1 Den ganzen Tag über hatte es geschneit , und zwar so recht mit Muße und Gemächlichkeit , so daß die Dächer und Fenstersimse dicke , fleckenlos weiße Polster angelegt hatten . Nun brach ein früher Abend herein und mit ihm ein wilder Sturm , der heimtückisch in die niedertaumelnden Schneeflocken fuhr , wie ein Raubtier zwischen eine friedliche Taubenschar . Mag auch das Wetter derart sein , daß der gemütliche Kleinstädter nicht einmal seinen Hund , geschweige denn seine eigenen , edlen Gliedmaßen außerhalb der vier Wände wissen will , in der großen Hauptstadt B. merkt man abends zwischen sechs und sieben Uhr keinen auffallenden Unterschied hinsichtlich der Straßenfrequenz . Die Gasflammen ersetzen die Himmelslichter , die nicht kommen wollen ; um die Ecken jagen die Equipagen in so wütender Eile , daß die Fußgänger nur durch einen kühnen Sprung an die Häuser Leben und Glieder retten ; dafür folgt ein Schwall kräftiger Flüche dem pelzverbrämten Kutscher und dem eleganten Wagen , hinter dessen festgeschlossenen Scheiben reizende Damen ihr blumengeschmücktes Köpfchen mühsam über die ungeheuren Wogen des umfangreichen Gazekleides heben und keine Ahnung davon haben , daß in diesem Augenblicke Feuer und Schwefel auf ihre duftenden Locken herabgewünscht werden . Wohlfrisierte Wachsköpfe , inmitten schauderhafter schwarzer und blonder Skalps , still und aufmerksam arbeitende Uhrmacher , lächelnde Kommisgesichter hinter bauschenden Stoffen und verführerischen Mantillen , und alte verkümmerte Boukett- und Kranzwinderinnen zwischen hold blühenden , frischen Blumen stehen und bewegen sich in beneidenswerter Sicherheit und wohldurchwärmter Atmosphäre hinter den Schaufenstern , die ein blendendes Licht auf die schlüpfrigen Trottoirs und den vorbeiflutenden Menschenstrom werfen , wobei blaurote Nasenspitzen , thränende Augen und verzweifelte Kopf- und Armbewegungen an allen alten und jungen Vorübereilenden sichtbar werden . Doch halt – nicht an allen ! Da tritt eben aus einem Seitengäßchen in eine der Hauptstraßen mit leichtem , elastischem Schritte eine weibliche Gestalt . Das enge , verwachsene Mäntelchen schließt sich fest an die schlanken Glieder , und der alte , zerzauste Muff wird dicht an die Brust gedrückt , wo er die Enden eines herabhängenden Schleiers festhält ; unter diesem alten schwarzen Gewebe lachen zwei Mädchenaugen im Sonnenglanze frischer Jugend ; sie blicken fröhlich in das Schneegetümmel , haften innig an den halbgeöffneten Centifolien und den dunklen Veilchen hinter den Glasscheiben und verbergen sich nur dann unter den langen Wimpern , wenn sich heimtückische Eissplitter unter die Schneeflocken mischen . Wer einmal gehört hat , wie kindliche Hände , oder auch Hände , die zu einem völlig ausgewachsenen Körper und Kopfe gehören , auf dem Klavier eine wohlbekannte Melodie zuversichtlich beginnen , gleich darauf mittels einer Dissonanz den musikalischen Faden zerreißen , mit falschem Fingersatze in alle möglichen Tonarten , nur nicht in die angegebene , greifen , wobei der Lehrer den hochgehobenen , takttretenden Fuß verzweiflungsvoll sinken läßt , bis endlich die Melodie langatmend und lebensmüde wieder anhebt , um im nächsten Augenblicke durch einige leichte Takte wie über eine weite Ebene dahinzurasen – wessen Ohrennerven einmal auf dieser Folter gelegen haben , der wird begreifen , daß das junge Mädchen , welches soeben zwei Unterrichtsstunden in einem Institute beendet hat , dem Sturmwinde freudig die heiße Wange bietet , als einem wackeren Gesellen von