für dienlich erachtet , der Kleinen mit dem Schedel eine ernsthafte Buße anzuthun . Man hat übrigens einen kleinen leichten Kindsschedel gebrauchet , dieweill der Mahler sich beschwehret , daß der große Mannsschedel zu unförmlich seye für die kleinen Händlein , in Betracht seiner Kunst-Regula , und hat sie denselben nachher lieber gehalten ; auch hat ihr der Mahler ein weißes Röslein dazugesteckt , was ich wohl leiden mochte , weil es als ein gutes Symbolum gelten kann . « » Habe heut plötzlich ein Contreordre erhalten in Betreff des Tableau und soll nun selbiges nicht nach der Stadt spediren , sondern hier behalten . Es ist Schad um die brave Arbeit , so der Mahler gemacht hat , weil er ganz charmiret war von der Anmuth des Kinds . Hätt ich es früher gewußt , so hätt der Mann für diesen Kostenaufwand mein eigen Conterfey auf das Tuch mahlen können , wenn die schönen Victualien nebst Lohn einmal drauff gehen sollen . « » Es ist mir fernerer Befelch zu Handen gekommen , mit aller weltlichen Instruction abzubrechen , besonders mit dem Französischen , da solches nicht mehr nöthig erachtet werde , so wie auch meine Gemahlin den Unterricht auf dem Spinett sistiren solle , was der Kleinen leid zu thun scheinet . Vielmehr soll ich sie fortan als ein einfaches Pflegekind tractiren und allein fürsorgen , daß sie kein öffentlich Ärgernuß gebe . « » Vorgestern ist uns die kleine Meret desertiret und haben wir große Angst empfunden , bis daß sie heute Mittag um 12 Uhr zu obrist auf dem Buchenloo ausgespüret wurde , wo sie entkleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne saß und sich baß wärmete . Sie hatt' ihr Haar ganz aufgeflochten und ein Kränzlein von Buchenlaub darauff gesetzet , so wie ein dito Scherpen um den Leib gehenkt , auch ein Quantum schöner Erdbeeren vor sich liegen gehabt , von denen sie ganz voll und rundlich gegessen war . Als sie unser ansichtig ward , wollte sie wiederum Reißaus nemen , schämete sich aber ihrer Blöße und wollte ihr Habitlein überziehen , dahero wir sie glücklich attrapiret . Sie ist nun krank und scheinet confuse zu seyn , da sie keine vernünftige Antwort giebet . « » Mit dem Meretlein gehet es wiederum besser , jedoch ist sie mehr und mehr verändert und wird des Gänzlichen dumm und stumm . Die Consultation des herbeygeruffenen Medici verlautet dahin , daß sie irr- oder blödsinnig werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey ; er offerirte sich auch zu derselbigen und hat verheißen , das Kind wieder auf die Beine zu bringen , wenn es in seinem Hause placiret würde . Ich merke aber schon , daß es dem Monsieur Chirurgo nur um die gute Pension benebst denen Präsenten von Madame zu thun seye , und berichtete derohalb , was ich für gut befunden , nemlich daß der Herr seinen Plan nunmehr an ein Ende zu führen scheine mit seiner Creatur und daß Menschenhände hieran Nichts changiren möchten und dürften , wie es in Wirklichkeit auch ist . « Nach Überschlagung von fünf bis sechs Monaten heißt es weiter : » Es scheinet dieses Kind in seinem blöden Zustande einer trefflichen Gesundheit zu genießen und hat ganz muntere rothe Backen bekommen . Hält sich nun den ganzen Tag in den Bohnen auf , wo man sie nicht siehet und weiter nicht um sie bekümbert , zumalen sie weiter kein Ärgernuß giebet . « » Das Meretlein hat sich in Mitten des Bohnenplatz ein kleinen Salon arrangiret , so man entdecket , und hat dorten artliche Visites acceptiret von denen Baurenkindern , welche ihme Obst und andere Victualia zugeschleppet , so sie gar zierlich vergraben und in Vorrath gehalten hat . Daselbst hat man auch jenen kleinen Kindsschedel begraben gefunden , welcher längst abhanden gekommen und dahero dem Küster nicht restituiret werden konnte . Dergleichen auch die Spatzen und andere Vögel herbeygezogen und zahm gemacht , daß die den Bohnen viel Abbruch gethan und ich jedoch nicht mehr in die Bohnenstauden schießen können , von wegen der kleinen Insaß . Item hat sie mit einer giftigen Schlangen ihr Spiel gehabt , welche durch den Hag gebrochen und sich bei ihr eingenistet ; in summa , man hat sie wieder ins Haus nemen und inne behalten müssen . « » Die rothen Backen sind wiederum von ihr gewichen und behauptet der Chirurgus , sie werde es nicht mehr lang prästiren . Habe auch schon an die Eltern geschrieben . « » Heut vor Tag schon muß das arme Meretlein aus seinem Bettlein entkommen , in die Bohnen hinauß geschlichen und dort verschieden seyn ; denn wir haben sie alldort für todt gefunden in einem Grüblein , so sie in den Erdboden hineingewühlet , als ob sie hineinschlüpfen wollen . Sie ist ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr Hemdlein feucht und schwer vom Thau , als welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren fast röthlichen Wänglein gelegen , nicht anders denn auf einem Apfelblust . Und haben wir einen heftigen Schrecken bekommen und bin ich in große Verlegenheit und Confusion gerathen den heutigen Tag , dieweill die Herrschaft aus der Stadt angelanget , just wie meine Ehefrau verreiset ist nach K. , um allda einiges Confect und Provision einzukaufen , damit die Herrschaften höflichst zu tractiren . Wußte derohalb nicht , wo mir der Kopf gestanden und war ein großes Rennen und Laufen , und sollten die Mägde das Leichlein waschen und ankleiden und zugleich für ein guten Imbiß sorgen . Endlich habe ich den grünen Schinken braten lassen , so meine Frau vor acht Tagen in Essig geleget , und hat der Jakob drei Stück von denen zahmen Forellen gefangen , welche noch hin und wieder an den Garten kommen , obgleich man die selige ( ?! ) Meret nicht mehr zum Wasser hinauß gelassen . Habe zum Glück mit diesen Speißen noch ziemliche Ehre eingeleget und haben dieselbigen der Madame wohl geschmecket . Ist eine große Traurigkeit gewesen und haben wir mehr denn zwei Stunden in Gebeth und Todesbetrachtungen verbracht , desgleichen in melancolischen Reden von der unglückseligen Krankhaftigkeit des verstorbenen Mägdleins , da wir nun annemen müssen zu unserem vermehrten Trost , daß selbe in einer fatalen Disposition des Bluts und Gehirns ihren Ursprung gehabt . Daneben haben wir auch von den sonstigen großen Gaben des Kinds geredet und von seinen oftmaligen klugen und anmuthigen Einfällen und Impromptus und Alles nicht zusammenreimen können in unserer irdischen Kurzsichtigkeit . Morgens am Vormittag wird man dem Kind ein Christlich Begräbniß geben und ist die Präsenz der fürnehmen Eltern dazu kommlich , ansonsten die Pauren sich widersatzen mögten . « » Dieses ist der allerwunderbarste und schreckhafteste Tag gewesen , nicht nur allein seit wir mit dieser unseligen Creatur zu schaffen , sondern der mir überhaupt in meiner ruhsamen Existenz aufgestoßen ist . Denn als die Stunde gekommen und es zehn Uhr geschlagen , haben wir uns hinter dem Leichlein her in Bewegung gesetzet und nach dem Gottesacker begeben , indessen der Sigrist die kleine Glocken geläutet , was er aber nicht mit sehrem Fleiße gethan , dieweil es fast erbärmlich geklungen und das Geläute zur Halbpart vom starken Winde verschlungen worden , der unwirsch gewehet hat . Und war auch der Himmel ganz dunkel und schwül , so wie der Kirchhof von Menschen entblößet außer unserer kleinen Compagnie , hergegen außerhalb denen Mauren die ganze Baursame vereiniget und hat neugierig die Köpfe herüber gerecket . Wie man aber so eben das Todtenbäumlein in das Grab hinunter senken wollen , hat man ein seltsamen Schrei gehört aus dem Todtenbäumlein hervor , so daß Wir auf das Heftigste erschrocken sind und der Todtengräber auf und davon gesprungen ist . Der Chirurgus aber , welcher auch herzugeloffen , hat schleunigst den Deckel losgemacht und abgehebt , und hat sich das Tödlein als lebendig aufgerichtet und ist ganz behende aus dem Gräblein gekrochen und hat uns angeblicket . Und wie im selbigen Moment die Strahlen Phöbi seltsam und stechend durch die Wolken gedrungen , so hat es in seinem gelblichen Brokat und mit dem glitzrigen Krönlein ausgesehen wie ein Feyen- oder Koboltskind . Die Frau Mama ist alsobald in eine starke Ohnmacht verfallen und der Herr v. M. weinend zur Erde gestürzet . Ich selbst habe mich vor Verwunderung und Schrecken nicht gerühret und in diesem Moment steif an ein Hexenthum geglaubt . Das Mägdlein aber hat sich bald ermannt und ist über den Kirchhof davon und zum Dorf hinauß gezwirbelt , wie eine Katz , daß alle Leute voll Entsetzen heimgeflohen sind und ihre Thüren verriegelt haben . Zu selbiger Zeit ist just die Schulzeit aus gewesen und ist der Kinderhaufen auf die Gaß gekommen , und als das kleine Zeugs die Sache gesehen , hat man die Kinder nicht halten können , sondern ist eine große Schaar dem Leichlein nachgelauffen und hat es verfolget und hintendrein ist noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen . Es hat aber immer ein zwanzig Schritt Vorsprung gehabt und nicht eher Halt gemacht , als bis es auf dem Buchenloo angekommen und leblos umgefallen ist , worauf die Kinder um dasselbige herumgekrabbelt und es vergeblich , gestreichelt und caressiret haben . Dieses Alles haben wir nach der Hand erfahren , weill wir mit großer Noth in das Pfarrhaus uns salviret und in tiefer Desolation verharret sind , bis man das Leichlein wiederum gebracht hat . Man hat es auf ein Matraz gelegt und ist die Herrschaft darauf verreiset mit Hinterlassung einer kleinen Steintafell , worein Nichts als das Familienwappen und Jahrzahl gehauen ist . Nunmehr liegt das Kind wieder für todt und getrauen wir uns nicht , zu Bett zu gehen aus Furcht . Der Medicus sitzet aber bey ihm und meint nun , es sey endlich zur Ruh gekommen . « » Heute hat der Medicus nach unterschiedlichen Experimenten erklärt , daß das Kind wirklich todt seye , und ist es nun in der Stille beigesetzt worden und nichts Weiteres arriviret usf . « Sechstes Kapitel Weiteres vom lieben Gott . Frau Margret und ihre Leute Ich kann nicht sagen , daß , nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt eines Ernährers und Aushelfers für mich gewonnen hatte , er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Empfindungen oder tiefgehenden Gemütsfreuden erfüllte , zumal er aus dem glänzenden Gewande des Abendrotes sich verloren , um in viel späterer Zeit es wieder umzunehmen . Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach , so fuhr sie fort , vorzüglich im Alten Testamente zu verweilen , bei der Geschichte der Kinder Israel in der Wüste oder bei den Kornhändeln Josephs und seiner Brüder , bei der Witwe Ölkrug und dergleichen oder ausnahmsweise bei der Speisung der fünftausend Männer im Neuen Testamente . Alle diese Ereignisse gefielen ihr ausnehmend wohl , und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor , während letztere mehr einem pflichtgemäß frommen Erzählen Raum gab , wenn das bewegte und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde . Sosehr ich daher den lieben Gott respektierte und in allen Fällen bedachte , so blieben mir doch die Phantasie und das Gemüt leer , solange ich keine neue Nahrung schöpfte außer den bisherigen Erfahrungen ; und wenn ich keine Veranlassung hatte , irgendeinen angelegentlichen Gebetvortrag abzufassen , so war mir Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person , die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbarkeiten reizte , zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor . So gereichte es mir eine Zeitlang zu nicht geringer Qual , daß ich eine krankhafte Versuchung empfand , Gott derbe Spottnamen , selbst Schimpfworte anzuhängen , wie ich sie etwa auf der Straße gehört hatte . Mit einer Art behaglicher und mutwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung bis ich nach langem Kampfe nicht mehr widerstehen konnte und im vollen Bewußtsein der Blasphemie eines jener Worte hastig ausstieß , mit der unmittelbaren Versicherung , daß es nicht gelten solle , und mit der Bitte um Verzeihung ; dann konnte ich nicht umhin , es noch einmal zu wiederholen , wie auch die reuevolle Genugtuung , und so fort , bis die seltsame Aufregung vorüber war . Vorzüglich vor dem Einschlafen pflegte mich diese Erscheinung zu quälen , obgleich sie nachher keine Unruhe oder Uneinigkeit in mir zurückließ . Ich habe später gedacht , daß es wohl ein unbewußtes Experiment mit der Allgegenwart Gottes gewesen sei , welche ebenfalls anfing , mich zu beschäftigen , und daß damals das dunkle Gefühl in mir lebendig geworden sei vor Gott könne keine Minute unseres inneren Lebens verborgen und wirklich strafbar sein , sofern er das lebendige Wesen für uns sei , für das wir ihn halten . Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlossen , welche meiner suchenden Phantasie zu Hilfe kam und mich von diesen unfruchtbaren Quälereien erlöste , indem sie , bei der Einfachheit und Nüchternheit meiner Mutter , für mich das wurde , was sonst sagenreiche Großmütter und Ammen für die stoffbedürftigen Kinder sind . In dem Hause gegenüber befand sich eine offene dunkle Halle , ganz mit Trödelkram angefüllt . Die Wände waren mit alten Seidengewändern , gewirkten Stoffen und Teppichen aller Art behangen . Rostige Waffen und Gerätschaften , schwarze zerrissene Ölgemälde bekleideten die Eingangspfosten und verbreiteten sich zu beiden Seiten an der Außenseite des Hauses ; auf einer Anzahl altmodiger Tische und Geräte stand wunderliches Glasgeschirr und Porzellan aufgetürmt , mit allerhand hölzernen und irdenen Figuren vermischt . In den tieferen Räumen waren Berge von Betten und Hausgeräten übereinandergeschichtet , und auf den Hochebenen und Absätzen derselben , manchmal auf einem gefährlichen einsamen Grate , stand überall noch eine schnörkelhafte Uhr , ein Kruzifix oder ein wächserner Engel und dergleichen . Im tiefsten Hintergrunde aber saß jederzeit eine bejahrte , dicke Frau in altertümlicher Tracht , in einem trüben Helldunkel , während ein noch älteres , spitziges , eisgraues Männchen mit Hilfe einiger Untergebenen in der Halle herumhantierte und eine zahlreiche Menge Leute abfertigte , welche fortwährend ab und zu ging . Die Seele des Geschäftes war aber die Frau , und von ihr aus gingen alle Befehle und Anordnungen , ungeachtet sie sich nie von ihrem Platze bewegte und man sie noch weniger je auf einer Straße gesehen hatte . Sie trug immer bloße Arme und hatte schneeweiße Hemdsärmel , auf eine künstliche Weise gefältelt , wie man es sonst nirgends mehr sah und es vielleicht vor hundert Jahren schon so getragen wurde . Es war die originellste Frau von der Welt , welche vor vier Jahrzehnten mit ihrem Manne blutarm und unwissend in die Stadt gezogen , um da ihr Brot zu suchen . Nachdem sie mit Tagelohn und saurer Arbeit eine Reihe von mühseligen Jahren durchgekämpft hatte , gelang es ihr , einen Trödelkram zu errichten , und erwarb sich mit der Zeit durch Glück und Gewandtheit in ihren Unternehmungen einen behaglichen Wohlstand , welchen sie auf die eigentümlichste Weise beherrschte . Sie konnte nur schwierig Gedrucktes lesen , hingegen weder schreiben noch in arabischen Zahlen rechnen , welche letzteren zu kennen ihr nie gelang ; sondern ihre ganze Rechenkunst bestand in einer römischen Eins , einer Fünf , einer Zehn und einer Hundert . Wie sie diese vier Ziffern in ihrer frühen Jugend , in einer entlegenen und vergessenen Landesgegend , überkommen hatte , überliefert durch einen jahrtausendalten Gebrauch , so handhabte sie dieselben mit einer merkwürdigen Gewandtheit . Sie führte kein Buch und besaß nichts Geschriebenes , war aber jeden Augenblick imstande , ihren ganzen Verkehr , der sich oft auf mehrere Tausende in lauter kleinen Posten belief , zu übersehen , indem sie mit großer Schnelligkeit das Tischblatt mittelst einer Kreide , deren sie immer einige Endchen in der Tasche führte , mit mächtigen Säulen jener vier Ziffern bedeckte . Hatte sie aus ihrem Gedächtnisse alle Summen solchergestalt aufgesetzt , so erreichte sie ihren Zweck einfach dadurch , daß sie mit dem nassen Finger eine Reihe um die andere ebenso flink wieder auslöschte , als sie dieselben aufgesetzt hatte , und dabei zählend die Resultate zur Seite aufzeichnete . So entstanden neue kleinere Zahlengruppen , deren Bedeutung und Benennung niemand kannte als sie , da es immer nur die gleichen vier nackten Ziffern waren und für andere aussahen wie eine altheidnische Zauberschrift . Dazu kam noch , daß es ihr nie gelingen wollte , mit Bleistift oder Feder oder auch nur mit einem Griffel auf einer Schiefertafel das gleiche Verfahren vorzunehmen , indem sie nicht nur räumlich einer ganzen Tischplatte bedurfte , sondern auch nur mittelst der weichen Kreide ihre markigen Zeichen zu bilden imstande war . Sie beklagte oft , daß sie sich gar nichts Fixiertes aufbewahren könne , war aber gerade dadurch zu ihrem außerordentlichen Gedächtnisse gelangt , aus welchem jene wimmelnden Zahlenmassen plötzlich gestalt- und lebenvoll erschienen , um ebenso rasch wieder zu verschwinden . Das Verhältnis zwischen Einnahme und Ausgabe machte ihr nicht viel zu schaffen ; sie bestritt alle häuslichen Bedürfnisse und sonstigen Ausgaben vorweg aus dem gleichen Seckel , welcher auch den Geschäftsverkehr begründete , und wenn