Erstes Kapitel Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln , von dem , was er bedeutet , was er will und was er vermag . Wie er für die Welt im ganzen Schiwa und Wischnu , Zerstörer und Erhalter in einer Person ist , kann ich freilich nicht auseinandersetzen , denn das ist die Sache der Geschichte ; aber schildern kann ich , wie er im einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt und wirken wird bis an der Welt Ende . Dem Hunger , der heiligen Macht des echten , wahren Hungers widme ich diese Blätter , und sie gehören ihm auch von Rechts wegen , was am Schluß hoffentlich vollkommen klargeworden sein wird . Mit letzterer Versicherung bin ich einer weiteren Vorrede , welche zur Gemütlichkeit , Erregung und Aufregung des Lesers doch nur das wenigste beitragen würde , überhoben und beginne meine Geschichte mit unbegrenztem Wohlwollen sowohl gegen Mitwelt und Nachwelt als auch gegen mich selber und alle mir im Lauf der Erzählung vorübergleitenden Schattenbilder des großen Entstehens , Seins und Vergehens – des unendlichen Werdens , welches man Weltentwicklung nennt , welches freilich ein wenig interessanter und reicher als dieses Buch ist , das aber auch nicht wie dieses Buch in drei Teilen zu einem befriedigenden Abschluß kommen muß . » Da haben wir den Jungen ! Da haben wir ihn endlich – endlich ! « rief der Vater meines Helden und tat einen langen , erleichternden Atemzug , wie ein Mann , der langes , vergebliches Sehnen , schwere Arbeit , viele Mühen und Sorgen getragen hat und endlich glücklich zu einem glücklichen Ziel gekommen ist . Mit klugen , glänzenden Augen sah er herab auf das unansehnliche , kümmerliche Stück Menschentum , welches ihm die Wehemutter in die Arme gelegt hatte , grad als die Feierabendglocke erklang . Eine Träne stahl sich über die hagere Wange des Mannes ; und die scharfe , spitze , kluge väterliche Nase senkte sich immer tiefer gegen das unbedeutende , kaum erkennbare Näschen des Neugeborenen , bis sie plötzlich mit einem Ruck wieder emporfuhr und sich ängstlich fragend gegen die gute , hülfreiche Frau , die soviel zu seinem Entzücken beigetragen hatte , richtete . » O Frau Gevatterin – Gevatterin Tiebus , es ist doch wirklich , wirklich einer ? Sagt 's noch einmal , daß Ihr Euch nicht irrt – daß dem wirklich , wirklich also ist ! « Die Wehemutter , die bis jetzt mit selbstbewußtem , lächelndem Kopfnicken der ersten zärtlichen Begrüßung zwischen Vater und Sohn zugesehen hatte , hob nun ebenfalls ihre Nase sehr ruckartig , verscheuchte mit einer unnachahmlichen Bewegung beider Arme alle Geister und Geisterchen des Wohlwollens und der Zufriedenheit , von welchen sie bis jetzt umflattert wurde , stemmte die Fäuste in die Seite , und mit Hohn , Verachtung und beleidigtem Selbstgefühl sprach sie : » Meister Unwirrsch , Ihr seid ein Narr ! Laßt Euch an die Wand malen ! ... Ob es einer ist ? – Hat die Welt je so was gehört von solchem alten , verständigen Menschen und Hausvater ? ... Ob es einer ist !? Meister Unwirrsch , ich glaube , nächstens verlernt Ihr noch , einen Stiefel von einem Schuh zu unterscheiden . Da sieht man 's recht , was für ein Leiden es ist , wenn die Gottesgabe so spät kommt . Ist das kein Junge , den Ihr da haltet ? Ist das wirklich kein Junge , kein richtiger , echter Junge ? Jesus , wenn die alte Kreatur nicht das arme Geschöpf in den Armen hielte , so möchte ich ihr schon eine Tachtel um solch 'ne nichtsnutzige , fürwitzige Frage stechen ! Kein Junge !? Wohl ist es ein Junge , Gevatter Pechdraht – zwaren keiner von die schwersten ; aber doch 'n Junge wie was ! Und wieso ist 's kein Junge ? Ist nicht der Buohnohparteh , der Napohlion , wieder unterwegens übers Wasser , und gibt 's nicht Krieg und Katzbalgerei zwischen heut und morgen , und braucht man etwan keine Jungen , und werden nicht etwan in jetziger gesegneter und geschlagener Zeit mehr Jungen als Mädchen drum in die Welt gesetzt , und kommen nicht auf ein Mädchen drei Jungen , und kommt Ihr mir so , Gevatter , und wollt einer gewickelten und gewiegten Perschon nichtswürdige Fragen stellen ? Laßt Euch an die Wand malen , Gevatter Unwirrsch , und drunter schreiben , wofür ich Euch halte . Gebt her den Jungen ; Ihr seid gar nicht wert , daß er sich mit Euch abgibt – marsch fort mit Euch zu Eurer Frau – am Ende fragt Ihr die auch , noch , ob 's – ein – Junge – ist ! « Unsanft wurde das Wickelkind aus den Armen des verachteten , niedergeschmetterten Vaters gerissen , und nach abermaligem Atemholen humpelte der Meister Anton Unwirrsch in die Kammer zu seiner Frau , und die Glocken des Feierabends läuteten immer noch ; wir aber wollen weder die beiden Ehegatten noch die Glocken stören – sie sollen ihre Gefühle ausklingen lassen , und niemand soll dreinreden und -schreien dürfen . – Arme Leute und reiche Leute leben auf verschiedene Art in dieser Welt : aber wenn die Sonne des Glücks in ihre Hütten , Häuser oder Paläste fällt , so vergoldet sie mit ganz dem nämlichen Schein die hölzerne Bank wie den Sammetsessel , die getünchte Wand wie die vergoldete ; und mehr als ein philosophischer Schlaukopf will bemerkt haben , daß , was Freude und Leid betrifft , der Unterschied zwischen reichen und armen Leuten gar so groß nicht sei , wie man auf beiden Seiten oft , sehr oft , ungemein oft denkt . Wir wollen das dahingestellt sein lassen : uns genügt es , daß das Lachen nicht Monopol und das Weinen nicht Servitut ist auf diesem rundlichen , an beiden Polen abgeplatteten , feuergefüllten Ball , auf welchem wir uns ohne unsern Willen einfinden und von welchem wir ohne unsern Willen abgehen , nachdem uns der Zwischenraum zwischen Kommen und Gehen sauer genug gemacht wurde . In armer Leute Haus schien jetzt die Sonne , das Glück beugte sein Haupt unter der niedern Tür und trat lächelnd herein , beide Hände offen zum Gruß darbietend . Es war hohe Freude über die Geburt des Sohnes bei den Eltern , dem Schuster Unwirrsch und seiner Frau , welche so lange drauf gewartet hatten , daß sie nahe daran waren , solche Hoffnung gänzlich aufzugeben . Und nun war er doch gekommen , gekommen eine Stunde vor dem Feierabend ! Die ganze Kröppelstraße wußte bereits um das Ereignis , und selbst zum Meister Nikolaus Grünebaum , dem Bruder der Wöchnerin , der ziemlich am andern Ende der Stadt wohnte , war die frohe Botschaft gedrungen . Ein grinsender Schusterjunge , der seine Pantoffeln , um schneller laufen zu können , unter den Arm genommen hatte , brachte die Nachricht dahin und schrie sie atemlos dem Meister in das weniger taube Ohr , was zur Folge hatte , daß der gute Mann während fünf Minuten viel dümmer aussah , als er war . Jetzt aber war er bereits auf dem Wege zur Kröppelstraße , und da er als Bürger , Hausbesitzer und ansässiger Meister die Pantoffeln nicht unter den Arm nehmen konnte , so war davon die Folge , daß ihn der eine treulos an einer Straßenecke verließ , um das Leben auf eigene Hand oder vielmehr auf eigener Sohle anzufangen . Als der Oheim Grünebaum in dem Hause seines Schwagers anlangte , fand er daselbst so viele gute Nachbarinnen mit Ratschlägen und Meinungsäußerungen vor , daß er sich in seiner jammerhaften Eigenschaft als alter Junggesell und ausgesprochener Weiberhasser höchst überflüssig erscheinen mußte . Er erschien sich auch in solchem Lichte und wäre beinahe umgekehrt , wenn ihn nicht der Gedanke an den in dem » Lärmsal « elendig verlassenen Schwager und Handwerksgenossen doch dazu gebracht hätte , seine Gefühle zu bemeistern . Brummend und grunzend drängte er sich durch das Frauenvolk und fand endlich richtig den Schwager in einer auch nicht sehr beneidenswerten und leuchtenden Lage und Stellung . Man hatte den Armen vollständig beiseite geschoben . Aus der Kammer der Wöchnerin hatte ihn die Frau Tiebus hinausgemaßregelt ; in der Stube unter den Nachbarinnen war er auch vollkommen überflüssig ; der Gevatter Grünebaum entdeckte ihn endlich in einem Winkel , wo er kümmerlich zusammengedrückt auf einem Schemel saß und Teilnahme nur an der Hauskatze fand , die sich an seinen Beinen rieb . Aber in seinen Augen war noch immer jener Glanz , der aus einer andern Welt zu stammen scheint : der Meister Unwirrsch hörte nichts von dem Flüstern und Schnattern der Weiber , er sah nichts von ihrem Durcheinander , er sah auch den Schwager nicht ; bis dieser ihn an den Schultern packte und ihn auf nicht sehr sanfte Art ins Bewußtsein zurückschüttelte . » Gib 'n Zeichen , daß du noch beis labendige Dasein bist , Anton ! « brummte der Meister Grünebaum . » Sei 'n Mensch und 'n Mann , wirf die Weibsleute raus , alle , bis auf – bis auf die Base Schlotterbeck dort . Denn obschonst der Deibel die Graden und die Ungraden nimmt , so ist das doch die einzigste drunter , die 'nen Menschen wenigstens alle Stunde einmal zu Worte kommen läßt . Willst du nicht ? Kannst du nicht ? Darfst du nicht ? Auch gut , so faß hinten meine Jacke , daß ich dich sicher aus dem Tumult bringe ; komm die Treppe herauf und laß es gehen , wie es will . Also der Junge ist da ? Na , gottlob ! Ich dachte schon , wir hätten wieder vergeblich gelauert . « Durch die Weiber schoben sich seitwärts die beiden Handwerksgenossen , gelangten mit Mühe auf den Hausflur und stiegen die enge , knarrende Treppe hinauf , welche in das obere Stockwerk des Hauses führte , allwo die Base Schlotterbeck ein Stübchen , eine Kammer und eine Küche gemietet hatte und wo also die Familie Unwirrsch nur noch über ein Gemach gebot , das so mit Gegenständen von allerlei Art vollgepfropft war , daß für die beiden ehrenwerten Gildebrüder kaum noch der nötige Platz zum Niederhocken und Seelenaustausch übrigblieb . Kisten und Kasten , Kräuterbündel , Maiskolben , Lederbündel , Zwiebelbündel , Schinken , Würste , unendliche Rumpeleien waren hier mit wahrhaft genialer Geschicklichkeit neben- , unter- , über- , vor- und zwischeneinandergedrängt , – gehängt , – gestellt , – gestopft und – geworfen ; und kein Wunder war's , wenn der Schwager Grünebaum hier seinen zweiten Pantoffel verlor . Aber die letzten Strahlen der Sonne fielen durch die beiden niedrigen Fenster in den Raum ; vor den Nachbarinnen und der Frau Tiebus war man in Sicherheit ; auf zwei Kisten setzten sich die beiden Meister einander gegenüber nieder , reichten sich die Hände und schüttelten sie während wohlgezählter fünf Minuten . » Gratulabumdum , Anton ! « sagte Nikolaus Grünebaum . » Ich danke dir , Nikolaus ! « sagte Anton Unwirrsch . » Vivat , er ist da ! Vivat , er lebe hoch ! – nochmals , ab – « schrie aus vollem Halse der Meister Grünebaum , brach aber ab , als ihm der Schwager die Hand auf den Mund drückte . » Nicht so laut , um Gottes willen nicht so laut , Niklas ! Die Frau liegt hier grade unter uns und hat so schon ihre liebe Not mit den Weibern . « Die Faust ließ der neue Onkel auf seine Knie fallen : » Hast recht , Bruderherz : der Deibel hole die Graden und die Ungraden . Aber nun geh mal los , Alter ; wie ist dir denn zumute ? Allewege ganz und gar nicht wie sonsten ? Hoho ! Wie sieht denn die Kröte aus ? Alles an die rechte Stelle ? Nase , Mund , Arm und Bein ? Nichts vermalhört ? Alles in Ordnung : Strippen und Schäfte , Oberleder , Spann , Hacken und Sohle ? Gut verpicht , vernagelt und adrett gewichst ? « » Alles , wie es sein muß , Bruderherz ! « rief der glückliche Vater , die Hände aneinander reibend . » Ein Staatsjunge ! Gott segne uns in ihm . O Niklas , tausenderlei wollt ich dir sagen , aber es würgt mich zu sehr in der Kehle ; alles geht rund mit mir um – « » Laß es gehen , wie 's will ; wenn die Katze vom Dach geworfen ist , muß sie sich erst besinnen « , sagte der Schwager Grünebaum . » Die Frau ist doch wohlauf ? « » Gott sei's gedankt . Sie hat sich gehalten wie eine Heldin ; keine Kaiserin hätt 's besser gemacht . « » Sie ist eine Grünebaum « , sagte Nikolaus mit Selbstbewußtsein , » und die Grünebäume können im Notfall die Zähne zusammenbeißen . Auf was für 'n Namen willst du den Jungen gehen lassen , Anton ? « Mit der hagern Hand fuhr der Vater des Neugeborenen über die hohe , furchenreiche Stirn und starrte einige Augenblicke durch das Fenster ins Weite . Dann sagte er : Getauft soll er werden auf drei Handwerksgenossen . Johannes soll er heißen wie der Poete in Nürnberg und Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz , und wie zwei Flügel sollen ihm die beiden Namen sein , daß er damit aufsteige von der Erde zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme . Aber zum dritten will ich ihn Nikolaus nennen , damit er immer wisse , daß er auf der Erde einen treuen Freund und Fürsorger habe , an welchen er sich halten kann , wenn ich nicht mehr vorhanden bin . Das nenn ich 'nen Satz mit 'nem Kopf von Sinn und Verstand und 'nem dicken , unsinnigen Schwanz . Die Namen gib ihm , und es soll für uns alle drei Perschonen 'ne Ehre sein ; aber mit den alten , närrischen Todesschrullen bleib mir vom Leibe . Fett bist du nicht , und 'nen Ochsen schlägst du auch grade nicht mit dem bloßen Knieriemen nieder ; aber den Pechdraht kannst du noch manch hübsches Jährlein ziehen , du alter , spintisierender Bücherhase , du . « Der Meister Unwirrsch schüttelte den Kopf und brachte die Rede auf was anderes , und mancherlei sprachen die beiden Schwäger noch miteinander , bis es vollständig Dämmerung in der Rumpelkammer geworden war . Es klopfte jemand an die Tür , und der Meister Grünebaum rief : » Wer ist mich da ? Weibervolk wird nicht hereingelassen ! « » Ich bin 's « , rief eine Stimme draußen . » Wer ? « » Iche ! « » 's ist die Base Schlotterbeck « , sagte Unwirrsch . » Schieb nur den Riegel zurück ; wir haben lange genug hier oben gesessen : vielleicht darf ich die Frau noch einmal sehen . « Brummend gehorchte der Schwager , und die Base leuchtete mit ihrer Lampe in die Kammer . » Richtig , da sitzen sie . Na , kommt nur , ihr Helden ; die Nachbarinnen sind fort . Kriecht hervor ! Eure Frau , Meister Unwirrsch ? Ja , die ist wohlberaten ; sie schläft , und Ihr dürft sie nicht stören : aber 'ne Neuigkeit sollt Ihr wissen und Gott danken . Drüben über der Gasse beim Juden Freudenstein ist 's heut auch so gegangen wie in diesem Haus ; aber nicht ganz so . Das Kind ist da – auch ein Junge , aber 's Blümchen Freudenstein ist tot , und großes Wehklagen ist drüber . Lobt Gott den Herrn , Meister Unwirrsch ; Ihr aber , Meister Grünebaum , macht Euch fort nach Haus . Nun , nun , Unwirrsch , steht nicht so betroffen da , der Tod tritt ein oder geht vorbei nach Gottes Befehl . Ich bin wie gerädert und will ins Bett kriechen . Gute Nacht , Gevattern . « Die Base Schlotterbeck verschwand hinter ihrer Tür , die beiden Meister schlichen auf den Fußspitzen die Treppe hinab , und der Oheim Grünebaum hatte an diesem Abend in seiner Stammkneipe zum Roten Bock viel weniger das große Wort in Politik , Stadtangelegenheiten und andern Angelegenheiten als sonst . Der Meister Unwirrsch lag die ganze Nacht , ohne ein Auge zuzutun ; der Neugeborne schrie mächtig , und es war kein Wunder , daß diese ungewohnten Töne den Vater wach erhielten und ein wirbelndes Heer von hoffenden und sorgenden Gedanken aufstörten und in wilder Jagd durch Herz und Hirn trieben . Es ist nicht leicht , eine gute Predigt zu machen ; aber leicht ist es auch nicht , einen guten Stiefel anzufertigen . Zu beiden gehört Geschick , viel Geschick ; und Pfuscher und Stümper sollten zum Besten ihrer Mitmenschen lieber ganz davonbleiben . Ich für mein Teil habe eine ungemeine Vorliebe für die Schuster , sowohl in der Gesamtheit bei ihren feierlichen Aufzügen wie auch in ihrer Eigenschaft als Individuen . Es ist , wie das Volk sagt , eine » spintisierende Nation « , und kein anderes Handwerk bringt so treffliche und kuriose Eigentümlichkeiten bei seinen Gildegliedern hervor . Der niedrige Arbeitstisch , der niedrige Schemel , die wassergefüllte Glaskugel , welche das Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft , der scharfe Duft des Leders und des Pechs müssen notwendigerweise eine nachhaltige Wirkung auf die menschliche Natur ausüben , und sie tun es auch mächtig . Was für originelle Käuze hat dieses vortreffliche Handwerk hervorgebracht ! – eine ganze Bibliothek könnte man über » merkwürdige Schuster « zusammenschreiben , ohne den Stoff im mindesten zu erschöpfen ! Das Licht , das durch die schwebende Glaskugel auf den Arbeitstisch fällt , ist das Reich phantastischer Geister ; es füllt die Einbildungskraft während der nachdenklichen Arbeit mit wunderlichen Gestalten und Bildern und gibt den Gedanken eine Färbung , wie sie ihnen keine andere Lampe , patentiert oder nicht patentiert , verleihen kann . Auf allerlei Reime , seltsame Märlein , Wundergeschichten und lustige und traurige Weltbegebenheiten verfällt man dabei , worüber dann die Nachbarn sich verwundern , wenn man sie mit schwerfälliger Hand zu Papier gebracht hat , und wobei die Frau lacht oder sich fürchtet , wenn man sie in der Dämmerung mit halblauter Stimme summt . Oder aber man fängt an , noch tiefer zu grübeln , und » Not « wird uns , » zu entsinnen des Lebens Anfang « . Immer tiefer sehen wir in die leuchtende Kugel , und in dem Glase sehen wir das Universum in all seinen Gestalten und Naturen : durch die Pforten aller Himmel treten wir frei und erkennen sie mit all ihren Sternen und Elementen ; höchste Ahnungen gehen uns auf , und niederschreiben wir , während der Pastor Primarius Richter von der Kanzel den Pöbel gegen uns aufhetzt und der Büttel von Görlitz , der uns ins Gefängnis bringen soll , vor der Tür steht : » Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen , daß sie nur einen Willen hat . Wenn sie deren zweene hätte , so zerbräche einer den andern und wäre Streit . Sie stehet wohl in viel Kraft und Wundern : aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe , aus welcher Licht und Majestät ausgehet . Alle Kreaturen im Himmel haben einen Willen , und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes Geist , wohl im Centro der Vielheit , im Wachsen und Blühen ; aber Gottes Geist ist das Leben in allen Dingen , Centrum Naturae gibt Wesen , Majestät und Kraft , und der Heilige Geist ist Führer . « Viel sehen wir in der glänzenden Kugel , durch welche die schlechte Lampe so armes Licht wirft , daß wir dabei kaum zu Papier bringen können , was wir sahen ; aber nichtsdestoweniger können wir unter das vollendete Manuskriptum schreiben : Geschrieben nach göttlicher Erleuchtung durch Jakob Böhm , sonsten auch Teutonicus genannt . « Wer gegen die Schuster was hat und ihre Trefflichkeit im einzelnen wie im allgemeinen nicht nach Gebühr zu schätzen weiß , der bleibe mir vom Leibe . Wer sie gar ihres oft wunderbaren Äußern wegen , ihrer krummen Beine , ihrer harten , schwarzen Pfoten , ihrer närrischen Nasen , ihrer ungepflegten Haarwülste halben naserümpfend verachtet , den möge man mir stehlen ; ich werde keine Belohnung um seine Wiedererlangung aussetzen . Ich schätze und liebe die Schuster , und vor allen halte ich hoch den wackern Meister Anton Unwirrsch , den Vater von Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch . Obgleich er leider recht bald nach jenem Feierabend , an welchem ihm der längst erwünschte Sohn geboren wurde , selbst für immer Feierabend machte , so hängen doch aus seinem Leben zu viele Fäden in das des Sohnes hinein , als daß wir die Schilderung seines Seins und Wesens umgehen könnten . Der Mann stand , wie wir bereits wissen , körperlich auf nicht sehr festen Füßen ; aber geistig stand er fest genug und nahm es mit manchem , der sich hoch über ihn erhaben dünkte , auf . Aus allen Reliquien seines verborgenen Daseins geht hervor , daß er die Mängel einer vernachlässigten Ausbildung nach besten Kräften nachzuholen suchte ; es geht daraus hervor , daß er Wissensdrang , viel Wissensdrang hatte . Und wenngleich er niemals vollständig orthographisch schreiben lernte , so war er doch ein dichterisches Gemüt , wie sein berühmter Handwerksgenosse aus der » Mausfalle « zu Nürnberg , und las , soviel er nur irgend konnte . Was er las , verstand er meistens auch ; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand , welchen der