System und konsequenter Durchführung , dessen mächtiges Brausen ja in Orgel und Aeolsharfe zur wundersamen Melodie wird . So eilt das junge Mädchen flüchtig und schwebend durch Schneefall und andringenden Menschenstrom , und ich zweifle keinen Augenblick , sie würde auf den schwimmenden Quadersteinen des Trottoirs , umbraust vom Sturme , nicht anders als auf dem Parkett eines Salons auch , dem Leser unter holdseligem Lächeln die graziöseste Verbeugung machen , wenn ich sie ihm vorstellen wollte als Fräulein Elisabeth Ferber . Diese Vorstellung kann nun freilich nicht stattfinden , und das ist mir insofern ganz erwünscht , als ich beabsichtige , den Leser mit der Vergangenheit des jungen Mädchens bekannt zu machen . Herr Wolf von Gnadewitz war der letzte Abkömmling eines ruhmreichen Geschlechts , das seinen Ursprung zurückleiten konnte bis in zweifelhaftes Dämmerlicht noch vor jenem goldenen Zeitalter , allwo der vorüberziehende Kaufmann in irgend einem Hohlwege seine kostbaren Stoffe und Waren zu adligen Bannerfähnlein und glänzenden Turnierwämsern , wie zu junkerlichen Gelagen unfreiwilligerweise ablieferte . Aus jenen unvergeßlichen Zeiten datierte auch ein Rad in dem Wappen der Gnadewitze , auf welchem einer der Ahnherren seinen Heldengeist verhauchen mußte , weil er in Ausübung jenes ritterlichen Aneignungssystems allzuviel Krämerblut vergossen hatte . Herr von Gnadewitz , der Letzte seines Stammes , war Kammerherr in Fürstlich X. schen Diensten , zudem Inhaber hoher Orden und verschiedener Rittergüter , wie auch Besitzer aller Charaktereigenschaften , die , seiner Ansicht nach , einem Hochgebornen zukommen , und die er » vornehm « nannte , weil dem gemeinen Manne bei der derben Hausmannskost der Moral und dem strengen Muß der Verhältnisse und Sitten jedwedes Verständnis für jene unnachahmliche Grazie und Eleganz des Lasters abgehe . Herr Wolf von Gnadewitz war auch prachtliebend , wie sein Großvater , der das alte Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen , die Wiege seines Geschlechts , verließ , um sich drunten im Thale einen wahren Feensitz im italienischen Geschmacke aufzubauen . Sein Enkel ließ das alte Haus droben noch mehr verfallen und erweiterte und verschönerte das neue Schloß um ein beträchtliches . Ja , es schien , als hege Herr Wolf von Gnadewitz nicht den leisesten Zweifel , daß der Letzte seines Geschlechts dereinst als allerjüngstes Menschenkind beim Weltgerichte erscheinen werde ; denn um alle neu angebauten Gemächer auszufüllen , durfte der alte Stamm getrost zahllose Zweige treiben . Allein , das hieß die Rechnung ohne den Wirt gemacht . Herr Wolf von Gnadewitz hatte zwar einen Sohn , der schon mit zwanzig Jahren ein so vollendeter Gnadewitz war , daß selbst das glänzende Bild des Ahnherrn mit dem Rade vor ihm erbleichen mußte . Aber der junge Herr hatte eines Tages , bei Gelegenheit der ersten , großen Jagd im Herbst , einem Treiber mit der Hetzpeitsche einen furchtbaren Schlag über den Kopf versetzt , und zwar mit vollstem Rechte , wie alle eingeladenen Teilnehmer an der Jagd einmütig versicherten , denn der Tölpel hatte den Lieblingshund des Herrn dermaßen auf die Pfoten getreten , daß das Tier für den ganzen Tag untauglich geworden war . Und so kam es , daß kurze Zeit darauf Hans von Gnadewitz nicht allein auf dem Stammbaume in der großen Halle des neuen Schlosses , sondern auch wirklich und leibhaftig an einem Eichbaume des Waldes , und zwar mit einem Stricke um den Hals gefunden wurde . Der geschlagene Treiber büßte