eine überflüssige Summe Geldes beieinander war , so wechselte sie dieses sogleich in Gold um und verwahrte dasselbe in ihrer Schatztruhe , wo es für immer liegenblieb , wenn nicht ein Teil davon für eine besondere Unternehmung oder für ein ausnahmsweises Darlehen herausgenommen wurde , da sie sonst auf Zinsen kein Geld auslieh . Sie hatte besonders mit Landleuten von allen Seiten her Verkehr , welche sich ihre gerätschaftlichen Bedürfnisse bei ihr holten , und gab ihre Waren jedermann auf Borg , gewann oft viel dabei und verlor auch oft . So kam es , daß eine Menge von Leuten von ihr abhängig waren oder in einem verbindlichen oder feindlichen Verhältnisse zu ihr standen und daß sie beständig von Nachsichtsuchenden oder Bezahlenden umlagert war , welche ihr , zur Beherzigung oder als Dank , die mannigfaltigsten Gaben darbrachten , nicht anders als einem Landpfleger oder einer Äbtissin . Feld- und Baumfrüchte jeder Art , Milch , Honig , Trauben , Schinken und Würste wurden ihr in gewichtigen Körben zugetragen , und diese Vorräte bildeten die Grundlage zu einem stattlichen Wohlleben , welches alsobald begann , wenn das geräuschvolle Gewölbe geschlossen war und in der noch seltsameren Wohnstube das häusliche Abendleben zur Geltung kam . Dort hatte Frau Margret diejenigen Gegenstände zusammen gehäuft und als Zierat angebracht , welche ihr in ihrem Handel und Wandel am besten gefallen , und sie nahm keinen Anstand , etwas für sich aufzubewahren , wenn es ihr Interesse erweckte . An den Wänden hingen alte Heiligenbilder auf Goldgrund und in den Fenstern gemalte Scheiben , und allen diesen Dingen schrieb sie irgendeine merkwürdige Geschichte oder sogar geheime Kräfte zu , was ihr dieselben heilig und unveräußerlich machte , sosehr auch Kenner sich manchmal bemühten , die wirklich wertvollen Denkmäler ihrer Unwissenheit zu entreißen . In einer Truhe von Ebenholz bewahrte sie goldene Schaumünzen , seltene Talerstücke , Filigranarbeiten und andere köstliche Spielereien , für welche sie eine große Vorliebe trug und die sie nur wieder veräußerte , wenn ein besonderer Gewinn sich damit verband . Endlich war auf einem Wandgestelle eine beträchtliche Zahl unförmlicher alter Bücher aufgespeichert , welche sie mit großem Eifer zusammenzusuchen pflegte . Es waren verschiedene Bibeln , alte Kosmographien mit zahllosen Holzschnitten , fabelgespickte Reisebeschreibungen , vorzüglich kuriose Mythologien aus dem vorigen Jahrhundert mit großen zusammengefalteten Kupferstichen , welche vielfach zerknittert und zerrissen waren ; sie nannte diese naiv geschriebenen Werke schlechtweg Heiden- oder auch Götzenbücher . Ferner hielt sie eine reiche Sammlung solcher Volksschriften , welche Nachricht gaben von einem fünften Evangelisten , von den Jugendjahren Jesu , noch unbekannten Abenteuern desselben in der Wüste , von einer Auffindung seines wohlerhaltenen Leichnams nebst Dokumenten von der Erscheinung und den Bekenntnissen eines in der Hölle leidenden Freigeistes ; einige Chroniken , Kräuterbücher und Prophezeiungen vervollständigten diese Sammlung . Für Frau Margret hatte ohne Unterschied alles , was gedruckt war , wie die mündlichen Überlieferungen des Volkes , eine gewisse Wahrheit , und die ganze Welt in allen ihren Spiegelungen , das fernste sowohl wie ihr eigenes Leben waren ihr gleich wunderbar und bedeutungsvoll ; sie trug noch den ungebrochenen Aberglauben vergangener Zeiten an sich ohne Verfeinerung und Schliff Mit neugieriger Liebe erfaßte sie alles und nahm es als bare Münze , was ihrer wogenden Phantasie dargeboten wurde , und sie bekleidete es alsbald mit den sinnlich greifbaren Formen der Volkstümlichkeit , welche massiven metallenen Gefäßen gleichen , die trotz ihres hohen Alters durch den steten Gebrauch immer glänzend geblieben sind . Alle die Götter und Götzen der alten und jetzigen heidnischen Völker beschäftigten sie durch ihre Geschichte und ihr äußeres Aussehen in den Abbildungen , hauptsächlich auch daher , daß sie dieselben für wirkliche lebendige Wesen hielt , welche durch den wahren Gott bekämpft und ausgerottet würden ; das Spuken und Umgehen solcher halb überwundenen schlimmen Käuze war ihr ebenso schauerlich anziehend wie das grauenvolle Treiben eines Atheisten , unter welchem sie nichts anderes verstand und verstehen konnte als einen Menschen , welcher seiner Überzeugung von dem Dasein Gottes zum Trotz dasselbe hartnäckig und mutwillig leugne . Die großen Affen und Waldteufel der südlichen Zonen , von denen sie in ihren alten Reisebüchern las , die fabelhaften Meermänner und Meerweibchen waren nichts anderes als ganze gottlose , nun vertierte Völker oder solche einzelne Gottesleugner , welche in diesem jammervollen Zustande , halb reuevoll , halb trotzig , Zeugnis gaben von dem Zorne Gottes und sich zugleich allerlei mutwillige Neckereien mit den Menschen erlaubten . Wenn nun am Abend das Feuer prasselte , die Töpfe dampften , der Tisch mit den soliden volkstümlichen Leckereien bedeckt wurde und Frau Margret behaglich und ansehnlich auf ihrem zierlich eingelegten Stuhle saß , so begann sich nach und nach eine ganz andere Anhängerschaft und Gesellschaft einzufinden , als die den Tag über in dem Gewölbe zu sehen gewesen . Es waren dies arme Frauen und Männer , welche , teils durch den Duft des gastlichen Tisches , teils durch die belebte Unterhaltung von höheren Dingen angezogen , hier mannigfache Erholung von den Mühen des Tages suchten und fanden . Mit Ausnahme einiger weniger heuchlerischer Schmarotzer hatten sonst alle ein aufrichtiges Bedürfnis , sich durch Gespräche und Belehrungen über das , was ihnen nicht alltäglich war , zu erwärmen und besonders in betreff des Religiösen und Wunderbaren eine gewürztere Nahrung zu suchen , als die öffentlichen Kulturzustände ihnen darboten . Nichtbefriedigung des Gemütes , ungelöschter Durst nach Wahrheit und Erkenntnis , erlebte Schicksale , hervorgerufen durch die versuchte Befriedigung solcher unruhigen Triebe in der sinnlichen Welt , führten diese Leute hier zusammen und überdies noch in mancherlei seltsame Sekten hinein , von deren innerm Leben und Treiben sich Frau Margret fleißig Bericht erstatten ließ ; denn sie selbst war zu weltlich und bequem , als daß sie soweit gegangen wäre , dergleichen mitzumachen . Vielmehr tadelte sie mit scharfen Worten die Kopfhänger und wurde sarkastisch und bitter , wenn sie allzu mystischen Unrat merkte . Sie bedurfte das Wunderbare und Geheimnisvolle , aber in der Sinnenwelt , in Leben und Schicksal , in der äußern wechselvollen Erscheinung ; von innern Seelenwundern , bevorzugten Stimmungen , Auserwählten und dergleichen mochte sie nichts hören und kanzelte ihre Gäste tüchtig herunter , wenn sie mit solchen Dingen auftreten wollten . Außer daß Gott als der kunst- und sinnreiche Schöpfer all der wunderbaren Dinge und Vorkommnisse für sie existierte , war er ihr vorzüglich in einer Richtung noch merk- und preiswürdig : nämlich als der treue Beiständer der klugen und rührigen Leute , welche , mit nichts und weniger als nichts anfangend , ihr Glück in der Welt selbst machen und es zu etwas Ordentlichem bringen . Deshalb fand sie ihre größte Freude an jungen Leuten , welche sich aus einer dunklen dürftigen Abkunft heraus durch Talent , Fleiß , Sparsamkeit und Klugheit in eine gute Stellung gearbeitet hatten und wohl gar hohe Protektion genossen . Das Heranwachsen des Wohlstandes solcher Schützlinge war ihr wie eine eigene Sache angelegen , und wenn dieselben endlich dahin gediehen waren , einen bescheidenen Aufwand mit gutem Gewissen geltend zu machen , so fühlte sie selbst die größte Genugtuung , ihrerseits reichlich beizusteuern und sich des Glanzes mitzufreuen . Sie war von Grund aus wohltätig und gab immer mit offenen Händen , den Armen und arm Bleibenden im gewöhnlichen abgeteilten Maße , denjenigen aber , bei welchen Hab , und Gut anschlug , mit wahrer Verschwendung für ihre Verhältnisse . Es lag meistens ganz in der Natur solcher Emporkömmlinge , neben ihren anderweitigen größern Beziehungen auch die Gunst dieser seltsamen Frau sorglich zu pflegen , bis sie durch einen jüngern Nachwuchs endlich verdrängt wurden , und so fand man nicht selten diesen oder jenen feingekleideten und vornehm aussehenden Mann unter den armen Gläubigen , der durch sein gemessenes Betragen dieselben verschüchterte und unbehaglich machte . Auch nahmen sie wohl , wenn er abwesend war , Veranlassung , der Frau Weltsinn und Lust an irdischer Herrlichkeit vorzuwerfen , was dann jedesmal lebhafte Erörterungen und Streitreden hervorrief . Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerb und emsiger Tätigkeit mochte es auch kommen , daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen waren . Die Unermüdlichkeit und stetige Aufmerksamkeit dieser Menschen , welche öfter bei ihr verkehrten und ihre schweren Lasten abstellten , volle Geldbeutel aus unscheinbarer Hülle hervorzogen und ihr zum Aufbewahren anvertrauten , ohne irgend ein Wort oder eine Schrift zu wechseln , ihre billige Gutmütigkeit und neugierige Bescheidenheit neben der unberückbaren Pfiffigkeit im Handeln , ihre strengen Religionsgebräuche und biblische Abstammung , sogar ihre feindliche Stellung zum Christentum und die groben Vergehungen ihrer Voreltern machten diese vielgeplagten und verachteten Leute der guten Frau höchst interessant und gern gesehen , wenn sie sich bei den abendlichen Zusammenkünften vorfanden , am Herde der Frau Margret Kaffee kochten oder sich einen Fisch buken . Wenn die fromm christlichen Frauen ihnen schonend vorhielten , wie es noch nicht gar zu lange her sei , daß die Juden doch schlimme Käuze gewesen , Christenkinder geraubt und getötet und Brunnen vergiftet hätten , oder wenn Margret behauptete , der Ewige Jude Ahasverus hätte vor zwölf Jahren einmal im Schwarzen Bären übernachtet und sie hätte selbst zwei Stunden vor dem Hause gepaßt , um ihn abreisen zu sehen , jedoch vergeblich , da er schon vor Tagesanbruch weitergewandert sei , dann lächelten die Juden gar gutmütig und fein und ließen sich nicht aus ihrer guten Laune bringen . Da sie jedoch ebenfalls Gott fürchteten und eine scharf ausgeprägte Religion hatten , so gehörten sie noch eher in diesen Kreis , als man zwei weitere Personen darin vermutet hätte , welche allerdings irgend anderswo zu suchen waren als gerade hier ; und doch schienen sie eine Art unentbehrlichen Salzes für die wunderliche Mischung zu sein . Siebentes Kapitel Fortsetzung der Frau Margret Es waren dies zwei erklärte Atheisten . Der eine , ein schlichter , einsilbiger Schreinersmann , welcher schon manches Hundert Särge gefertigt und zugenagelt hatte , war ein braver Mann und versicherte dann und wann einmal mit dürren Worten , er glaube ebensowenig an ein ewiges Leben , als man von Gott etwas wissen könne . Im übrigen hörte man nie eine freche Rede oder ein Spottwort von ihm ; er rauchte gemütlich sein Pfeifchen und ließ es über sich ergehen , wenn die Weiber mit fließenden Bekehrungsreden über ihn herfuhren . Der andere war ein bejahrter Schneidersmann mit grauen Haaren und mutwilligem , unnützem Herzen , der schon mehr als einen schlimmen Streich verübt haben mochte . Während jener sich still und leidend verhielt und nur selten mit seinem dürren Glaubensbekenntnisse hervortrat , verfuhr dieser angriffsweise und machte sich ein Vergnügen daraus , die gläubigen Seelen durch derbe Zweifel und Verleugnungen , rohe Späße und Profanationen zu verletzen und zu erschrecken , als ein rechter Eulenspiegel das einfältige Wort zu verdrehen und mit dick aufgetragenem Humor in den armen Leuten eine sündhafte Lachlust zu reizen . Er besaß weder großen Verstand noch Pietät für irgend etwas , selbst für die Natur nicht , und schien einzig ein persönliches Bedürfnis zu haben , das Dasein Gottes zu leugnen oder wegzuwünschen , indessen der Schreiner sich bloß nicht viel daraus machte , hingegen auf seinen Wanderjahren die Welt aufmerksam betrachtet hatte , sich fortwährend noch unterrichtete und von allerlei merkwürdigen Dingen mit Liebe zu sprechen wußte , wenn er auftaute . Der Schneider fand nur Gefallen an Ränken und Schwänken und lärmenden Zänkereien mit den begeisterten Weibern ; auch sein Verhalten zu den Juden , gegenüber demjenigen des Sargmachers , war bezeichnend . Während dieser wohlwollend und freundlich mit ihnen verfuhr als mit seinesgleichen , neckte und quälte sie der Schneider , wo er nur konnte , und verfolgte sie mit echt christlichem Übermute mit allen trivialen Judenspäßen , die ihm zu Gebote standen , so daß die armen Teufel manchmal wirklich böse wurden und die Gesellschaft verließen . Frau Margret pflegte alsdann auch ungeduldig zu werden und verwies den Dämon aus dem Hause ; aber er fand sich bald wieder ein und wurde immer wieder gelitten , wenn er sein altes Wesen mit etwas Vorsicht und glatten Worten wieder begann . Es war , als wenn die viel redenden und disputierenden Genossen seiner als eines lebendigen Exempels des Atheismus bedurften , wie sie ihn verstanden ; denn dies war er am Ende auch , indem es sich nicht undeutlich erwies , daß er den Gedanken Gottes und der Unsterblichkeit mehr zu unterdrücken suchte , weil er ihn in einem kleinlichen und nutzlosen Treiben beschränkte und belästigte , und als er späterhin starb , tat er dies so verzagt und zerknirscht , heulend und zähneklappend und nach Gebet verlangend , daß die guten Leute einen glänzenden Triumph feierten , indessen der Schreiner ebenso ruhig und unangefochten seinen letzten Sarg hobelte , welchen er sich selbst bestimmte , wie einst seinen ersten . Dieser Art war die Versammlung , welche an vielen Abenden , zumal im Winter , bei Frau Margret zu treffen war , und ich weiß nicht , wie es kam , daß ich mich plötzlich am Tage oft in dem kurzweiligen Gewölbe mitten unter den Geschäftigen und am Abend zu den Füßen der Frau sitzen fand , welche mich in große Gunst genommen hatte . Ich zeichnete mich durch meine große Aufmerksamkeit aus , wenn die wunderbarsten Dinge von der Welt zur Sprache kamen . Die theologischen und moralischen Untersuchungen verstand ich freilich in den ersten Jahren noch nicht , obschon sie oft kindlich genug waren ; jedoch nahmen sie auch schon damals nicht zu viele Zeit in Anspruch , da sich die Gesellschaft immer bald genug auf das Gebiet der Begebenheiten und sinnlichen Erfahrungen und damit auf eine Art von naturphilosophischem Feld hinüberverfügte , wo ich ebenfalls zu Hause war . Man suchte vorzüglich die Erscheinungen der Geisterwelt sowie die Ahnungen , Träume usw. in lebendigen Zusammenhang zu bringen und drang mit neugierigem Sinne in die geheimnisvollen Lokalitäten des gestirnten Himmels , in die Tiefe des Meers und der feuerspeienden Berge , von denen man hörte , und alles wurde zuletzt auf die religiösen Meinungen zurückgeführt . Es wurden Bücher von Hellsehenden , Berichte über merkwürdige Reisen durch verschiedene Himmelskörper und andere ähnliche Aufschlüsse gelesen , nachdem sie der Frau Margret zur Anschaffung empfohlen worden , und alsdann darüber gesprochen und die Phantasie mit den kühnsten Gedanken angefüllt . Der eine oder andere fügte dann noch aufgeschnappte Berichte aus der Wissenschaft hinzu , wie er von dem Bedienten eines Sternguckers gehört hatte , daß man durch dessen Fernrohr lebendige Wesen im Monde und feurige Schiffe in der Sonne sehen könne . Frau Margret hatte immer die lebendigste Einbildungskraft , und bei ihr ging alles in Fleisch und Blut über . Sie pflegte mehrmals in der Nacht aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen , um nachzusehen , was in der stillen dunklen Welt vorging , und immer entdeckte sie einen verdächtigen Stern , der nicht wie gewöhnlich aussah , ein Meteor oder einen roten Schein , welch allem sie gleich einen Namen zu geben wußte . Alles war ihr von Bedeutung und belebt ; wenn die Sonne in ein Glas Wasser schien und durch dasselbe auf den hellpolierten Tisch , so waren die sieben spielenden Farben für sie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten , welche im Himmel selbst sein sollten . Sie sagte : » Seht ihr denn nicht die schönen Blumen und Kränze , die grünen Geländer und die roten Seidentücher ? diese goldenen Glöcklein und diese silbernen Brunnen ? « und sooft die Sonne in die Stube schien , machte sie das Experiment , um ein wenig in den Himmel zu sehen , wie sie meinte . Ihr Mann und der Schneider lachten sie dann aus , und der erste nannte sie eine phantastische Kuh . Jedoch auf einem festern Boden stand sie , wenn von Geistererscheinungen die Rede war , denn hier besaß sie unleugbare Erfahrungen die Menge , welche sie schon Schweiß genug gekostet hatten ; und fast alle andern wußten auch davon zu erzählen . Seit sie nicht mehr aus dem Hause kam , waren freilich ihre Erlebnisse auf ein häufiges Pochen und Rumoren in alten Wandschränken und etwa auf das Umherschleichen eines schwarzen Schafes in der nächtlichen Straße beschränkt , wenn sie um Mitternacht oder gegen Morgen ihre Inspektionen aus dem Fenster hielt . Auch geschah es wohl , daß sie ein kleines Männchen vor der Haustür entdeckte , welches , während sie mit scharfen