Autor hineingelegt hatte , so fand er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein , der ihm ganz allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden sein konnte . Obgleich er sein Handwerk liebte und es in keiner Weise versäumte , so hatte es doch keinen goldenen Boden für ihn , und er blieb ein armer Mann . Goldene Träume aber hatte seine Beschäftigung für ihn , und alle Beschäftigungen , die dergleichen geben können , sind gut und machen glücklich . Anton Unwirrsch sah die Welt von seinem Schusterstuhl fast gradeso , wie sie einst Hans Sachs gesehen hatte , doch wurde er nicht so berühmt . Er hinterließ ein eng und fein geschriebenes Büchlein , welches zuerst seine Witwe in der Tiefe ihrer Lade neben ihrem Gesangbuch , Brautkranz und einem schwanen Kästchen , von welchem später noch die Rede sein wird , aufbewahrte gleich einem Heiligtume . Gleich einem Heiligtume überlieferte die Mutter es dem Sohne , und dieser hat ihm den Ehrenplatz in seiner Bibliothek zwischen der Bibel und dem Shakespeare gegeben , obgleich es nach Gehalt und Poesie ein wenig unter diesen beiden Schriftwerken steht . Die Base Schlotterbeck und der Schwager Grünebaum hatten eine dumpfe Ahnung von dem Vorhandensein dieses Manuskripts , aber wirklich Bescheid darum wußte nur die Frau des Poeten . Für sie war es das Wunderbarste , was man sich vorstellen konnte : es reimte sich ja » wie 's Gesangbuch « , und ihr Mann hatte es gemacht ; das ging über alles , was die Nachbarschaft zutage fördern konnte . Für den Sohn waren diese zusammengehefteten Blätter später ein teures Vermächtnis und ein rührendes Zeichen des ewig aus der Tiefe und Dunkelheit zur Höhe , zum Licht , zur Schönheit emporstrebenden Volksgeistes . Die harmlosen , formlosen Seelenergüsse des Schusters Unwirrsch feierten naturgemäß die Natur in ihren Erscheinungen , das Haus , das Handwerk und einzelne große Fakta der Weltgeschichte , vorzüglich Taten und Helden des eben vorübergedonnerten Befreiungskrieges . Sie zeugten von einem bald gemütlichen , bald gehobenen Denken nach allen diesen Seiten hin . Ein wenig Humor mischte sich auch darein , doch trat das Pathetische am meisten hervor und mußte auch meistens das bekannte Lächeln erregen . Der wackere Meister Anton hatte so viel Donner und Blitz , Hagelschlag , Feuersbrünste und Wassersnot erlebt , hatte so viele Franzosen , Rheinbündler , Preußen , Österreicher und Russen vor seinem Hause vorüberziehen sehen , daß es kein Wunder war , wenn er dann und wann auch ein wenig versuchte zu donnern , zu blitzen und totzuschlagen . Mit den Nachbarn geriet er deshalb nicht in Feindschaft : denn er blieb , was er war , ein » guter Kerl « , und als er starb , trauerte nicht allein die Frau , der Schwager Grünebaum und die Base Schlotterbeck ; nein , die ganze Kröppelstraße wußte und sagte , daß ein guter Mann fortgegangen und daß es schade um ihn sei . Auf die Geburt eines Sohnes hatte er lange und sehnsüchtig gewartet . Oft malte er sich aus , was er daraus machen könnte und wollte . Sein ganzes , eifriges Streben nach Erkenntnis trug er auf ihn über ; der Sohn sollte und mußte erreichen , was der Vater nicht erreichen konnte . Die tausend unübersteiglichen Hindernisse , die das Leben dem Meister Anton in den Weg geworfen hatte , sollten den Lauf des Unwirrsches der Zukunft nicht aufhalten . Frei sollte er die Bahn finden , und keine Pforte der Weisheit , keine der Bildung sollte ihm der Mangel , die Not des Lebens verschließen . So träumte Anton , und ein Jahr der Ehe ging nach dem andern hin . Es wurde eine Tochter geboren , aber sie starb bald nach der Geburt ; dann kam wieder eine lange Zeit nichts , und dann – dann kam endlich Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch , dessen Eintritt in die Welt uns bereits den Stoff zu mehreren der vorhergehenden Seiten gab und dessen spätere Leiden , Freuden , Abenteuer und Fahrten , kurz , dessen Schicksale den größten Teil dieses Buches ausmachen werden . Wir sahen den Schwager und Oheim Grünebaum seinen Pantoffel verlieren , wir sahen und hörten den Tumult der Weiber , lernten die Frau Tiebus und die Base Schlotterbeck kennen ; wir sahen endlich die beiden Schwäger Unwirrsch und Grünebaum in der Rumpelkammer sitzen und sahen die Dämmerung in den ereignisvollen Sonnenuntergang hereinschleichen ; noch ein Jahr lebte der Meister Anton nach der Geburt seines Sohnes , dann starb er an einer Lungenentzündung . Das Schicksal machte es mit ihm nicht anders als mit so manchem andern : es gab ihm sein Teil Freude in der Hoffnung und versagte ihm die Erfüllung , welche von der Hoffnung doch stets allzu weit überflogen wird . Johannes schrie tüchtig in der Todesstunde seines Vaters , doch nicht um den Vater . Die Frau Christine aber schrie sehr um den Gatten und wollte sich lange Zeit weder durch die tröstenden Worte der Base Schlotterbeck noch durch die philosophischen Zusprüche des weisen Meisters Nikolaus Grünebaum beruhigen lassen . Dem Sterbenden versprach der Schwager , sein Bestes zu tun für die Hinterlassenen und ihnen in allen Nöten nach besten Kräften beizustehen . Noch einmal rang Anton Unwirrsch nach Luft ; aber die Luft war für ihn zu sehr mit Feuerflammen gefüllt ; er seufzte und starb . Der Doktor schrieb ihm den Totenschein ; es kam die Frau Kiebike , die Totenfrau , und wusch ihn , sein Sarg war zur rechten Zeit fertig , ein gutes Gefolge von Nachbarn und Freunden gab ihm das Geleit zum Kirchhof , und im Winkel neben dem Ofen saß die Frau Christine , hielt ihr Kind auf dem Schoß und sah mit starren , verweinten Augen auf den niedern , schwarzen Arbeitsschemel und den niedern , schwarzen Arbeitstisch und wollte es noch immer nicht glauben , daß ihr Anton niemals mehr drauf und dran sitzen sollte . Die Base Schlotterbeck räumte die leeren Kuchenteller , die Flaschen und Gläser fort , welche voll den Leidtragenden , den Leichenträgern und den kondolierenden Nachbarinnen zur Stärkung im Jammer vorgesetzt worden waren . Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch kreischte in kindlicher Lust und streckte verlangend die kleinen Hände nach der blitzenden Glaskugel aus , welche über des Vaters Tische hing , auf welche jetzt die Sonne schien und welche einen so merkwürdigen Schein über die Gedankenwelt Anton Unwirrschs gegossen hatte . Der Einfluß dieser Kugel sollte noch lange fortdauern . Die Mutter hatte sich an das Licht derselben so gewöhnt , daß sie es auch nach ihres Mannes Tode nicht entbehren konnte ; es leuchtete weit in das Jünglingsalter des Sohnes hinein , manche Erzählung von des Vaters Wert und Würdigkeit vernahm Johannes dabei , und unlöslich verknüpfte sich allmählich in des Sohnes Geist das Bild des Vaters mit dem Schein dieser Kugel . Zweites Kapitel Die Alten meinten , es sei für ein großes Glück zu achten , wenn die Götter einen in einer berühmten Stadt geboren werden ließen . Da aber dieses Glück sehr berühmten Männern nicht zuteil geworden ist , indem Bethlehem , Eisleben , Stratford , Kamenz , Marbach und so weiter vordem nicht grade glänzende Punkte in der Menschen Gedanken waren , so wird für Hans Unwirrsch wenig darauf ankommen , wenn er in einem Städtchen namens Neustadt das Licht der Welt erblickte . Es gibt nicht wenige gleichbenannte Städte und Städtchen ; aber sie haben sich nicht um die Ehre , unsern Helden zu ihren Bürgern zu zählen , gezankt . Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch machte seinen Geburtsort nicht berühmter in der Welt . Zehntausend Einwohner hatte das Nest im Jahre 1819 ; heute hat es hundertundfünfzig mehr . Es lag und liegt in einem weiten Tal , umgehen von Hügeln und Bergen , von denen herab Wälder sich bis in die Stadtmarkung ziehen . Trotz seines Namens ist es nicht neu mehr ; mühsam hat es seine Existenz durch wilde Jahrhunderte gerettet und genießt jetzt eines ruhigen , schläfrigen Greisenalters . Die Hoffnung , noch einmal zu etwas Rechtem zu kommen , hat's allmählich aufgegeben und fühlt sich darum nicht unbehaglicher . In dem kleinen Staate , welchem es angehört , ist es immer ein Faktor , und die Regierung nimmt Rücksicht auf es . Der Klang seiner Kirchenglocken machte einen angenehmen Eindruck auf den Wanderer , der auf der nächstgelegenen Höhe aus dem Walde trat ; und wenn sich grade die Sonne in den Fenstern der beiden Kirchen und der Häuser spiegelte , so dachte derselbe Wanderer selten daran , daß nicht alles Gold ist , was glänzt , und daß Glockenklang , fruchtbare Felder , grüne Wiesen und eine hübsche kleine Stadt im Tal noch lange nicht genug sind , um ein Idyll herzustellen . Amyntas , Palämon , Daphnis , Doris und Chloe konnten sich das Leben drunten im Tal oft recht unangenehm machen . Da das Lämmerweiden und – scheren ein wenig aus der Mode gekommen ist , so fiel man sich einander gegenseitig in die Wolle , und es mangelte nicht an Scherereien aller Art . Aber man freite und ließ sich freien und kam , alles in allem genommen , doch ziemlich gemächlich durch das Leben ; – daß die Lebensbedürfnisse nicht unerschwinglich teuer waren trug wohl sein Teil dazu bei . Der Teufel hole den ganzen Geßner , wenn Obst und Most mißraten und Milch und Honig rar sind in Arkadien ! Doch wir werden wohl noch Gelegenheit finden , über dies alles hie und da einige Worte zu verlieren , und wenn nicht , so schadet es nichts . Für jetzt müssen wir uns zu dem jungen Arkadier Hans Unwirrsch zurückwenden und sehen , auf welche Weise er sich im Leben zurechtfindet . Eine recht ungebildete Frau war die Witwe des Schusters . Lesen und schreiben konnte sie kaum notdürftig , ihre philosophische Bildung war gänzlich vernachlässigt , sie weinte leicht und gern . In der Dunkelheit geboren , blieb sie in der Dunkelheit , säugte ihr Kind , stellte es auf die Füße , lehrte ihm das Gehen , stellte es für das ganze Leben auf die Füße und lehrte ihm für das ganze Leben das Gehen . Das ist ein großer Ruhm , und die gebildetste Mutter kann nicht mehr für ihr Kind tun . In einem niedern , dunkeln Zimmer , in das wenig frische Luft und noch weniger Sonne drang , erwachte Hans zum Bewußtsein , und dies war in einer Hinsicht gut ; er fürchtete sich später nicht allzusehr vor den Höhlen , in welchen die bei weitem größere Hälfte der an den Segnungen der Zivilisation teilnehmenden Menschheit ihr Dasein hinbringen muß . Sein ganzes Leben hindurch nahm er Licht und Luft für das , was sie sind , Luxusartikel , die das Geschick gibt und verweigert und welche es lieber zu verweigern als zu geben scheint . Die nach der Gasse gelegene Stube , welche zugleich des Meisters Anton Werkstatt gewesen war , wurde unverändert in ihrem vorigen Zustande erhalten . Mit ängstlicher Sorgfalt wachte die Witwe darüber , daß nichts von ihres Seligen Arbeitsgerät verrückt wurde . Der Oheim Grünebaum hatte zwar das ganze überflüssige Handwerkszeug für einen namhaften Preis an sich kaufen wollen ; aber die Frau Christine konnte sich nicht entschließen , irgendein Stück davon herzugeben . In allen ihren Feierstunden saß sie auf ihrem gewohnten Platz neben dem niedrigen Schustertisch , und am Abend konnte sie , wie wir wissen , nur beim Licht der Glaskugel stricken , nähen oder das große Gesangbuch durchbuchstabieren . Die arme Frau mußte sich jetzt sehr quälen , um sich und ihr Kind ehrlich durchzubringen : in der kleinen Schlafkammer , deren Fenster nach dem Hofe hinaussahen , lag sie manche Nacht wachend in großen Sorgen , während Hans Unwirrsch in seines Vaters großer Bettstatt von den großen Butterbröten und den Semmeln glücklicherer Nachbarskinder träumte . Der weise Meister Grünebaum tat an seinen Verwandten , was er konnte ; aber das Handwerk hatte für ihn nicht den Segen , den man nach jedem » Kinderfreund « davon erwarten möchte ; er hielt allzugern allzulange Reden im Roten Bock , und seine Kunden vertrauten ihm lieber daß sie ein neues Paar bei ihm bestellten . Er hielt selber mit Mühe den Kopf überm Wasser ; – mit seinem Rat aber hielt er nicht zurück , sondern gab ihn willig und in großen Quantitäten ; und leider müssen wir das nicht ungewöhnliche Faktum berichten , daß die Quantität meistenteils durchaus nicht im richtigen Verhältnis zur Qualität stand . Die Base Schlotterbeck , obwohl lange nicht so weise wie der Meister Grünebaum , war praktischer , und auf ihren Rat wurde die Frau Christine eine Wäscherin , die des Morgens zwischen zwei und drei Uhr aufstand und am Abend um acht todmüde und zerschlagen nach Hause kam , um den ersten , den physischen Hunger ihres Kindes stillen und seine Träume in die Wirklichkeit setzen zu können . Hans Unwirrsch behielt aus dieser Zeit seines Lebens dunkle , unbestimmte , wunderliche Erinnerungen und hat davon seinen nächsten Freunden Bericht gegeben . Von frühester Jugend an hatte er einen leisen Schlaf , und so erwachte er auch öfters von dem Lichtschein des Schwefelhölzchens , mit welchem seine Mutter in dunkler , kalter Winternacht ihre Lampe anzündete , um sich zu ihrem frühen Wege zu rüsten . Warm lag er in seinen Kissen und rührte sich nicht , bis die Mutter sich über ihn beugte , um nachzusehen , ob sie den kleinen Schläfer auch nicht durch das Klappern ihrer Pantoffeln erweckt habe . Dann schlang er seine Arme um ihren Hals und lachte , bekam einen Kuß und die Ermahnung , schnell wieder einzuschlafen , da es noch lange nicht Tag sei . Dieser Ermahnung folgte er entweder sogleich oder erst später . Im zweiten Fall beobachtete er durch halbgeschlossene Augenlider die brennende Lampe , die Mutter und die Schatten an der Wand . Merkwürdigerweise stammten diese frühen Erinnerungen fast alle aus der Zeit des Winters . Um die Flamme der Lampe war ein Dunstkreis ; der Atem fuhr in einer Wolke gegen das Licht : die gefrorenen Fensterscheiben flimmerten , es war bitter kalt , und in das Behagen des sichern , warmen Bettes mischte sich für den kleinen Beobachter das Grauen der bittern Kälte , vor welchem er sein Näschen unter die Decke ziehen mußte . Begreifen konnte er nicht , weshalb die Mutter so früh aufstehe , während es so dunkel und kalt war und während so tolle schwarze Schatten an der Wand vorübergingen , nickten , sich aufrichteten und sich beugten . Noch unbestimmtere Begriffe hatte er von den Orten , wohin die Mutter ging ; je nach seinen Gemütsstimmungen stellte er sich diese Orte mehr oder weniger angenehm vor und vermischte damit allerlei Einzelheiten der Märchen und allerlei Bruchstücke aus den Gesprächen der erwachsenen Leute , denen er gelauscht hatte und die sich jetzt in diesen unklaren Augenblicken zwischen Schlaf und Wachen bunt und immer bunter färbten und mischten . Endlich war die Mutter mit ihrem Ankleiden fertig , und noch einmal beugte sie sich über das Lager des Kindes . Abermals erhielt es einen Kuß , allerlei gute Ermahnungen und lockende Versprechungen , damit es still liege , nicht heule , schnell wieder einschlafe . Die Versicherung , daß der Morgen und die Base Schlotterbeck bald kommen würden , wurde hinzugefügt ; die Lampe wurde ausgeblasen , die Kammer versank in die tiefste Dunkelheit , die Tür knarrte , die Schritte der Mutter entfernten sich ; – schnell war der Schlaf wieder da , und wenn Hans zum zweitenmal erwachte , saß die Base gewöhnlich schon vor seinem Bett , und in der Stube nebenan prasselte das Feuer im Ofen . Die Base Schlotterbeck war , obgleich sie nicht älter war als die Frau Christine Unwirrsch , immer die Base Schlotterbeck gewesen . Niemand in der Kröppelstraße kannte sie unter einer andern Bezeichnung , und bekannt war sie in der Kröppelstraße wie der Alte Fritz , der Kaiser » Napohlion « und der alte Blücher , wenngleich sie sonst mit diesen drei berühmten Helden weiter keine Ähnlichkeiten hatte , als daß sie schnupfte wie der preußische König und eine gebogene Nase hatte wie der » korsische Wüterich « . Eine Ähnlichkeit mit dem Marschall Vorwärts wäre schwer herauszufinden gewesen . Die Base war früher ebenfalls Wäscherin gewesen , aber sie war nun längst ausrangiert und ernährte sich kümmerlich durch Spinnen , Strumpfstricken und ähnliche Arbeiten . Der Magistrat hatte ihr ein kärgliches Armengeld gewährt , und der Meister Anton , dessen sehr entfernte Verwandte sie war , hatte ihr das Stübchen , welches sie in seinem Hause bewohnte , aus Mildtätigkeit für ein billiges eingeräumt . Eigentlich verdiente sie , ein eigenes Kapitel in diesem Buche auszufüllen , denn sie hatte eine Gabe , welcher sich nicht jedermann rühmen kann : die Gestorbenen waren für sie nicht abgeschieden von der Erde , sie sah sie durch die Gassen schreiten , sie begegneten ihr auf den Märkten , wie man Lebendige sieht und unvermutet an einer Ecke auf sie stößt . Damit war für sie nicht der geringste Hauch von Unheimlichkeit verbunden : sie sprach davon wie von etwas ganz Natürlichem , Gewöhnlichem , und es gab durchaus keinen Unterschied für sie zwischen dem Bürgermeister Eckerlein , der im Jahr 1769 gestorben war und ihr in Beutelperücke und rotem Sammetrock an der Löwenapotheke begegnete , und dem Enkel des Mannes , welcher im Jahr 1820 die Löwenapotheke besaß und der eben aus dem Fenster sah , ohne von seinem Herrn Großvater Notiz nehmen zu können . Selbst den Bekannten und Bekanntinnen der Base Schlotterbeck erregte die » Gabe « derselben zuletzt kein Grauen mehr . Die Ungläubigen hörten auf , darüber zu lächeln , und die Gläubigen – deren es eine gute Zahl gab – segneten sich nicht mehr und schlugen nicht mehr die Hände über dem Kopfe zusammen . Auf den Charakter des guten Weibleins selber hatte die hohe Vergünstigung keinen verschlechternden Einfluß . Die Base überhob sich nicht in ihrer seltsamen Sehergabe , sie nahm diese wie eine unverdiente Gnade Gottes und blieb demütiger als viele andere Leute , die lange nicht soviel sahen wie die ältliche Jungfer in der Kröppelstraße . Was das Äußere anbetrifft , so war die Base Schlotterbeck mittlerer Größe , doch ging sie sehr gebückt und mit weit vorgeneigtem Kopfe . Die Kleider hingen an ihr wie etwas , das nicht recht an seinem Platze ist , und ihre Nase war , wie schon gesagt , sehr scharf und sehr gebogen . Sie hätte einen unangenehmen Eindruck gemacht , diese Nase , wenn die Augen nicht gewesen wären . Die Augen aber machten alles wieder gut , was die Nase sündigte ; es waren merkwürdige Augen und sahen ja auch merkwürdige Dinge . Klar und leuchtend blieben sie bis in das höchste Alter – blaue , junge Augen in einem alten , alten vertrockneten Gesichte ! Hans Unwirrsch hat sie nie vergessen , obgleich er später in noch viel schönere Augen sah . Den Wissenschaften war die Base Schlotterbeck in naiver Weise ergeben . Sie hatte einen ungeheuren Respekt vor der Gelahrtheit , und vorzüglich vor der Gottesgelahrtheit ; der kleine Hans verdankte ihr die erste Einführung zu allen Wissenschaften , deren er sich in kommender Zeit mehr oder weniger bemächtigte . Den Gebrüdern Grimm hätte sie Märchen erzählen können , und wenn die böse Königin der gehaßten Stieftochter die goldene Nadel in den Scheitel stieß , so fühlte Hans Unwirrsch die Spitze bis in das Zwerchfell hinunter . Hans und die Base waren unzertrennliche Genossen während der ersten Lebensjahre des Knaben . Vom frühen Morgen bis zum späten Abend vertrat die Geisterseherin Mutterstelle bei dem Kinde ; ohne ihren Rat und ihren Beistand geschah nichts , was auf es Bezug hatte : manchen Hunger stillte sie , doch manchen Hunger lernte Johannes Unwirrsch auch durch sie kennen . Der Oheim Grünebaum brummte oft genug bei seinen Besuchen , aus solchem Weiberverkehr könne nichts Gutes kommen , der Teufel nehme die Graden und die Ungraden ; Schrullen , Phantaseien und Gespensterimaginationen könnten einem Menschen nichts helfen und machten ihn nur zu einem Konfuzius und Konfusionsrat : » Dummes Zeug ! Und dabei bleibe ich ! « Die Base zuckte zur Antwort auf solche Anfälle nur die Achseln , und Hans kroch dichter an sie heran . Brummend , wie er gekommen war , zog der Oheim ab ; – er hielt sich für einen ungemein praktischen und klaren Kopf und blies Verachtung durch die Nase , ohne zu bedenken , daß das beste Pfeifenrohr verschlämmen kann . Hans Unwirrsch war ein frühreifes