zwar , wenn auch nicht auf dem Rade , so doch unter dem Beile , diese Frevelthat ; allein das machte den letzten der Gnadewitze nicht wieder lebendig , denn er war tot , unwiderruflich tot , wie die Aerzte versicherten , und so hatte das lange Lied von Raubrittertum , Trinkgelagen , Hetzjagden und Pferderennen ausgeklungen Nach dieser schrecklichen Katastrophe verließ Herr Wolf von Gnadewitz sofort das Schloß im Thale , wie überhaupt diese Gegend , und zog nach Schlesien auf eines seiner vielen Güter . Er nahm eine entfernte Verwandte , die Letzte einer Seitenlinie seines Geschlechts , in sein Haus , damit sie ihn pflegen solle . Es zeigte sich aber , daß diese Verwandte ein engelschönes , junges Mädchen war , bei dessen Anblick der alte Herr den eigentlichen Zweck ihres Kommens rein vergaß und schließlich meinte , sein sechzigjähriger Rücken sei noch gerade genug , um in den Hochzeitsfrack schlüpfen zu können . Zu seiner tiefsten Indignation jedoch mußte er erfahren , daß auch eine Zeit kommen könne , wo selbst ein Gnadewitz nicht mehr begehrenswert erscheine , und wütend wurde er , als das Mädchen ihm gestand , daß sie , ihre hohe Abkunft schnöde vergessend , ihr Herz einem jungen , bürgerlichen Offizier , dem Sohne eines seiner Förster geschenkt habe . Der junge Mann besaß nichts als seinen Degen und seine männlich schöne Gestalt , aber er hatte sich eine tüchtige , wissenschaftliche Bildung angeeignet , war liebenswürdig im Umgange und von ausgezeichnetem Charakter . Als Herr von Gnadewitz die schöne Marie infolge ihrer Erklärung verstieß , da führte sie der junge Ferber glücklich als Gattin heim und hätte in den ersten zehn Jahren seiner Ehe mit keinem König tauschen mögen . Im elften würde ihn zwar ein solches Gelüst noch viel weniger angefochten haben ; denn das war das Jahr 1848 – aber es brachte auch für ihn schwere Kämpfe und einen völligen Umschwung seiner Verhältnisse ... Er kam in den kritischen Fall , zwischen zwei Pflichten wählen zu sollen . Die eine , die ihm sein Vater schon an der Wiege vorgesungen , hieß : » Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst , vor allem aber deine deutschen Brüder « ; die andere dagegen , die er sich , wenn auch viel später , selbst auferlegt , gebot ihm , das Schwert für das Interesse seines Herrn zu führen . In diesem Konflikte nun siegte jenes Wiegenlied , das kräftige Wurzeln um sein Herz geschlagen hatte , vollständig – Ferber schoß nicht auf seine Brüder , aber dieser Sieg kostete ihm seinen Beruf , seine gesicherte Lebensstellung . Er nahm seinen Abschied und sank bald darauf infolge einer Erkältung gelähmt aufs Krankenlager , das er erst nach jahrelangem Siechtum wieder verließ . Hierauf siedelte er mit seiner Familie nach B. über , wo er bald eine erträgliche Stelle als Buchhalter in einem bedeutenden Handlungshause erhielt . Es war die höchste Zeit , denn das kleine Vermögen seiner Frau war bei dem Sturze eines Bankgeschäfts verloren gegangen , und nur die mehrmaligen Geldunterstützungen , die Ferbers älterer und einziger Bruder , ein Förster in Thüringen , der bedrängten Familie zukommen ließ , hatten bis jetzt den Mangel in seiner schlimmsten Gestalt ferngehalten . Leider sollte dies Glück nicht von Dauer sein . Ferbers Chef gehörte zu den Frommen im Lande und suchte alle seine Umgebungen mit seinem Bekehrungseifer heim . Auch Ferber wurden diese Bemühungen zugewandt , stießen aber hier auf einen zwar mit ruhigem Ernste geäußerten und durch eine Fülle von Wissen motivierten , aber so entschiedenen