kritischen Augen dasselbe beobachtete , plötzlich in die Höhe wuchs bis unter ihr Fenster , daß sie dasselbe kaum noch zuschlagen und sich ins Bett flüchten konnte . Hingegen in ihrer lugend war es lebhafter hergegangen , als sie , besonders noch auf dem Lande , bei Tag und Nacht durch Feld und Wald zu gehen hatte . Da waren kopflose Männer stundenweit ihr zur Seite gegangen und näher gerückt , je eifriger sie betete ; umgehende Bauern standen auf ihren ehemaligen Grundstücken und streckten flehend die Hand nach ihr aus ; Gehenkte rauschten von hohen Tannen hernieder mit schreckbarem Geheul und liefen ihr nach , um in den heilsamen Bereich einer guten Christin zu kommen , und sie schilderte mit ergreifenden Worten den peinlichen Zustand , in dem sie sich befand , wenn sie nicht unterlassen konnte , die unheimlichen Gesellen von der Seite anzuschielen , während sie doch wußte , daß dieses höchst schädlich sei . Einige Male war sie auch ganz aufgeschwollen auf der Seite , wo die Gespenster gelaufen waren , und mußte den Doktor herbeirufen . Ferner erzählte sie von den Zaubereien und bösen Künsten , welche zur Zeit ihrer Jugend , gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts , noch gang und gäbe waren unter den Bauern . Da waren in ihrer Heimat reiche gewaltige Bauernfamilien , welche alte Heidenbücher besaßen , mittelst deren sie den schlimmsten Unfug trieben . Daß sie mit offener Flamme Löcher durch Strohbunde brennen konnten , ohne diese zu zerstören , oder das Wasser bannen oder den Rauch aus den Schornsteinen in beliebiger Richtung aufsteigen und possierliche Figuren bilden zu lassen verstanden , gehörte nur zu den unschuldigen Scherzen . Aber greulich war es , wenn sie ihre Feinde langsam töteten , indem sie für dieselben drei Nägel in einen Weidenbaum schlugen unter den gehörigen Sprüchen ( Margrets Vater siechte lange Zeit infolge dieser freundschaftlichen Manipulation , bis sie entdeckt und er durch Kapuziner gerettet wurde ) , oder wenn sie den armen Leuten das Korn in der Ähre verbrannten , um sie nachher zu verhöhnen , wenn sie hungerten und Not litten . Man hatte zwar die Genugtuung , daß der Teufel den einen oder andern mit großem Aufwand abholte , wenn er reif war ; allein das geriet den gerechten Leuten selbst wieder zum Schrecken , und es war eben nicht angenehm , den blutigen Schnee und die gelassenen Haare auf dem Platze zu sehen , wie es der Erzählerin selbst begegnet war . Solche Bauern hatten Geld genug und maßen es bei Hochzeiten und Leichenfeiern einander in Scheffeln und Wannen zu . Die Hochzeiten waren dazumal noch sehr großartig . Sie hatte selbst noch eine solche gesehen , wo sämtliche Gäste , Männer und Weiber , beritten waren und nahe an hundert Pferde beisammen . Die Weiber trugen Kronen von Flitter gold und seidene Kleider mit drei bis vierfach umgewundenen Ketten von zusammengerollten Dukaten ; aber der Teufel ritt unsichtbar mit , und es ging nach dem Nachtessen nicht am ehrbarsten zu . Diese Bauern hatten während einer großen Hungersnot in den siebziger Jahren ihren Hauptspaß daran , mit zwölf Dreschern in weitgeöffneten Scheunen zu dreschen , dazu einen blinden Geiger aufspielen zu lassen , welcher auf einem großen Brote sitzen mußte , und nachher , wenn genug hungrige Bettler vor der Scheune versammelt waren , die grimmigen Hunde in den wehrlosen Haufen zu hetzen . Bemerkenswert war es , daß der Volksglaube diese reichen Dorftyrannen vielfach die verbauerten Nachkommen der alten Zwingherren sein ließ , unter welchen man alle ehemaligen Bewohner der vielen Burgen und Türme verstand , die im Lande zerstreut waren . Ein anderes ergiebiges Feld für abenteuerliche Kunden war der Katholizismus mit seinen hinterlassenen leeren Klosterräumen und den noch lebendigen Klöstern , welche etwa in der katholisch gebliebenen Nachbarschaft sich befanden . Dazu trugen die Ordensgeistlichen der letztern vieles bei , besonders die Kapuziner , welche sich heute noch mit den Scharfrichtern freundschaftlich in die Arbeit teilen , bei den abergläubischen reformierten Bauern Teufelsbannerei und Sympathiekünste zu treiben . In einigen abgelegenen Landesgegenden herrschte damals ein bewußtloser verkommener Protestantismus ; die Landleute standen nicht etwa über den katholischen , als hinwegsehend über verdummte Menschen , sondern sie glaubten alle Märchen derselben getreulich mit , nur hielten sie den Inhalt für übel und verwerflich , und sie lachten nicht über den Katholizismus , sondern sie fürchteten sich vor demselben als vor einer unheimlichen heidnischen Sache . Ebensowenig als es ihnen möglich war , sich unter einem Freigeiste einen Menschen vorzustellen , welcher wirklich in seinem Innern nichts glaube , sowenig waren sie imstande , von jemandem anzunehmen , daß er zu vieles glaube ; ihr Maß bestand einzig darin , sich nur zu denjenigen geglaubten Dingen zu bekennen , welche vom Guten und nicht vom Bösen seien . Der Mann der Frau Margret , Vater Jakoblein genannt , von ihr schlechthin Vater , war funfzehn Jahre älter als sie und näherte sich den Achtzigen . Er besaß eine fast ebenso lebhafte Einbildungskraft wie seine Frau , dabei reichten seine Erinnerungen noch tiefer in die Sagenwelt der Vergangenheit zurück ; doch faßte er alles von einer spaßhaften Seite auf , da er von jeher ein spaßhaftes und ziemlich unnützes Männlein gewesen war , und so wußte er ebensoviel lächerlichen Spuk und verdrehte Menschengeschichten zu erzählen als seine Frau ernsthafte und schreckliche . In seine frühste Jugend waren noch die letzten Hexenprozesse gefallen , und er beschrieb mit Humor aus der mündlichen Überlieferung geschöpfte Hexensabbate und Bankette ganz genauso , wie man sie noch in den aktenmäßigen Geschichten jener Prozesse , in den weitläufigen Anklagen und erzwungenen Geständnissen liest . Dieses Gebiet sagte ihm besonders zu , und er versicherte feierlich von einigen seltsamen Personen , daß sie sehr wohl auf dem Besenstiele zu reiten verständen , versprach auch von einem Tage zum andern , solange er lebte , von einem Hexenmeister seiner Bekanntschaft die Salbe herbeizuschaffen , mit welcher die Besen bestrichen würden , um darauf aus dem Schornsteine fahren zu können . Dieses gedieh mir immer zum größten Jubel , besonders wenn er mir die projektierte Fahrt bei schönem Wetter , wo ich dann vorn auf dem Stiele sitzen sollte , von ihm festgehalten , mit lustigen Aussichten ausmalte . Er nannte mir manchen schönen Kirschbaum auf einer Höhe oder einen trefflichen Pflaumenbaum aus seiner Bekanntschaft , bei welchem haltgemacht und genascht , oder einen delikaten Erdbeerschlag in diesem oder jenem Walde , wo tapfer geschmaust werden solle , indessen der Besen an eine Tanne gebunden würde . Auch benachbarte Jahrmärkte wollten wir besuchen und in die verschiedenen Schaubuden , ohne Eintrittsgeld , durch das Dach eindringen Bei einem befreundeten Pfarrherrn auf einem Dorfe müßten wir freilich , wenn wir anders von seinen berühmten Würsten etwas zu beißen bekommen wollten , den Besen im Holze verstecken und vorgeben , wir seien zu Fuß gekommen , um bei dem herrlichen Wetter den Herrn Pfarrer ein bißchen heimzusuchen ; hingegen bei einer reichen Hexenwirtin in einem andern Dorfe müßten wir keck zum Schornstein hineinfahren , damit sie , in der törichten Meinung , ein Paar angehender hoffnungsvoller Hexer bei sich zu sehen , uns mit ihren vortrefflichen Pfannkuchen mit Speck und mit frischem Honig ohne Rückhalt bewirte . Daß unterwegs auf hohen Bäumen und Felsen Einsicht in die seltensten Vogelnester genommen und das Tauglichste von jungen Vögeln ausgesucht würde , verstand sich von selbst . Wie alles ohne Schaden zu unternehmen sei , dafür hatte er bereits eine Auskunft und kannte die Formel , mit welcher der Teufel , nach beendigtem Vergnügen , um seinen Teil gebracht würde . Auch in dem Gespensterwesen war er sehr erfahren ; doch auch hier verdrehte sich ihm alles zum Lustigen . Die Angst , welche er bei seinen Abenteuern empfunden , war immer eine höchst komische und endete öfter mit einem pfiffigen Streiche , welchen er den Quälgeistern gespielt haben wollte . Auf diese Weise ergänzte er trefflich das phantastische Wesen seiner Frau , und ich hatte so die Gelegenheit , unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen , was man sonst den Kindern der Gebildeten in eigenen Märchenbüchern zurechtmacht . Wenn der Stoff auch nicht so unverfänglich war wie in diesen und nicht für eine so unschuldige kindliche Moral berechnet , so enthielt er nichtsdestoweniger immer eine menschliche Wahrheit und machte , besonders da in dem vielfältigen Sammelkrame der Frau Margret eine reiche Fundgrube die sinnliche Anschauung vervollständigte , meine Einbildungskraft freilich etwas frühreif und für starke Eindrücke empfänglich , etwa wie die Kinder des Volkes früh an die kräftigen Getränke der Erwachsenen gewöhnt werden . Denn was ich hörte , beschränkte sich nicht allein auf diese übersinnliche Fabelwelt ; sondern die Leute besprachen auch auf die leidenschaftlichste Weise ihre eigenen und fremde Schicksale , und hauptsächlich das lange Leben der Frau Margret und ihres Mannes war reich an ernsten und heitern Geschichten , an Beispielen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit , der Gefahr , Not , Verwicklung und Befreiung ; Hunger , Krieg und Aufruhr hatten sie gesehen ; jedoch ihr eigenes Verhältnis zueinander war so sonderbar von Leidenschaften bewegt , und es traten so ursprünglich dämonische Gewalten der Menschennatur darin zutage , daß ich mit kindlich erstauntem Auge in die wilde Flamme sah und schon tiefe Eindrücke empfing . Während nämlich die Frau Margret die bewegende und erhaltende Kraft in ihrem Haushalte war , den Grund zum jetzigen Wohlstand gelegt hatte und jederzeit das Heft in den Händen hielt , war ihr Mann einer von denjenigen , welche nichts Eigenes gelernt haben noch tun können und daher darauf angewiesen sind , mehr den Handlanger einer tatkräftigen Frau zu machen und auf eine müßige Weise unter dem Schilde ihres Regimentes ein ruhmloses Dasein zu führen . Als die Frau , besonders in frühern Jahren , durch kecke Benutzung der Zeitläufe und originelle Handstreiche in wörtlichem Sinne Gold zusammenhäufte , spielte er nur die Rolle eines dienstbaren Hauskoboldes , welcher , wenn er seine Handleistungen getan hatte , mit dem , was ihm die Frau gab , sich gütlich tat und dazu allerhand Späße trieb , welche männiglich ergötzten . Sein unmännlicher Mangel an Rat und Zuverlässigkeit , die Erfahrung , daß sie in kritischen Fällen nie einen kräftigen Schutz in ihm fand , ließen Frau Margret auch seine sonstigen Leistungen übersehen und erklärten die unbefangene Art , mit welcher sie ihn ohne weiteres von der Mitherrschaft über die Geldtruhe ausschloß . Es hatte auch lange Zeit keines von beiden ein Arges dabei , bis einige Ohrenbläser , worunter auch jener ränkesüchtige Schneider , dem Manne das Demütigende seiner Lage vorhielten und ihn aufhetzten , endlich eine Teilung des Erworbenen und vollständige Mitherrschaft zu verlangen . Sogleich schwoll ihm der Kamm gewaltig , und er drohte , die schlimmen Ratgeber hinter sich , der bestürzten Frau mit den Gerichten , wenn sie nicht seinen Anteil an dem » gemeinschaftlich erworbenen « Gute herausgäbe . Sie fühlte wohl , daß es mehr um einen gewaltsamen Raub als um ein ehrliches Rechthalten zu tun sei , und sträubte sich mit aller Kraft dagegen , zumal sie wußte , daß sie nach wie vor die einzig erhaltende Kraft im Hause sein würde . Sie hatte aber die Gesetze gegen sich , da diese nicht auf eine Ausscheidung der beitragenden Kräfte eingehen konnten , und zudem gab der Mann vor , sich allerlei mutwilliger Anklagen bedienend , sich nach geschehener Teilung von ihr trennen zu wollen , so daß sie betäubt und beschwatzt wurde und , krank und halb bewußtlos , die Hälfte von allem Besitze herausgab . Er nähete sogleich seine schimmernden Goldstücke , je nach der Art , in lange , wurstartige Beutel , legte dieselben in einen Koffer , den er am Boden festnagelte , setzte sich darauf und schlug seinen Helfershelfern , welche auch ihren Anteil zu erschnappen gehofft hatten , ein Schnippchen . Im übrigen blieb er bei seiner Frau und lebte nach wie vor bei und von ihr , indem er nur dann zu seinem Schatze griff , wenn er eine Privatliebhaberei befriedigen wollte . Sie erholte sich indessen wieder und hatte nach einiger Zeit ihren eigenen Schatz wieder vervollständigt und mit den Jahren verdoppelt ; aber ihr einziger Gedanke war seit jenem Tage der Teilung , mit der Zeit wieder in den Besitz des Entrissenen zu gelangen , und das war nur möglich durch den Tod ihres Mannes . Daher ging ihr jedesmal ein Stich durch das Herz , wenn er ein Goldstück umwechselte , und sie harrte unverwandt auf seinen Tod . Er hingegen wartete ebenso sehnlich auf den ihrigen , um Herr und Meister des ganzen Vermögens zu werden und in voller Unabhängigkeit den Rest seines langen Lebens zuzubringen . Dieses grauenhafte Verhältnis hätte man freilich auf den ersten Blick nicht geahnt ; denn sie lebten zusammen wie zwei gute alte Leutchen und nannten sich nur Vater und Mutter . Insbesondere blieb die Margret in allem einzelnen auch gegen ihn die gute und freigebige Frau , die sie sonst war , und sie hätte vielleicht ohne den vierzigjährigen Lebensgenossen und sein spaßhaftes Umhertreiben nicht einen Tag leben können ; auch ihm war es mittlerweile wohl genug , und er besorgte mit humoristischer Geschäftigkeit die Küche , während sie im Kreise ihrer schwärmerischen Genossen die überfüllte Phantasie entzügelte . Doch in jeder Jahreszeit einmal , wenn in der Natur die großen Veränderungen geschahen und die alten Menschen an die schnelle Vergänglichkeit ihres Lebens erinnerten und ihre körperlichen Gebrechen fühlbarer wurden , erwachte , meistens in dunklen schlaflosen Nächten , ein entsetzlicher Streit zwischen ihnen , daß sie aufrecht in ihrem breiten altertümlichen Bette saßen , unter dem einen buntbemalten Himmel , und bis zum Morgengrauen , bei geöffneten Fenstern , sich die tödlichen Beleidigungen und Zankworte zuschleuderten , daß die stillen Gassen davon widerhallten . Sie warfen sich die Vergehungen einer fern abliegenden , sinnlich durchlebten Jugend vor und riefen Dinge durch die lautlose Nacht aus , welche lange vor der Wende dieses Jahrhunderts in Bergen und Gefilden geschehen , wo seitdem ganze dichte Wälder entweder gewachsen oder verschwunden , und deren Teilnehmer längst in ihren Gräbern vermodert waren . Dann stellten sie sich darüber zur Rede , welchen Grund das eine denn zu haben glaube , das andere überleben zu können , und verfielen in einen elenden Wettstreit , wer von ihnen wohl noch die Genugtuung haben werde , den andern tot vor sich zu sehen . Wenn man am Tage darauf in ihr Haus kam , so wurde der greuliche Streit vor jedem Eintretenden , ob fremd oder bekannt , fortgeführt , bis die Frau erschöpft war und in Weinen und Beten verfiel , indes der Mann anscheinend munterer wurde , lustige Weisen pfiff , sich einen Pfannkuchen buk und fortwährend irgendeine Flause dazu hermurmelte . Er konnte auf diese Weise einen ganzen Morgen hindurch nichts sagen als immer : » Einundfunfzig ! einundfunfzig ! einundfunfzig ! « oder zur Abwechslung einmal : » Ich weiß nicht , ich glaube immer , die alte Kunzin da drüben ist heute früh spazierengeritten ! sie hat gestern einen neuen Besen gekauft ! ich habe so was in der Luft flattern sehen , das sah ungefähr aus wie ihr roter Unterrock ; sonderbar ! hm ! einundfunfzig « usf . Dabei hatte er Gift und Tod im Herzen und wußte , daß seine Frau durch das Betragen doppelt litt ; denn sie hatte keine Bosheit noch Mutwillen , um den Kampf auf diese Weise fortzusetzen . Was aber beide in diesem Zustande sich zuleide taten , bestand dann gewöhnlich in einer verschwenderischen Freigebigkeit , womit sie alles beschenkten , was ihnen zu nahe kam , gleichsam als wollte eines vor des andern Augen den Besitz aufzehren , nach dem ein jedes trachtete . Der Mann war gerade kein gottloser Mensch , sondern ließ , indem er in der gleichen wunderlichen Art wie an Gespenster und Hexen , so auch an Gott und seinen Himmel glaubte , denselben einen guten Mann sein und dachte nicht im mindesten daran , sich auch um die moralischen Lehren zu bekümmern , welche aus diesem Glauben entspringen sollten er aß und trank , lachte und fluchte und machte seine Schnurren , ohne je zu trachten , sein Leben mit einem ernstern Grundsatze in Einklang zu bringen . Aber auch der Frau fiel es niemals ein , daß ihre Leidenschaften mit dem religiösen Gebaren im Widerspruche sein könnten , und sie zeichnete sich vor ihren schmausenden Adeptinnen darin aus , daß sie niemals dem Ausdrucke dessen , was sie bewegte , einen Zügel anlegte . Sie liebte und hafte , segnete und verwünschte und gab sich unverhüllt und ungehemmt allen Regungen ihres Gemütes hin , ohne je an eine eigene mögliche Schuld zu denken und sich unbefangenerweise stets auf Gott und seinen mächtigen Einfluß berufend . Jede der Ehehälften hatte eine zahlreiche Verwandtschaft blutarmer Leute , welche