Kind und lernte das Sprechen fast eher als das Gehen ; das Lesen lernte er spielend . Die Base Schlotterbeck verstand die letztere schwere Kunst sehr gut und stolperte nur über allzu lange und allzu ausländische Worte . Sie las gern laut und mit einem näselnden Pathos , das den größten Eindruck auf das Kind machte . Ihre Bibliothek bestand in der Hauptsache aus Bibel , Gesangbuch und einer langen Reihe von Volkskalendern , welche sich seit dem Jahr siebzehnhundertneunzig in ununterbrochener Reihenfolge aneinanderschlossen und deren jeder eine rührende oder komische oder schauerliche Historie nebst einem Schatz guter Haus- und Geheimmittel und einer feinen Auswahl lustiger Anekdoten enthielt . Für eine reizbare Kinderphantasie lag eine unendliche reiche Welt in diesen alten Heften verborgen , und Geister aller Art stiegen daraus empor , lächelten und lachten , grinsten , drohten und führten die junge Seele durch die wechselndsten Schauer und Wonnen . Wenn der Regen an die Scheiben schlug , wenn die Sonne in die Stube schien , wenn das Gewitter mit schwarzen Wolkenarmen über die Dächer griff und seine roten Blitze über die Stadt schleuderte , wenn der Donner rollte und der Hagel auf dem Straßenpflaster prasselte und hüpfte , so geriet alles das auf irgendeine Weise mit Gestalten und Szenen aus jenen Kalendern in Verbindung , und die Helden und Heldinnen der Historien schritten durch gutes und schlechtes Wetter vollständig klar , deutlich und bestimmt vorüber an dem kleinen träumerischen Hans , der seinen Kopf in den Schoß der alten Geisterseherin gelegt hatte . Die » Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl « gab einen Klang , der durch das ganze Leben forttönte ; aber einen noch größern Eindruck machte auf den Knaben das » Buch der Bücher « , die Bibel . Die einfache Großartigkeit der ersten Kapitel der Genesis muß die Kinder wie die Erwachsenen , die geistig Armen wie die Millionäre des Geistes überwältigen . Unendlich glaubwürdig sind diese Historien vom Anfang der Dinge , und glaubwürdig bleiben sie , trotzdem jeden Tag klarer bewiesen wird , daß die Welt nicht in sieben Tagen erschaffen wurde . Mit schauerlichem Behagen vertiefte sich Hans zu den Füßen der Base in den dunkeln Abgrund des Chaos : Und die Erde war wüste und leer ; – bis das Licht sich schied von der Finsternis und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste . Wenn Sonne , Mond und Sterne ihren Tanz begannen , Zeichen , Zeiten , Tage und Jahre gaben , dann atmete er wieder auf ; und wenn die Erde Gras und Kraut und Fruchtbäume aufgehen ließ , wenn das Wasser , die Luft und die Erde sich , erregten mit wehenden und lebendigen Tieren , dann klatschte er in die kleinen Hände und fühlte sich auf sicherm Boden . Ganz deut lich und von unumstößlicher Wahrheit war ihm die Art , wie Gott dem Adam den Odem einblies , während dagegen der erste kritische Zweifel in dem Kindeskopf entstand , als das Weib aus der Rippe des Mannes erschaffen wurde ; denn » das tat doch weh ! « Auf die einfachen Geschichten vom Paradies , Kain und Abel , von der Sündflut folgten aber die Geschlechtsregister mit den langen , schwierigen Namen . Diese Namen waren wahre Dornbüsche für Vorleserin und Zuhörer ; es waren Fallgruben , in welche sie Hals über Kopf hineinstürzten , es waren Steine , über welche sie stolperten und auf die Nase fielen . Immer wanden sie sich los , rafften sie sich auf und arbeiteten sie sich weiter mit ehrfürchtiger Feierlichkeit : » Aber die Kinder von Gomer sind diese : Ascenas , Riphath und Thorgama . Die Kinder von Javan sind diese : Elisa , Tharsis , Kithim und Dodanim . « Doch die Tage verflossen nicht ganz allein unter Lesen und Geschichtenerzählen . Sobald Hans Unwirrsch seine Hände nicht mehr in halb unwillkürlichen Bewegungen hin und her warf oder in den Mund steckte , wurde er sogleich von der Mutter und der Base mit dem großen Prinzip der Arbeit bekannt gemacht . Die Base Schlotterbeck war ein kunstreiches Weib , welches sich dadurch einen kleinen Nebenverdienst verschaffte , daß es für eine große Spielwarenfabrik Puppen ankleidete , eine Beschäftigung , die dem Interesse eines Kindes nahe genug lag und wobei Hans bald und gern hülfreich Hand leistete . Herren und Damen , Bauern und Bäuerinnen , Schäfer und Schäferinnen und mancherlei andere lustige Männlein und Fräulein aus allen Ständen und Lebensaltern entstanden unter den Händen der Base , welche wacker mit Leim und Nadel , bunten Zeugstückchen , Gold-und Silberschaum hantierte und jedem sein Teil davon gab , je nach dem Preise . Es war eine philosophische Arbeit , bei welcher man mancherlei Gedanken haben konnte , und Hans Unwirrsch stellte sich gut dazu an , wenn ihm auch die Kinderfreude an diesem Spielzeug natürlich bald verlorenging . Wer in einem Laden voll Hampelmänner aufwächst , den kümmert der einzelne Hampelmann wenig , sei er auch noch so bunt und zappele er auch noch so sehr . Nach Martini , welcher berühmte Tag leider nicht durch eine gebratene Gans gefeiert werden konnte , begann eine Fabrikation auf eigene Rechnung . Die Base konnte jetzt den größten Nutzen aus ihrem Talent für die plastische Kunst ziehen : sie baute Rosinenmänner auf Weihnachten und für bescheidenere Gemüter Pflaumenkerle . Der erste Bursche letzterer Art , welchen Hans ohne Beihülfe herstellte , machte ihm ein ebenso großes Vergnügen wie dem hoffnungsvollen Kunstjünger die Preisarbeit , die ihm ein Stipendium zur Reise nach Italien verschafft . Der Beginn des Weihnachtsmarktes war für den kleinen Bildner ein großes Ereignis . Mancherlei Gefühle beschreibt der Epiker , indem er auseinandersetzt , daß er sie nicht beschreiben könne : die Gefühle Hansens bei dieser Gelegenheit waren von solcher Art , und mit Wonne trug er die Laterne voran , während die Base auf einem kleinen Handwagen ihre Bank , ihren Korb , ihr Feuerbecken und einen kleinen Tisch zum Markt zog . Die Eröffnung des Geschäftes in dem vor dem schärfsten Wind geschützten Häuserwinkel war allein ein wundervolles Ereignis . Das Zusammenkauern unter dem großen , alten Regenschirm , das Anblasen der Glut in dem Kohlenbecken , das Aufstellen der Handelsartikel , der erste ruhige und doch erwartungsvolle Blick in das Getümmel des Marktes , alles hatte seine herzerschütternden Reize . Der erste Pflaumenkerl , der behandelt , verkauft und gekauft wurde , erweckte einen wahren Wonnesturm in der Brust von Schlotterbeck und Kompanie . Das Mittagessen , welches ein gutwilliges Kind aus der Kröppelstraße in einem irdenen Henkeltopf brachte , schmeckte ganz anders auf dem freien Markt als in der dunkeln Stube daheim ; aber das Beste von allem war doch der Abend mit seinem Nebel , seinem Lichter- und Lampenglanz und seinem verdoppelten Lärmen , Drängen , Stoßen und Treiben . Nicht immer konnte das Kind ruhig auf der Bank neben der Alten sitzen . Bezaubert – verzaubert trotz Kälte , trotz Regen und Schnee , unternahm es Streifzüge über den ganzen Markt und schob als Teilhaber der Firma Schlotterbeck und Kompanie sein Kinn jeder andern Firma mit Bewußtsein und Kritik auf den Verkaufstisch . Um acht Uhr kam die Mutter und holte den jüngern Kompagnon des Hauses Schlotterbeck nach Haus ; aber nicht ohne Widerstreben , Heulen und Zappeln ging das ab , und nur die Versicherung , daß » morgen wieder ein Tag « sei , konnte den kleinen Großhändler bewegen , der Base das Geschäft bis elf Uhr allein zu überlassen . Ein Faktum aus dieser Lebenszeit unseres Helden ist zu berichten . Für den Erlös eines selbstverfertigten Rosinenmannes kaufte er – einen andern von einem Handelshause , welches sich am entgegengesetzten Ende des Marktes etabliert hatte . Ein Zug , der von großer Bedeutung für die künftige Entwicklung des Knaben war . Hans Unwirrsch , welcher die schwarzen Kerle für andere verfertigte , wollte wissen , was für ein Spaß darin liege , solch einen Gesellen selbst zu kaufen . Er ging dem Vergnügen auf den Grund , und natürlich zog er keine Freude aus diesem allzufrühen Analysieren . Als die Pfennige von dem Verkäufer eingestrichen waren und der Käufer das Geschöpf in der Hand hielt , kam die Rene in vollem Maße über ihn . Heulend stand er in der Mitte der Gasse , die verhutzelten Zwetschen von dem Drahte nagend , und zuletzt schleuderte er den Einkauf weit von sich und lief , die bittersten Tränen hinunterschluckend , so schnell als möglich davon . Weder die Base noch die Mutter erfuhren , was aus dem Groschen , wofür man den ganzen Markt hätte kaufen können , geworden war . – Manche Freuden hat der Winter , doch führt er auch die größten Beschwerden mit sich . Mit sehr armen Leuten haben wir es zu tun , und arme Leute leben gewöhnlich erst mit dem Frühjahr und den Maikäfern wieder auf . Hunderttausende , Millionen könnten jene glücklichen Tiere beneiden , welche die kalten Tage bewußtlos und behaglich durchschlafen . Nach der Heiligen Weihnacht , die so gut als möglich gefeiert wurde , kam der Neujahrstag , und nach ihm zogen die Heiligen Drei Könige heran . Die Schatten vieler Gestorbenen begegneten um diese Zeit der Base Schlotterbeck in den Gassen oder traten mit ihr in die Kirche und umschritten den Altar . Nach Mariä Lichtmeß behaupteten einige Leute , daß die Tage länger würden , aber man merkte noch nicht viel davon . Um Mariä Verkündigung jedoch war die Sache nicht mehr zu leugnen ; die Schneeglöckchen hatten sich hervorgewagt , der Schnee hielt sich nicht mehr in der Welt , die Knospen schwollen und sprangen auf , die Nase der Base Schlotterbeck verlor viel von ihrer Röte . Wenn die Mutter in der Frühe jetzt aufstand , so schien die Lampe nicht mehr durch einen frostigen Nebelkreis . Hans Unwirrsch schrie nicht mehr Zeter am Waschnapf , seine Füße brauchten nicht mehr mit Gewalt in die Schuhe gezwängt zu werden . Das Warmsitzen wurde nicht mehr von groben Holzbauern in die Stadt gefahren und um ein » Sündengeld « verkauft . Es kamen die Tage , wo die Sonne es umsonst gab und nicht einmal ein Schön-Dank dafür forderte . Der Palmsonntag war da , ehe man es sich versah , und das Osterfest knüpfte den Kranz , welchen das Fest der Freude , das grünende , blühende , jauchzende , jubilierende Pfingsten dem jungen Jahr auf die Stirn drückte . Die Base Schlotterbeck strickte ihre Strümpfe auf der Bank vor der Haustür , und Hans Unwirrsch beobachtete ernst und scheu den Trödler Freudenstein gegenüber , welcher seinen kleinen Moses , ein kränkliches , mageres , jämmerliches Stück Menschheit , wohlverpackt in Kissen und Decken , auf einem Rollstuhl in die Sonne schob . Drittes Kapitel Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch war in seinem fünften Jahr ein kleiner , plumper Gesell in einer Hose , die auf Wachstum berechnet und zugeschnitten worden war . Er sah aus blaugrauen Augen fröhlich in die Welt und die Kröppelstraße , seine Nase hatte bis jetzt noch nichts Charakteristisches , sein Mund versprach sehr groß zu werden und hielt sein Versprechen . Das gelbe Haar des Jungen kräuselte sich natürlich und war das Hübscheste an ihm . Er hatte in jeder Beziehung einen ausgezeichneten Magen , wie alle die Leute , welche viel Hunger in ihrem Leben dulden sollen ; er wurde mit dem größten Stück Schwarzbrot und dem vollsten Suppenteller fast noch leichter und schneller fertig als mit dem Abc . Von den beiden Weibern , der Mutter und der Base , wurde er natürlich sehr verzogen und als Kronprinz , Heros und Weltwunder behandelt und verehrt , so daß es ein Glück war , als der Staat sich ins Mittel legte und ihn für schulpflichtig erklärte . Hans setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Leiter , die an dem fruchtreichen Baum der Erkenntnis lehnt : die Armenschule tat sich vor ihm auf , und Silberlöffel , der Armenschullehrer , versprach an ihrer Tür der Base , daß das » Herzenskind « weder von ihm selber noch von den hundert sechzig Rangen , die seiner Zucht untergeben waren , totgeschlagen werden sollte . Mit dem Schürzenzipfel vor dem Auge zog die Base ab und tröstete sich erst , als ihr am Brunnen der Pastor Primarius Holzapfel , der im Jahr achtzehnhundertfünfzehn gestorben war , in seinem schwarzen Predigerrock mit Halskrause und Bibel begegnete . Die Base hatte den Pastor und seine Eltern sehr gut gekannt . Der Vater war ein Holzhauer gewesen , und die Mutter war im Spital zum Heiligen Geist gestorben ; der Pastor Primarius aber , von dessen Ruhm und Preis die Stadt noch voll war , hatte auf demselben Platz in der Armenschule gesessen , zu welchem Silberlöffel jetzt den kleinen Hans führte . In einem dunkeln Sackgäßchen , in einem einstöckigen Gebäude , das einst als Spritzenhaus diente , hatte die Kommune die Schule für ihre Armen eingerichtet , nachdem sie sich so lange als möglich geweigert hatte , überhaupt ein Lokal zu so überflüssigem Zweck herzugehen . Es war ein feuchtes Loch : fast zu jeder Jahreszeit lief das Wasser von den Wänden ; Schwämme und Pilze wuchsen in den Ecken und unter dem Pult des Lehrers . Klebrignaß waren die Tische und Bänke , die während der Ferien stets mit einem leichten Schimmelanflug überzogen wurden . Von den Fenstern wollen wir lieber nicht reden ; es war kein Wunder , wenn sich auch in ihrer Nähe die interessantesten Schwammformationen bildeten . Ein Wunder war es auch nicht , wenn sich in den Händen und Füßen des Lehrers die allerschönsten Gichtknoten und in seiner Lunge die prachtvollsten Tuberkeln bildeten . Es war kein Wunder , wenn zeitweise die halbe Schule am Fieber krank lag . Hätte die Kommune auf jedes Kindergrab , welches durch ihre Schuld auf dem Kirchhof geschaufelt wurde , ein Marmordenkmal setzen müssen , so würde sie sehr bald für ein anderes Schullokal gesorgt haben . Karl Silberlöffel unterschrieb sich der Lehrer auf den Quittungen für die stupenden Geldsummen , die ihm der Staat quatemberweise auszahlte . Ach , der Arme führte seinen Namen nur der Ironie wegen ; er war nicht mit einem silbernen Löffel im Munde geboren worden . Er hätte dem Kultusministerium viel Stoff zum Nachdenken geben müssen , wenn nicht diese verehrliche und hochlöbliche Behörde durch Wichtigeres abgezogen gewesen wäre . Wie kann sich die hohe Behörde um den Lehrer Silberlöffel bekümmern , wenn die Frage , welches Minimum von Wissen den untern Schichten der Gesellschaft ohne Schaden und Unbequemlichkeit für die höchsten gestattet werden könne , noch immer nicht gelöst ist ? Noch lange Zeit werden die mit der Lösung dieser Frage beauftragten Herren die Volkslehrer als ihre Feinde betrachten und es als eine höchst abgeschmackte und lächerliche Forderung auffassen , wenn böswillige , revolutionäre Idealisten verlangen , auch ein hohes Ministerium möge seinen Feinden Gutes tun und sie zum wenigsten anständig kleiden und notdürftig füttern . O du gute alte Zeit , wo die Menschheit noch aus der Hand des einen Unteroffiziers in die des andern überging ! O du gute alte Zeit , wo nicht allein die Armee unter dem Korporalstock stand ! Der Hungerpastor hat später noch einmal so gern seinen Schulmeister in Grunzenow zu seinem Sonntagsbraten , seiner Martinsgans und seinem Weihnachtspunsch eingeladen , wenn er sich seiner ersten Schultage und des Armenlehrers Silberlöffel erinnerte . Er hatte auch nichts dagegen , wenn der Schulmeister an der Ostsee einen Teil der guten , nahrhaften Dinge für seine sieben Buben daheim einsäckelte : er brachte ihm selbst die alte Zeitung dazu und half die Tüte in die enge Rocktasche zwängen . In dem Spritzenhause zu Neustadt saßen rechts die Mädchen , links die Knaben . Zwischen diesen beiden Abteilungen lief ein Gang von der Tür zum Pult des Lehrers , und in diesem Gange hustete Silberlöffel auf und ab , ohne daß es irgendeinen in der jugendlichen Schar rührte . Lang , sehr lang war der Arme ; hager , sehr hager war er ; sehr melancholisch sah er aus , und das mit Recht . Ein anderer an seiner Stelle hätte sich in dem feuchten , kalten Raume munter und warm geprügelt ; aber selbst dazu war er nicht mehr imstande . Seine schwachen Versuche in dieser Hinsicht galten nur für gute Späße ; seine Autorität stand unter Null . Ein herzzerreißender Vorwurf für alle Wohlgekleideten war der Anzug dieses verdienstvollen Mannes ; der Hut führte mit seinem Besitzer eine wahre Tragödie auf . Zwischen beiden handelte es sich darum , wer den andern überdauern würde , und der Hut schien zu wissen , daß er gewinnen müsse . Ein diabolischer Hohn grinste aus seinen Beulen und Schrammen . Das Scheusal wußte , daß es auch noch den Nachfolger des armen , schwindsüchtigen Mannes überleben könne ; es machte sich nicht das geringste aus dem Schimmel und Schwamm des Spritzenhauses . Hans Unwirrsch trat mit keineswegs sentimentalen Gefühlen in die Gemeinschaft und das Gewimmel der Armenschule . Nachdem die erste Verblüffung und Blödigkeit überwunden war , nachdem er sich halbwegs hereingefunden hatte , zeigte er sich nicht besser als jeder andere Schlingel und nahm nach besten Kräften teil an allen Leiden und Freuden dieser preiswürdigen Staatseinrichtung . Er orientierte sich bald . Die Freunde und Feinde unter den Knaben waren schnell herausgefunden : gleichgeartete Gemüter schlossen sich an ihn , entgegenstehende Naturen suchten ihn an den Haaren aus seiner Weltanschauungsweise herauszuziehen , und im Einzelkampf wie in der allgemeinen Prügelei kam manches Leid über ihn , das er aber als anständiger Junge ertrug , ohne sich hinter dem Lehrer zu verkriechen . Als anständiger Junge hatte er in dieser Lebensepoche gegen das weibliche Geschlecht auf den Bänken zur Rechten des Ganges im allgemeinen eine heilsame Idiosynkrasie . Er klebte den Mädchen gern Pech auf ihre Plätze und knüpfte ihnen noch lieber paarweise verstohlen die Zöpfe zusammen ; er verachtete sie höchlichst als untergeordnete Geschöpfe , die sich nur durch Geschrei wehrten und durch die der Lehrer mehr über die linke Hälfte seiner Schule erfuhr , als den Buben lieb war . Von ritterlichen Regungen und Gefühlen fand sich anfangs in seiner Brust keine Spur , doch die Zeit , wo es in dieser Hinsicht anfing zu dämmern , war nicht fern , und bald machte wenigstens ein kleines Geschöpfchen von der andern Seite der Schule her seinen Einfluß auf Hans Unwirrsch geltend . Es kam die Zeit , wo er eine kleine Mitschülerin nicht weinen sehen konnte und wo er einen unbestimmten Hunger empfand , der nicht auf die großen Butterbrote und Kuchenstücke der benachbarten Straßenjugend gerichtet war . Doch für jetzt steckte er frech die Hände in die Taschen der Pumphose , spreizte die Beine voneinander , stellte sich fest auf den Füßen und suchte sich soviel als möglich von der absoluten Herrschaft der Weiber zu befreien . Nicht mehr wie sonst saß er still und artig zu den Füßen der Base Schlotterbeck und horchte andächtig ihren Lehren und Ermahnungen , ihren Märchen und Kalendergeschichten , ihren biblischen Vorlesungen . Zum großen Mißbehagen der guten Alten fing er an , täglich mehr Kritik zu üben . Die Kalendergeschichten wußte er allesamt auswendig ; kein Märchen konnte die Base beginnen , ohne daß der Bengel ihr ins Wort fiel , um Verbesserungen anzubringen oder nichtsnutzige , ironische Fragen zu stellen ; gegen ihre guten Ermahnungen rückte er immer mit verwirrenden Einwänden hervor , welche die Base öfters ganz und gar aus der Fassung brachten . Wenn sich die treue Seele nach ihrer Art in einem langatmigen Geschlechtsregister der Bibel verwickelt hatte , so hatte Hans eine wahrhaft diabolische Lust daran und suchte die Arme immer tiefer und hülfloser in das Dorngestrüpp zu treiben , so daß sie oft ganz ärgerlich und giftig das Buch zuklappte und das einstige » kleine Lamm « eine » nichtsnutzige , naseweise Kröte « nannte . Hinter ihrem Rücken spielte er ihr allerlei Possen , ja er entblödete sich nicht , vor einem ausgewählten Publikum der Kröppelstraße , das mit ihm im gleichen Alter stand , eine Vorstellung zu geben , in der er die Art der Base aufs komischste nachäffte . Kurz , Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch hatte jetzt eine Lebensstufe erreicht , auf welcher liebende Verwandte ihren hoffnungsvollsten Sprößlingen und jugendlichen