Widerstand , daß sich das fromme Gemüt Herrn Hagens – so hieß der Kaufmann – darüber schier zu Tode entsetzte . Einem solchen Freigeiste Schutz und Brot zu geben und somit geflissentlich den Untergang des Reiches Gottes zu befördern – der Gedanke ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe , bis er mittels eines Entlassungsbriefes sich von dieser Last befreite und das räudige Schaf aus seiner Lämmerherde stieß . Um jene Zeit ging auch Herr Wolf von Gnadewitz heim zu seinen Ahnen , und da er während seiner irdischen Laufbahn an dem Grundsatze seines Geschlechts , keine Beleidigung ungerächt zu lassen , streng festgehalten hatte , so konnte dies Leben wohl keinen würdigeren Abschluß und Endpunkt finden , als in dem Testamente , das er eigenhändig niederschrieb , ehe er hinunterstieg in das enge Kämmerlein von Zinn , in welchem seine Gebeine der Nachwelt aufbewahrt bleiben sollten . Dies Aktenstück männlicher Konsequenz , das einen entfernten Verwandten seiner verstorbenen Gemahlin zum Universalerben ernannte , schloß mit folgender Verfügung : » Inanbetracht des unabweislichen Anspruches , den sie an meinen Nachlaß hat , vermache ich der Anna Maria von Gnadewitz , verehelichten Ferber , das Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen . Anna Maria Ferber wird nicht verkennen , daß ich sie wohlmeinend bedenke , indem ich ihr ein Obdach anweise , das sie mit zahllosen Erinnerungen an das edle Geschlecht , dem sie einst angehörte , umgeben wird . Wohl wissend , daß über jenen alten Hallen stets Glück und Segen geschwebt hat und diese unleugbare Thatsache genau erwägend , halte ich es demnach für völlig überflüssig , diesem meinem Geschenke noch etwas beizufügen ... Sollte jedoch Anna Maria Ferber den Wert meiner Gabe nicht einsehend , dieselbe verkaufen oder auf irgend welche Art veräußern wollen , so erlischt sofort ihr Anspruch an das Erbe , und das Waisenhaus in L. tritt an ihre Stelle . « Herr Wolf von Gnadewitz hatte sich sonach mit Hinterlassung einer beißenden Satire auf sein schwarzbehangenes Paradebett gelegt . Ferber und seine Frau hatten zwar nie das alte Schloß gesehen , allein es war weltbekannt als ein zusammensinkender Trümmerhaufen , den seit wenigstens fünfzig Jahren keine ausbessernde Hand berührt hatte , und der bei der Einrichtung des neuen Schlosses im Thale sämtlicher Hausgeräte , Wandbekleidung , ja sogar des Kupferdaches auf dem Hauptgebäude beraubt worden war . Seitdem lagen die schweren Riegel und Vorlegeschlösser eingestäubt und eingerostet vor dem mächtigen eichenen Hauptthore . Die ungeheuren Waldbäume , die sich dicht um den grauen Bau scharten , woben ungestört ihre breiten Aeste in das üppige Gestrüpp zu ihren Füßen , und bald lag das verlassene Schloß hinter der grünen , undurchdringlichen Wand , wie eine eingesargte Mumie . Der glückliche Universalerbe , dem der fremde Besitz inmitten seines Waldes sehr lästig war , hätte gern für eine ansehnliche Summe das alte Haus zurückgekauft , allein die vorsichtig ausgedachte Klausel am Schlusse des Vermächtnisses schnitt jede Unterhandlung ohne weiteres ab . Frau Ferber legte die ihr zugesandte Abschrift des Testamentes , auf die einige Thränen fielen , stillschweigend auf den Schreibtisch ihres Mannes und nahm dann mit doppeltem , beinahe fieberhaftem Eifer ihre Arbeit , eine Stickerei , wieder auf . Ferber hatte trotz aller Bemühungen keine Anstellung wieder erhalten und sah sich nun genötigt , durch schlecht bezahlte Uebersetzungen , und wenn es an diesen mangelte , mittels Akten- und Notenschreibens sein und seiner Familie Leben zu fristen , wobei ihn seine Frau durch den Erlös für Handarbeiten nach Kräften unterstützte . So trübe nun auch Ferbers Lebenshimmel umzogen war , ein Stern tauchte allmählich auf unter den Wolkenmassen und schien die fehlenden äußeren Gnadenbezeigungen des wetterwendischen Glückes ersetzen zu wollen . Eine Ahnung von diesem milden Strahle , welcher dereinst in ein dunkles Leben fallen sollte , überkam Ferber schon , als er zum erstenmal an der Wiege seines erstgeborenen Töchterchens stand und in die prächtigen Augen sah , die aus dem feinen Kinderköpfchen ihn anlachten . Sämtliche Freundinnen der Frau Ferber waren einstimmig der Ansicht , der kleine Ankömmling sei ein reizendes Wesen , ein eigentümlich bevorzugtes Kind , ja es sähe so ganz und gar nicht aus , wie das gewöhnliche Menschenkind , wenn es krebsrot zum erstenmal die Welt anschreie , daß – hier brachen sie stets ab , und es steht zu vermuten , daß nur das märchenfeindliche neunzehnte Jahrhundert und die sarkastischen Mienen ihrer Ehemänner die stille , aber untrügliche Ahnung hinter ihre Lippen verschloß , es habe hier die geheimnisvolle Macht irgend einer gütigen Fee obgewaltet . Sie hielten in corpore das kleine Weltwunder über die Taufe , stritten sich dabei , welche wohl die meiste Zärtlichkeit für das Patchen hege , und schwuren , dieser Tag werde ihnen unvergeßlich bleiben – ohne Zweifel eine zu hohe und voreilige Anforderung an ihr Erinnerungsvermögen , denn als Ferbers in mißliche Verhältnisse gerieten , da wischte der Egoismus mit hartem Finger über die Denkschrift , und siehe da , es blieb keine Spur zurück , daß sie je gewesen . Diese alte Erfahrung , welche die kleine Elisabeth schon in ihrem neunten Lebensjahre machen mußte , beunruhigte sie übrigens sehr wenig . Die vermeintliche Fee hatte ihr zu den anderen reichen Gaben auch einen unzerstörbaren Frohsinn und sehr viel Willenskraft in die Wiege gelegt ; deshalb nahm sie fortan das dürftige Vesperbrot ebenso dankbar und fröhlich aus der mütterlichen Hand , wie ehemals die unerschöpflichen Leckerbissen der zärtlichen Paten , und als am Weihnachtsabend ein lichterarmer Baum nur einige Aepfel und vergoldete Nüsse bot , da schien ihr gar nicht einzufallen , daß sich früher stets eine ehrenwerte , stattliche Gesellschaft aller möglichen guten und wünschenswerten Dinge auf seinen Zweigen eingefunden hatte . Ferber unterrichtete seine Tochter selbst . Nie hatte sie eine Schule oder ein Institut besucht , ein Mangel , den man leider heutzutage in vielen Fällen einen Vorzug nennen möchte , wenn man bedenkt , daß manche junge Mädchen bei weitem erfahrener die Schule verlassen , als der sorgsamen Mutter lieb sein dürfte , die daheim die Reinheit der jungen Seele streng behütet und nicht ahnt , daß sie durch die täglich sich mehrenden räudigen Schafe im Schulzimmer Eindrücke empfängt , deren nachteilige Folgen sich in allen Phasen des späteren Lebens geltend machen . Elisabeths bildsamer Geist entfaltete sich herrlich unter der Leitung der selbst so reich begabten Eltern . Sie trieb die ihr auferlegten Studien mit tiefem Ernste und dem rastlosen Drange , alles , was sie in sich aufnahm , gründlich zu wissen , damit es ein unveräußerliches , lückenloses Eigentum ihrer Seele bleibe ; das war ihr strenge Gewissenssache und gehörte in das Reich der Pflichten . Der Musik aber gab sie sich mit einer Inbrunst hin , mit welcher der menschliche Geist das umfaßt , was er als seine spezielle