im Lande zerstreut wohnten . Diese teilten unter sich die Hoffnung auf das gewichtige Erbe um so mehr , als Frau Margret , zufolge ihrer hartnäckigen Abneigung gegen unverbesserlich arm Bleibende , ihnen nur spärliche Gaben von ihrem Überflusse zukommen ließ und sie nur an Feiertagen gastlich speiste und tränkte . Alsdann erschienen von beiden Seiten her die alten Vettern und Basen , Schwestern und Schwäger mit ausgehungerten langnasigen Töchtern und bleichen Söhnen und trugen Säcklein und Körbe herbei , welche die kümmerlichen Gaben ihrer Armut enthielten , um die alten launenhaften Leute für sich zu gewinnen , und worin sie reichere Gegenspenden nach Hause zu tragen hofften . Diese Sippschaft war schroff in zwei Lager geschieden , die sich in dem Streite , der zwischen den Hauptpersonen herrschte , ebenfalls den Hoffnungen auf den frühern Tod des Gegners hingaben , um einst ein vergrößertes Erbe zu erhalten . Sie haßten und befeindeten sich ebenso stark untereinander , als die Leidenschaften Margrets und ihres Mannes das Vorbild dazu abgaben , und es entstand jedesmal , nachdem die zahlreiche Gesellschaft sich an dem ungewohnten Überflusse gesättigt und gewärmt hatte und der Übermut den anfänglichen Zwang auflöste , ein mächtiger Zank zwischen beiden Parteien , daß sich die Männer die übriggebliebenen Schinken , ehe sie dieselben in ihre Reisesäcke steckten , um die Köpfe schlugen und die armen Weiber sich gegenseitig unter die blassen spitzigen Nasen schimpften und über dem befriedigten Magen ein Herz voll Neid und Ärger auf den Heimweg trugen . Ihre Augen funkelten stechend unter den dürftig aufgeputzten Sonntagshauben hervor , wenn sie mit langen Schritten , die vollgepfropften Bündel unter dem Arme , aus dem Tore zogen und sich grollend auf den Scheidewegen trennten , um den entlegenen Hütten zuzueilen . Solcherweise ging es viele Jahre , bis die alte Frau Margret mit dem Sterben den Anfang machte und in jenes fabelhafte Reich der Geister und Gespenster selber hinüberging . Sie hinterließ unerwarteterweise ein Testament , welches einen einzelnen jungen Mann zum alleinigen Erben einsetzte ; es war der letzte und jüngste jener Günstlinge , an deren Gewandtheit und Wohlergehen sie ihre Freude gehabt hatte , und sie war mit der Überzeugung gestorben , daß ihr gutes Gold nicht in ungeweihte Hände übergehe , sondern die Kraft und die Lust tüchtiger Leute sein werde . Bei ihrem Leichenbegängnisse fanden sich sämtliche Verwandte beider Ehegatten ein , und es war ein großes Geheul und Gelärm , als sie sich also getäuscht fanden . Sie vereinigten sich in ihrem Zorne alle gegen den glücklichen Erben , welcher ganz ruhig seine Habe einpackte , was irgend von Nutzen war , und auf einen großen Wagen lud . Er überließ den armen Leuten nichts als die vorhandenen Vorräte an Lebensmitteln und die gesammelten Seltsamkeiten und Bücher der Seligen , insofern sie nicht von Gold , Silber oder sonstigem Gehalte waren . Drei Tage und drei Nächte blieb der wehklagende Schwarm in dem Trauerhause , bis der letzte Knochen zerschlagen und dessen Mark mit dem letzten Bissen Brot aufgetunkt war . Sodann zerstreuten sie sich allmählich , ein jeder mit dem Andenken , das er noch erbeutet hatte . Der eine trug einen Pack Heiden- und Götzenbücher auf der Schulter , mit einem tüchtigen Stricke zusammengebunden und mit einem Scheite geknebelt , und unter dem Arme ein Säcklein getrockneter Pflaumen ; der andere hing ein Muttergottesbild an seinem Stabe über den Rücken und wiegte auf dem Kopfe eine kunstreich geschnitzte Lade , sehr geschickt mit Kartoffeln angefüllt in allen ihren Fächern . Hagere lange Jungfrauen trugen zierliche altmodische Weidenkörbe und buntbemalte Schachteln , angefüllt mit künstlichen Blumen und vergilbtem Flitterkram ; Kinder schleppten wächserne Engel in den Armen oder trugen chinesische Krüge in den Händen ; es war , als sehe man eine Schar Bilderstürmer aus einer geplünderten Kirche kommen . Doch gedachte ein jeder seine Beute als ein wertes Angedenken an die Verstorbene aufzubewahren , sich schließlich an das genossene Gute erinnernd , und zog mit Wehmut seine Straße , indessen der Haupterbe , neben seinem Wagen einherschreitend , plötzlich haltmachte , sich besann , darauf die ganze Ladung einem Trödler verkaufte und auch nicht einen Nagel aufbewahrte . Dann ging er zu einem Goldschmied und verkaufte demselben die Schaumünzen , Kelche und Ketten und zog endlich mit rüstigen Schritten aus dem Tore , ohne sich umzusehen , mit seiner dicken Geldkatze und seinem Stabe . Er schien froh zu sein , eine verdrießliche und langwierige Angelegenheit erledigt zu sehen . In dem Hause aber blieb der alte Mann allein und einsam zurück mit dem zusammengeschmolzenen Reste jener früheren Teilung . Er lebte noch drei Jahre und starb gerade an dem Tage , wo das letzte Goldstück gewechselt werden mußte . Bis dahin vertrieb er sich die Zeit damit , daß er sich vornahm und ausmalte , wie er im Jenseits seine Frau haranguieren wolle , wenn sie da » mit ihren verrückten Ideen herumschlampe « , und welche Streiche er ihr angesichts der Apostel und Propheten spielen würde , daß die alten Gesellen was zu lachen bekämen . Auch an manchen Toten seiner Bekanntschaft erinnerte er sich und freute sich auf die Wiederbelebung verjährten Unfuges beim Wiedersehen . Ich hörte ihn immer nur in solch lustiger Art vom zukünftigen Leben sprechen . Er war nun blind und bald neunzig Jahre alt , und wenn er , von Schmerzen , Trübsal und Schwäche heimgesucht , traurig und klagend wurde , so sprach er nichts von diesen Dingen , sondern rief immer , man sollte die Menschen totschlagen , ehe sie so alt und elend würden . Endlich ging er aus wie ein Licht , dessen letzter Tropfen Öl aufgezehrt ist , schon vergessen von der Welt , und ich , als ein herangewachsener Mensch , war vielleicht der einzige Bekannte früherer Tage , welcher dem zusammengefallenen Restchen Asche zu Grabe folgte . Achtes Kapitel Kinderverbrechen Gleich dem Chorus in den Schauspielen der Alten hatte ich von meiner frühsten Jugend an das Leben und die Ereignisse in diesem nachbarlichen Hause betrachtet und war ein allezeit aufmerksamer Teilnehmer . Ich ging ab und zu , setzte mich in eine Ecke oder stand mitten unter den Handelnden und Lärmenden , wenn etwas vorfiel . Ich holte die Bücher hervor und verlangte , wessen ich von den Sehenswürdigkeiten bedurfte , oder spielte mit den Schmucksachen der Frau Margret . Alle die mannigfaltigen Personen , welche in das Haus kamen , kannten mich , und jeder war freundlich gegen mich , weil dieses meiner Beschützerin so behagte . Ich aber machte nicht viele Worte , sondern gab acht , daß nichts von den geschehenden Dingen meinen Augen und Ohren entging . Mit all diesen Eindrücken beladen , zog ich dann über die Gasse wieder nach Hause und spann in der Stille unserer Stube den Stoff zu grollen träumerischen Geweben aus , wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab . Sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben , daß ich sie kaum von demselben unterscheiden konnte . Daraus nur mag ich mir unter anderm eine Geschichte erklären , welche ich ungefähr in meinem siebenten Jahre anrichtete und die ich sonst gar nicht begreifen könnte . Ich saß einst hinter dem Tische , mit irgendeinem Spielzeuge beschäftigt , und sprach dazu einige unanständige , höchst rohe Worte vor mich hin , deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehört haben mochte . Eine Frau saß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr , als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam darauf machte . Sie fragten mich mit ernster Miene , wer mich diese Sachen gelehrt hätte , insbesondere die fremde Frau drang in mich , worüber ich mich verwunderte , einen Augenblick nachsinnend , und dann den Namen eines Knaben nannte , den ich in der Schule zu sehen pflegte . Sogleich fügte ich noch zwei oder drei andere hinzu , sämtlich Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren , mit denen ich kaum noch ein Wort gesprochen hatte . Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner Verwunderung nach der Schule zurück sowie jene vier angegebenen Knaben , welche mir wie halbe Männer vorkamen , da sie an Alter und Größe mir weit vorgeschritten waren . Ein geistlicher Herr erschien , welcher gewöhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand , setzte sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hieß mich neben ihn sitzen . Die Knaben hingegen mußten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen und harrten der Dinge , die da kommen sollten . Sie wurden nun mit feierlicher Stimme gefragt , ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart ausgesprochen hätten ; sie wußten nichts zu antworten und waren ganz erstaunt . Hierauf sagte der Geistliche zu mir : » Wo hast du die bewußten Dinge gehört von diesen Buben ? « Ich , war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit trockener Bestimmtheit : » Im Brüderleinsholze ! « Dieses ist ein Gehölz , eine Stunde von der Stadt entfernt , wo ich in meinem Leben nie gewesen war , das ich aber oft nennen hörte . » Wie ist es dabei zugegangen , wie seid ihr dahin gekommen ? « fragte man weiter . Ich erzählte , wie mich die Knaben eines Tages zu einem Spaziergange überredet und in den Wald hinaus mitgenommen hätten , und ich beschrieb einläßlich die Art , wie etwa größere Knaben einen kleinern zu einem mutwilligen Streifzuge mitnehmen . Die Angeklagten gerieten außer sich und beteuerten mit Tränen , daß sie teils seit langer Zeit , teils gar nie in jenem Gehölze gewesen seien , am wenigsten mit mir ! Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich wie auf eine böse Schlange und wollten mich mit Vorwürfen und Fragen bestürmen , wurden aber zur Ruhe gewiesen und ich aufgefordert , den Weg anzugeben , welchen wir gegangen . Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen , und angefeuert durch den Widerspruch und das Leugnen eines Märchens , an welches ich nun selbst glaubte , da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand der gegenwärtigen Szene erklären konnte , gab ich nun Weg und Stege an , die an den Ort führen . Ich kannte dieselben nur vom flüchtigen Hörensagen , und obgleich ich kaum darauf gemerkt hatte , stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein . Ferner erzählte ich , wie wir unterwegs Nüsse heruntergeschlagen , Feuer gemacht und gestohlene Kartoffeln gebraten , auch einen Bauernjungen jämmerlich durchgebleut hätten , welcher uns hindern wollte . Im Walde angekommen , kletterten meine Gefährten auf hohe Tannen und jauchzten in der Höhe , den Geistlichen und den Lehrer mit Spitznamen benennend . Diese Spitznamen hatte ich , über das Äußere der beiden Männer nachsinnend , längst im eigenen Herzen ausgeheckt , aber nie verlautbart ; bei dieser Gelegenheit brachte ich sie zugleich an den Mann , und der Zorn der Herren war ebenso groß als das Erstaunen der vorgeschobenen Knaben . Nachdem sie wieder von den Bäumen heruntergekommen , schnitten sie große Ruten und forderten mich auf , auch auf ein Bäumchen zu klettern und oben die Spottnamen auszurufen . Als ich mich weigerte , banden sie mich an einen Baum fest und schlugen mich so lange mit den Ruten , bis ich alles aussprach , was sie verlangten , auch jene unanständigen Worte . In dessen ich rief , schlichen sie sich hinter meinem Rücken davon , ein Bauer kam in demselben Augenblicke heran , hörte meine unsittlichen Reden und packte mich bei den Ohren . » Wart , ihr bösen Buben ! « rief er , » diesen hab ich ! « und hieb mir einige Streiche . Dann ging er ebenfalls weg und ließ mich stehen , während es schon dunkelte . Mit vieler Mühe riß ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunklen Wald . Allein ich verirrte mich , fiel in einen tiefen Bach , in welchem ich bis zum Ausgange des Waldes teils schwamm , teils watete , und so , nach Bestehung mancher Gefährde , den rechten Weg fand . Doch wurde ich noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen , bekämpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaunpfahl und schlug ihn in die Flucht . Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt wie bei dieser Erzählung . Es kam niemand in den Sinn , etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen , ob ich eines Tages durchnäßt und nächtlich nach Hause gekommen sei ? Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhang , daß der eine und andere der Knaben nachgewiesenermaßen die Schule geschwänzt hatte , gerade um die Zeit , welche ich angab . Man glaubte meiner großen Jugend sowohl wie meiner Erzählung ; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schweigens . Die Angeklagten wurden unschuldig verurteilt als verwilderte bösartige junge Leute , da ihr hartnäckiges und einstimmiges Leugnen und ihre gerechte Entrüstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten ; sie erhielten die härtesten Schulstrafen , wurden auf die Schandbank gesetzt und überdies noch von ihren Eltern geprügelt und eingesperrt . Soviel ich mich dunkel erinnere , war mir das angerichtete Unheil nicht nur gleichgültig , sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir , daß die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete , daß etwas Auffallendes geschah , gehandelt und gelitten wurde , und das infolge meines schöpferischen Wortes . Ich begriff gar nicht , wie die mißhandelten Jungen so lamentieren und erbost sein konnten gegen mich , da der treffliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran sowenig etwas ändern konnte als die alten Götter am Fatum . Die Betroffenen waren sämtlich , was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen könnte , ruhige , gesetzte Knaben , welche bisher keinen Anlaß zu scharfem Tadel gegeben und aus denen seither stille und arbeitsame junge Bürger geworden . Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene Unrecht , und als sie es jahrelang nachher mir vorhielten , erinnerte ich mich ganz genau wieder an die vergessene Geschichte , und fast jedes Wort ward wieder lebendig . Erst jetzt quälte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wut , und sooft ich daran dachte , stieg mir das Blut zu Kopfe , und ich hätte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtgläubigen Inquisitoren schieben , ja sogar die plauderhafte Frau anklagen mögen , welche auf die verpönten Worte gemerkt und nicht geruht hatte , bis ein bestimmter Ursprung derselben nachgewiesen war . Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lachten , als sie sahen , wie mich die Sache nachträglich beunruhigte , und sie freuten sich , daß ich zu ihrer Genugtuung mich alles einzelnen so wohl erinnerte . Nur der vierte , der viele Mühe mit dem Leben hatte , konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem spätern Alter und trug mir die angetane Unbilde so nach , als ob ich sie erst heute , mit dem Verstande eines Erwachsenen , begangen hätte . Mit dem tiefsten Hasse ging er an mir vorüber , und wenn er mir beleidigende Blicke zuwarf , so vermochte ich sie nicht zu erwidern , weil das frühe Unrecht auf mir ruhte und keiner es vergessen konnte . Neuntes Kapitel Schuldämmerung Ich hatte mich nunmehr in der Schule zurechtgefunden und befand mich wohl in derselben , da das erste Lernen rasch , aufeinanderfolgte und täglich fortschritt . Auch die Einrichtung der Schule hatte viel Kurzweiliges ; ich ging gern und eifrig hinein , sie bildete mein öffentliches Leben und war mir ungefähr , was den Alten die Gerichtsstätte und das Theater . Es war keine öffentliche Anstalt , sondern das Werk eines gemeinnützigen Vereins und dazu bestimmt , bei dem damaligen Mangel guter unterer Volksschulen , den Kindern dürftiger Leute eine bessere Erziehung zu verschaffen , und sie hieß daher Armenschule . Die Pestalozzi-Lancastersche Unterrichtsweise wurde angewendet , und zwar mit einem Eifer und einer Hingebung , welche gewöhnlich nur Eigenschaften von leidenschaftlichen Privatschulmännern zu sein pflegen . Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten für die Einrichtung und für die Ergebnisse dieser Anstalt , die er zuweilen besuchte und in Augenschein nahm , geschwärmt und oft den Entschluß ausgesprochen , meine ersten Schuljahre im derselben verfließen zu lassen , schon darin eine Erziehungsmaßregel suchend , daß ich mit den ärmsten Kindern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zubrächte und aller Kastengeist und Hochmut so im Keime erstickt würden . Diese Absicht war für meine Mutter ein heiliges Vermächtnis und erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule für mich . In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet , zur Hälfte Knaben , zur Hälfte Mädchen , vom fünften bis zum zwölften Jahre . Sechs lange Schulbänke standen in der Mitte , von dem einen Geschlechte besetzt ; jede bildete eine Altersklasse , und davor stand ein vorgeschrittener Schüler von elf bis zwölf Jahren und unterrichtete die ganze Bank , welche ihm anvertraut war , indessen das andere Geschlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum stand , die längs den Wänden angebracht waren . Inmitten jedes Kreises saß auf einem Stühlchen ebenfalls ein unterrichtender Schüler oder eine Schülerin . Der Hauptlehrer thronte auf einem erhöhten Katheder und übersah das Ganze , zwei Gehilfen standen ihm bei , machten die Runde durch den ziemlich düstern Saal , hier und dort einschreitend , nachhelfend und die gelehrtesten Dinge selbst beibringend . Jede halbe Stunde wurde mit dem Gegenstande gewechselt ; der Oberlehrer gab ein Zeichen mit einer Klingel , und nun wurde ein treffliches Manöver ausgeführt , mittelst dessen die hundert Kinder in vorgeschriebener Bewegung und Haltung , immer nach der Klingel , aufstanden , sich kehrten , schwenkten und durch einen wohlberechneten Marsch in einer Minute die Stellung wechselten , so daß die früher funfzig Sitzenden nun zu stehen kamen und umgekehrt . Es war immer eine unendlich glückliche Minute , wenn wir , die Hände reglementarisch auf dem Rücken verschränkt , die Knaben bei den Mädchen vorbeimarschierten und unsern soldatischen Schritt gegen ihr Gänsegetrippel hervorzuheben suchten . Ich weiß nicht , war es eine artige herkömmliche Nachlässigkeit oder gar eine Absicht , daß es erlaubt war , Blumen mitzubringen und während des Unterrichts in den Händen zu halten , wenigstens habe ich diese hübsche Lizenz in keiner andern Schule mehr gefunden ; aber es war immer gut anzusehen während des lustigen Marsches , wie fast jedes Mädchen eine Rose oder eine Nelke in den Fingern auf dem Rücken hielt , während die Buben die Blumen im Munde trugen wie Tabakspfeifen oder dieselben burschikos hinter die Ohren steckten . Es waren alles Kinder von Holzhackern , Tagelöhnern , armen Schneidern , Schustern und von almosengenössigen Leuten . Bessere Handwerker durften ihres Ranges und Kredits wegen die Schule nicht benutzen . Daher war ich der best und reinlichst gekleidete unter den Buben und galt für halb vornehm , obgleich ich bald sehr vertraulich war mit den buntscheckig geflickten armen Teufeln , ihren Sitten und Gewohnheiten , insofern sie mir nicht allzu fremd und unfreundlich waren . Denn obgleich die Kinder der Armen nicht schlimmer und etwa boshafter sind als die der Reichen oder sonst Geborgenen , im Gegenteil eher unschuldiger und gutmütiger , so haben sie doch manchmal grinsende Derbheiten in ihren Gebärden , welche mich bei einigen Mitschülern abstießen . Die Kleidung , welche ich damals erhielt , war grün , da meine Mutter aus den Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneiden ließ , für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen . Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe ; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen lacken und Röcklein aus bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider , so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen » grüner Heinrich « erhielt und in unserer Stadt trug . Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und benutzte meine grüne Popularität zur steten Fortsetzung meiner Beobachtungen und chorartiger Teilnahme an allem , was geschah und gehandelt wurde . Ich drang mit den verschiedensten Kindern , je nach Bedürfnis und Laune , in die elterlichen Häuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern gesehen , während ich mir genau den Haushalt und die Gebräuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb , um mich in mein Hauptquartier bei der Frau Margret zurückzuziehen , wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab . Sie freute sich , daß ich bald imstande war , nicht nur das Deutsche geläufig vorlesen , sondern auch die in ihren alten Büchern häufigen lateinischen Lettern erklären zu können sowie die arabischen Zahlen , die sie nie verstehen lernte . Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frakturschrift auf Papierzettel , welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte , und wurde auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber . Schon sah sie , die mich für ein großes Genie hielt , einen ihrer zukünftigen , klugen Glückmacher in mir und war im voraus meiner glänzenden Laufbahn froh . Wirklich machte mir das Lernen weder Mühe noch Kummer , und ich war , ohne zu wissen wie , zu der Würde herangediehen , die kleineren Genossen unterrichten zu dürfen . Dieses geriet mir zu einer neuen Lust , vorzüglich weil ich , ausgerüstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen , kleine Schicksale kombinieren , Lächeln und Tränen , Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte . Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwölkchen dazwischen . Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Mädchen saß , so war der erste ehrenvollste Platz bald zunächst meiner Seite , bald war es der letzte , je nach der Gegend in dem grollen Saale . So geschah es , daß ich die Mädchen , welche ich gern sah , entweder fortwährend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend oder aber sie stets niederdrückte in die dunkle Sphäre der Sünde und der Vergessenheit , in beiden Fällen immer zunächst meinem tyrannischen Herzen . Dieses aber wurde selbst reichlich mitbewegt , wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schönen kein Lächeln des Dankes erhielt , wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm , als ob sie ihr gebührte , und es mir durch mutwillige rücksichtslose Streiche unendlich erschwerte , sie auf der glatten Höhe zu halten ohne auffallende Ungerechtigkeit . Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quälend und unheimlich und sind eine unliebliche Erinnerung geblieben . Das eine war die düstere kriminalistische Weise , in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde . Es lag dies teils noch im Geiste der alten Zeit , an deren Grenze wir standen , teils in einer Privatliebhaberei der Personen und harmonierte übel mit dem übrigen guten Ton . Es wurden ausgesuchte peinliche und infamierende Strafen angewendet auf dies zarte Lebensalter , und es verging fast kein Monat ohne eine feierliche Exekution an irgendeinem armen Sünder . Zwar wurden meistens wirkliche Bösewichte betroffen ; es war aber immerhin verkehrt , indem es die Kinder zu einem frühen geläufigen Verdammen hinführte ; so schon ist es eine seltsame Erscheinung , daß die Kinder , selbst wenn sie das Bewußtsein des gleichen Fehlers in sich haben , aber verschont geblieben sind , ein bestraftes und bezeichnetes verachten , verfolgen und verhöhnen , bis die letzten Wirkungen verklungen oder die Verfolger selbst in das Netz gefallen sind . Solange das Goldene Zeitalter nicht gekommen , müssen kleine Buben geprügelt werden ; allein einen widerlichen Eindruck machte es , wenn ein unglücklicher Sünder nach gehaltener Standrede in ein abgelegenes Zimmer geführt , dort ausgezogen , auf eine Bank gelegt und abgehauen wurde ; oder als einmal ein ziemlich großes Mädchen mit einer umgehängten Tafel auf einem hohen Schranke sitzen mußte , einen ganzen Tag lang . Ich hatte tiefes Mitleid mit ihr , obgleich sie etwas Großes begangen haben mochte . Vielleicht war sie auch unschuldig verurteilt ! Ein paar Jahre später ertränkte sich das gleiche Mädchen während des Konfirmationsunterrichtes , ich weiß nicht mehr weshalb , erinnere mich aber noch der trauernden Teilnahme , welche ich für die Tote hegte , als ich sie zu Grabe tragen sah , gefolgt von einer großen Schar weißgekleideter Mädchen zwischen fünf- und sechszehn Jahren , welche Blumen trugen . Man erwies ihr , ungeachtet ihres unchristlichen Todes , diese Ehre ihrer Jugend wegen , weil man zugleich das grelle Ereignis damit verhüllen und mäßigen konnte . Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden , während deren wir uns damit beschäftigen mußten . Ein kleines Buch voll hölzerner , blutloser Fragen und Antworten , losgerissen aus dem Leben der biblischen Schriften , nur geeignet , den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen , mußte während der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Wiederkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden . Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklärungen , beklemmende Angst , keines der dunklen Worte zu vergessen , die Anfeuerung zu diesem religiösen Leben . Einzelne Psalmstellen und Liederstrophen , ebenfalls aus allem Zusammenhange gezerrt und deshalb unlieber einzuprägen als ein ganzes organisches Gedicht , verwirrten das Gedächtnis , anstatt es zu üben . Wenn man diese , gegen die verwilderte Sündhaftigkeit ausgewachsener Menschen gerichteten , vierschrötigen nackten Gebote neben den übersinnlichen und unfaßlichen Glaubenssätzen gereiht sah , so fühlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Entwicklung , sondern den schwülen Hauch eines rohen und starren Barbarentums , wo es einzig darauf ankommt , den jungen , zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwangbleiche so früh als möglich für den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen . Die Pein dieser Disziplin erreichte ihren Gipfel , wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich kam , am Sonntage in der Kirche , vor der ganzen Gemeinde , mit lauter vernehmlicher Stimme das wunderliche Zwiegespräch mit dem Geistlichen zu führen , welcher in weiter Entfernung von mir auf der Kanzel stand und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte . Viele Kinder schöpfen zwar gerade aus dieser Sitte die Kunst , mit Salbung und Zungengeläufigkeit , wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken , und der Tag geriet ihnen immer zu einem Triumph- und Freudentag . Gerade bei diesen erwies es sich aber jederzeit , daß alles eitel Schall und Rauch gewesen . Es gibt geborene Protestanten , und ich möchte mich zu diesen zählen , weil nicht ein Mangel an religiösem Sinne , sondern , freilich mir unbewußt , ein letztes feines Räuchlein verschollener Scheiterhaufen , durch die hallende Kirche schwebend , mir den Aufenthalt widerlich machte , wenn die eintönigen Gewaltsätze hin- und hergeworfen wurden . Nicht als ob ich mir einbilden wollte , ein scharfsinnig polemisches Wunderkind gewesen zu sein ; sondern es war einzig Sache des angeborenen Gefühles . So wurde ich gewaltsam auf meinen Privatverkehr mit Gott zurückgedrängt , und ich beharrte auf meiner Sitte , meine Gebete und Verhandlungen selbst zu bestreiten nach meinem Bedürfnisse und sie auch in Ansehung der Zeit nur dann anzuwenden , wenn ich ihrer bedurfte . Einzig das Vaterunser wurde morgens und abends regelmäßig , aber lautlos , gebetet . Aber auch aus meinem innern und äußern Spiel-und Lustleben wurde der liebe Gott verdrängt und konnte weder durch die Frau Margret noch durch meine Mutter darin erhalten werden . Für lange Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einer prosaischen Vorstellung , in dem Sinne , wie die schlechten Poeten das wirkliche Leben für prosaisch halten im Gegensatze zu dem erfundenen und fabelhaften . Das Leben , die sinnliche Natur waren merkwürdigerweise mein Märchen , in dem ich meine Freude suchte , während Gott für mich zu der notwendigen , aber nüchternen und schulmeisterlichen Wirklichkeit wurde , zu welcher ich nur zurückkehrte wie ein müdgetummelter , hungriger Knabe zur alltäglichen Haussuppe und mit der ich so schnell fertig zu werden suchte als möglich . Solches bewirkte die Art und Weise , wie die Religion und meine Kinderzeit zusammengekuppelt wurden . Wenigstens kann ich mich , trotzdem daß jene ganze Zeit wie ein heller Spiegel vor mir liegt , nicht entsinnen , daß ich vor dem Erwachen der Vernunft je einen Andachtschauer , wenn auch noch so kindlich , empfunden hätte . Ich betrachte diese halb gottlose Zeit gerade der weichsten und bildsamsten Jahre , welche deren wohl sieben bis achte andauerte , als eine kalte öde Strecke und weise die Schuld einzig auf den Katechismus und seine Handhaber . Denn wenn ich recht scharf in jenen vergangenen dämmerhaften Seelenzustand zurückzudringen versuchte , so entdecke ich noch wohl , daß ich den Gott meiner Kindheit nicht liebte , sondern nur brauchte . Jetzt erst wird mir der trübe kalte Schleier ganz deutlich , welcher über jener Zeit liegt und mir dazumal die Hälfte des Lebens verhüllte , mich blöde und scheu machte , daß ich die Leute nicht verstand und mich selbst nicht zu erkennen geben konnte , so daß die Erzieher vor mir standen als vor einem Rätsel und sagten : Dieses ist ein seltsames Gewächs , man weiß nicht viel damit anzufangen ! Zehntes Kapitel Das spielende Kind Desto eifriger verkehrte ich im stillen mit mir selbst , in der Welt , die ich mir allein zu bauen gezwungen war . Meine Mutter kaufte mir nur äußerst wenig Spielzeug , immer und einzig darauf bedacht , jeden Heller für meine Zukunft zu sparen , und erachtete in ihrem Sinne jede Ausgabe für überflüssig , welche nicht unmittelbar für das Notwendigste geopfert wurde . Sie suchte mich dafür durch fortwährende mündliche Unterhaltungen zu beschäftigen und erzählte mir tausend Dinge aus ihrem vergangenen Leben sowohl wie aus dem Leben anderer Leute , indem sie in unserer Einsamkeit selbst eine süße Gewohnheit darin fand . Aber diese Unterhaltung sowie das Treiben im wunderlichen Nachbarhause konnte doch zu letzt meine Stunden nicht ausfüllen , und ich bedurfte eines sinnlichen Stoffes , welcher meiner Gestaltungslust anheimgegeben war . So war ich bald darauf angewiesen , mir mein Spielzeug selbst zu schaffen . Das Papier , das Holz , die gewöhnlichen Aushelfer in diesem Falle , waren schnell abgebraucht , besonders da ich keinen Mentor hatte , welcher mich mit Handgriffen und Künsten bekannt machte . Was ich so bei den Menschen nicht fand , das gab mir die stumme Natur . Ich sah aus der Ferne bei andern Knaben , daß sie artige kleine Naturaliensammlungen besaßen , besonders Steine und Schmetterlinge , und von ihren Lehrern und Vätern angeleitet wurden , dergleichen selbst auf ihren Ausflügen zu suchen . Ich ahmte dieses nun auf eigene Faust nach und begann gewagte Reisen längs der Bach- und Flußbette zu unternehmen , wo ein buntes Geschiebe an der Sonne lag . Bald hatte ich eine gewichtige Sammlung glänzender und farbiger Mineralien beisammen , Glimmer , Quarze und solche Steine , welche mir durch ihre abweichende Form auffielen . Glänzende Schlacken , aus Hüttenwerken in den Strom geworfen , hielt ich ebenfalls für wertvolle Stücke , Glasflüsse für Edelsteine , und der Trödelkram der Frau Margret lieferte mir einigen Abfall an polierten Marmorscherben und halb durchsichtigen Alabasterschnörkeln , welche überdies noch eine antiquarische Glorie durchdrang . Für diese Dinge verfertigte ich Fächer und Behälter und legte ihnen wunderlich beschriebene Zettel bei . Wenn die Sonne in unser Höfchen schien , so schleppte ich den ganzen Schatz hinunter , wusch Stück für Stück in dem kleinen Brünnlein und breitete sie nachher an der Sonne aus , um sie zu trocknen , mich an ihrem Glanze erfreuend . Dann ordnete ich sie wieder in die Schachteln und hüllte die glänzendsten Dinge sorglich in Baumwolle , welche ich aus den grollen Ballen am Hafenplatze und beim Kaufhause gezupft hatte . So trieb ich es lange Zeit ; allein es war nur der äußere Schein , der mich erbaute , und als ich sah , daß jene Knaben für jeden Stein einen bestimmten Namen besaßen und zugleich viel Merkwürdiges , was mir unzugänglich war , wie Kristalle und Erze , auch ein Verständnis dafür gewannen , welches mir durchaus fremd war , so starb mir das ganze Spiel ab und betrübte mich . Dazumal konnte ich nichts Totes und Weggeworfenes um mich liegen sehen ; was ich nicht brauchen konnte , verbrannte ich hastig oder entfernte es weit von mir ; so trug ich eines Tages die sämtliche Last meiner Steine mit vieler Mühe an den Strom hinaus , versenkte sie in die Wellen und ging ganz traurig und niedergeschlagen nach Hause . Nun versuchte ich es mit den Schmetterlingen und Käfern . Meine Mutter verfertigte mir ein Garn und ging oft selbst mit mir auf die Wiesen hinaus ; denn die Einfachheit und Billigkeit dieser Spiele leuchteten ihr ein . Ich fing zusammen , wessen ich habhaft werden konnte , und setzte eine Unzahl Raupen in Gefangenschaft . Allein ich kannte die Speise dieser letzteren nicht und wußte sie sonst nicht zu behandeln , so daß kein Schmetterling aus meiner Zucht hervorging . Die lebendigen Schmetterlinge aber , welche ich fing , wie die glänzenden Käfer machten mir saure Mühe mit dem Töten und dem Unversehrterhalten ; denn die zarten Tiere behaupteten eine zähe Lebenskraft in meinen mörderischen Händen , und bis sie endlich leblos waren , fand sich Duft und Farbe zerstört und verloren , und es ragte auf meinen Nadeln eine zerfetzte Gesellschaft erbarmungswürdiger Märtyrer . Schon das Töten an sich selbst ermüdete mich und regte mich zu sehr auf , indem ich die zierlichen Geschöpfe nicht leiden sehen konnte . Dieses war keine unkindliche Empfindsamkeit ; mir widerwärtige oder gleichgültige Tiere konnte ich so gut mißhandeln wie alle Kinder ; es war vielmehr ein ungerechtes Mitgefühl für diese bunteren Kreaturen , denen ich wohlgewogen war . Jeder der unseligen Reste machte mich um so melancholischer , als er das Denkmal eines im Freien