Bekannten mit finster-melancholischen Blicken und warnenden Handbewegungen eine düstere Zukunft , den Bettelstab , das Gefängnis , das Zuchthaus und zuletzt , zum angenehmen Beschluß , den schimpflichen Tod am Galgen vorhersagen , Es ist auch in diesem Falle ein Glück , daß Prophezeiungen gewöhnlich nicht in Erfüllung gehen . Hans zog eben in dieser Epoche das bewegte Leben der Gasse mit seinen Einzelheiten dem häuslichen Glück , dem stillen , ungestörten Frieden der vier Wände bei weitem vor . O du schöne Zeit der schmutzigen Hände , der blutenden Nasen , der zerrissenen Jacken , der zerzausten Haare ! Wehe dem Mann , der dich nicht kennenlernte ! Es wäre ihm besser gewesen , er hätte manches andere nicht kennengelernt , welches die liebenden Verwandten und Freunde mit den finster-melancholischen Blicken ihm als sehr löblich , lieblich und rühmlich priesen und anempfahlen . Naturgemäß hielt sich Hans jetzt mehr an den Oheim Grünebaum als an die Mutter und die Base . Der wackere Flickschuster hatte manches , was ein jugendliches Gemüt anziehen konnte . In der Gesellschaft dieses würdigen Mannes wurde dem Neffen selten die Zeit lang . Sehr schmutzig und vernachlässigt erschien jedem ordentlichen Weibe die Haushaltung und Umgebung des Oheims Grünebaum . In seiner Werkstatt sah es aus , als hätten die Hutzelmännchen nicht wohlwollend , sondern in grimmigster Erzürnung darin gehaust . Ein tolleres Kopfüber-Kopfunter kann man sich nicht leicht vorstellen , und wenn jemand hätte das Suchen lernen wollen , so hätte er hier die beste Gelegenheit dazu gehabt . Der Oheim Grünebaum verbrachte aber auch den größten Teil des Tages und seiner Arbeitszeit im vergeblichen Suchen . Das Gerät , das er eben brauchte , war fast niemals zu finden , und das Wühlen und Rumoren danach brachte keine größere Ordnung in den Wirrwarr . Dazu schrien , pfiffen und sangen von den Wänden aus großen und kleinen Käfigen Vögel mannigfacher Art ; ein Laubfrosch zeigte in seinem Glase am Fenster das Wetter an . Das politische Wetter aber zeigte sich der Meister Grünebaum selber an , indem er sich und seinen Vögeln den » Postkurier für Stadt und Land « mit lauter Stimme vorlas , was ebenfalls einen ziemlichen Teil seiner Arbeitszeit wegnahm . Der wackere Oheim Grünebaum schusterte nur gerade so eifrig und so lange , als nötig war , um sich und seine Vögel notdürftig zu erhalten und den » Postkurier für Stadt und Land « halten zu können . Seine Schoppen im Roten Bock ließ er öfter ankreiden , als für einen soliden Bürger und Handwerksmeister sich 's eigentlich schickte . Für den Sohn des seligen Schwagers mangelte es jedoch dem guten Mann durchaus nicht an natürlicher Zuneigung . Mit Wohlwollen nahm er ihn auf in seinem verwahrlosten Loche und gab ihm gute Lehren über Welt und Leben , Vogelzucht und Politik nach seiner Art . Wenig verstand Hans von der Weisheit des » Postkuriers für Stadt und Land « , aber einzelne Namen wie Navarin , Missolunghi , Bozzaris , Ibrahim-Pascha nahm er doch , mit offenem Mund in sich auf , und eine große Griechen-und-Türken-Schlacht wurde in der Kröppelstraße geschlagen ; blutige Köpfe gab 's dabei , und Silberlöffel , der Armenlehrer , mußte viel Anzüglichkeiten darob von den erzürnten Eltern vernehmen . Der Oheim Grünebaum war ein gewaltiger Philhellene ; aber noch mehr war das der arme Karl Silberlöffel , der mit wahrhaft fieberhaftem Interesse dem blutigen Kampfe im fernen Osten folgte . Auch die Base Schlotterbeck war eine große Philhellenin , und in der Kröppelstraße gab es eigentlich nur einen Mann , der Partei für die Türken nahm , weil er die Griechen aus eigener Anschauung und Erfahrung kannte . Dieser Mann war Samuel Freudenstein , der Trödeljude , der einst weit genug in der Welt umhergekommen war und welcher von den » Höllönen « fast noch weniger hielt als Jakob Philipp Fallmerayer , der orientalische Fragmentist . Der Trödler behielt aber seine Ansicht für sich und entging somit den mannigfachen Unannehmlichkeiten , die der treffliche Münchener Gelehrte zu erdulden hatte . Von dem Oheim Grünebaum wurde Hans übrigens zum erstenmal wirksam darauf aufmerksam gemacht , daß man dem Lehrer Silberlöffel doch wenigstens einigen Respekt schuldig sei . Unter meinen männlichen Lesern wird wohl niemand sein , der nicht weiß , was für eine Tyrannei in der Schule von Schulknaben ausgeübt werden kann und ertragen wird , der nicht weiß , was es um die » öffentliche Meinung « unter einer Bande solcher jungen Geister ist . Der Oheim Grünebaum war schuld daran , daß Hans Unwirrsch dieser öffentlichen Meinung in einem Falle die ganze Wucht seiner kleinen Persönlichkeit entgegenwarf und heldenmütig die Folgen davon ertrug . Zwischen Lehrern und Schülern herrscht dasselbe Verhältnis wie im Völkerverkehr . Was auch der Lehrer tun mag , um das Vernunftrecht zur Darstellung zu bringen , seine Schüler stützen sich immer wieder auf das Naturrecht . Ein fortwährender , scharf beobachtender Kriegszustand ist die Folge davon , und nicht immer hat der Lehrer die bessere Hand im Kampf gegen den rücksichtslosen Feind , dem jede Waffe recht ist und der kein Erbarmen kennt . Manch hochbegabte Natur ist schon in solchem Kampfe zugrunde gegangen . » Hannes « , sagte der Oheim , » wenn ich in deiner Stelle wäre , so machte ich nicht mit die andern so 'n tagtäglich heillos Spektakulum in der Schule , daß , wenn 'n Mensch da vorbeigeht , er sich die Ohren zustopfen muß . Mich jammert der Magister in der Seele , und lange leben wird er auch nicht mehr . Die unglückselige , miserable Kreatur hustet sich zu Tode , und ihr gottverlassenen , inkomparabeln Satans brüllt ihn zu Tode . Hier mal vors Brett , Hans , und nicht ausgewichen ! Was ist das mit der Schule ? Bist du immer mit bei dem Gebrüll und Getrampel und Spietakel ? Junge , Junge , in deiner Stell ginge ich in mir und bedächte , daß , wer 'n Menschen umbringt , 'n Mörder ist und daß 'n toter Mensch einem sehr auf die Seele liegen kann , als was man dann nachher böses Gewissen nennt . Gehe in dich herein , Hannes , und bedenke , daß sich wohl ein Stiebel lange flicken , versohlen und vorschuhen läßt , daß aber noch kein Doktor 'nen schwindsüchtigen Schulmeister , dem seine Schlingel also grausam mitspielen wie ihr eurem , den Atem gerettet hat . Der Mensche jammert mich wirklich , und der Deibel nimmt die Graden und die Ungraden , also gib Achtung , Hans , daß er dich nicht mit den andern Bälgern in den Sack steckt das Recht hat er wohl gewiß schon längst dazu . « Diese Rede machte auf Hans einen größern Eindruck , als ihm der Oheim anmerkte . In einem günstigen Augenblick hatte dieser geredet , seine Worte waren nicht auf schlechten Boden gefallen und hatten eine bessere Wirkung als alle früheren Ermahnungen . Zum erstenmal dämmerte in der Brust des Kindes ein Gefühl , welches über den Egoismus des Kindes hinausging . Als Hans Unwirrsch am folgenden Morgen seinen Platz in dem Spritzenhause einnahm , sah er den Armenlehrer mit ganz andern Augen an als am vergangenen Tage ; und da Silberlöffel an diesem kalten , unfreundlichen Regenmorgen noch jammervoller und hungriger als sonst aussah und noch mehr hustete , so erlosch das Gefühl nicht , sondern es wurde stärker – Hans saß zum erstenmal still in der Schule . An dem nächsten Komplott nahm er auch nicht teil , verfiel der allgemeinen Verachtung und kriegte fürchterliche Prügel , die ihn jedoch nur in seinen guten Vorsätzen bestärkten . Der Streich wurde natürlich auch ohne ihn ausgeführt und gelang vollkommen . Es war ein Hauptstreich , und die Befriedigung der jungen Taugenichtse und Galgenstricke war groß ; der arme Lehrer , dessen Brustschmerzen an diesem Tage noch stärker als gewöhnlich waren , unterlag kraftlos , und der Blick hülfloser Verzweiflung , den er über die rebellische Schule schweifen ließ und welcher auch Hans Unwirrsch streifte , wurde von letzterem niemals vergessen ; seine Wirkungen reichten bis in das späteste Alter . Am nächsten Morgen kam der Herr Lehrer nicht in das Spritzenhaus ; er sollte es niemals wieder betreten . Ein Blutsturz war in der Nacht über ihn gekommen , und zum Sterben krank lag er auf seinem Bett in seiner schlechten , kalten Stube . Ein anderer nahm seine Stelle an dem Marterpult in der Armenschule ein ; Karl Silberlöffel war aufgebraucht worden wie ein Rad in der Maschine . Ein anderes Rad wurde eingesetzt ; langsam drehte sich das Ding weiter , und » unsere fortschreitende Bildung und humane Entwicklung « war und blieb das Lieblingsthema manches wohlmeinenden Mannes – damals . Wenig Leute kümmerten sich um den abgenutzten , sterbenden Armenschullehrer ; zu den wenigen aber , die das Ihrige taten , ihm seine letzten Lebenstage und Nächte zu erleichtern , gehörten der Oheim Grünebaum und die Base Schlotterbeck . An der Hand der letztern kam Hans Unwirrsch , um seinen Lehrer sterben zu sehen und um zum erstenmal die feierlichen Schauer zu empfinden , die das Nahen des Todes in der Seele des Menschen erregt , auch wenn er noch ein Kind ist . Der todkranke Mann hielt lange die Hand des Kindes und sah ihm lange und tief in die Augen . Aber in dem Blicke , mit welchem er es ansah , war jetzt nichts mehr von jenem Elend zu finden , das ihn durch sein kurzes , dunkeles Leben unablässig bedrängt und ihm gnadenlos jedes freiere Aufsehen und Aufatmen verwehrt hatte . Matt war jetzt das Auge , aber still und befriedigt war es auch : der Kampf war zu Ende , noch ein Schritt , und das Land der ewigen Freiheit war erreicht . Auf seinem Sterbebette fühlte sich der Armenschullehrer zum erstenmal als ein freier Mann , der sich vor niemand mehr zu neigen und in den Winkel zu drücken brauchte . Der alte , rötliche , diabolische Hut , der hinter der Tür am Nagel hing , hatte freilich das Spiel gewonnen , aber weder er noch ein hochlöbliches Kultusministerium zogen einen großen Vorteil davon . Der eine wurde als Vogelscheuche in ein Kornfeld gestellt , und das andere blieb fürs erste , was es war . Laut sprechen konnte der Kranke nicht , aber Hans vernahm doch , was er zu ihm sagte , und vergaß es nicht . » Weine nicht , liebes Kind , und fürchte dich auch nicht ! Du bist immer ein guter Junge gewesen und wirst dereinst auch ein guter Mann werden . Großen Hunger jeder Art wirst du auch zu erdulden haben , aber du wirst satt werden wie ich , denn endlich , endlich wird doch einmal jeder satt ... « Das , was der sterbende Herr Silberlöffel damals noch hinzufügte , verstand Hans freilich nicht , und die Base Schlotterbeck wußte auch nicht recht , ob der Kranke bereits in den letzten Todesphantasien liege oder nicht . Er sagte , während seine Augen sich nach der niedern , schwarzen Decke der Stube richteten : » Ich bin sehr hungrig gewesen . Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und durstig nach Wissen ; alles andere war nichts . Goldene Äpfel hängen lockend im Gezweig und schießen ihre Strahlen durch das Grün . Sie blenden so die Augen , die schönen , glänzenden Früchte . Die Hände habe ich ausgestreckt und habe sie mir zerrissen an den Dornen ; – viel Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün . Im Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch , und doch war auch ich für das Licht geboren . Es ist hart , hart , hart , im Schatten sitzen zu müssen und Hungers zu sterben , während so schöne Augen leuchten in der Welt , während so holdselige Stimmen locken – in der Nähe und , ach , auch aus so weiter , weiter Ferne . Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne , aber im Schatten mußte ich bleiben , auf einen kleinen Raum im Schatten war ich gebannt . Ein goldener Regen umspielte mich oft , in Schauern fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich her und glänzten durchs Grün und durch die Morgen- und Abendröten ; mir aber waren die Hände gefesselt , und nichts hatte ich als mein qualvolles Sehnen . Ich habe nichts , nichts erhalten von dem reichen Leben . Nur mein Sehnen ist mir zuteil geworden , und auch das geht nun zu Ende . So wird's dunkel vor den Augen , still vor den Ohren und im Herzen ; ich werde satt sein – im Tode . « Man begrub den Armenschullehrer Karl Silberlöffel einige Tage vor Weihnachten , und die Armenschule unter dem Nachfolger folgte dem Sarge , der nicht mit Silber beschlagen und nicht mit Sammet behängt war . Nicht über reinen Schnee , sondern durch ein schmutziges Schlackerwetter trug man den Leichnam und scharrte ihn kurz und gut ein ohne das allergeringste Gepränge . Die Schule zerstreute sich vom Kirchhofe und flatterte auseinander gleich einem Sperlingsschwarm , und auch Hans war mit im Schwarm und fühlte sich nicht viel beklommener als die andern . Der Tod hat doch eigentlich für das Kind keinen Sinn ; erst wenn uns das Leben recht zusammengerüttelt und – geschüttelt hat , geht uns das rechte Verständnis dafür auf . Der Kindheit , der alles noch neu ist , drängt jeder neue Tag den vergangenen in die vollständigste Vergessenheit . Am Morgen nach dem Begräbnis des guten Lehrers spielte Hans Unwirrsch bereits wieder lustig in der Gasse und dachte für jetzt mit keinem Gedanken mehr an den toten Mann . Der Schnee , der gestern gemangelt hatte , war über Nacht reichlichst herabgefallen ; es hatte kein Junge in der Stadt Zeit , an etwas anderes zu denken als an den Schnee . Großes Geschrei war in der Kröppelstraße , und mächtig wuchs der Schneemann zur Lust der jungen Künstlerbande und zum Ärger des misanthropischen pensionierten Stadtbüttels Murx , der wie ein podagrischer Oger in seinem Lehnstuhl am Fenster festgebannt saß und den Lärm und die Lust der lieben Jugend für eine ganz persönliche Beleidigung nahm . Aber der spanische Rohrstock war pensioniert wie sein Herr und hing in grimmiger Unzufriedenheit über dem pensionierten Dreimaster an der Wand . Unablässig wanderte das Auge des zur Ruhe gesetzten Schützers der öffentlichen Ruhe und Sicherheit zwischen dem Stock und der Straße hin und her , und in der Brust des Vortrefflichen grollte und brummte es wie in einem dem Ausbruch nahen Vulkan : Prometheus , am Kaukasus angeschmiedet , Napoleon auf Sankt Helena fühlten wohl ähnliche Bitternisse wie der gichtische Büttel , aber ihr Beispiel tröstete ihn nicht . Lustig ging der Spektakel in der Gasse fort , und nachdem der Schneemann vollendet war , stürzte sich die Bande jugendlicher Missetäter auf Moses Freudenstein , den Sohn des Trödlers , und fing an , ihn zu waschen . In jenen vergangenen Tagen herrschte – vorzüglich in kleinern Städten und Ortschaften – noch eine Mißachtung der Juden , die man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet . Die Alten wie die Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu dulden von ihren christlichen Nachbarn ; unendlich langsam ist das alte , schauerliche Hephep , welches so unsägliches Unheil anrichtete , verklungen in der Welt . Vorzüglich waren die Kinder unter den Kindern elend dran , und der kleine , gelbe , kränkliche Moses führte gewiß kein angenehmes Dasein in der Kröppelstraße . Wenn er sich blicken ließ , fiel das junge , nichtsnutzige Volk auf ihn wie das Gevögel auf den Aufstoß . Gestoßen , an den Haaren gezerrt , geschimpft und geschlagen bei jeder Gelegenheit , ließ er sich auch sowenig als möglich draußen blicken und führte eine dunkle , klägliche Existenz in der halbunterirdischen Wohnung seines Vaters . An diesem Tage aber hatte ihn sein Unstern doch mitten unter seine Peiniger geführt ; und man hatte , wie gewöhnlich in solchen Ausnahmefällen , ihn in einen engen Kreis geschlossen . Was fiel dem Judenjungen ein , daß auch er den neuen Schnee sehen wollte ? In der Mitte seiner Tyrannen stand Moses Freudenstein und reichte mit verhaltenen Tränen und einem Jammerlächeln die Hand , in welche jeder junge Christ und Germane mit hellem Hohngeschrei hineinspie , in die Runde . Es gab wenige Leute in der Kröppelstraße , die nicht ihren Spaß an solcher infamen Quälerei gefunden hätten . Keiner von den Gaffern in den Haustüren trat dazwischen , um der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen . Man lachte , zuckte die Achseln und hetzte wohl gar noch ein wenig ; es hatte eben wenig auf sich , wenn der schmutzige Judenjunge ein bißchen in seiner Menschenwürde gekränkt wurde . Hülfe und Rettung sollten für Moses Freudenstein von einer Seite kommen , von woher er sie nicht erwartet hatte . Hans Unwirrsch hatte bis zu dieser Stunde auch hier mit den Wölfen geheult , und was die andern taten , hatte er leichtsinnig , ohne Erbarmen und ohne Überlegung ebenfalls getan . Jetzt kam die Reihe an ihn , in die offene Hand des heulenden Judenknaben zu speien , und wie ein Blitz durchzuckte es ihn , daß da eben eine große Niederträchtigkeit und Feigheit ausgeübt werde . Es war ihm , als blicke das bleiche Gesicht des Lehrers Silberlöffel , der gestern begraben worden war , ernst und traurig über die Köpfe und Schultern der Buben in den Kreis . Hans spie nicht in die Hand des Moses ! Er schlug sie weg und streckte seine Faust den Kameraden entgegen . Wild schrie er , man solle den Moses zufrieden lassen , er – Hans Jakob – leide es nicht , daß man ihm ferner Leid antue . Die Faust fiel auf die erste Nase , die sich frech näher drängte . Blut floß – ein verwickelter Knäuel ! Püffe , Knüffe , Fußtritte , Wehgeheul ! Wutgebrüll ! Sausende Schneebälle , zerrissene Rappen und Jacken ! Exaltierteste Aufregung des pensionierten Stadtbüttels ! Elektrisches Erzittern des spanischen Rohres an der Wand ! Übereinander und Durcheinander ! Untereinander und Zwischeneinander ! – Hernieder in den Laden des Trödlers Samuel Freudenstein rollten Moses und Hans , schwindlig , zerschlagen , mit blutenden Mäulern und verschwollenen Augen . Auch Moses Freudenstein hatte zum erstenmal in seinem Leben einen Schlag gegen seine Peiniger zu führen gewagt . Es war eine glorreiche Stunde , und ihr Einfluß auf das Leben von Hans Unwirrsch war unberechenbar im Guten wie im Bösen . Indem er aus dem wilden Gewühl der Gassenschlacht die Stufen in den Trödelladen hinabrollte , fiel er in Verhältnisse , welche unendlich wichtig für ihn werden sollten . In mehr als einer Hinsicht entschied sich sein Schicksal an diesem Tage ; eine ganz andere Welt tat sich vor seinen Augen auf . Es wohnten seltsame Leute in dem Keller , Leute , die auch ihren Hunger hatten und ihn nach Kräften zu befriedigen suchten , Leute , über welche die Kröppelstraße sehr mit Unrecht sich erhaben dünkte . Das nächste Kapitel soll uns zeigen , wer der Trödler Samuel Freudenstein war , dann werden wir bei Gelegenheit wohl auch erfahren , auf welche Weise er seinen Sohn Moses erzog und welche Ansichten von der Welt und von dem Leben in der Welt er ihm beizubringen strebte . Viertes Kapitel Auf malerische Mittelalterlichkeit machte die Kröppelstraße keinen Anspruch . Sämtliche Häuser darin waren nach einem großen Brande , der während des Siebenjährigen Krieges stattgefunden hatte , mit möglichster Schnelligkeit und mit möglichst wenigen Kosten wiederaufgebaut worden . Jetzt war ein Teil der Gebäude bereits wieder so baufällig , daß ein neuer Brand vonnöten schien , um größeres Unheil durch ganz unmotiviertes Zusammenstürzen über Nacht bei vollständiger Windstille ohne Erdbeben und dergleichen Anstößigkeiten zu verhüten . Samuel Freudenstein bewohnte mit seinem Sohn und einer uralten Haushälterin das wackligste Haus der ganzen Reihe ; und wenn alle andern Besitzer allerlei mehr oder weniger schwache Anstrengungen machten , ihr Eigentum vor dem gänzlichen Verfall zu sichern , so tat der israelitische Handelsmann durchaus nichts zur Erhaltung seines Hauses und noch weniger zur Verschönerung desselben . Seit dem Anfang des Jahrhunderts waren die Mauern nicht getüncht , seit dem Hubertusburger Frieden schienen die Fenster nicht geputzt worden zu sein . Auf dem Dach wuchs Moos und allerlei Krautwerk ; es hatte sich mehr als ein Ziegel abgelöst und war durch keinen andern ersetzt worden . Die Baupolizei war schlecht in Neustadt , aber Samuel Freudenstein verlangte gar keine bessere . Eigentliche Kellerwohnungen und -läden gab es in Neustadt nicht , die Stadt war dazu