zugebrachten Tages und eines Abenteuers war . Die Zeit von seiner Gefangennehmung bis zu seinem qualvollen Tode war ein Schicksal , welches mich mitberührte , und die stummen Überbleibsel redeten eine vorwurfsvolle Sprache zu mir . Auch diese Unternehmung scheiterte endlich , als ich zum ersten Male eine große Menagerie sah . Sogleich faßte ich den Entschluß , eine solche anzulegen , und baute eine Menge Käfige und Zellen . Mit vielem Fleiße wandelte ich dazu kleine Kästchen um , verfertigte deren aus Pappe und Holz und spannte Gitter von Draht oder Zwirn davor , je nach der Stärke des Tieres , welches dafür bestimmt war . Der erste Insasse war eine Maus , welche mit eben der Umständlichkeit , mit welcher ein Bär installiert wird , aus der Mausefalle in ihren Kerker hinübergeleitet wurde . Dann folgte ein junges Kaninchen ; einige Sperlinge , eine Blindschleiche , eine größere Schlange , mehrere Eidechsen verschiedener Farbe und Größe ; ein mächtiger Hirschkäfer mit vielen andern Käfern schmachteten bald in den Behältern , welche ordentlich aufeinandergetürmt waren . Mehrere große Spinnen versahen in Wahrheit die Stelle der wilden Tiger für mich , da ich sie entsetzlich fürchtete und nur mit großem Umschweife gefangen hatte . Mit schauerlichem Behagen betrachtete ich die Wehrlosen , bis eines Tages eine Kreuzspinne aus ihrem Käfige brach und mir rasend über Hand und Kleid lief . Der Schrecken vermehrte jedoch mein Interesse an der kleinen Menagerie , und ich fütterte sie sehr regelmäßig , führte auch andere Kinder herbei und erklärte ihnen die Bestien mit großem Pomp . Ein junger Weih , welchen ich erwarb , war der große Königsadler , die Eidechsen Krokodile , und die Schlangen wurden sorgsam aus ihren Tüchern hervorgehoben und einer Puppe um die Glieder gelegt . Dann saß ich wieder stundenlang allein vor den trauernden Tieren und betrachtete ihre Bewegungen . Die Maus hatte sich längst durchgebissen und war verschwunden , die Blindschleiche war längst zerbrochen , so wie die Schwänze sämtlicher Krokodile , das Kaninchen war mager wie ein Gerippe und hatte doch keinen Platz mehr in seinem Käfig , alle übrigen Tiere starben ab und machten mich melancholisch , so daß ich beschloß , sie alle zu töten und zu begraben . Ich nahm ein dünnes langes Eisen , machte es glühend und drang mit zitternder Hand damit durch die Gitter und begann ein greuliches Blutbad anzurichten . Aber die Geschöpfe waren mir alle lieb geworden , auch erschreckte mich das Zucken des zerstörten Organismus , und ich mußte innehalten . Ich eilte in den Hof hinunter , machte eine Grube unter den Vogelbeerbäumchen , worin ich die ganze Sammlung , tote , halbtote und lebende , in ihren Kasten kopfüber warf und eilig verscharrte . Meine Mutter sagte , als sie es sah , ich hätte die Tiere nur wieder ins Freie tragen sollen , wo ich sie geholt hätte , vielleicht wären sie dort wieder gesund geworden . Ich sah dies ein und bereute meine Tat ; der Rasenplatz war aber lange eine schauerliche Stätte für mich , und ich wagte nie jener kindlichen Neugierde zu gehorchen , welche es immer antreibt , etwas Vergrabenes wieder auszugraben und anzusehen . Bei Frau Margret tat sich mir die nächste Spielerei auf . In einer verrückten Theosophie , welche ich unter ihren Büchern fand , war eine Anweisung enthalten , die vier Elemente zu veranschaulichen , nebst andern kindischen Experimenten und den dazugehörigen Tafeln . Nach diesen Vorschriften nahm ich eine große Phiole , füllte sie zum Vierteile mit Sand , zum Vierteile mit Wasser , dann mit Öl , und das letzte Vierteil ließ ich leer , das heißt mit Luft gefüllt . Die Materien sonderten sich nach ihrer Schwere auseinander und stellten nun in dem geschlossenen Raume die vier Elemente vor , Erde , Wasser , Feuer ( das Brennöl ) und Luft . Ich schüttelte sie tüchtig durcheinander , daraus entstand das Chaos , welches sich wieder aufs schönste abklärte , und ich saß sehr vergnügt vor der höchst gelehrten Erscheinung . Dann nahm ich Bogen Papier und zeichnete darauf , nach den Angaben jenes Buches , große Sphären mit Kreisen und Linien kreuz und quer , farbig begrenzt und mit Zahlen und lateinischen Lettern besetzt . Die vier Weltgegenden , Zonen und Pole , Himmelsräume , Elemente , Temperamente , Tugenden und Laster , Menschen und Geister , Erde , Hölle , Zwischenreich , die sieben Himmel , alles war toll und doch nach einer gewissen Ordnung durcheinandergeworfen und gab ein angestrengtes , lohnendes Bemühen . Alle Sphären wurden mit entsprechenden Seelen bevölkert , welche darin gedeihen konnten . Ich bezeichnete sie mit Sternen und diese mit Namen ; der glückseligste war mein Vater , zunächst dem Auge Gottes , noch , innerhalb des Dreieckes , und schien durch dieses allsehende Auge auf die Mutter und mich herunterzuschauen , welche in den schönsten Gegenden der Erde spazierten . Meine Widersacher aber schmachteten sämtlich in der Hölle , wo der Böse mit einem ansehnlichen Schwanze begabt war . Je nach dem Verhalten der Menschen veränderte ich ihre Stellungen , beförderte sie in reinere Gegenden oder setzte sie zurück , wo Heulen und Zähneklappen herrschte . Manchen ließ ich prüfungsweise im Unbestimmten schweben , sperrte auch wohl zwei , die sich im Leben nicht ausstehen mochten , zusammen in eine abgelegene Region , indessen ich zwei andere , die sich gern hatten , trennte , um sie nach vielen Prüfungen zusammenzubringen an einem glückseligern Orte . Ich führte so ganz im geheimen eine genaue Übersicht und Schicksalsbestimmung aller mir bekannten Leute , jung und alt . In der Theosophie war ferner anbefohlen , geschmolzenes Wachs in Wasser zu gießen , um ich weiß nicht mehr was zu versinnbildlichen . Ich füllte mehrere Arzneigläser mit Wasser und belustigte mich an den Bildungen , welche durch das hineingegossene Wachs entstanden , verschloß die Gläser und vermehrte dadurch meine gelehrte Sammlung . Dieses Gläserwesen sagte mir sehr zu , und ich fand einen neuen Stoff dafür , als ich einst mit tiefem Grauen durch eine anatomische Sammlung lief , welche dem Krankenhause beigegeben war . Einige Reihen von Embryonen und Föten in ihren Gläsern jedoch erwarben sich meinen lebhaften Beifall und boten einen trefflichen Gegenstand für meine Sammlung dar , indem ich dergleichen nachzubilden versuchte . In einem Schranke verwahrte die Mutter die aufgeschichtete Leinwand ihrer Mußezeit in rohen und gebleichten Stücken , und daselbst lagen auch , verborgen und vergessen , mehrere Scheiben reinlichen Wachses , die verjährten Zeugen einer einstigen fleißigen Bienenzucht . Von diesen brach ich immer ansehnlichere Stücke los und formte nun im kleinen solche großköpfige wunderliche Burschen , wie ich sie gesehen , und bestrebte mich , die Verschiedenheit ihrer phantastischen Bildung noch zu vergrößern . Ich trieb Gläser auf , soviel ich konnte , von allen Formen und Größen , und richtete die Bildwerke darnach ein . In langen schmalen Kölnischwasserflaschen , denen ich die Hälse abschlug , baumelten ebenso lange schmächtige Gesellen an ihrem Faden , in kurzen dicken Salbengläsern hausten knollenartige Gewächse . Statt mit Weingeist füllte ich die Gläser mit Wasser an und gab jedem Bewohner derselben einen Namen , welcher meinem humoristischen Interesse entsprach , das über der belustigenden Arbeit aus dem bloß gelehrten entstand . Es waren schon einige dreißig Mitglieder dieses schönen Vereins beisammen und das Wachs nahezu aufgebraucht , als ich meine Geschöpfe taufte mit Namen wie Schnurper , Fark , Vogelmann , Säbelbein , Schneider , Schmerbauch , Nabelhans , Wachsbeißer , Wächserich , Honigteufel und dergleichen , und ich empfand ein dauerndes Vergnügen , indem ich zugleich für jeden eine kurze Lebensbeschreibung verfaßte , die sich in dem Berge zugetragen hatte , aus welchem nach unserm Ammenmärchen die kleinen Kinder geholt werden . Ich verfertigte auch eigene Sphärentafeln für sie , worauf jeder verzeichnet war mit seiner tugendlichen oder schlimmen Aufführung , und wenn einer mein Mißfallen erregte , so wurde er so gut an einen schlechtern Ort gebracht als die lebendigen Leute . Ich trieb diese Dinge alle in einer abgelegenen Kammer , wo ich eines Abends in der Dämmerung alle Gläser auf meinen Lieblingstisch stellte , ein altes braunes Möbel mit etlichen Auszügen . Ich reihte die Gläser in einen großen Kreis , die vier Elemente in der Mitte , und breitete meine bunten Tabellen aus , beleuchtet von einigen Wachsmännern , denen Dochte aus erhobenen Händen brannten , und vertiefte mich nun in die Konstellationen auf den Karten , während ich die betreffenden Schicksalsträger einzeln vortreten ließ und musterte , den Wächserich und den Hürlimann , den Meyer oder den Vogelmann . Von ungefähr stieß ich an den Tisch , daß alle Gläser erzitterten und die Wachsmännchen schwankten und zappelten . Dies gefiel mir , so daß ich anfing , nach dem Takte auf den Tisch zu schlagen , wozu die Gesellen tanzten ; ich schlug immer stärker und wilder und sang dazu , bis die Gläser wie toll aneinanderschlugen und erklangen . Auf einmal schneuzte es in einer Ecke , ein Paar feurige Augen funkelten hervor . Eine fremde große Katze war in die Kammer gesperrt , hatte sich bisher ruhig verhalten und wurde nun scheu . Ich wollte sie verscheuchen , da stellte sie sich drohend gegen mich , sträubte die Haare und pfauchte gewaltig ; ich machte in der Angst ein Fenster auf und warf ein Glas nach ihr , sie sprang hinauf , konnte aber nicht weiter gelangen und kehrte sich wieder gegen mich . Nun schleuderte ich einen Wachsmann um den andern auf sie , sie schüttelte sich furchtbar und rüstete sich zum Sprunge , und als ich zuletzt die vier Elemente ihr an den Kopf warf , fühlte ich ihre Krallen an meinem Halse . Ich fiel am Tische nieder , die Lichter löschten aus , und ich schrie in der Dunkelheit , obgleich die Katze schon wieder weg war . Meine Mutter trat herein , während dieselbe hinausschlüpfte , und fand mich halb bewußtlos am Boden liegen mitten in den Glasscherben , Wasserbächen und Kobolden . Sie hatte nie auf mein Treiben in der Kammer geachtet , zufrieden , daß ich so still und vergnüglich war , und wußte sich nun meine verwirrte Erzählung um so weniger zu reimen . Inzwischen entdeckte sie die gewaltige Abnahme ihres Wachses und betrachtete nun mit einigem Zorne die Trümmer der untergegangenen Welt . Die Sache machte Aufsehen . Frau Margret ließ sich erzählen und die bemalten Bogen nebst übrigen Trümmern zeigen und fand alles höchst bedenklich . Sie befürchtete , daß ich am Ende in ihren Büchern gefährliche Geheimnisse geschöpft hätte , welche bei ihrem mangelhaften Lesen ihr selbst unzugänglich wären , und verschloß die bedenklichsten Bücher mit höchst bedeutungsvollem Ernste . Jedoch konnte sie sich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren , da es sich zu bestätigen schien , wie hinter diesen Sachen mehr stecke , als man geglaubt habe . Sie war der festen Meinung , daß ich auf dem besten Wege gewesen sei , durch ihre Bücher ein angehender Zaubermann zu werden . Elftes Kapitel Theatergeschichten . Gretchen und die Meerkatze Über solchen Mißgeschicken verleidete mir die einsame Beschäftigung im Hause , und ich schloß mich nun einigen Knaben an , welche sich gut zu unterhalten schienen , indem sie in einem großen alten Fasse Komödie spielten . Sie hatten einen Vorhang davorgezogen und ließen eine begünstigte Anzahl Kinder respektvoll harren , bis sie ihre geheimnisvollen Vorbereitungen geendet . Dann wurde das Heiligtum geöffnet , einige Ritter in papiernen Rüstungen führten ein gedrängtes Zwiegespräch tüchtiger Schimpfreden , um sich darauf schleunigst durchzubleuen und unter dem Fallen des durchlöcherten Teppichs tot hinzustrecken . Ich wurde bald eingeweiht als ein anstelliger Junge und brachte vor allem aus einen bestimmtern Stoff in das Faß , indem ich kurze Handlungen aus der biblischen Geschichte oder den Volksbüchern auszog und die vorkommenden Reden wörtlich abschrieb und durch einige Wendungen verband . Ich fand auch , daß es wünschbar wäre , wenn die Helden einen besondern Eingang hätten , um vorher ungesehen auftreten zu können . Deshalb wurde in die Hinterwand ein Loch gesägt , geschnitten und gekratzt , bis ein Wohlgewappneter bescheiden durchkriechen konnte , was sehr possierlich aussah , wenn er mit seinen donnernden Reden begann , ehe er sich völlig aufgerichtet hatte . Sodann wurden grüne Zweige geholt , um das Innere des Fasses in einen Wald umzuwandeln ; ich nagelte sie ringsherum fest und ließ nur oben das Spundloch frei , durch welches überirdische Stimmen herniederzuschallen hatten . Ein Knabe brachte eine ansehnliche Düte Theatermehl und hiemit ein neues prächtiges Element in unsere Bestrebungen . Eines Tages wurde David und Goliath gegeben . Die Philister standen auf dem Plane , führten sich heidnisch auf und traten vor das Faß hinaus in das Proszenium Dann krochen die Kinder Israel herein , lamentierten und waren verzagt und traten auf die andere Seite des Einganges , als Goliath , ein großer Bengel , erschien und übermütige Possen machte zum großen Gelächter beider Heere und des Publikums , bis David , ein unterwachsener bissiger Junge , plötzlich dem Unfug ein Ende machte und dem Riesen aus seiner Schleuder , die er trefflich führte , eine große Roßkastanie an die Stirn schleuderte Darüber wurde dieser wütend und hieb dem David ebenso derb auf den Kopf , und sogleich waren beide im heftigsten Raufen ineinander verknäuelt . Die Zuschauer und die beiden Chöre klatschten Beifall und nahmen Partei ; ich selbst saß rittlings oben auf dem Fasse , ein Lichtstrümpfchen in der einen und eine tönerne Pfeife mit Kolophonium in der andern Hand , und blies als Zens gewaltige , ununterbrochene Blitze durch das Spundloch hinein , daß die Flammen durch das grüne Laub züngelten und das Silberpapier auf Goliaths Helm magisch erglänzte . Dann und wann guckte ich schnell durch das Loch hinunter , um dann die tapfer Kämpfenden ferner wieder mit Blitzen anzufeuern , und hatte kein Arges , als die Welt , welche ich zu beherrschen wähnte , plötzlich auf ihrem Lager wankte , überschlug und mich aus meinem Himmel schleuderte ; denn Goliath hatte endlich den David überwunden und mit Gewalt an die Wand geworfen . Es gab ein großes Geschrei , der Eigentümer des Fasses kam heran und schloß das rollende Haus , nicht ohne Schelten und ausgeteilte Püffe , als er die willkürlichen Veränderungen entdeckte , welche angebracht waren . Jedoch vermißten wir dies verbotene Paradies nicht allzusehr , da bald darauf eine deutsche Schauspielergesellschaft in unsere Stadt kam , um mit obrigkeitlicher Bewilligung vor den Bewohnern das leichte Haus der Leidenschaften in einem vollkommenern Maße aufzubauen , als bisher von Liebhabern und Kindern geschehen war . Der wandernde Künstlerverein schlug seinen Sitz in einem Gasthause der Stadt auf , wandelte den geräumigen Tanzsaal in ein Theater um und füllte zugleich alle bescheideneren Zimmer und Räume mit seinem häuslichen Leben . Nur der Direktor bewohnte vornehm ein glänzenderes Gemach . Übrigens zog uns das belebte Haus nicht nur während der abendlichen Vorstellungen an , sondern wir hatten auch während des Tages genug vor demselben zu stellen und zu beobachten , teils um die bewunderten Helden und Königinnen in ihrer verwegenen und anmutigen Tracht und Haltung aus und ein gehen zu sehen , teils um keine Maschine , keinen Korb mit roten Mänteln und Degen , kein Requisit aus den Augen zu verlieren , welches hineingetragen wurde . Vorzüglich hielten wir uns auch vor einem offenen Hintergebäude auf , wo ein kühner Maler inmitten einer Anzahl Töpfe , aufrechtstehend und die eine Hand in der Hosentasche , mit einem unendlich verlängerten Pinsel Wunder auf das ausgebreitete Tuch oder Papier warf . Ich erinnere mich deutlich des tiefen Eindruckes , welchen die einfache und sichere Art auf mich machte , mit welcher er duftige und durchsichtige weiße Vorhänge um die Fenster eines roten Zimmers zauberte ; mit den wenigen weißen , wohlangebrachten Strichen und Tupfen auf dem roten Grunde ging ein Licht in mir auf , der ich vor solchen Dingen , wenn sie in der nächtlichen Beleuchtung vor mir standen , begriffslos gestaunt hatte . Es dämmerte die erste Einsicht in das Wesen der Malerei ; das freie Auftragen von dichten deckenden Farben auf durchsichtige Unterlagen machten mir vieles klar ; ich begann nachher der Grenze dieser zwei Gebiete nachzuspüren , wo ich ein Gemälde zu sehen bekam , und meine Entdeckungen hoben mich über den wehrlosen Wunderglauben hinaus , welcher es aufgibt , jemals dergleichen selbst zu verstehen . An den Abenden , wo gespielt wurde , waren wir vollzählig und unfehlbar auf unserm Platze und schlichen wie die Katzen um das Gebäude herum . Da ich bei der Sparsamkeit meiner Mutter keine Möglichkeit sah , auf legalem Wege in das Innere des Kunsttempels zu gelangen , so befand ich mich doppelt wohl bei meinen Genossen der Armenschule , welche ebenfalls darauf angewiesen waren , entweder durch kleine Dienstleistungen oder durch verwegene Schlauheit durchzuschlüpfen . Es gelang mir auch mehrere Male , mich mit klopfendem Herzen in den angefüllten Saal zu schleichen , und überflog mit befriedigten Blicken die Dekorationen , wenn der Vorhang aufging , dann die Kostüme und Trachten der Spieler , um endlich , nachdem schon Erkleckliches gesprochen war , mich in das Studium der Fabel zu vertiefen . Ich war bald ein großer Kenner und disputierte reichlich , unter angenommener Kaltblütigkeit , mit meinen Freunden . Dieser Zwiespalt , die angenommene kennerhafte Ruhe und das unausbleibliche leidenschaftliche Hingeben auch an das verworfenste Stück fing an mich zu ärgern , und ich sehnte mich auch sonst , mit einem Schlage hinter die Kulissen zu kommen und das berückende Spiel und seine Spieler wie ihre Mittel in der Nähe zu besehen ; denn es bedünkte mich , daß es dort besser zu leben sein müsse als irgendwo in der Welt , leidenschaftslos und überlegen . Doch dachte ich nicht so leicht an eine Erfüllung meines Wunsches , als ein günstiger Stern dieselbe unverhofft darbrachte . Wir standen eines Abends ziemlich mutlos vor einer Seitentür , als eben der Faust gegeben wurde . Wir hatten gehört , daß man den famosen Doktor Faust , den wir genugsam kannten , nebst dem Teufel und allen seinen Herrlichkeiten sehen würde , fanden aber heute alle Hindernisse unübersteiglich , welche auf unsern gewohnten Schlupfwegen sich entgegenstellten . So hörten wir betrübt die Klänge der Ouvertüre , welche von den vornehmen Liebhabern der Stadt aufgeführt wurde , und zerbrachen die Köpfe über einem noch möglichen Eindringen . Es war ein dunkler Herbstabend und regnete kühl und anhaltend . Es fror mich , und ich dachte ans Nachhausegehen , zumal sich die Mutter über das abendliche Umhertreiben beklagt hatte , als die dunkle Tür sich öffnete , ein dienstbarer Geist heraussprang und rief : » Heda , ihr Buben ! drei oder vier von euch mögen hereinkommen , die sollen einmal mitspielen ! « Auf dieses Zauberwort drängten sich sogleich die Stärksten in das Haus ; denn dies war ein Fall , wo ein jeder nur an sich selbst denken durfte . Er wies sie aber zurück , indem er sie für zu groß und dick erklärte und mich , der ich ohne sonderliche Hoffnungen im Hintergrunde stand , heranrief und sagte : » Der da ist recht , der wird eine gute Meerkatze sein ! « Dazu ergriff er noch zwei andere , schmächtig gewachsene Jungen , schloß die Tür hinter uns und marschierte an unserer Spitze nach einem kleinen Saale , welcher als Garderobe diente . Dort hatten wir nicht Zeit , die aufgehäuften Gewänder , Waffen und Rüstungen zu betrachten ; denn wir wurden schnell unserer Kleider entledigt und in abenteuerliche Pelze gesteckt , welche vom Kopf bis zum Fuße eine Hülle bildeten . Das Meerkatzengesicht konnte wie eine Kapuze zurückgeschlagen werden , und als wir solchergestalt verwandelt dastanden , die langen Schwänze in der Hand haltend , lächelten wir ganz vergnügt und beglückwünschten uns nun erst zu unserm unverhofften Glücke . Nun wurden wir auf die Bühne geführt , wo wir von zwei großen Meerkatzen lustig begrüßt und in aller Eile für unsere bevorstehende Aufgabe unterrichtet wurden . Wir begriffen dieselbe bald und leisteten eine gelungene Probe verschiedener Purzelbäume und Affensprünge , spielten auch zierlich mit einer Kugel , so daß wir bis zu unserm Auftreten entlassen wurden . Wir spazierten gravitätisch unter dem Gedränge herum , das sich auf dem schmalen Raume zwischen den vier wirklichen und den gemalten Wänden schob und mischte ; ich schaute unverwandt bald auf die Bühne , bald hinter die Kulissen und beobachtete mit hoher Freude , wie aus dem unkenntlichen , unterdrückt lärmenden und streitenden Chaos sich still und unmerklich geordnete Bilder und Handlungen ausschieden und auf dem freien , hellen Raume erschienen wie in einer jenseitigen Welt , um wieder ebenso unbegreiflich in das dunkle Gebiet zurückzutauchen . Die Schauspieler lachten , scherzten , koseten und zankten , hier und da ging einer plötzlich von seiner Gruppe weg und stand in einem Augenblicke einsam und feierlich mitten in dem Zauberbanne und machte ein so frommes Gesicht gegen die mir unsichtbare Zuschauerwelt hinaus , als ob er vor den versammelten Göttern stände . Ehe ich mich dessen versah , war er wieder mit einem Sprunge unter uns und setzte die unterbrochenen Schimpf- oder Schmeichelreden fort , indessen schon irgendein anderer sich ausgeschieden hatte , um es ebenso zu machen . Die Menschen führten ein doppeltes Leben , wovon das eine ein Traum sein mochte ; aber ich wurde nicht klug daraus , welches davon der Traum und welches für sie die Wirklichkeit war . Lust und Leid schienen mir in beiden Teilen gleich gemischt vorhanden zu sein ; doch im innern Raume der Bühne , wenn der Vorhang geöffnet war , schien Vernunft und Würde und ein heller Tag zu herrschen und somit das wirkliche Leben zu bilden , während , sobald der Vorhang sank , alles in trübe traumhafte Verwirrung zerfiel . Auch dünkte es mich , daß diejenigen , welche sich in diesem wüsten Traume am heftigsten und leidenschaftlichsten gebärdeten , dort in dem bessern Stück Leben die edelsten und ausdruckvollsten Gestalten waren ; diejenigen aber , welche in der Nähe ruhig , kalt und friedfertig herumstanden , in jenem Glanze eine ziemlich traurige Rolle spielten . Der Text des Stückes war die Musik , welche das Leben in Schwung brachte . Sobald sie schwieg , stand der Tanz still wie eine abgelaufene Uhr . Die Verse des Faust , welche jeden Deutschen , sobald er einen davon hört , elektrisieren , diese wunderbar gelungene und gesättigte Sprache klang fortwährend wie eine edle Musik , machte mich froh und setzte mich mit in Erstaunen , obgleich ich nicht viel mehr davon verstand als eine wirkliche Meerkatze . Indessen fühlte ich mich plötzlich beim Schwanze gefaßt und rücklings in die Hexenküche gezogen , wo bereits sämtliche Katzen umhersprangen und ein Schein und Gefunkel unzähliger Gesichter und Augen aus dem Parterre hereinschimmerte . Ich hatte bisher über meinen Betrachtungen die zutage getretene Dekoration der Hexenküche übersehen und daher vieles nachzuholen ; denn die phantastischen Dinge um mich her , die Zerrbilder und Gespenster reizten mich sowohl wie das Treiben Mephistos , der Hexe und der andern Meerkatzen . Als ob ich nicht selbst eine Meerkatze wäre und meine Aufgabe zu erfüllen hätte , vergaß ich ganz die eingelernten Sprünge und Possen und sah ruhig und selbstvergessen den anderen zu . Nun schaute Faust voll Entzücken in den Zauberspiegel , und es nahm mich höchlich wunder , was es dort zu sehen gebe ? Indem ich in der gleichen Richtung nachahmend hinsah , gingen meine Blicke dem leeren , gemalten Spiegel vorbei hinter die Kulisse und entdeckten dort in der Wirrnis des jenseitigen Lebens das Bild , welches Faust zu sehen vorgab . Gretchen war unterdessen auf die Bühne gekommen und legte sich , einige tiefbewegte Worte nach rückwärts rufend , eben die letzte Schminke auf , nachdem sie sich Augen und Wangen mit einem weißen Tuche sorglich und fest getrocknet , als ob sie geweint hätte . Es war eine sehr schöne Frau , von welcher ich kein Auge mehr abwandte , ungeachtet der heimlichen Püffe und Schelten , welche ich von meinen fleißigen Mitmeerkatzen erhielt . So verlangte ich , der ich mich vorher nach dieser höheren Sphäre gesehnt hatte , nun nichts weiter , als dorthin zurückzukehren , wo die volle schöne Frauengestalt wandelte . Die Zeit unseres Wirkens ging endlich vorüber , und ich machte meinen ersten und einzigen guten Sprung , als ich leidenschaftlich vom Schauplatze abtrat oder sprang und mich möglichst in die Nähe des gesehenen Bildes zu bringen suchte . Aber in demselben Augenblicke befand sie sich ihrerseits einsam in der Handlung , und ich konnte sie nur wieder von ferne sehen . Sie schien irgendeinen tiefen Verdruß in sich zu tragen , und daher war ihr Spiel halb aus Anmut und halb aus sichtbarem Zorne gemengt . Diese Mischung brachte zwar kein gutes Gretchen hervor , aber sie verlieh der Spielerin einen eigentümlichen Reiz ; ich nahm Partei für sie gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir sogleich den Roman aus , in welchen sie etwa verwickelt sein möchte . Doch , löste sich dieses flüchtige Gespinste bald auf und verschmolz sich mit der dargestellten Lichtung , als Gretchens Schicksal tragisch wurde . Als sie im Kerker auf dem Stroh lag und nachher irreredete , spielte sie so meisterhaft , daß ich furchtbar erschüttert ward und doch in durstig heißer Aufregung das Bild des im grenzenlosesten Unglücke versunkenen Weibes in mich hineintrank ; denn ich hielt das Unglück für wirklich und war ebenso erstaunt als gesättigt durch die Szene , welche an Stärke alles übertraf , was ich bisher gesehen oder gehört hatte . Der Vorhang war gefallen , und alles lief auf dem Theater bunt durcheinander , während ich einigen Papieren nachschlich , welche ich in den Händen des Direktors und der Künstler vorhin bemerkte und in einem Winkel hinter einer gemalten Mauer fand . Ich gelüstete sehr , Einsicht zu nehmen von dem Geschriebenen , welches so große Wirkung hervorgebracht ; daher war ich bald in das Lesen der Rollen versenkt . Aber obgleich ich die körperlichen Erscheinungen gefaßt und empfunden hatte , so waren doch nun die geschriebenen Worte , als die Zeichensprache eines gereiften und großen männlichen Geistes , dem unwissenden Kinde vollkommen unverständlich ; der kleine Eindringling fand sich bescheidentlich wieder vor die verschlossene Türe einer höheren Welt gestellt , und ich schlief über meinen Forschungen schnell und fest ein . Als ich wieder erwachte , war das Theater leer und still , die Lampen ausgelöscht , und der Vollmond goß sein Licht zwischen den Kulissen über die seltsame Unordnung herein . Ich wußte nicht , wie mir geschah noch wo ich mich befand ; doch als ich meine Lage erkannte , ward ich voll Furcht und suchte einen Ausgang , fand aber die Türen verschlossen , durch welche ich hereingekommen war . Nun schickte ich mich in das Geschehene und begann von neuem alle Seltsamkeiten dieser Räume zu untersuchen . Ich betastete die raschelnden , papiernen Herrlichkeiten und legte das Mäntelchen und den Degen des Mephistopheles , welche auf einem Stuhle lagen , über meinen Meerkatzenhabit um So spazierte ich in dem hellen Mondscheine auf und nieder , zog den Degen und fing an zu gestikulieren . Dann entdeckte ich die Maschinerie des Vorhanges , und es gelang mir , denselben aufzuziehen . Da lag der Zuschauerraum dunkel und schwarz vor mir wie ein erblindetes Auge ; ich stieg in das Orchester hinab , wo die Instrumente umherlagen und nur Violinen sorgfältig in Kästchen verschlossen waren . Auf den Pauken lagen die schlanken Hämmer , welche ich ergriff und zagend gegen das Fell schlug , daß es einen dumpf grollenden Ton gab . Jetzt wurde ich kühner und schlug stärker , bis es zuletzt wie ein Gewitter durch den leeren , mitternächtlichen Saal hallte . Ich ließ den Donner anschwellen und wieder abnehmen , und wenn er verklang , so dünkten mich die unheimlichen Pausen noch schöner als das Geräusch selbst . Endlich erschrak ich über meinem Tun , warf die Schlegel hin und getraute mir kaum über die Bänke des Parterre hinwegzusteigen und mich zuhinterst an der Wand hinzusetzen . Ich fror und wünschte zu Hause zu sein , auch ward es mir bange in meiner Einsamkeit . Die Fenster in diesem Teile des Saales waren dicht verschlossen , so daß nur die Bühne , welche immer noch den Kerker vorstellte , durch das Mondlicht magisch beleuchtet war . Im Hintergrunde stand das Pförtchen noch offen , wo Gretchen gelegen haue , ein bleicher Strahl fiel auf das Strohlager ; ich dachte an das schöne Gretchen , welches nun hingerichtet sein werde , und der stille , mondhelle Kerker kam mir zauberhafter und heiliger vor als dem Faust einst Gretchens Kammer . Ich stützte meinen Kopf auf beide Hände und sah mit sehnenden Blicken hinüber , besonders in die vom Lichte halb bestreifte Vertiefung , wo das Stroh lag . Da regte es sich im Dunkel , atemlos sah ich hin , und jetzt stand eine weiße Gestalt in jenem Winkel ; es war Gretchen , wie ich sie zuletzt gesehen hatte . Mich schauerte es vom Wirbel bis zur Zehe , meine Zähne schlugen zusammen , während doch ein mächtiges Gefühl glücklicher Überraschung mich durchzuckte und erwärmte . Ja , es war Gretchen , es war ihr Geist , obgleich ich in der Entfernung ihre Züge nicht unterscheiden konnte , was die Erscheinung noch geisterhafter machte . Sie schien mit dunklen Blicken in dem Raume umherzusuchen , ich richtete mich empor , es zog mich vorwärts wie mit gewaltigen , unsichtbaren Händen , und während mein Herz hörbar klopfte , schritt ich über die Bänke gegen das Proszenium hin , jeden Schritt einen Augenblick anhaltend . Die Pelzumhüllung machte meine Füße unhörbar , so daß mich die Gestalt nicht bemerkte , bis ich , an dem Souffleurkasten hinaufklimmend , in meiner befremdlichen Tracht vom ersten Mondstrahle bestreift wurde . Ich sah , wie sie entsetzt ihr glühendes Auge auf mich richtete und , doch lautlos , zusammenfuhr . Einen leisen Schritt trat ich näher und hielt wieder ein ; meine Augen waren weit geöffnet , ich hielt die Hände zitternd erhoben , indes ich , von einem frohen Feuer des Mutes durchströmt , auf das Phantom losging . Da rief es mit gebieterischer Stimme : » Halt ! kleines Ding ! was bist du ? « und streckte drohend den Arm gegen mich aus , daß ich fest an der Stelle gebannt blieb . Wir sahen uns unverwandt an ; ich erkannte jetzt ihre Züge wohl , sie hatte ein weißes Nachtkleid umgeschlagen , Hals und Schultern waren entblößt und gaben einen milden Schein , wie nächtlicher Schnee . Ich witterte alsogleich das warme Leben , und der abenteuerliche Mut , den ich dem Gespenste gegenüber empfunden hatte , verwandelte sich in die natürliche Blödigkeit vor dem lebendigen Weibe . Sie hingegen war immer noch zweifelhaft über meine dämonische Erscheinung , und sie rief daher noch einmal : » Wer seid Ihr , kleiner Bursch ? « Kleinlaut antwortete ich : » Ich heiße Heinrich Lee und bin eine von den Meerkatzen ; man hat mich hier eingeschlossen ! « Da trat sie auf mich zu , streifte meine Maske zu rück , faßte mein Gesicht zwischen ihre Hände und rief , indem sie laut lachte : » Herr Gott ! das ist die aufmerksame Meerkatze ! Ei , du kleiner Schalk ! bist du es , der den Lärm gemacht hat , als ob ein Gewitter im Hause wäre ? « – » Ja ! « sagte ich , indem meine Augen fortwährend auf dem weißen Raume ihrer Brust hafteten und mein Herz zum ersten Male wieder so andächtig erfreut war wie einst , wenn ich in das glänzende Feld des Abendrotes geschaut und den lieben Gott darin geahnt hatte . Dann betrachtete ich in vollkommener Ruhe ihr schönes Gesicht und gab mich unbefangen dem süßen Eindrucke ihres reizenden Mundes hin . Sie sah mich eine Weile still und ernsthaft an , dann sprach sie : » Mich dünkt , du bist ein guter Junge ; doch wenn du einst groß geworden , wirst du ein Lümmel sein wie alle ! « Und hiemit schloß sie mich an sich und küßte mich mehrere Male auf meinen Mund , der nur dadurch leise bewegt wurde , daß ich heimlich , von ihren Küssen unterbrochen , ein herzliches Dankgebet an Gott richtete für das herrliche Abenteuer . Hierauf sagte sie : » Es ist nun am besten , du bleibest bei mir , bis es Tag ist ; denn Mitternacht ist längst vorüber ! « und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch einige Türen in ihr Zimmer , wo sie vorher schon geschlafen hatte und durch mein nächtliches Spuken geweckt worden war . Dort ordnete sie am Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht , und als ich darauf lag , hüllte sie sich dicht in einen sammetnen Königsmantel , legte sich der Länge nach auf das Bett und stützte ihre leichten Füße gegen meine Brust , daß mein Herz ganz vergnüglich unter denselben klopfte Somit entschliefen wir und glichen in unserer Lage nicht übel jenen alten Grabmälern , auf welchen ein steinerner Ritter ausgestreckt liegt mit einem treuen Hunde zu Füßen . Zwölftes Kapitel Die Leserfamilie . Lügenzeit Infolge der Sorge und Verwirrung , welche durch mein nächtliches Wegbleiben entstanden , war mir das abendliche Umhertreiben und der Besuch des Theaters streng untersagt worden ; auch am Tage wurde ich sorgfältiger beaufsichtigt und in meinem Umgange mit den Kindern der armen Leute beschränkt , welchen man fälschlicherweise eine verderbliche und ansteckende Ungebundenheit zuschrieb . So hatten die fremden Schauspieler die Stadt verlassen , ohne daß ich jene Frau , der mein Herz nun ganz gehörte , wiedergesehen . Als ich vernahm , daß die Gesellschaft fortgereist sei , bemächtigte sich meiner eine tiefe Traurigkeit , welche längere Zeit anhielt . Je unbekannter mir die Gegend war , wo sie hingezogen sein mochte , desto mehr war mir alles Land , welches jenseits der Berge lag , ein Land unbestimmter Wünsche und dunklen Verlangens . Um diese Zeit schloß ich mich enger an einen Knaben , dessen erwachsene , lesebegierige Schwestern eine Unzahl schlechter Romane zusammengetragen hatten . Verlorengegangene Bände aus Leihbibliotheken , geringer Abfall aus vornehmen Häusern oder von