nicht überfüllt genug . Der ärmere Teil der Bevölkerung wurde weder zu hoch hinauf- noch zu tief hinabgedrängt . Das einzige Lokal , welches jenen troglodytischen Einrichtungen größerer Städte ähnelte und welches somit dem Geschmacke Freudensteins entsprach , hatte dieser bei seiner Ansässigmachung in Neustadt bald gefunden , und nach seinem Geschmack hatte er sich darin eingerichtet . Dem durch die Kröppelstraße Wandelnden machte sich der Laden des Trödlers glänzend durch eine vor der Tür aufgehängte Hoflakaienlivree des Königs Hieronymus von Westfalen bemerklich . Dieser bunte Anzug diente besser als alles andere als Aushängeschild eines Trödelladens , und ein vorzüglicheres Symbolum dafür als dieses Hausratstück des Trödelkönigreichs Westphalie war schwerlich zu finden . Es war niemand in der Stadt , der diese Livree nicht kannte ; und Leute , welche sie als Kinder angestaunt hatten , mußten sich ihrer noch im späten Greisenalter erinnern . Dem Lakaien gegenüber hing am andern Türpfosten eine schadhafte Eierkuchenpfanne , und zwischen beiden gingen die Kunden ein und aus , brachten die verschiedenartigsten Gegenstände oder schleppten die verschiedenartigsten Gegenstände fort . Das Schaufenster gab nur einen schwachen Begriff von dem , was der Laden in seinem Innern enthielt : Damenhüte und Herrenhüte , Schulbücher , Bündel verrosteter Schlüssel , staubige Rokokogläser und Schüsseln , ein Fächer , eine Standuhr , desolate Porzellanfiguren , Kinderpuppen , ein Zettel mit der Inschrift : » Hier werden die höchsten Preise für Lumpen aller Art gezahlt « ; – ein anderer Zettel mit der Inschrift : » Allerhöchste Preise für Knochen , zerbrochenes Glas und Eisen « ; – ein dritter Zettel mit den verlockenden Worten : » Einkauf von Gold , Silber , Juwelen und getragenen Kleidungsstücken « ; – – viel enthielt das Schaufenster und doch sehr wenig im Vergleich zu dem Laden selbst . Wenn man über die Schwelle getreten und die drei Stufen hinabgestolpert war , geriet man in eine Dämmerung , in welcher man anfangs keinen Gegenstand von dem andern unterschied , und in eine Atmosphäre , welche ebenfalls aus mancherlei ununterscheidbaren Düften zusammengesetzt war . Nur ganz allmählich gewöhnten sich Auge und Nase an die Lokalitäten ; nur ganz allmählich erkannte man , daß der Mensch hier alles loswerden konnte , was er nicht gebrauchte oder nicht länger gebrauchte , und daß er hier vieles fand , was er gebrauchte . Ein Gegenstand mochte durch noch so viele Hände gegangen sein , noch so viele Schicksale in auf- und absteigender Linie gehabt haben , Samuel Freudenstein brachte ihn doch noch im gegebenen Augenblick in Bewegung und an den rechten Mann . Er konnte dem ältesten Plunder täuschend den Anschein der Neuheit gehen , und seine Ansichten über die Dauer im Wechsel wären höchst belehrend und anziehend für jeden Philosophen gewesen . Wie ein Alchimist und Zauberer waltete er aber auch in seinem dämmerigen Reich , und seine Erscheinung weckte nicht das Zutrauen , welches dem Handelsmann so nützlich ist . Samuel Freudenstein war ein Sechziger , der wenig auf äußere Eleganz hielt und der allein imstande gewesen wäre , den Hut des Armenlehrers Silberlöffel für eine höchst anständige Kopfbedeckung zu halten . Er war groß , doch ging er sehr gebückt und schien an einem ewigen Frost zu leiden . Die Art , wie er seine schlotternden Glieder in seinem zerlumpten Schlafrock verbarg , konnte in den Hundstagen einem eine Gänsehaut hervorbringen . Der Mann war ein fortwährendes Zähnklappern und ein Greuel für jeden , der etwas auf ein wohlgewaschenes Gesicht und reinlich beschnittene Nägel gab . Daß er sich stets genügend rasiert habe , konnte man ebenfalls nicht behaupten , und daß er einst ein Weib gefunden hatte , und zwar ein sehr hübsches und sehr reinliches , das glaubten nicht alle , welche mit der Tatsache bekannt gemacht wurden . Es war aber doch so , und das Weib hatte ihn sogar geliebt und hatte ihn höchst ungern allein gelassen in der Welt . Nicht immer hatte Samuel in der Dunkelheit seines Ladens in Neustadt gesessen ; er hatte mehr von der Welt gesehen als sämtliche anderen Neustädter zusammengenommen . Geboren war er in jener angenehmen Gegend , wo Katze und Hund sich gute Nacht sagen und wo Russen , Polacken und Türken einander seit undenklichen Zeiten in den Haaren liegen . Gehandelt hatte Samuel bis hinauf nach Warschau und Petersburg und bis hinunter nach Konstantinopel . Im Jahr 1799 zog er mit Suwarow nach Italien und machte gute Geschäfte , wäre aber beinahe von dem alten Italinsky gehängt und von Massena füsiliert worden . Als vorsichtiger Mann blieb er deshalb an der nächsten Ecke zurück und ließ die kriegführenden Parteien allein weitermarschieren . Er ging nach Wien , und als ihm das Glück dort nicht wohlwollte , nach Prag , wo er in der Jüdenstadt sich sehr behaglich fühlte und wo er jedenfalls sich für immer festgesetzt hätte , wenn nicht die große Konkurrenz gewesen wäre . Er handelte um diese Zeit mit Rauchwaren und machte ein ziemlich bedeutendes Geschäft in Füchsen von allen Farben , Mardern und dergleichen Pelztieren . Als er zum erstenmal zur Messe nach Leipzig kam , glaubte er sich gerade mit ten in Abrahams Schoß setzen zu können , aber er setzte sich nebenzu und verlor in einer allzu gewagten Spekulation fast sein sämtliches Vermögen . Die Zeiten waren für jedermann hart und wurden immer härter , aber Samuel Freudenstein gehörte zu den Leuten , die jeder Windstoß nach Belieben dreht und wendet , und das kann unter Umständen trotz allem , was man dagegen sagen mag , ein großes Glück sein . Er verstand zu lavieren ; und durch alle Gefahren , alles Kriegswetter , Krachen und Poltern rettete er sich mit seinem Päcklein , zog im Sommer des Jahres achtzehnhundertundsechs durch das Rosentor zu Neustadt ein und wurde als Jude nach damaligem löblichem Gebrauch gleich dem eingetriebenen Schlachtvieh verzollt . Nach dieser lobwürdigen Gewohnheit konnten Zettel auf irgendeinem Steueramt in jeder beliebigen deutschen Stadt abgeliefert werden , auf welchen zu lesen stand : » Heute am .. Januar 178. verzollt und versteuert am Kreuztor : I. drei Rinder , II. vierzehn Schweine , III. zehn Kälber , IV. ein Jüd , nennt sich Moses Mendelssohn aus Berlin . « Die Schlacht bei Jena , welche so manche Niederträchtigkeit , so manchen Unsinn über den Haufen warf , machte auch diesem Skandal ein Ende , aber Anno fünfzehn hätte mancher liebende Landesvater die gute , alte Sitte allergnädigst gern wiedereingeführt . In Neustadt lud Samuel Freudenstein sein Bündel bei einem Glaubensgenossen ab und präsentierte demselben einen Wechsel , der sein ganzes damaliges Vermögen darstellte . Er war des umherschweifenden Lebens überdrüssig , wollte von jetzt an das Leben auf bescheidenem Fuße anfangen , und das Städtlein gefiel ihm . Was ihm der Gastfreund über die sonstigen Verhältnisse mitteilte , befestigte seinen Entschluß , hiesigen Orts den Wanderstab abzusetzen und sich häuslich niederzulassen . Trotz dem Unglück , welches Samuel bei seinem letzten Unternehmen gehabt hatte , war der Wechsel , den er aus seiner schmierigen Brieftasche hervorwühlte , für die Neustädter Verhältnisse doch nicht so unbedeutend , und es ließ sich wohl ein neues Geschäftchen damit gründen . Die Häuser waren damals wohlfeil , der ewigen Einquartierung wegen ; Samuel erhielt das beschriebene Gebäude in der Kröppelstraße fast geschenkt und richtete sich darin ein wie ein Ohrwurm in einem leeren Schneckenhaus . Im Jahre 1815 heiratete er die Tochter des weisen und wohlhabenden Mannes , der seinen Wechsel so prompt saldiert hatte . Sein Trödelgeschäft hatte unter den Durchmärschen von Feind und Freund nicht gelitten ; es hatte sich im Gegenteil sehr dadurch gehoben , denn Freund und Feind hatten mancherlei Dinge loszuschlagen , an welche sie leicht gekommen waren , welche sich aber schwer mitschleppen ließen im Tornister oder auf dem Bagagewagen . Nach dem zweiten Pariser Frieden ahnte die Kröppelstraße , daß der Jüd im Keller sein Schäflein geschoren habe , der Gastfreund aber wußte es und gab seine Tochter , das schöne Blümchen , gern an ihn ab . Wir wissen , daß Moses Freudenstein und Hans Unwirrsch fast um dieselbe Stunde im Jahre 1819 geboren wurden und daß das » Blümchen « im Kindbett starb . Der Frauen Amme fütterte den Säugling auf , und Samuel erzog ihn auf seine Weise , welche von dem Schulplan des Spritzenhauses in mancher Hinsicht bedeutend abwich . Um die Erziehung der Juden bekümmerte sich das hohe Kultusministerium damals noch nicht ; es ließ sie in dieser Beziehung ganz und gar ihren eigenen Weg suchen , und – sie fanden ihn und gingen ihn . Moses Freudenstein wußte um viele Dinge Bescheid , von welchen die Taugenichtse , die ihn in der Kröppelstraße mißhandelten , nicht das mindeste ahnten . Daß die Kröppelstraße den Juden nicht mit den freundlichsten Augen ansah und sich ihm gegenüber nicht auf den Standpunkt des » Liebe deinen Nächsten wie dich selbst « stellte , brauchte keine Verwunderung zu erregen ; aber übertrieben war es doch , wenn die Mütter ihre hoffnungsvollen Sprößlinge vor dem Trödelladen dadurch warnten , daß sie behaupteten , man verfertige darin Würste aus dem Fleisch kleiner unartiger und unschuldiger Christenkinder und benutze dazu statt ihrer Därme ihre wollenen Strümpfe . Auch für Hans Unwirrsch hatte einst die Idee , zu Wurstfleisch gehackt und in seinen eigenen wollenen Strumpf gestopft zu werden , nichts Verlockendes ; als er aber mit Moses hinab in den dunkeln Laden polterte , war er über diese Fabel längst hinaus und sah sich nur sehr neugierig in dem geheimnisvollen Raume um , in den er bis jetzt nur ganz verstohlen von der Straße aus zu blicken gewagt hatte . Aus der Finsternis des Hintergrundes hervor stürzten der Vater Samuel und die alte Esther , um den jetzt in lautes Geheul ausbrechenden Moses in ihre Arme zu schließen , auszufragen und zu beruhigen . Verwünschungen aller Art schleuderte Esther auf den Haufen in der Gasse , und als sie gar , bewaffnet mit einem Besen , einen Angriff darauf machte , stob er entsetzt nach allen Seiten hin auseinander . Mit traurigem Kopfschütteln ließ sich der Trödler das Geschehene auseinandersetzen , aber sein Zorn machte sich nicht in lauter Weise Luft . Er hatte in seinem Leben so viele Demütigungen hinunterschlucken müssen , daß es ihm auf eine mehr oder weniger nicht ankam . Aber dem Verteidiger seines Sohnes stattete er seinen Dank fast in einer Art ab , wie er es einem erwachsenen Mann gegenüber getan haben würde , und Hans fühlte sich höchlichst geschmeichelt und schenkte ihm seine ganze Hochachtung . Er genoß in dem dunkeln Hinterzimmer eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen , fand auch hier manches , was seine Aufmerksamkeit erregte , und versprach sich und der Familie Freudenstein , die angeknüpfte Bekanntschaft fortzusetzen . Die Base Schlotterbeck war grade nicht sehr entzückt , als sie das Geschehene vernahm . Sie hatte auch ihre kleinen Vorurteile gegen die Juden und sah nicht ein , welchen Nutzen ein solcher Umgang ihrem Pflegling bringen könne . Die Frau Christine aber erinnerte sich , daß ihr seliger Mann einst geäußert hatte , der Nachbar Freudenstein sei kein übler Mann , es lasse sich recht gut mit ihm verkehren . Die Frau Christine , welche mehr als einer wohlhabenden israelitischen Familie in der Hauptstraße die Hemden gewaschen hatte , meinte daher , die Juden seien auch Menschen und könnten recht vernünftige Leute sein . Sie hatte nichts gegen den Verkehr mit dem westfälischen Lakaien drüben , und auch der Oheim Grünebaum gab als » zivilisierter Mann « und » Philosophikus « seine Zustimmung . Hans durfte Moses besuchen und Besuche von Moses annehmen . Die Nachbarn und Nachbarinnen schüttelten bedenklich die Köpfe , aber hinderten nicht , was das Geschick beschlossen hatte . Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit des Trödelladens gewöhnt hatten , entdeckte Hans darin so viele Wunder , daß sich sein Leben jetzt erst mit dem wahren Inhalt zu füllen schien . Zu gleicher Zeit erstieg er eine zweite Stufe auf der Leiter des Wissens , sagte er dem Spritzenhaus und dem Nachfolger Silberlöffels Valet , um in die unterste Klasse der » Bürgerschule « einzutreten . Das war ein wichtiger Schritt vorwärts und wurde als solcher gebührend anerkannt und gefeiert . Der Oheim Grünebaum hielt dabei eine seiner schönsten und längsten Reden , welche aber doch weniger Wirkung auf den Neffen machte als ein Paar neuer Stiefel , womit er ihn beschenkte . Es waren die ersten , auf welche Hans Unwirrsch trat ; in fieberhafter Aufregung hatte er ihren Bau von den ersten Anfängen an bewacht ; mit Nägeln waren sie beschlagen , daß man von der Sohle fast nichts erblickte ; wenn man darin einherstapfte , so hörte man den Schritt drei Gassen weit . Der Oheim Grünebaum hatte ein Meisterstück gemacht und hatte das seltene Vergnügen , daß es als solches anerkannt wurde . Ein großes Sehnen in Hansens Brust war durch die Stiefeln befriedigt worden , er schritt auf ihnen mit bedeutend erhöhterem Selbstbewußtsein durch das Leben . Ein Junge mit so vielen und so dickköpfigen Nägeln unter den Füßen konnte schon seinen Standpunkt den neuen Lehrern und den neuen Schulgenossen gegenüber behaupten , und Hans behauptete ihn und trat jetzt auch erst in ein innigeres Verhältnis zu dem andern Geschlecht , welches er bis dahin so sehr verachtet hatte , insofern es nicht durch seine Mutter und die Base Schlotterbeck repräsentiert wurde . Neben dem Trödelladen wohnte eine Frau , die sich durch eine Semmel- und Obstbude vor der Tür der Bürgerschule erhielt . Ihr Name tut nichts zur Sache ; aber sie hatte eine Tochter von ungefähr acht Jahren , und das kleine Mädchen hatte eine Katze . Das Kind starb zuerst , dann starb die Katze ; die Obsthändlerin ist heute auch längst tot ; – sie haben keine unausfüllbare Lücke in der Welt gelassen , aber die kleine Sophie war doch Hans Unwirrschs erste Liebe . In Abwesenheit der Mutter saß das Kind in der Obstbude an der Bürgerschule , und neben ihm saß die Katze . Beide blickten unbeschreiblich ernsthaft und verständig über die Haufen rotbäckiger Äpfel und Birnen , die Körbe mit den Pfefferkuchen und Semmeln und die Glaskästen voll verlockenden Zuckerwerks . Sich selber ließen sie niemals durch die ausgelegten Schätze verlocken . Pflichtgetreu saßen sie da , warteten auf die Kunden und besorgten den Handel ebensogut wie die Inhaberin der Firma . Zuerst wurde Hans natürlich durch das Obst , die Pfefferkuchen und Semmeln zu der Bude gezogen ; dann übte die Katze eine bedeutende Anziehungskraft auf ihn aus ; die kleine Sophie würdigte er seiner Aufmerksamkeit zuletzt , und es dauerte eine ziemliche Zeit , ehe das Verhältnis sich umkehrte . Letzteres trat erst dann ein , als der ritterliche Hans auch hier als Beschützer aufgetreten war , und dazu mangelte die Gelegenheit nicht . Nicht Hans allein richtete seine Aufmerksamkeit auf die Katze in der Semmelbude . Auch andere jugendliche Gemüter nahmen teil an ihrem Wohl , aber noch viel mehr an ihrem Wehe . Die offenen oder geheimen Angriffe auf das ehrbare , gesittete Tier nahmen nie ein Ende , und die kleine Herrin wußte im Kampf mit allen finstern Mächten ihrem Jammer oft keinen Rat . An jedem Abend trug sie ihre vierbeinige Freundin auf den Armen nach Haus , und dann war auch die rechte Zeit der Wegelagerer gekommen . An jeder Straßenecke hatten Kind und Katze Leid zu bestehen , und immer neue Verfolger schlossen sich zur Begleitung an . Bei solcher Gelegenheit zeigte sich Hans wieder als ein edles Gemüt und nahm sich der duldenden Unschuld nach Kräften an . Er trug zwar wiederum einige Beulen und blaue Flecke davon ; aber das stolze Gefühl , mit welchem er die kleine Sophie sicher bis zur Kröppelstraße geleitete , war doch auch nicht zu verachten . Die Bekanntschaft war angeknüpft , und gegenseitige , innigste Zuneigung entstand daraus . An jedem Abend fand sich Hans an der Obstbude ein , um seine beiden Schutzbefohlenen abzuholen . Moses Freudenstein war bald der Vierte im Bunde . Durch einen Lenz , einen Sommer und einen Winter verkehrten die Kinder so miteinander . Sie trieben alle Kinderspiele zusammen ; mit seinen schönsten Blüten überschüttete sie der Frühling , der Sommer gab alle Freuden , welche er dem jungen Menschen zu geben hat . Holdselig war das Jahr , keine Blüte , keine Frucht blieb aus . In den Herzen der Greise regten sich die ältesten fröhlichen Erinnerungen ; die Schatten der Toten , welche der Base Schlotterbeck in den Gassen begegneten , schienen sich , nach der Aussage der Base , mit den Lebendigen zu freuen . Die Jünglinge und Jungfrauen lebten ein doppeltes Leben in einer schönen Gegenwart und einer schönern , hoffnungsreichen Zukunft . Sorgenvolle Väter und Mütter warfen wenigstens auf Augenblicke die Not des Tages von sich ; aber die Glücklichsten waren doch die Kinder , die vom Alter , vom Tod , von der Hoffnung und von der Sorge noch nichts wußten . Ihnen gehörte die Lust des Jahres ganz und gar , und größtes Unrecht war es , in ihr Reich allzu verständig mit kalter Hand einzugreifen . Zu Wald und Feld führte Hans die kleine Sophie . Sie verloren sich freilich nicht weiter in die grüne Freiheit , als der Schall der Glocken der kleinen Stadt reichte : aber welch eine Unendlichkeit war ihnen darin gegeben ! Der Inbegriff aller Dinge , die Welt , die absolute Totalität eröffnet dem Forscher nicht weitere und nicht geheimnisvollere Räume , als dem Kinde die engbegrenzte Wiese und das Stückchen Himmelblau darüber bieten . Mit dem Hunger nach der Unendlichkeit wird der Mensch geboren ; er spürt ihn früh ; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt , erstickt er ihn meistens leicht und schnell . Es gibt soviel angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde , es gibt so vieles , was man gern in den Mund oder in die Tasche schiebt . Hans Unwirrsch war jetzt in dem Alter , wo die ersten Klänge der großen Weltenharfe leise , leise das aufhorchende Ohr berühren ; wo man im Gras sich wälzt oder still liegt und den Wind in den Blättern hört , die Wolken in der Luft schwimmen sieht und nach den fernen Bergen hinüberstaunt ; wo man läuft , um die Stelle zu finden , an welcher der Regenbogen auf der Erde steht , wo man mit Gras und Baum , mit dem lieben Gott , mit jedem Vogel , jeder bunten Mücke , jedem glänzenden Käfer auf du und du steht : wo man Pantheist in der lautersten Bedeutung des Wortes ist . Ernsthaft wie in der Holzbude vor der Schule saß das kleine Mädchen am Rande des Waldes oder in der Blumenfülle der Wiese . Ihre Hände waren nie unbeschäftigt , ihre Augen waren stets für alles weit geöffnet : aber sie sprach seltener als andere Kinder , und was sie sagte , war viel vernünftiger als anderer Kinder Worte . Die Nachbarn in der Kröppelstraße schüttelten oft den Kopf über sie und nannten sie altklug ; allein , das war sie nicht . Ihre Gedanken über das Rauschen im grünen Baum , über den Sonnenschein , über die weiße und über die rosige Wolke , über den stillen , blauen Himmel waren echte Kindergedanken trotz aller Vernünftigkeit . Mit ihren großen Augen sah sie fest und tief in die schöne Welt und schloß sie dann geraume Zeit , als wolle sie versuchen , wieviel sie von all der Pracht und Lieblichkeit mit sich hineinnehmen könne in die Dunkelheit , den Winter – das Grab . Sie starb in dem Winter an einer Kinderkrankheit , die arme , kleine Sophie . Wenn wir auf das anmutige Bild hauchen , so ist es verschwunden , als sei es nimmer dagewesen . Auf der obersten Stufe der steilen Treppe , die zu der Wohnung der Obsthökerin führte , saßen dicht aneinandergedrängt Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein , und die Katze Sophiens saß eine Stufe niedriger auf der Treppe . Hinter der Tür lag das kleine Mädchen , von welchem gesagt wurde , daß es noch an dem nämlichen Tag sterben müsse . Durch ein einziges morsches und schmutziges Fenster wurde der enge Vorplatz erhellt ; der Regen schlug an die Scheiben , und der Wind rüttelte daran . Mehr als einmal hatte man den Versuch gemacht , die beiden Knaben von ihrem Platze zu vertreiben ; doch Hans wich weder der Gewalt noch der Überredung , und Moses , der gern fortgeschlichen wäre , mußte seinetwegen bleiben . Die Katze miauzte von Zeit zu Zeit leise und klagend : wenn die Knaben zueinander sprachen , so geschah das auch leise und ängstlich . Sie sahen die Katze an , und die Katze sah sie an ; der Tod aber lag auf der Lauer wie damals , als der Lehrer Silberlöffel so krank war ; – ein lautes Wort durfte nicht gesprochen werden , der Tod konnte es nicht leiden . Der Jude wie der Christ fühlten gleicherweise die Schwere der Stunde ; jeder jedoch machte auf seine Weise seine Bemerkungen darüber . » Hast du gehört , was der Doktor sagte zur Jungfer Schlotterbeck ? « fragte Moses . » › Sie macht 's nun nicht lange mehr ‹ , hat er gesagt , und er hat den Kopf geschüttelt – so . « Moses Freudenstein schüttelte den Kopf , wie ihn der Doktor geschüttelt hatte , und Hans sah die Katze an und streichelte sie und schluchzte : » Sie macht 's nun nicht lang mehr ! « Die Katze aber wimmerte , als wollte auch sie sagen : › Ja , sie macht 's nun nicht lang mehr , und niemand weiß das besser als ich . ‹ » Wohin wird sie nun gehen , wenn sie tot ist ? « fragte der Jude , ohne seinen Freund dabei anzusehen . Moses schien für sich allein tief darüber nachzugrübeln , und das Grübeln schien das Gefühl in den Hintergrund zu drängen . » In den blauen Himmel , zu den Engeln , zu dem lieben Gott geht siel « flüsterte Hans , den Finger auf den Mund legend . Aber Moses legte den klugen Kopf auf die Seite und blickte nach dem klirrenden Fenster , an welchem der Regen in Strömen herniederfloß . » Mein , sie wird einen bösen Weg haben ! Wird sie doch sehr frieren auf dem Weg . « Hans Unwirrsch sah ebenfalls nach dem trostlosen Fenster und zog die blauroten Hände so tief als möglich in die Ärmel seiner Jacke , aus welcher er der Base und der Mutter wieder einmal ganz unbemerkt herausgewachsen war . Er konnte über das , was hinter der dunklen Tür vorging , nicht solche Fragen aufwerfen wie der kleine , scharfe , semitische Dialektiker ihm zur Seite ; er war zu unglücklich dazu und fror zu sehr körperlich und geistig . Er hatte mit dunklern , verworrenern , aber auch schmerzvolleren Gefühlen zu kämpfen als Moses Freudenstein . Der Tod der Spielgefährtin machte einen noch viel schärfern Eindruck auf ihn als der des Lehrers ; zum erstenmal fühlte Hans Unwirrsch , daß er ein Stück von seinem Leben verliere . Aber der schaurige Gast , der Tod hinter der Tür , achtete weder auf Grübeln noch auf Gefühl . Mit einem Satz schoß die Katze von ihrem Platz auf der Treppenstufe gegen die Tür ; sie fing an , heftig daran zu kratzen , ihr Haar sträubte sich , sie schrie kläglicher als je . Jemand öffnete die Tür , um das Tier zu verscheuchen ; aber blitzschnell schoß es in die Spalte , und dann – dann durfte auch Hans eintreten – die kleine Sophie verlangte nach ihm . Das Kind wußte ganz klar , daß es sterben müsse . Die großen , ernsthaften Augen hatten einen Glanz bekommen , der nicht mehr von dieser Welt war . Sophie wehrte sich nicht gegen den Tod : sie lag ganz still und sprach auch nicht viel mehr . Mit ihren Augen nahm sie Abschied von ihrem Gespielen , und als Hans laut und bitterlich weinte , schüttelte sie nur ganz leise den Kopf und flüsterte : » Ich habe sie gesehen – gestern – in der Nacht – die schöne große Wiese ! O Hans , wie die Sonne darauf schien – das glänzte ! – und so viele , viele , viele Blumen ! Oh , mir fehlt gar nichts mehr , morgen bin ich ganz gesund . So schöne , goldene Äpfel in den grünen , grünen Bäumen . Wenn der Wind geht , fallen sie wie ein Regen von Gold herunter . Morgen bin ich auf der schönen , schönen , großen , großen Wiese – gute Nacht , Hans , lieber Hans ! « Sie schloß die Augen und schlief ein , und im Schlafe ging sie hinüber in die Ewigkeit , wo die goldenen Äpfel im grünen Gezweig hingen – all der liebliche Glanz , nach welchem der Armenschullehrer hier auf Erden so großen Hunger gehabt hatte , den er so vergeblich hier auf Erden zu ergreifen gesucht hatte . Die Katze war auf die Bettdecke der Kranken gesprungen , hatte sich ihr zu Füßen in einen Knäuel gerollt und schnurrte behaglich . Man ließ das arme Tier , wo es war ; aber den weinenden Hans führte die Base Schlotterbeck fort ; er sah seine Spielgefährtin nicht eher wieder , als bis sie im Sarge lag . Als das Kind gestorben war , wollte man die Katze wegnehmen von der Decke ; sie gebärdete sich jedoch wie toll , biß und kratzte und spuckte und sprang erst dann freiwillig herab , als die winzige Leiche aus der Bettstelle gehoben wurde . Als der Sarg geschlossen worden war und auf zwei Stühlen in der Mitte der Stube stand , legte sich das Tier unter den Sarg und wollte auch von dieser Stelle nicht weichen . Als der Sarg aus dem Hause getragen wurde , folgte ihm die Katze bis zur Haustür und sah ihm nach . Dann schoß sie wieder die Treppe hinauf und fing an zu suchen in allen Winkeln und Ecken und wollte dies Suchen nicht aufgehen trotz allem , was man tat , um sie davon abzubringen . Tagelang , nächtelang wimmerte sie umher , daß das roheste Gemüt im Haus und in der Nachbarschaft ein Grauen und eine Wehmut darüber ankam . Vergeblich bot man dem armen Geschöpf die besten Bissen – es nahm sie nicht an . Niemand hatte das Herz , es roh und rauh anzufassen ; aber man fürchtete sich vor ihm , und jeder atmete auf , als es nach acht Tagen allmählich still wurde . Es hatte ein altes Kleidchen der Toten gefunden , darauf wickelte es sich in einem Winkel zusammen und starb vor Gram und Hunger . Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein begruben es , und der Vater Samuel gab aus seinem Trödelvorrat eine bunte Schachtel zum Sarge her . Der Tod der kleinen Sophie und der Katze machte , wie gesagt , einen viel größeren Eindruck auf Hans als der Tod des Lehrers Silberlöffel . Mit einem andern Mädchen schloß er fürs erste keine Freundschaft ; aber der Trödelladen gewann von jetzt an einen immer größern Einfluß auf ihn . Die Base Schlotterbeck und die Mutter Christine hätten Grund gehabt , recht eifersüchtig auf den Nachbar Samuel Freudenstein zu sein . Fünftes Kapitel Die Freundschaft zwischen dem Sohne des Schusters und dem Sohne des Trödlers , zwischen dem Christen und dem Juden , zog den ersteren immer mehr von dem Umgang mit den übrigen Altersgenossen ab . Diese betrachteten das Verhältnis nicht von der günstigsten Seite ; sie hatten mancherlei daran auszusetzen , und Hans mußte viel darum leiden innerhalb und außerhalb der Schule . Die witzigen Köpfe machten die lächerlichsten Glossen über diese merkwürdige Freundschaft . Die , welche Talent für die zeichnenden Künste besaßen , bedeckten Gartenmauern , Hauswände und Türen mit mehr oder weniger gelungenen Illustrationen der zwei Freunde ; und krummnasige Abbildungen von Moses und Hans , worunter wieder andere geistreiche Bemerkungen schrieben , sah man nicht selten und auch an Orten , wo man sie nicht vermutete . Körperlich aber vergriff man sich nicht mehr an den beiden ; man machte in dieser Beziehung zu böse Erfahrungen Es war übrigens abzusehen , daß eine Zeit kommen könne , wo das Interesse an ihnen vollständig erloschen sein würde und wo man sie ruhig ihres Weges gehen lassen würde , ohne sich weiter um sie zu bekümmern . Wie in einer Märchenhöhle saß Hans Unwirrsch in dem Laden des Trödlers , und Samuel Freudenstein war auch in seiner Art ein Zauberer , der durch sein Hantieren , durch sein Wesen und seine Worte wohl einen mächtigen Eindruck auf ein kindliches Gemüt machen mußte . Mit dem Pinsel wie mit dem Leimtopf wußte er gleich geschickt umzugehen ; Vögel , allerlei Vierfüßler stopfte er sehr naturgetreu aus und verkaufte sie in Glaskästen den Liebhabern . Er war auf einer ewigen Jagd nach Merkwürdigkeiten begriffen , saß in seinem Gewölbe wie eine Spinne in ihrem Netz und lauerte auf seine Kunden – Käufer und Verkäufer . Selten entging ihm eine römische Münze oder ein Brakteat , die den Versuch gemacht hatten , noch einmal am Weltverkehr teilzunehmen , und die vom Krämer oder vom Bauer mit Grimm und Verachtung ganz unvermutet in der Ladenkasse oder im Lederbeutel entdeckt und angehalten worden waren . Merkwürdige gläserne Pokale und Becher wußte Samuel sehr zu schätzen , er witterte sie in den dunkelsten Winkeln und Küchenschränken auf den Dörfern aus und zahlte gern dafür , was die Besitzer verlangten . Auch Ahnenbilder kaufte er gern , doch meistens mehr des Rahmens wegen . Es war ein Wunder , wie viele Leute , die auf solche » Ahnen « durchaus keinen Anspruch hatten , doch dergleichen angeschleppt brachten . Wie kamen diese Kotsassen , Halbspänner und Brinksitzer , diese kleinen Handwerker zu diesen stattlichen Herren in Perücke , Ringkragen und Brustharnisch , zu diesen hochtoupierten und gepuderten Damen , die zu ihrer Entwürdigung so holdselig lächelten und auf Rosen und Lilien rochen ? Der Stolz und die Verehrung manches Geschlechtes wurde in der Kröppelstraße auf das schnödeste mit dem Gesicht gegen die Wand gelehnt , und manchen gnädigen Herrn , manche gnädige Frau und manches gnädige Fräulein nahm der Trödler nur als Zugabe auf einen alten Sessel , wackligen Tisch oder wurmstichigen Rokokokasten mit Achselzucken an . Auch mit Büchern gab sich Samuel Freudenstein ab ; alte Folianten in Schweinsleder waren ein wertvoller Handelsartikel es gab keine Scharteke , die nicht zuletzt doch noch der Welt auf irgendeine Art nützlich wurde , an die der Autor einst nicht gedacht hatte . Manches Buch aber , welches der Zufall in den Trödelladen hinabwarf , sollte auf Hans Unwirrsch später eine Wirkung haben , mit welcher der Verfasser zufrieden sein konnte . – Die mannigfachen Gegenstände , welche der Laden enthielt , eröffneten dem in einfachster Ärmlichkeit aufwachsenden Knaben den Blick in unendliche Räume . Was die Schule nüchtern lehrte , gewann hier bunteste und lebendigste Gestalt ; und vielerlei , von dem die Schule nichts sagte , trat ihm hier zuerst entgegen . Einst war in die Kröppelstraße ein Bilderbuch geraten , das einem Kinde wohlhabender Eltern gehörte , und sehr stolz war der Besitzer darauf und gab es nicht aus den Händen . Der arme Hans durfte nur aus der Ferne einen ganz flüchtigen Blick hineintun , worauf es ihm sogleich wieder vor der Nase zugeschlagen wurde . Wie früher von den großen Butterbröten der Genossen , so träumte Hans geraume Zeit von diesem Bilderbuche ; er hätte gern tagelang gehungert , wenn es ihm dafür auf eine Stunde in die Hände gelegt worden wäre ; den Besitzer hielt er für den glücklichsten Jungen , den es jemals gegeben habe . Er hatte einen großen Hunger nach diesem Bilderbuch und mußte ihn sich vergehen lassen wie so manchen andern Hunger damals und später . Jetzt wurde ein in jeder Beziehung viel reichhaltigeres Bilderbuch vor ihm aufgeschlagen , und nach Belieben durfte er darin blättern . Nun dämmerte ihm eine Ahnung von dem Reichtum der Welt ; immer bestimmtere Formen erhoben sich unter den schwankenden Märchenbildern , den verschwimmenden Gestalten und Klängen , welche durch die Base Schlotterbeck und ihre Kalenderbibliothek in der Kinderseele wachgerufen worden waren . Aus der Schule konnte Hans Unwirrsch nichts mitbringen , welchem Moses Freudenstein nicht eine andere Färbung hätte gehen können ; und die Worte des Vaters Samuel gewannen bald ein ebenso großes Gewicht wie die der Lehrer in der Bürgerschule . In diesem Trödelladen wuchs Hans über diese Schule schnell hinaus . Der Vater Freudenstein hatte eine gewaltige Achtung vor den Wissenschaften , eine fast ebenso große Achtung wie weiland der arme Anton Unwirrsch . Doch wenn dieser sie um ihrer selbst willen einst verehrte , so schätzte jener sie , weil er darin den Talisman glaubte gefunden zu haben , der zugleich mit dem Gelde ein Schild und eine Waffe sei für sein immer noch ob seiner und der Väter Sünden so vielfach bedrängtes und zurückgesetztes Volk . Das Leben , welches dem Manne so arg mitgespielt hatte , hatte ihm immer von neuem diese Lehre vor die Augen gerückt , und wie der Meister Anton beschloß er , seinen Sohn mit diesen mächtigen Verteidigungs- und Angriffswaffen genügend auszurüsten . Wie Anton Unwirrsch wollte er seinem Sohn den Weg durch die Welt freier machen , als er selbst ihn gefunden hatte : wie Anton Unwirrsch lebte er seit der Geburt seines Kindes nur in der Zukunft desselben . » Lerne , daß dir schwitzet der Kopf , Moses « , sagte er , sobald der Knabe nur irgend imstande war , ihn zu verstehen . » Wenn se dir hinhalten an Stück Kuchen und an Buch , so laß den Kuchen und nimm das Buch . Wenn du was kannst , kannste dich wehren , brauchste dich nicht lassen zu treten , kannste an großer Mann werden und brauchst dich zu fürchten vor keinem , und den Kuchen wirst du auch dazu bekommen . Se werden dir ihn geben müssen , ob se wollen oder nicht . « Moses Freudenstein öffnete bei solcher Ermahnung die funkelnden Augen sehr weit und kniff sie dann zu und fragte wohl : » Und ich brauch , wenn ich lern , mich nicht lassen zu schimpfen und schlagen in der Gaß ? Ich kann 's ihnen heimzahlen , was sie mir tun , brauch mich nicht zu verkriechen vor ihnen ? « » Wenn du hast Kunst und wenn du hast Geld , kannst du sie stecken alle in den Sack . Und wenn du jetzt sitzest im Winkel , kannst du denken : du bist die Katz , und die Mäus tanzen vor dir und pfeifen dir zum Hohn . Laß sie pfeifen und lern ; wenn der jungen Katz sind gewachsen die Krallen , kann sie spielen mit der Maus , und die Maus hat das Schlimmste davon . « » So will ich sitzen im Dunkeln und will lernen alles , was es gibt , und wenn ich alles weiß und habe das Geld , so will ich es ihnen in der Gasse vergelten , was sie mir tun . « » Ich will dir helfen , zu kriegen das Geld ! « sagte der Vater , und die alte Haushälterin in der Ecke kicherte und rieb sich die Hände und murmelte Segnungen und Flüche zu gleicher Zeit , jene über ihren Brotherrn , sein Kind und sein Haus , diese über die Stadt Neustadt und die Kröppelstraße samt allem , was dran und drum hing . Als Hans Unwirrsch die nähere Bekanntschaft von Moses Freudenstein machte , war dieser ihm in den meisten Elementarkenntnissen weit voraus und wußte außerdem in Dingen Bescheid , die den armen Hans mit Staunen und Bewunderung erfüllten . Er wußte , wie eine Kokosnuß aussah ; denn der Vater Samuel hielt eine verschlossen im Schranke . Er wußte ganz genau Bescheid im Lande der Kokosnüsse und im Affenlande und knüpfte daran die Bemerkung , daß die Jungen in der Kröppelstraße auch zum Affengeschlecht gehörten , daß er – Moses Freudenstein – aber doch lieber ein Aff als ein Jung aus der Kröppelstraße sein wolle . In den Geschichten des Alten Bundes war Moses natürlich , sehr bewandert und sprach davon immer in der ersten Person Pluralis : als wir in Ägypten waren – als wir abfielen vom König Saul – als wir zu Babylon in der Gefangenschaft saßen – als wir die Assyrier verjagten . Diese Art zu reden , welche der Deutsche leider Gottes nicht kennt , hatte er auch von seinem Vater , der die Geschichte seines Volkes aus dem Grunde kannte , stolz darauf war und gern und viel davon sprach . Moses Freudenstein warf diese Eigentümlichkeit auch erst sehr spät ab ; ja eigentlich verlor er sie nie völlig , selbst in jener Zeit , als er die Erinnerungen und den Einfluß des Ladens in der Kröppelstraße wie ein altes Kleid von sich gestreift hatte . Es gab in dem Laden alte holländische Reisebeschreibungen vom Ende des siebenzehnten Jahrhunderts , voll der merkwürdigsten Kupfer . Vor diesen Foliobänden war Moses groß , Hans Unwirrsch aber vergaß über ihnen alles andere . Selbst die » Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl « verblaßte vor den Wundern von Surinam , dem Hof des Großmoguls , den Elefanten und den Tigern , den stolzen Kriegsschiffen der Herren Generalstaaten , die mit ihren Kanonen die wundersamen , phantastischen indischen Städte im Kupferstich begrüßten . Aber das waren noch lange nicht alle Reichtümer , von denen Moses umgehen war . Noch ganz andere Wunder barg der Laden des Trödlers . Das Ei des Vogels Roch im Märchen Sindbads des Seefahrers ist ein Gegenstand , der wohl die Phantasie gefangennehmen kann ; aber das wirkliche und wahrhaftige Straußenei , welches einem vor der Nase liegt und welches man mit dem Finger vorsichtig berühren darf , hat doch einen noch größern Reiz . Der westfälische Hoflakai vor der Tür hielt alles , was er versprach ; er hing Wache vor so vielen Schätzen , daß das jugendliche Gemüt durch den Reichtum fast verwirrt wurde . Es war gut , daß Hans in dieser Epoche einen so kühlen Burschen wie den kleinen Moses neben sich hatte . Dieser hatte sich längst in dem Wirrwarr zurechtgefunden und ließ sich so leicht durch nichts mehr verblüffen . Er hatte die große Gabe von der Natur empfangen , in seinem Kopf sogleich alles an die rechte Stelle legen zu können . Im gegebenen Augenblick wußte er alles sofort zu finden ; – ein Kind , ein wahres , rechtes , echtes Kind war er eigentlich nie gewesen . Ein wahres , rechtes , echtes Kind blieb dagegen Hans Unwirrsch sehr lange , fast über die gewöhnliche Zeit hinaus . Auch der Verkehr mit dem israelitischen Freunde änderte daran nichts ; die Phantasie behielt noch das Obergewicht über den Verstand ; der Kreis , in welchem Hans wie jedes andere Menschenkind stand , erweiterte sich nur und füllte sich mit immer buntern , glänzenderen , lockenderen Gestalten , Bildern und Träumen . Die zusammengerollten , farblosen Flügel der jungen Psyche entfalteten sich allgemach im belebenden Strahl der Weltensonne ; ein leichter Schimmer von Azur , Purpur und Gold fing an , sie zu überziehen ; – in Purpur , Azur und Gold aber wiegten sich im Garten der Welt alle Blumen und Blüten , alle Wissenschaften und Künste ; und alle neun Musen , die hohen Göttinnen und Gärtnerinnen , saßen und lächelten still und freudig über all die flatternden Dinger , die verlangenden Seelen und die geöffneten prangenden Kelche . Eines Abends trat Hans sehr nachdenklich aus der Dunkelheit des Trödlerladens hervor und stand einen Augenblick ganz geblendet im Schein der Abendsonne , der noch auf dem Pflaster der Kröppelstraße lag . Dann schoß er schnell über die Straße zum mütterlichen Hause , als ob er einen großen Gedanken so eilig als möglich hinübertragen müsse . Aber still setzte er sich neben der Base Schlotterbeck , die ihrer Gewohnheit nach , um diese Zeit mit ihrem Strickstrumpf vor der Tür hockte , nieder und starrte mit offenem Munde zum Sonnenhimmel hinauf . Anfangs gab die Base weiter nicht acht auf ihn , als sie ihn aber zufällig ansah , ließ sie ihr Strickzeug in den Schoß sinken und rief : » Hannes , was ist dir begegnet ? Kind , wie siehst du aus ! Junge , mach den Mund zu und gib Antwort von dir , was haben sie dir drüben angetan ? « Hans warf einen ziemlich verstörten Blick auf den königlich westfälischen Lakaien drüben , antwortete aber nicht , und die Base mußte ihn erst tüchtig an der Schulter rütteln , ehe er sich in die Gegenwart zurückfand . » Jesus , sie haben es fertiggebracht , sie haben dem Kinde den Kopf verwirrt ! O das Volk , das Volk ! Hans , Hans , mein Liebling , komm zu dir und gib aus , was dir passiert ist , was sie dir getan haben ! « » Er lernt das Lateinische ! « rief Hans , und jetzt sperrte die Base den Mund auf . » Er geht zu Michaeli aufs Gymnasium ! « jammerte der Junge , und die Base schlug die Hände zusammen . » Und ich muß 'n Schuster werden und 'n Pechschuster bleiben ! « heulte Hans , und strömend brachen die Tränen hervor . » 'n Schuster ! Ei sieh mal – 'n Pechschuster und weiter nichts ! « rief eine ironische Brummstimme , und ein grimmer Schatten fiel auf die Base und den Knaben . Der Oheim Grünebaum stand vor den beiden , ein würdiger Vorwurf für den Pinsel eines großen Malers . Verwunderungsvolle Entrüstung malte sich , in Ermangelung eines großen Meisters , selber in allen seinen Zügen : sie trieb ihm fast die Augen aus dem Kopfe . Jedes borstige und widerborstige Haar seines Hauptes