Trödlern erstanden , lagen in der Wohnung dieser Leute auf Gesimsen , Bänken und Tischen umher , und an Sonntagen konnte man nicht nur die Geschwister und ihre Liebhaber , sondern Vater und Mutter , und wer sonst noch da war , in die Lektüre der schmutzig aussehenden Bücher vertieft finden . Die Alten waren törichte Leute , welche in dieser Unterhaltung Stoff zu törichten Gesprächen suchten ; die Jungen hingegen erhitzten ihre Vorstellungskraft an den gemeinen unpoetischen Machwerken , oder vielmehr sie suchten hier die bessere Welt , welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte . Die Romane zerfielen hauptsächlich in zwei Arten . Die eine enthielt den Ausdruck der üblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jämmerlichen Briefwechseln und Verführungsgeschichten , die andere bestand aus derben Ritterromanen . Die Mädchen hielten sich mit großem Interesse an die erste Art und ließen sich dazu von ihren teilnehmenden Liebhabern sattsam küssen und liebkosen ; uns Knaben waren aber diese prosaischen und unsinnlichen Schilderungen einer verwerflichen Sinnlichkeit glücklicherweise noch ungenießbar , und wir begnügten uns damit , irgendeine Rittergeschichte zu ergreifen und uns mit derselben zurückzuziehen . Die unzweideutige Genugtuung , welche in diesen groben Dichtungen waltete , war meinen angeregten Gefühlen wohltätig und gab ihnen Gestalt und Namen . Wir wußten die schönsten Geschichten bald auswendig und spielten sie , wo wir gingen und standen , mit immer neuer Lust ab , auf Estrichen und Höfen , in Wald und Berg , und ergänzten das Personal vorweg aus willfährigen Jungen , die in der Eile abgerichtet wurden . Aus diesen Spielen gingen nach und nach selbsterfundene fortlaufende Geschichten und Abenteuer hervor , welche zuletzt dahin ausarteten , daß jeder seine große Herzens- und Rittergeschichte besaß , deren Verlauf er dem andern mit allem Ernste berichtete , so daß wir uns in ein ungeheures Lügennetz verwoben und verstrickt sahen ; denn wir trugen unsere erfundenen Erlebnisse gegenseitig einander so vor , als ob wir unbedingten Glauben forderten , und gewährten uns denselben auch , in eigennütziger Absicht , scheinbar . Mir wurde diese trügliche Wahrhaftigkeit leicht , weil der Hauptgegenstand unserer Geschichten beiderseits immer eine glänzende und ausgezeichnete Dame unserer Stadt war und ich diejenige , die ich für meine Lügen auserwählt , bald mit meiner wirklichen Neigung und Verehrung bekleidete . Daneben hatten wir mächtige Feinde und Nebenbuhler , als welche wir angesehene , ritterliche Offiziere bezeichneten , die wir oft zu Pferde sitzen sahen . Verborgene Reichtümer waren in unserer Gewalt , und wir bauten aus denselben wunderbare Schlösser an entlegenen Punkten , welche wir mit wichtiger Geschäftsmiene zu beaufsichtigen vorgaben . Jedoch beschäftigte sich die Einbildungskraft meines Genossen überdies mit allerhand Kniffen und Ränken und war eher auf Besitz und leibliches Wohlsein gerichtet , in welcher Beziehung er die sonderbarsten Dinge erfand , während ich alle Erfindungsgabe auf meine erwählte Geliebte verwandte und seine kleinlichen und mühsamen Geldverhältnisse , welche er unablässig zusammenträumte , mit einer kolossalen Lüge von einem gehobenen unermeßlichen Schatze überbot und kurz abfertigte . Dieses mochte ihn ärgern , und wahrend ich , zufrieden in meiner ersonnenen Welt , mich wenig um die Wahrheit seiner Prahlereien bekümmerte , fing er an , mich mit Zweifeln an der Wahrheit der meinigen zu quälen und auf Beweise zu dringen . Als ich einst flüchtig von einer mit Gold und Silber gefüllten Kiste erzählte , welche ich in unserm Kellergewölbe stehen hätte , drang er auf das heftigste darauf , dieselbe zu sehen . Ich gab ihm eine Stunde an , zu welcher dies möglich wäre , und er fand sich pünktlich ein und versetzte mich in eine Verlegenheit , an welche ich im mindesten bisher noch nie gedacht hatte . Aber schnell hieß ich ihn eine Weile warten vor dem Hause und eilte in die Stube zurück , wo in dem Schreibtisch meiner Mutter ein hölzernes Kästchen stand , welches einen kleinen Schatz an alten und neuen Silbermünzen und einige Dukaten enthielt . Dieser Schatz umfaßte einesteils die Patengeschenke aus der Kinderzeit meiner Mutter , andernteils meine eigenen und war sämtlich mein erklärtes Eigentum . Die Hauptzierde aber war eine mächtige goldene Schaumünze von der Größe eines Talers und bedeutendem Werte , welche Frau Margret in einer guten Stunde mir geschenkt und der Mutter in sichern Verwahrsam gegeben hatte zum treuen Angedenken , wenn ich einst erwachsen , sie hingegen nicht mehr sein werde . Ich durfte das Kästchen hervornehmen und den glänzenden Schatz beschauen , sooft ich wollte ; auch hatte ich denselben schon in allen Gegenden des Hauses herumgetragen . Ich nahm ihn also jetzt und trug ihn in das Gewölbe hinunter und legte das Kästchen in eine Kiste , welche mit Stroh gefüllt war . Dann hieß ich den Zweifler mit geheimnisvoller Gebärde hereinkommen , lüftete den Deckel der Kiste ein wenig und zog das Kästchen hervor . Als ich es öffnete , blinkten ihm die blanken Silberstücke gar hell entgegen ; als ich aber die Dukaten und zuletzt die große Münze hervornahm , daß sie im Zwielichte seltsam funkelte und der alte Schweizer mit dem Banner , der darauf geprägt war , sowie der Kranz von Wappenschilden zutage traten , da machte er große Augen und wollte mit allen fünf Fingern in das Kästchen fahren . Ich schlug es aber zu , legte es wieder in die Kiste und sagte : » Siehst du , solcher Dinge ist die Kiste voll ! « Damit schob ich ihn aus dem Keller und zog den Schlüssel ab . Er war nun für einmal geschlagen ; denn obgleich er von der Unwirklichkeit unserer Märchen überzeugt war , so gestattete ihm doch der bisher festgehaltene Ton unseres Verkehrs nicht , weiterzudringen , da es auch hier die rücksichtsvolle Höflichkeit des Lebens erforderte , den mit guter Manier vorgetragenen blauen Dunst bestehen zu lassen . Vielmehr gab meinem Freunde diese vorläufige Toleranz Gelegenheit , mich zu weiteren Lügen zu reizen und auf immer bedenklichere Proben zu stellen . Wir trafen bald darauf , als es gerade Meßzeit war , am Seeufer zusammen , vor den Krambuden flanierend , die dort in langen Straßen sich aneinanderreihten , und begrüßten uns wie Macbeths Hexen mit : » Was hast du geschafft ? « Wir standen vor dem Magazine eines Italieners , welcher neben südlichen Eßwaren auch glänzende Bijouterien und Spielereien feilbot . Feigen , Mandeln und Datteln , Kisten voll reinlich weißer Makkaroni , besonders aber Berge ungeheurer Salamiwürste reizten den Sinn meines Gesellen zu kühnen Phantasien , indessen ich zierliche Frauenkämme , Ölfläschchen und Schalen voll schwarzer Räucherkerzchen betrachtete und ungefähr dachte , wo diese Dinge gebraucht würden , da wäre es gut sein . » Ich habe soeben « , begann mein Lügengefährte , » solch eine Salamiwurst gekauft , zur Probe , ob ich für mein nächstes Bankett eine Kiste voll anschaffen soll . Ich habe sie angebissen , fand sie aber abscheulich und schleuderte sie in den See hinaus ; die Wurst muß noch dort schwimmen , ich sah sie den Augenblick noch . « Wir blickten auf den schimmernden Wellenspiegel hinaus , wo zwischen den Marktschiffen wohl etwa ein Apfel oder ein Salatblatt umhertrieb , aber keine Salami zu sehen war . » Ei , es wird wohl ein Hecht danach geschnappt haben ! « sagte ich gutmütig , und er gab diese Möglichkeit zu und fragte mich , ob ich nicht auch Einkäufe machen wolle ? » Freilich « , erwiderte ich , » ich möchte wohl diese Kette haben für meine Geliebte ! « und wies auf eine unechte , aber hell vergoldete Halskette . Jetzt ließ er mich nicht mehr los , sondern umwickelte mich mit einem moralischen Zwangsnetze , indem ihm die Neugierde , ob ich wirklich über meinen geheimnisvollen Schatz frei verfüge , die Worte dazu lieh . So hatte ich keinen andern Ausweg , als nach Hause zu laufen und mir mit meinem Sparkästen zu schaffen zu machen . Einige Augenblicke nachher ging ich wieder davon , einige glänzende Silberstücke in der festverschlossenen Hand , mit klopfender Brust dem Markte zu , wo mein lauernder Dämon mich empfing . Wir handelten um die Kette oder gaben vielmehr , was der Italiener forderte ; ich wählte noch ein Armband von Agatplatten und einen Ring mit einer roten Glaspaste ; der Kaufmann besah mich und die schönen Gulden mit wunderlichen Blicken , steckte sie aber nichtsdestoweniger ein ; ich aber wurde schon auf dem Wege nach dem Hause fortgedrängt , wo meine Dame wohnte . Auf einem abgelegenen Platze standen etwa sechs Herrenhäuser , deren Besitzer sich durch den Seidenhandel auf der Höhe früherer Vornehmheit erhielten . Weder eine Schenke noch ein sonstiges niederes Gewerbe zeigte sich in dieser Gegend , welche still und einsam in ihrer Reinlichkeit ruhte ; das Pflaster war weißer und besser als in anderen Stadtteilen , und kostbare eiserne Hofgeländer begrenzten dasselbe . In dem größten und vornehmsten dieser Häuser wohnte der Gegenstand meiner Lügen , eine jener jungen anmutigen Damen , welche , gut und elegant gewachsen , mit rosiger Gesichtsfarbe , großen , lachenden Augen und freundlichen Lippen , mit reichen Locken , wehenden Schleiern und seidenen Gewändern die Unerfahrenheit berücken und selbst gefurchte Stirnen aufheitern , sozusagen die Schönheit schlechthin darstellend . Wir standen schon vor dem prächtigen Portale , und mein Begleiter schloß seine Überredungen , daß ich jetzt oder nie meiner Gebieterin die Geschenke überbringen müßte , endlich dadurch , daß er frech den glänzenden Griff der Hausglocke packte und anzog . Aber trotz seiner Frechheit , würde ein Aristokrat sagen , reichte doch die Energie seines Plebejertumes nicht aus , ein kräftiges Geklingel hervorzubringen ; es gab nur einen einzigen zaghaften Ton , welcher im Innern des großen Hauses verhallte . Nach einigen Sekunden ruckte der eine Torflügel um ein unmerkliches , und mein Begleiter schob mich hinein , was ich , aus Furcht vor allem Geräusche , willenlos geschehen ließ . Da stand ich in unsäglicher Beklemmung neben einer breiten steinernen Treppe , welche sich oben zwischen geräumigen Galerien verlor . Ich hielt Armband und Ring in die Hand gepreßt , und die Kette quoll teilweise zwischen den Fingern hervor ; in der Höhe ertönten Tritte , welche von allen Seiten widerhallten , und jemand rief herunter , wer da sei ? Doch hielt ich mich still , man konnte mich nicht sehen und ging wieder , Türen hinter sich zuschlagend . Nun stieg ich langsam die Treppe hinan , mich vorsichtig umsehend ; an allen Wänden hingen große Ölgemälde , entweder wunderliche Landschaften oder grobe Stilleben enthaltend ; die Decken waren in weißer Stukkatur gearbeitet mit kleinen Fresken dazwischen , und in abgemessenen Entfernungen standen hohe dunkelbraune Türen von Nußbaumholz , eingefaßt von Säulen und Giebeln von der gleichen Art , alles glänzend poliert . Jeder meiner Schritte erweckte Geräusch in den Wölbungen , ich wagte kaum zu gehen und dachte doch nicht daran , was ich sagen wollte , wenn ich überrascht würde . Vor jeder Tür lag eine Strohmatte , aber vor einer allein lag eine besonders reich und zierlich geflochtene von farbigem Stroh ; daneben stand ein altes , vergoldetes Tischchen und auf diesem ein Arbeitskörbchen mit Strickzeug , einigen Äpfeln und einem hübschen , silbernen Messerchen zuäußerst am Rande , als ob es soeben hingestellt wäre . Ich vermutete , daß hier der Aufenthalt des Fräuleins sei , und im Augenblicke nur an sie denkend , legte ich meine Kleinodien mitten auf die Matte , nur den Ring zuunterst in das Körbchen auf einen feinen Handschuh . Dann aber eilte ich trepphinunter aus dem Hause , wo ich meinen Quälgeist ungeduldig meiner wartend fand . » Hast du es getan ? « rief er mir entgegen . » Ja freilich « , erwiderte ich mit leichterm Herzen . » Das ist nicht wahr « , sagte er wieder , » sie sitzt ja die ganze Zeit an jenem Fenster dort und hat sich nicht gerührt . « Wirklich war die schöne Frau hinter dem glänzenden Fenster sichtbar und gerade in der Gegend des Hauses , wo jene Zimmertür sein mochte . Ich erschrak heftig , sagte aber : » Ich schwöre dir , ich habe die Kette und das Armband zu ihren Füßen gelegt und den Ring an ihren Finger gesteckt ! « – » Bei Gott ? « – » Ja , bei Gott ! « rief ich . » Nun mußt du ihr aber noch eine Kußhand zuwerfen , und wenn du es nicht tust , so hast du falsch geschworen ; sieh , sie schaut gerade herunter ! « Wirklich ruhten ihre glänzenden Augen auf uns ; aber der Einfall meines Freundes war ein teuflischer ; denn lieber hätte ich dem Teufel selbst ins Gesicht gespieen , als diese Zumutung erfüllt . Durch meinen jesuitischen Schwur war ich aber erst recht in die Klemme geraten , es gab keinen Ausweg . Rasch küßte ich meine Hand und bewegte sie gegen das Fenster hinauf . Das Mädchen hatte uns aufmerksam angesehen und lachte nun ganz unbändig , indem es freundlich herunternickte ; doch ich lief , so schnell ich konnte , davon . Das Maß war gefüllt , und als mein Gefährte mich in der nächsten Straße wieder erreichte , trat ich vor ihn hin und sagte : » Wie ist's eigentlich mit deiner Salamiwurst ? Meinst du , dieselbe sei hinreichend , dergleichen Sachen , wie ich bestehe , das Gegengewicht zu halten ? « Damit warf ich ihn unversehens nieder und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht , bis mich ein Mann weghob und rief : » Die Teufelsjungen müssen sich doch immer raufen ! « Das war das allererste Mal in meinem Leben , daß ich einen Schul- und Jugendgenossen schlug ; ich konnte denselben nicht mehr ansehen , und zugleich war ich vom Lügen für einmal gründlich geheilt . In dem lesebeflissenen Hause wurden indessen der Vorrat an schlechten Büchern und die Torheit immer größer . Die Alten sahen mit seltsamer Freude zu , wie die armen Töchter immer tiefer in ein einfältig verbuhltes Wesen hineingerieten , Liebhaber auf Liebhaber wechselten und doch von keinem heimgeführt wurden , so daß sie mitten in der übelriechenden Bibliothek sitzenblieben mit einer Herde kleiner Kinder , welche mit den zerlesenen Büchern spielten und dieselben zerrissen . Die Lesewut wuchs nichtsdestominder fortwährend , weil sie nun Zank , Not und Sorge vergessen ließ , so daß man in der Behausung nichts sah als Bücher , aufgehängte Windeln und die viefältigen Erinnerungen an die Galanterie der ungetreuen Ritter , wie gemalte Blumenkränze mit Sprüchen , Stammbücher voll verliebter Verse und Freundschaftstempel , künstliche Ostereier , in welchen ein kleiner Amor verborgen lag , und dergleichen . Alles in allem genommen will es mir scheinen , daß auch dieses Elend sowohl wie das entgegengesetzte Extrem , die religiöse Sektiererei und das fanatische Bibelauslegen armer Leute , wie ich es im Hause der Frau Margret fand , nur die Spur derselben Herzensbedürfnisse und das Suchen nach einer besseren Wirklichkeit gewesen sei . Bei dem Sohne dieses Hauses machte sich , als er größer wurde , die vielgeübte Phantasie auf andere , nicht minder bedenkliche Weise geltend . Er wurde sehr genußsüchtig , lag schon als Handelslehrling in den Wirtshäusern als ein eifriger Spieler und war bei jedem öffentlichen Vergnügen zu sehen . Dazu brauchte er viel Geld , und um sich dieses zu verschaffen , verfiel er auf die sonderbarsten Erfindungen , Lügen und Ränke , welche ihm nur eine Art Fortsetzung der früheren Romantik waren . Jedoch hielt dies nur halb verdächtige Treiben nicht lange vor , vielmehr sah er sich bald darauf verwiesen , zuzugreifen , wo er konnte . Denn er gehörte zu jenen Menschen , die nicht gesonnen sind , sich in ihren Begierden im mindesten zu beschränken , und in der Gemeinheit ihrer Gesinnung dem Nächsten mit List oder Gewalt das entreißen , was er gutwillig nicht lassen will . Diese niedere Gesinnung ist gleichmäßig der Ursprung scheinbar ganz verschiedener Erscheinungen . Sie beseelt den ungeliebten Herrscher , der , in seinem Dasein jedem Kind im Lande ein Überdruß , doch nicht von seiner Stelle weicht und nicht zu stolz ist , sich vom Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes zu nähren ; sie ist der Kern der Leidenschaftlichkeit eines Verliebten , welcher , nachdem er einmal die bestimmte Erklärung der Nichterwiderung erhalten hat , sich nicht sogleich bescheidet , sondern mit gewaltsamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben verbittert ; wie in allen diesen Zügen lebt sie endlich auch in der Selbstsucht des Betrügers und Diebes jeglicher Art , groß und klein ; überall ist sie ein unverschämtes Zugreifen , zu welchem mein ehemaliger Gefährte nun auch seine Zuflucht nahm . Ich hatte ihn im Verlaufe der Zeit ganz aus den Augen verloren , während er schon mehrere Male im Gefängnisse gesessen hatte , und dachte eines Tages an nichts weniger als an ihn , da ich einen verkommenen Menschen durch die Häscher dem Zuchthause zuführen sah . In demselben ist er seither gestorben . Dreizehntes Kapitel Waffenfrühling . Frühes Verschulden Ich war nun zwölf Jahre alt , so daß meine Mutter auf meine weitere Schulbildung denken mußte . Der Plan des Vaters , daß