schien einen beleidigten Schuster zu bedeuten und der ganze emporgesträubte und – gewühlte Wulst die gekränkte Würde der ehrsamen Zunft im ganzen . Im Innern des Mannes kollerte , knurrte und polterte es aufs bedrohlichste ; aber nur in abgebrochenen Worten und Sätzen vermochte die gerechte Entrüstung sich Luft zu machen . » So 'n Knirps – will sich an der ganzen ehrbaren Schusterei vergreifen – der Deibel – wenn man 's nicht mit höchsteigenhändigen Ohren gehört hätte , sollte man 's nicht glauben – bis dahin , daß man 's – mit seinen eigentümlichen Augen gesehen hätte – hallo ! – Donner und Hagel , und als wenn nicht von Adam herunter ein ganzer Schwanz von Schustern hinge – einer am andern , und diese miserablige , naseweise Kröte , das letzte Exkrementum von die ganze achtbare und notable Reihe ! – I da soll ja – « Die Base streckte dem erzürnten Meister abwehrend beide Arme entgegen , und Hans verkroch sich angstvoll hinter ihrem Stuhl und Rock . » Raus mit ihm , Base ! Wenn ich ihn nicht überlege als Mensch und wenn ich ihn nicht haue als Oheim , Pate und Vormund , so ist mein Offizium als Meister von die löbliche Schusterzunft , daß ich ihm die Büchse prallziehe . Stehe Sie beiseite , Base Schlotterbeck ; ich will dem gottlosen und lasziven Lästermaul sein Urteil so gut hinten aufschreiben , daß er sich drei Tage nicht hinsetzen soll von wegen die Schriftzüge ! « » Aber Meister , was hat denn das arme Kind eigentlich gesagt , was Euch so aus Rand und Band bringt ? « rief die Base , die ihr Leben in der Verteidigung ihres Lieblings geopfert haben würde . » Was die Kreatur gesagt hat ? Sie fragt mich noch ?! Daß er kein Schuster werden will , weil er die löbliche Schusterei verachtet , hat er gesagt . Daß er seinen Oheim und Paten Grünebaum für'n Pechesel und Phülister ästimiert , hat er gesagt . Der Deibel nehme die Graden und die Ungraden : ich aber , Niklas Grünebaum , will justement meinen Newö bei der Jacke nehmen . Diktus , faktus , gehe Sie mich stantepe aus die Sonne , gehe Sie mich auf die Stelle aus die angenehme Gelegenheit , Base Schlotterbeck ! « Die Base wich dem Zorn des göttlichen Schusters Nikolaus Grünebaum nicht : sie wurde allmählich ebenso hitzig wie der wackere Meister . Erst mit sanft überredenden Worten , dann mit drohenden , zuletzt mit ausgespreizten Fingern und Nägeln verteidigte sie den armen Hans ; und da die Nachbarschaft durch den Lärm in Scharen herbeigezogen wurde und da der Meister Grünebaum auf Anstand hielt und da er wußte , daß , wenn sechs , acht oder zwölf Gevatterinnen die Fäuste in die Seite stemmen , meistens ein Geschrei entsteht , welches kein Mann länger , als es unbedingt nötig ist , aushält : so gab er fürs erste klein bei oder verlegte wenigstens die Fortsetzung der Verhandlung in das Innere des Hauses . Der Nachbarinnen wegen riegelte er auch die Tür zu ; aber der Frau Tiebus Entrüstung und der Frau Kiebike Verachtung drangen während einer geraumen Zeit doch hinein und ihm nach . Der Oheim Grünebaum hielt jetzt seinen Neffen und Paten am Kragen , setzte sich auf den Arbeitsstuhl des Meisters Anton und zog den schluchzenden Sünder zwischen seine Knie , wo er ihn wie in einem Schraubstock hielt . Die Base Schlotterbeck stand kummervoll , aber machtlos daneben . » Nun noch einmal von vorn ! « rief der Oheim . » Also 'n Pechschuster muß dieses unglückselige Opferlamm werden und will es nicht ?! Soll mich doch wundern , ob ich aus das Stückchen Unglück den Grund herausquetschen kann , weshalb es nicht nur seine eigene schätzbare Familie , sondern auch noch dazu das ganze hochlöbliche Schustergewerk verschimpfiert ! « Er schrob seinen Schraubstock zu , und lautauf heulte Hans Unwirrsch : » Weil der Moses das Latein lernt und Herr wird über die ganze Straße und die ganze Stadt und alle Jungen darin . Und weil meine Mutter ' ne arme Witfrau ist und weil der Herr Oheim mich auch nicht das Latein lernen lassen wird und weil und weil – « » Und weil und weil – – Base Schlotterbeck , auf Euch geht 's aus . Wenn ein Mensch angefangen hat , dem Jungen Dummheiten in den Kopf zu setzen , so seid Ihr die Perschon , mit Respekt zu sagen . Was , Latein ? Ich will dich Knirps belateinen ! Mit dem Juden drüben ist 's aus . Dir werde ich das Festkleben da drüben vertreiben ! Laß mich noch einmal merken , daß du da hinüberschnüffelst , so will ich dich an der Nase fassen , daß du dein Lebtag kein Schnupptuch mehr gebrauchen sollst . Latein ?! Konnte dein Vater Latein ? Kann ich Latein ? Und wir sind doch Meister und wohlberedte Leute geworden , und wenn ich im Roten Bock den Mund auftue , so klappt das weiteste Maul zu , ohne daß ich es mit Latein stopfe . Aber in dir , Junge , kommt dein Vater wieder heraus , das war auch so ein Phantastiktus , und wenn er das Latein nicht konnte , so hatte er sich doch auf andere Schrullen gelegt ; aber ich habe ihm auf dem Todbette versprochen , einen Menschen aus dir zu machen , und das soll geschehen . Da ist jetzt grade der König Karl in Frankreich , der macht es grade jetzt so mit seine geliebten Untertanen und französischen Landeskindern , wie ich es mit dir machen werde , Hans Unwirrsch : willste nicht , so sollste . Also in aller Güte , willst du nun ein Schuster werden wie deine Vorfahren oder nicht ? « Da diese letzte Frage , mit einem neuen heftigen Druck des Schraubstocks verbunden , an Hans gestellt wurde , so konnte letzterer nicht umhin , seine vollkommene Übereinstimmung mit den Ansichten des Oheims kundzugeben . Die Tränenfluten aber , welche das Versprechen begleiteten , nahmen ihm freilich den größten Teil seines Wertes , und in dem sehr legitimen König Charles dix hatte sich der gute Meister Grünebaum auch nicht das rechte Muster für sein Verhalten ausgesucht . Es ist , als ob das Schicksal hinterlistigerweise manche Wegweiser nur deshalb aufpflanze , um sich mit der Menschheit einen nicht immer harmlosen Fastnachts- oder Aprilscherz zu machen . Stumm hatte die Base des Meisters Wortschwall über sich ergehen lassen ; als er nun aber endlich seine Meinung von der Seele los war , begann sie die Antistrophe zu singen , und das Wort ließ sie sich sowenig wie der Oheim Grünebaum nehmen . » So ! Also Er ist fertig , Gevatter , und hat gesagt , was Er zu sagen hatte ? Das ist ein Glück für mich , das Kind und die vier Wände . Da sollte man ja auseinandergehen vor Grauen vor solcher Trompete . Ihr seid mir ein schöner Mann , Gevatter . Im Roten Bock mögt Ihr wohl allein das große Wort haben ; aber hier haben doch auch noch andere Leute dreinzusprechen . Das Kind hat nichts gesagt , was einen halbewegs vernünftigen Mann aufbringen kann , und wenn es eine fremdländische Sprache lernen will , von der Er nichts versteht , Gevatter , so braucht Er darum noch lange nicht solch einen grausamen Aufruhr zu stiften . Ihr laßt Euer Vogelviehzeug auch nicht einzig singen , wie ihm der Schnabel gewachsen . Pfeift Ihr nicht etwa Eurem Dompfaffen tagelang den Alten Dessauer vor , Gevatter Grünebaum ? Ihr seid wohl ein rechter Schuster ? Ihr habt wohl Grund , Euch Eures Handwerks zu rühmen ? Ach du lieber Gott , ja , wenn man die Stiefel mit alten Lügenzeitungen flicken könnte und wenn man die Schusterei am besten nur auf der Bierbank im Roten Bock treiben könnte , so wäret Ihr wohl der Mann dazu . Seht mir doch ! Er hat es wohl mit seinem Räsonieren vors ehrbare Handwerk weit darin gebracht , Grünebaum ? Sei Er ganz still – die ganze Stadt weiß ja , wie's mit Ihm bestellt ist . Keinen ganzen Stuhl im Haus , keinen heilen Rock am Leib – besehe Er sich nur in dem Spiegel und dann spreche Er die Wahrheit ob Er ein Musterbild und Exempel von 'm Schuster für die Menschheit ist . Grünebaum , Grünebaum , wenn das Kind nicht darbeistände und ich mir darvor zusammenhielte , so wollt ich Euch den Text schon lesen ; Ihr seid mir ein schöner Vormund ; aber laßt nur die Christine nach Haus kommen ! « Auch die Base Schlotterbeck hatte den trefflichen Meister Grünebaum in den Schraubstock genommen , und jedesmal , wenn sie zukniff , zuckte der arme Mann nicht weniger zusammen als vorhin Hans Unwirrsch . Er wand sich wie ein Aal , welchem die Köchin lebendig die Haut vom Leibe zieht . Mit beiden Händen griff er nach dem Kopfe , fand jedoch wenig Erleichterung darin , daß derselbe nicht auf den Küchentisch genagelt war . Sein Selbstgefühl erlitt beträchtlichen Schaden , und als die Base notgedrungen Atem schöpfen mußte , trotzdem daß sie sich so meisterlich zusammengehalten hatte , gab es in ganz Neustadt keinen Schuster von kläglicherer Erscheinung als den Meister Niklas Grünebaum . Rückwärts schreitend zog er sich gegen die Tür zurück , ein Bild äußerster Entwürdigung innerlich und äußerlich . » Himmeldonnerwetter ! « brummte er , den Riegel wegschiebend und die Tür öffnend ; aber das Brummwort bedeutete keinen Fluch , keine Verwünschung ; es war nur eine unwillkürliche Interjektion der allerbedrängtesten Verblüfftheit . Für jetzt war der Oheim Grünebaum nicht mehr fähig , den Kampf gegen die Sprache der Römer fortzusetzen . Und dazu brachte der » Postkurier für Stadt und Land « an diesem selbigen Abend so wichtige , unerhörte , kuriose Nachrichten : Rewwolution in Paris ! Bollinjak an die Beine aufgehängt ! Fünfzigtausend Pariser niederkradätscht ! Garden , Linie und Schweizer totalemang kaputtgemacht ! Thron von Frankreich und Navarra in die Luft geflogen ! Güljottine , Marseljäse , Barrikaden ! ... Der Politiker , Schuster , Vormund und Oheim Nikolaus war wie vor den Kopf geschlagen : es kostete im Roten Bock mehr als einen Extraschoppen , ehe er sich zu der Überzeugung , daß er das große politische Ereignis längst vorhergewußt und vorausgesagt habe , emporschwingen konnte . Endlich brachte er es aber doch gottlob wieder fertig , und je schwankender sein körperlicher Zustand wurde , desto mehr wuchs wieder der Glaube an seine moralische und staatsmännische Unfehlbarkeit . Er trug sein schweres Haupt in vollkommener Zufriedenheit mit sich selbst zu Bett und schlief den Schlaf des Gerechten , was Hans Unwirrsch und seine Mutter nicht taten und die Base Schlotterbeck auch nicht . Sechstes Kapitel Eine schöne , liebliche Nacht war auf den Tag gefolgt : über ganz Europa und seine Völker schien der Mond . Alles Gewölk war fortgetrieben und lagerte und lauerte nun auf dem Atlantischen Ozean . Wer schlafen konnte , schlief ; aber es konnten nicht alle schlafen ! Brautnacht und Todesnacht zugleich ! Durch die Wälder spritzten die Bäche ihre silbernen Funken ; die großen Ströme flossen still und glänzend . Die Wälder , Wiesen und Felder , die Seen , Flüsse und Bäche , die waren in voller Harmonie mit dem Mond , aber das wunderliche Pygmäenvolk der Menschen in seinen Städten und Dörfern , weit davon entfernt , in Übereinstimmung mit sich selber zu sein , ließ in jener Beziehung manches zu wünschen übrig . Wäre er nicht der » sanfte Mond gewesen , hätte er nicht einen guten Ruf zu bewahren gehabt , er würde der Menschheit trotz allen Dichtern und Verliebten nicht geleuchtet haben . Er war sanft und schien ; – zu allem andern rührte ihn vielleicht auch noch das Vertrauen der städtischen Verwaltungen , die sich auf ihn verließen und seinetwegen ihre Straßenlaternen nicht anzündeten . Er schien mit gleicher Klarheit und Sanftmut über Europa – auf die wilde , arme Stadt Paris , wo so viele Tote noch unbegraben lagen und so viele blutige Verwundete mit dem Tode rangen , nicht anders als auf die winzige Stadt Neustadt in ihrem friedlichen , weiten Tal . Er guckte mild in die überfüllten Spitäler und Leichenkammern : – er guckte mild in die Reisekutsche des zehnten Karls und nicht weniger mild in die niedrige Kammer , in welcher die Frau Christine Unwirrsch mit ihrem Knaben lag . Das Kind schlief ; aber die Mutter lag wachend , konnte nicht schlafen vor dem , was sie gehört hatte , nachdem sie von ihrer schweren Arbeit so müde , müde nach Haus gekommen war . Es hatte ziemlich lange gedauert , ehe sie den verworrenen Bericht , den ihr Hans und die Base Schlotterbeck gaben , verstand ; sie war eine einfache Frau , die Zeit brauchte , ehe sie sich in irgendeiner Sache , welche über ihre tägliche Arbeit und ihren armen Haushalt hinausging , zurechtfand . Wenn sie ein Ding begriff , so konnte sie freilich dasselbe auch ordentlich und verständig auseinanderlegen und das Für und Wider jeder Einzelheit gehörig betrachten und gegeneinander abwiegen : aber dieses Streben ihres Kindes aus der Dunkelheit nach dem Licht konnte sie kaum in seinen weitesten Umrissen verstehen . Sie wußte nur , daß sich in diesem ihrem Kinde jetzt derselbe Hunger offenbart hatte , an welchem ihr Anton gelitten hatte ; dieser Hunger , den sie nicht verstand und vor welchem sie doch einen solchen Respekt hatte ; dieser Hunger , welcher den lieben seligen Mann so gepeinigt hatte , der Hunger nach den Büchern und den Wunderdingen , welche in ihnen verborgen lagen . Die Jahre , welche hingegangen waren , seit man ihren Gatten zu Grabe trug « hatten keine Erinnerung verwischt . In dem Gemüt der stillen Frau lebte der gute Mann noch mit allen seinen Eigentümlichkeiten , deren kleinste und unbedeutendste der Tod verklärt und zu einem Vorzug gemacht hatte . Wie er mit der Arbeit einhielt und minutenlang selbstvergessen in die Glaskugel vor seiner Lampe starrte , wie er auf Spaziergängen am schönen Feiertag plötzlich stillstand und den Boden betrachtete und das Himmelsgewölbe , wie er nachts erwachte und stundenlang schlaflos im Bette saß , unzusammenhängende Worte murmelnd : das alles war nicht vergessen und konnte nie vergessen werden . Wie der gute Mann zwischen Seufzern und frohen Aufwallungen , zwischen heiterer und niedergeschlagener Stimmung in seinem Handwerk sich abquälte – wie er in seinen seltenen Feierstunden so sehr studierte , und vor allem , wie er auf seinen Sohn hoffte und so wunderlich hochhinauf träumte von der Zukunft dieses Sohnes : das stand der Frau Christine klar vor der Seele . Die Mutter richtete sich von ihrem Kopfkissen empor und blickte nach dem Lager des Kindes hinüber . Der Mondschein spielte auf der Decke und den Kissen und verklärte das Gesicht des schlafenden Knaben , welcher sich nach seinem betrübten Bericht in den Schlaf geweint hatte und auf dessen Wangen noch die Spuren der Tränen zu finden waren , obgleich er jetzt im Schlummer wieder lächelte und nichts mehr wußte von dem Kummer des Tages . Rund um die Stadt Neustadt in den Büschen und am Rande der Gewässer regte sich das Nachtgevögel ; des Nachtwächters rauhe Stimme erschallte bald näher , bald ferner ; die Uhren der beiden Kirchen zankten sich um die richtige Zeit und waren sehr abweichender Meinung : sehr lebendig waren alle Neustädter Fledermäuse und Eulen , die ihre Stunden ganz genau kannten und sich um keine Minute irrten : Mäuse zirpten hinter der Wand der Kammer , und eine Maus raschelte unter dem Bette der Frau Christine ; eine Brummfliege , welche auch nicht schlafen konnte , summte bald hier , bald da , stieß mit dem Kopf bald gegen das Fenster , bald gegen die Wand und suchte vergeblich einen Ausweg ; es knackte in der Stube der Großvaterstuhl hinter dem Ofen , und auf dem Haustoden trappelte und schlich es so schauerlich und gespenstig , daß es schwerhielt , den beruhigenden Glauben an » Katzen « festzuhalten . Die Frau Christine Unwirrsch , welche als eine ahnungsvolle Seele sonst ein scharfes , ängstliches Ohr für alle Töne und Laute der Nacht hatte und an dem Hereinragen der Geisterwelt in ihre Kammer nicht im mindesten zweifelte , hatte in dieser Nacht nicht Zeit , darauf zu horchen und die Gänsehaut darüber zu bekommen . Ihr Herz war zu voll von andern Dingen , und die Gespenster , die zwischen Erd und Himmel wandeln und mit den Nerven der Menschen ihr Spiel treiben , hatten keine Macht über sie . Die Mutter fühlte die Verantwortlichkeit für das Schicksal ihres Kindes schwer auf sich lasten , und obgleich sie eine ungebildete , arme Frau war , so war ihre Sorge darum nicht geringer , ja ihre Sorge war vielleicht noch schwerer , weil ihr Begriff von dem Verlangen ihres Kindes mangelhaft und unzureichend war . Lange betrachtete sie den schlafenden Hans , bis der Mond am Himmelsgewölbe weiterglitt und der Strahl von dem Bette verschwand und sich langsam gegen das Fenster zurückzog . Als endlich vollkommene Dunkelheit die Kammer füllte , seufzte sie tief und flüsterte : » Sein Vater hat 's gewollt , und es soll niemand gegen seines Vaters Willen sich setzen . Der liebe Gott wird mir armem , dummem Weib schon helfen , daß das Rechte daraus wird . Sein Vater hat 's gewollt , und das Kind soll seinen Willen haben nach seines Vaters Willen . « Sie erhob sich leise von ihrem Lager und schlich , um den schlafenden Knaben nicht zu erwecken , auf bloßen Füßen aus der Kammer . In der Stube zündete sie die Lampe an . Auf den Arbeitsstuhl ihres Mannes setzte sie sich noch einige Augenblicke nieder und wischte die Tränen aus den Augen : dann aber trug sie das Licht zu jener Lade im Winkel , von der wir schon vorhin erzählt haben , kniete davor nieder und öffnete das altertümliche Schloß , welches dem Schlüssel so lange als möglich den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzte . Als der schwere Deckel zurückgelegt war , erfüllte ein Duft von frischer Wäsche und getrockneten Kräutern – Rosmarin und Lavendel – das Zimmer . Diese Lade enthielt alles , was die Frau Christine Köstliches und Wertvolles besaß , und sorgsam nahm sie sich in acht , daß keine Träne dazwischenfalle , Sorgsam legte sie die bunten und weißen Tücher zurück , jede Falte sogleich wieder glättend , vorsichtig stellte sie die Schächtelchen mit alten armseligen Spielereien , zerbrochenen , wohlfeilen Schmucksachen , vereinzelten Bernsteinperlen , Armbändern von farbigen Glasperlen und dergleichen Schätzen der Armen und der Kinder zur Seite , bis sie fast auf dem Grunde des Koffers zu dem kam , was sie in der Stille der Nacht suchte . Mit scheuer Hand holte sie erst ein Kästchen mit einem Glasdeckel hervor ; ihr Haupt senkte sich tiefer , als sie es öffnete . Es enthielt des Liederbuch des Meisters Anton , und auf demselben lag ein vertrockneter Myrtenkranz . Wie ferne Glocken , wie Orgelklang durchzitterte es die Nacht und die Seele der knienden Frau ; nicht klarer und deutlicher sah die Base Schlotterbeck die Toten lebendig , als die Frau Christine sie in diesem Augenblick sah . Sie faltete über dem offenen Kästchen die Hände , und leise bewegten sich ihre Lippen . Es fiel ihr zwar weiter kein Gebet ein als das Vaterunser , aber es genügte . Ein zweites Kästchen stand neben dem ersten , ein altes Ding von Eichenholz , eisenbeschlagen , mit festem Schloß , eine künstliche Arbeit aus dem siebenzehnten Jahrhundert , welche schon seit Generationen im Besitz der Unwirrsche gewesen war . Diesen Kasten trug die Frau Christine zum Tisch , und ehe sie ihn öffnete , legte sie erst in der Lade alles wieder sorgsam an seinen Platz ; sie liebte die Ordnung in allen Stücken und übereilte selbst auch jetzt nichts . Hellen Glanz gaben die kleine Lampe und die schwebende Glaskugel , aber das altersschwarze Kästchen auf dem Tische überstrahlte sie doch , sein Inhalt sprach lauter von der Köstlichkeit der Elternliebe , als wenn ihr Preis unter dem Schall von tausend Trompeten auf allen Märkten der Welt verkündet worden wäre . Das Schloß sprang auf , und der Deckel schlug zurück : Geld enthielt der Kasten ! – Viel , viel Geld – silberne Münzen von aller Art und sogar ein Goldstück , eingewickelt in Seidenpapier . Reiche Leute hätten mit Recht über den Schatz lächeln können , aber wenn sie jeden Taler und Gulden nach dem wahren Wert hätten bezahlen sollen , so würde vielleicht all ihr Reichtum nicht genügt haben , den Inhalt des schwarzen Kastens auszukaufen . Mit Schweiß und Hunger war jede Münze gewonnen worden , und tausend edle Gedanken und schöne Träume hingen daran . Tausend Hoffnungen lagen in dem dunklen Kästchen , sein edelstes Selbst hatte der Meister Anton darin verborgen , und all ihre Liebe und Treue hatte Christine Unwirrsch hinzugelegt . Wer sah das dem ärmlichen Häuflein abgegriffener Geldstücke an ? Ein kleines Buch , bestehend aus wenigen zusammengehefteten Bogen grauen Konzeptpapiers , lag neben dem Geld ; des Vaters Hand hatte die ersten Seiten mit Buchstaben und Zahlen gefüllt , dann aber hatte der Tod den Schlußstrich unter des wackeren Meisters Anton Rechnung gezogen , und nun hatte bereits durch lange Jahre die Mutter Buch gehalten auf Treu und Glauben ohne Buchstaben und Ziffern , und die Rechnung stimmte immer noch . Wie oft hatte sich die Frau Christine Unwirrsch hungrig zu Bett gelegt , wie oft hatte sie allen möglichen Mangel erduldet , ohne der Versuchung , die Hand nach dem schwarzen Kästchen auszustrecken , zu unterliegen ! In jeder Gestalt war die Not an sie herangetreten in ihrer kümmerlichen Witwenschaft , aber heldenhaft hatte sie Widerstand geleistet . Auch ohne Schriftzeichen und Zahlenzeichen konnte sie in jedem Augenblick Rechenschaft ablegen : – sie trug keine Schuld , wenn aus dem schwarzen Kästchen nicht die glückliche , ehrenvolle Zukunft , die der Tote für seinen Sohn erträumt hatte , emporstieg . Länger als eine Stunde saß die Frau Christine in dieser Nacht vor dem Tisch , zählte an den Fingern und rechnete , während drüben im Hinterstübchen des Trödlerhauses ebenfalls ein Mann rechnend und zählend saß . Auch Samuel Freudenstein wachte für seinen schlafenden Knaben . Manche Rolle mit Goldstücken , manche Rolle mit Silberstücken lag vor ihm : er hatte mehr in die Waagschale des Glückes seines Kindes zu werfen als die arme Witwe . » Ich will ihn wappnen mit allem , was eine Waffe ist ! « murmelte er . » Sie sollen ihn finden gerüstet auf allen Seiten , und er soll ihrer spotten . Ein großer Mann soll er werden ; er soll alles haben , was er will . Ein Knecht war ich , er soll ein Herr sein im fremden Volk , und leben will ich in seinem Leben . Einen guten Kopf , ein scharfes Auge hat er ; er wird seinen Weg schon gehen . Er soll gedenken an seinen Vater , wenn er ist angekommen auf der Höhe ; leben will ich in seinem Leben . « Die Witwe teilte ihren kümmerlichen Tageslohn in zwei Teile . Der größte derselben fiel in das Kästchen von Eichenholz zu den andern Ersparnissen so langer , mühevoller Jahre , und einen hellen Klang gaben die schlechten Münzen . Mehr als hundert blanke Taler legte Samuel Freudenstein zu dem Vermögen seines Sohnes ; niemand in der Kröppelstraße hatte eine Ahnung davon , welch ein reicher Mann der Trödler allmählich wieder geworden war . Aus der Kammer der Witwe war der Mondschein gänzlich wieder verschwunden , als die Mutter fröstelnd zurückschlich aus der Stube . Noch immer schlief Hans Unwirrsch fest und erwachte auch nicht von dem Kuß , den die Mutter auf seine Stirn drückte . Auch die Lampe erlosch , und die Frau Christine schlief bald so sanft wie ihr Kind . Um das Bett des Königs Salomo standen mit Schwertern in den Händen sechzig Starke , geschickt zum Streiten , » um der Furcht willen in der Nacht « ; zu Häupten der Witwe und ihres Kindes jedoch stand ein Geist , der bessere Wacht hielt als alle Gewappneten in Israel . Fast den ganzen Sommer hindurch dauerte der Kampf gegen den Oheim Grünebaum . Einen so hartnäckigen Schuster hatte die Welt lange nicht gesehen . Tränen , Bitten und Vorstellungen erweichten , rührten und überzeugten ihn nicht . Ein Mann , der es mit den sieben weisen Meistern in jeder Beziehung aufnahm , ließ sich durch zwei alberne Weibsbilder und einen dummen Jungen so leicht nicht seinen Standpunkt verrücken . Beschlossen hatte er in seiner zottigen Männerbrust , daß Hans Unwirrsch wie alle andern Unwirrsche und Grünebäume ein Schuster werden müsse , und mit höhnischem Gepfeife schlug er alle Angriffe auf seinen Verstand , seine Vernunft und sein Herz zurück . Es verging kaum ein Tag , an welchem er nicht die Base Schlotterbeck aus ihrer Gelassenheit herausflötete . Je mehr sich die Frauen ärgerten , je hitziger sie in ihren Argumenten , je schärfer sie in ihren Worten wurden , desto melodiöser wurde der Oheim Grünebaum . Mit einer mutigen , kriegerischen Weise begleitete er gewöhnlich den Anfang jeder neuen Unterhandlung , und unter den schmelzendsten , sehnsüchtigsten Melodien brachte er sie ergebnislos zu Ende . » Gevatter , Gevatter « , rief die Base , » wenn das Kind unglücklich wird , so ist's Eure Schuld – Eure Schuld allein ! Solch ein Mensch wie Ihr ist mir in meinem ganzen , lieben , langen Leben nicht vorgekommen . « Ob nun das Lied vom Prinzen Eugen zur Beantwortung dieser Anmahnung gesungen worden war , konnte einigem Zweifel unterliegen : der Meister Grünebaum wie » selber ein Türke ! « pfiff es . » O Niklas « , rief die Schwester . » was bist du für ein Mann ! Es ist ein so gutes Kind , und seine Lehrer sind so mit ihm zufrieden , und sein Vater hat 's gewollt , daß er alles lernen solle , was es zu lernen gibt . Denke an Anton , Niklas , und gib dich , ich bitte dich herzlich drum . « Der Oheim Grünebaum gab sich noch lange nicht . Er drückte den Gedanken , daß die Schusterei ebenfalls ein schönes , nachdenkliches , gelehrtes Geschäft sei und daß das Handwerk einen goldenen Boden habe , sehr bezeichnend durch die Melodie » Die Leineweber haben eine saubere Zunft « aus , ließ sich aber auf Weiteres nicht ein . » Pfeife Er nur ! « schrie die Base , erbost die Arme in die Seite stemmend . » Pfeife Er nur zu . Er Narr ! Ich aber sage Ihm , Er mag sich nur auf den Kopf stellen , das Kind soll doch auf die Hohen Schulen und Universtäten . Sitze Er nur wie ein geblendeter Gimpfel , pfeife Er nur zu . Base Unwirrsch , heule Sie nicht , tue Sie ihm nicht den Gefallen , er hat nur seine abscheuliche Lust daran . Solch ein Tyrann ! Solch ein Barbare ! Und es ist doch Ihr Kind , Base , nicht seins ! Aber der liebe Gott wird schon ein Einsehen haben , lasse Sie nur die Schürze vom Auge , Base . Pfeife Er jetzt nur zu , Gevatter , aber verantworte Er nachher es auch und überlege Er sich , was Er einst dem Meister Anton da oben sagen will ! « Es schien , als ob der Oheim Grünebaum sich dereinst bei seinem seligen Schwager durch das schöne Lied » Saß ein Eichhorn auf dem Heckendorn « verantworten wolle , wenigstens pfiff er es nachdenklich und gerührt und drehte dazu die Daumen umeinander . » O Niklas , was für ein hartherziger Mann du bist ! « schluchzte die Schwester . » Die Base hat ganz recht , du wirst es nicht verantworten können , was du an deines Schwagers Kinde tust ! « » Und lieber noch 'n Lumpensammler als solch ein lumpiger Flickschuster , der dem lieben Gott seine Tage im Roten Bock auf der Bierbank abstiehlt . Und solch eine Kreatur will sich dagegensetzen und hinten ausschlagen , wenn ein armes Kind über ihr hinauswill ! Wenn er sich nur die Hände waschen und die Haare kämmen wollte , der Mann ; ich möchte den sehen , welchem es eine Ehre wäre , ihn zum Vorbild und Muster zu nehmen . Es lebt so was weiter nicht , und so einer will andere abhalten , sich rein zu waschen und ihren Eltern Ehre zu machen . Aber ich bau auf den Herrgott , Meister Grünebaum . Derselbigte wird Euch schon zeigen , was Ihr eigentlich seid . 's ist doch wirklich 'ne Lächerlichkeit , daß ein Mensch den Vormund spielen will , der sich selber nicht bemündeln kann . « Die Melodie » Guter Mond , du gehst so stille « muß in der Tat eine sehr besänftigende Wirkung auf die menschlichen Gefühle ausüben ; der Oheim Grünebaum pfiff sie schmelzend , solange die Base Schlotterbeck redete , und wie großer Zorn auch in seinem Busen kochen mochte , die Welt bekam nichts davon zu sehen . Hans Unwirrsch , mit seinem Bücherränzel aus der Schule heimkehrend , fand die beiden Frauen in sehr erregter Stimmung , mit hochroten Gesichtern , und den Oheim sehr gefaßt , gleichmütig und kühl ; – er ahnte wohl , wovon wiederum die Rede gewesen war , aber selten erfuhr er etwas Näheres über die Verhandlung . Gewöhnlich nahm der Oheim Abschied , indem er einen Choral oder sonst eine schwermütige Weise flötete und dabei den armen Hans grinsend in das Ohr kniff ; Mephistopheles hätte ihn um sein Lächeln beneiden können , und die Frauen fielen nach seinem Abmarsch gewöhnlich matt und gebrochen auf die nächsten Stühle und waren für mehrere Stunden unfähig , an die menschliche und göttliche Gerechtigkeit zu glauben . Im Kornfelde blitzte und klang die Sense : der Oheim Grünebaum hatte noch immer nicht nachgegeben . Allerlei Früchte lösten sich , ohne daß der Wind wehte , von den Zweigen und fielen herab : der Oheim Grünebaum hielt seine Meinung hartnäckiger als je fest . Silberne Fäden umspannen die Welt und schwebten durch die Luft : der Oheim Grünebaum schwebte nicht mit , sondern lachte hohn von seinem niedrigen Dreifuß . Bunt und immer bunter färbte sich der Wald , aber des Oheim Grünebaums Ansicht von Welt und Leben hielt Farbe . Moses Freudenstein brüstete sich immer stolzer in seinem Triumphe , und Hans Unwirrsch sah immer kläglicher und trübseliger drein . Die Singvögel flöteten ihre letzten Weisen und rüsteten sich zur Abreise nach Süden : der Oheim Grünebaum flötete auch , aber er blieb im Lande und nährte sich redlich , denn er war zu sehr überzeugt , daß er nicht zu entbehren sei in Neustadt , im Roten Bock und in seiner Familie . Kein Deus ex machina stieg herab , dem armen Hans Hülfe zu bringen , und so blieb ihm zuletzt nichts weiter übrig , als sich selbst zu helfen . Er führte einen Plan aus , der längerer Zeit bedurft hatte , um in seiner kleinen Brust zu reifen , setzte dadurch die Base und die Mutter in schwindelnde Verwunderung und brachte den steifnackigen Oheim Grünebaum vollständig aus der Fassung . An einem Sonntagmorgen zu Anfang des Septembers hatte der Gymnasialprofessor und Doktor der Philosophie Fackler das Reich allein in seinem Haus und fühlte sich geborgen , behaglich wie selten in seiner Studierstube . Die Frau Professorin und Doktorin befand sich mit ihren beiden Töchtern in der Kirche und bat höchstwahrscheinlich den lieben Gott um Verzeihung für die unruhigen Stunden , welche sie dann und wann dem » guten Mann « , d.h. ihrem Gemahl und Herrn bereitete . Die Magd hatte sich in Privatangelegenheiten entfernt ; – still war das Haus , ein grauer Tag blickte freilich in die mit Tabakswolken gefüllte Studierstube , aber die freudige Seele des Professors wandelte auf blauem Gewölk mit dem Liederbuch des Quintus Valerius Catullus und schlürfte die wonnigen Minuten der Freiheit – Vivamus , mea Lesbia , atque amemus , rumoresque senum severiorum omnes unius aestimemus assis . Am See Benacus lustwandelte er im Schatten der Granatbäume und Pinien auf der glückseligen Halbinsel Sirmio , und die funkelnden Verswellen des römischen Dichters spülten jeden Gedanken an die Gegenwart und jene Lesbia , die augenblicklich in der Kirche scharf und schrill mitsang , in das Nichts hinab . Er überhörte den Klang der Haustürglocke , vernahm nicht den ängstlich leisen Schritt , der die Treppe emporstieg ; er fuhr erst auf , als etwas leise an seiner Tür kratzte und klopfte . Schnell verbarg sich der lateinische Schalk Catull unter einem Haufen ernstern gelehrten Rüstzeugs , und würdig rief der Professor und Doktor der Philosophie : » Herein ! « Niemand folgte der Einladung , und lauter wurde sie wiederholt , aber auch dieses Mal ohne Erfolg . Verwundert erhob sich der Gelehrte aus seinem Sessel , zog seinen langen Schlafrock fest um sich und ließ nun mit noch größerer Verwunderung ein winziges Bürschlein von ungefähr elf Jahren in seine Studierstube , ein Bürschlein , das an allen Gliedern zitterte und dem die Tränen über die Backen liefen . Niemand war bei der Unterhaltung , welche dieser Besucher mit dem Herrn Professor Fackler hatte , zugegen , und die Einzelheiten des Gesprächs können wir nicht angeben . Nur das können wir sagen , daß die aus der Kirche mit den holden Pfändern der » tausend und aber tausend Küsse « , ihren beiden Töchtern , heimkehrende Lesbia ihren Gatten in einer sehr vergnügten Stimmung fand . Er trug ihr nicht die Aufmerksamkeit entgegen , welche sie von ihm erwartete , sondern fuhr fort , weitbeinig in der Stube auf und ab zu laufen und zu murmeln : » Seh einer ! – Ein wackerer kleiner Kerl ! – Puer tenax propositi ! – Er soll seinen Willen haben ! – Bei allen olympischen Göttern , er soll erreichen , was er will , und möge es zu seinem Heil sein ! « » Was soll zum Heil sein ? Wem soll was zum Heil sein , Blasius ? « fragte Lesbia , ihr Gesangbuch weglegend . » An der Ferse soll jemand genommen und in den Styx soll er getaucht werden , Beste , auf daß er gegen der Welt Bedrängnisse gefeiet sei und als Sieger aus der Männerschlacht hervorgehe . « » Du hast heute wieder deinen albernen , unverständlichen Tag , Blasius ! « rief die Frau Professorin ärgerlich und sah dabei aus , als habe sie Lust , den Gemahl tüchtig durchzuschütteln . Glücklicherweise jedoch sprangen in diesem Augenblicke Eugenia und Kornelia herein und hingen sich mit allerlei kindlichen Fragen und Bitten an den Papa . Dieser wies auf die Mutter und zitierte dumpf : » Jove tonante , fulgurante , comitia populi habere nefas . « Er zog den Rock an , setzte den Hut auf , nahm den Stock , ging aus und – stattete dem Oheim Grünebaum einen Besuch ab . Der Oheim Nikolaus Grünebaum aber hielt zu seiner eigenen » höchsten Perplexität « am Nachmittag in der Kröppelstraße eine lange , schöne Rede , zu welcher die Base Schlotterbeck einen ausgezeichneten Kaffee gebraut hatte , und expektorierte sich ungefähr folgendermaßen : » Sintemalen denn ein Schuster ein nobles und ehrerbietiges Geschäft ist , aber dennoch so können nicht alle Menschenkinder Schuster werden , sondern es muß item noch anders Volk gehen , Schneider , Bäcker , Zimmerlinge , Maurer und dergleichen , auf daß für jedes Gefühl und Sentiment gesorgt werde und kein Sinn ohne die nötige Bedeckung bleibe . Weilen es aber auch noch andere Bedürftigkeiten in der Welt gibt und der Mensch viel nötig hat , ehe und bevor er nichts mehr nötig hat , so gibt es auch item Advokaten und Doktors mehr als zuviel und dazu Professors , Pastöre mehr als genug . Aber der Herrgott läßt's gehen , wie 's will , und der Deibel nimmt die Graden und die Ungraden , was soviel heißen soll als : ein Junge , der sich sein Geschäft aussuchen will , der soll sich sehr vorsehen und bedenken , wozu ihm die Nase steht , denn es hat sich schon mehr als einmal zugetragen , daß der Esel meinte , er könne die Laute schlagen . Aber einen Stiebel kann auch nicht jeder machen , es ist nicht so leicht , als es sich ansieht . Nun ist hier vorhanden Christine Unwirrsch , weiland Anton Unwirrschs Witfrau , und zweitens die unverehelichte Base Schlotterbeck , auch ein sehr gutes Spezifikum von gesundem Menschenverstand und natürlicher Begabung . Ferner ist gegenwärtig Meister Niklas Grünebaum , als wie ich selber , ohne Rühmens auch nicht auf den Kopf gefallen , sondern ganz adrett auf die Füße . Vor sie drei aber steht das Geschöpf , um das es sich handelt , Hans Jakob Niklas Unwirrsch , was wenigstens sich als einen Jungen von Kurasche demonstriert hat und seine liebe Anverwandtschaft hinterrücks ein Bein gestellt hat . Solch ein Knirps ! « Beide Frauen erhoben hier die Hände , um des Himmels Segen auf den jugendlichen Genius Hans Unwirrsch herabzuflehen ; aber der Oheim fuhr fort : » Ich denke : Grünebaum , fall vom Stuhle ! , als der Herr Professor so mit einem Male vor mir steht . Solch ein Junge ! Aber ein ästimabler , räsonabler , angenehmer Herr ist der Herr Professor , und so ist das Lange und Kurze von der Geschichte , daß ich von heute morgen um halber zwölfe an nichts mehr damit zu tun haben will und meine Hände mir drüber wasche . « » Woran Er sehr wohltut , Gevatter « , sagte die Base Schlotterbeck . » Und so mag es denn gehen , wie 's geht , der Deibel nimmt die Graden und die Ungraden ! « schloß der Oheim . » Niklas « , rief aber die Frau Christine ärgerlich , » ich hoffe , mein Sohn wird weder grad noch ungrad mit dem Teufel zu tun haben , und gehen lassen , wie 's geht , soll er es auch nicht . « » Keine Reverenzien und Übelnehmerischkeiten ! « brummte der Oheim . » Also , was ich und der Herr Professor denn sagen wollten : Junge , da 'n Überstudierter am Ende doch auch ein Mensch bleibt , so sollst du unsertwegen deinen Willen haben . Basta , ich hab's gesagt ! Die hochlöbliche Schusterei wird doch wohl nicht ein Mirakelum an dir Lümmel vorbeilassen . « In einem Tränenstrom machten sich die Gefühle der Mutter Luft , die Base Schlotterbeck zerfloß fast in freudiger Rührung ; Hans Unwirrsch war später niemals imstande , sich und andern Rechenschaft zu geben über die Gefühle dieser Stunde . Wer aber auch jetzt vollkommen trocken und kühl blieb oder tat , war der Oheim Grünebaum . Mit seinem Schusterdaumen drückte er gemütlich den Tabak in seiner kurzen Pfeife nieder , klappte bedächtig den Deckel zu wie ein Mann , der ein gutes Werk getan hat und sich die ihm von Rechts wegen zukommende Belohnung höchstens im Hauptbuch des Himmels gutschreiben läßt . Er mochte aber aussehen , wie er wollte , seine Macht über seinen Neffen hatte er verloren , und niemals konnte er das Eingebüßte wiedergewinnen . Seit dem Augenblick , in welchem Hans Unwirrsch mit der eigenen , winzigen Hand dem Steuer seines Lebens einen so wirkungsvollen Ruck gegeben hatte , stand er dem wackern Meister mit vollberechtigtem Willen gegenüber , und des Meisters Erstarrung und Ratlosigkeit war um so grenzenloser , je größere Gleichmütigkeit er äußerlich zur Schau trug . Die Geschicke mußten sich erfüllen , und Hans Unwirrsch betrat den Weg , welchen Anton Unwirrsch nicht gehen durfte . Am folgenden Mittag begegnete der verstorbene Meister der Base Schlotterbeck ; er ging gebückt und mit gesenktem Kopfe , nach seiner Art , aber er lächelte zufrieden . Siebentes Kapitel Die Pforte , die sich nun vor unserm Hans geöffnet hatte , führte , wie jeder , welcher durch sie schritt , weiß , nicht gleich in die weiten , hohen , herrlichen Säle , wo die weißen Marmorgestalten , die aus dem Schutt der klassischen Welt aufgegraben wurden , feierlich die Wände entlang stehen . Sowohl Hans als Moses fanden das sehr bald aus , doch ersterer hatte mit dem Faktum bitterer zu kämpfen als der letztere . Verwirrt und bestürzt stolperten beide auf der heiligen Schwelle und rutschten durch den abschüssigen Gang des Vokabulariums hinab in das grauenvolle Labyrinth der Deklinationen und Konjugationen , in welchem der Kollaborator Klopffleisch als erbarmungsloser Minotaur auf seine Opfer wartete . Aber Moses Freudenstein fand sich schnell wieder auf den Füßen , während Hans Unwirrsch noch längere Zeit kläglich auf seinem Hinterteil sitzen blieb und verloren , verraten und verkauft um sich starrte . Die schnelle Fassungsgabe , das treffliche Gedächtnis des jüdischen Knaben hoben ihn schnell über die ersten Schwierigkeiten der gelehrten Laufbahn weg , und nur mühsam und keuchend konnte Hans ihm folgen . Doch Wille ist Werk , sagt das Sprichwort , und Hans Unwirrsch hatte den besten Willen , seinen Freund nicht aus den Augen zu verlieren : alle Kraft setzte er daran , und der Kollaborator Klopffleisch respektierte bald den Willen seines Schülers . Glückliche Jahre ! Ach , wenn sie nur nicht so schnell vorüberrauschten , o Posthumus , liebster Posthumus ! Eben schien noch die heiße Julisonne durch die Fenster der Quinta auf unsere Köpfe , und wir schwitzten zu allem andern Schweiß dicke Angsttropfen über der zerlesenen Grammatik , während die Vögel draußen in den Bäumen uns auslachten und die Fliege , die frei über das blaue Heft spazierte , die frech um die Nase des Magisters summte , uns ein beneidenswertes Tier dünkte ! Nun ist es schon Winter , Schnee liegt auf dem Boden und den Dächern und wird vom freien , lustigen Wind gegen die Fenster der Quarta gewirbelt . Der Wind und die tanzenden Flocken höhnen uns nicht weniger als die Sommervögel und die Fliegen ; es gewährt uns nur eine sehr mangelhafte Genugtuung , daß wir uns nach Herzenslust über den Cornelius Nepos aufhalten dürfen , weil er seine Vorrede mit einem grammatikalischen Fehler anfängt und non dubito nicht mit quin konstruiert .