Sendung auf der Welt erkennt . Bald hatte sie ihre Mutter , die ihre Lehrerin war , weit überflügelt , und wie sie als kleines Kind ihr Spielwinkelchen verließ , wenn sie Wolken auf des Vaters Stirn bemerkte , sich auf seinen Schoß setzte und ihm selbsterfundene goldglänzende Märchen erzählte , so beschwichtigte sie später mit wundervollen Melodieen , die wie klare Perlen in ihrer Seele aufstiegen , und die vorher noch nie ein menschliches Ohr berührt hatten , den Dämon finsteren Grames , der oft Ferbers Gemüt umnachtete . Aber nicht allein dieser Segen erwuchs aus dem seltenen Talente des jungen Mädchens . Das ausgezeichnete Klavierspiel in der Mansarde hatte die Aufmerksamkeit einiger Hausbewohner erregt . Elisabeth bekam auf diese Weise nach und nach mehrere Schülerinnen und später den Klavierunterricht in einem Institute übertragen , wodurch es ihr möglich wurde , die Nahrungssorgen der Eltern bedeutend zu mildern . Hier nehmen wir den Gang der Erzählung wieder auf und wollen uns die Mühe nicht verdrießen lassen , dem jungen Mädchen zu folgen , das an dem stürmischen Winterabend der elterlichen Wohnung zueilte . 2 Während des endlosen Weges durch krumme und gerade , dunkle und helle Straßen genoß Elisabeth schon im Geiste das Behagen , das sie beim Eintritt in das heimische Stübchen stets überkam . Da saß , von der kleinen Schirmlampe mild beleuchtet , der Vater am Schreibtische , lächelnd das blasse Gesicht erhebend , wenn er Elisabeths Schritte hörte . Er nahm die Feder , die den ganzen Nachmittag über das Papier geflogen war , in die linke Hand und zog mit der rechten seine heimkehrende Tochter zu sich nieder , um einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken . Die Mutter , die , den Nähkorb zu ihren Füßen , gewöhnlich neben ihm saß , um den schwachen Lampenschimmer möglichst nahe zu haben , begrüßte sie mit einem zärtlichen Lächeln und zeigte auf Elisabeths Hausschuhe , welche sie vorsorglich in das warme Zimmer getragen hatte . Auf der heißen Ofenplatte zischten einige Aepfel , und drüben in der dunklen , behaglichen Ecke neben dem Ofen summte die kleine Theemaschine auf dem Sofatische , welche nebenbei mit ihrer schwachen , blauen Flamme eine ganze Kompanie Bleisoldaten zu beleuchten hatte , die der sechsjährige Ernst , Elisabeths einziges Brüderlein , exerzieren ließ . Vier Stockwerke mußte Elisabeth ersteigen , ehe sie den schmalen , dunklen Korridor erreichte , der zu der elterlichen Wohnung führte . Hier nahm sie eiligst den Hut ab , zog eine neue , mit Pelz verbrämte Knabenmütze unter dem Mantel hervor und drückte sie auf ihr blondes Haar . So trat sie in das Zimmer , wo der kleine Ernst alsbald mit einem Freudenschrei auf sie zulief . Heute aber war die dunkle Ecke am Ofen hell beleuchtet , und der Schreibtisch stand verlassen im Dunkel , der Vater saß auf dem Sofa und hielt die Mutter umschlungen ; auf den Gesichtern beider aber lag ein eigentümlicher Glanz , und wenn auch die Mutter verweint aussah , so erkannte Elisabeth doch auf den ersten Blick , daß die Thränen aus Freude geflossen waren . Erstaunt blieb sie an der Thür stehen und mochte mit diesem Gesichtsausdrucke unter der schief aufgedrückten Mütze wohl sehr komisch aussehen , denn beide Eltern lachten laut . Elisabeth stimmte fröhlich ein in das Gelächter und setzte die Pelzkappe auf den dunklen Lockenkopf des kleinen Bruders . » Da , Herzensjunge , « sagte sie , indem sie zärtlich sein blühendes Gesichtchen zwischen ihre beiden Hände nahm und küßte , » die gehört dir . Und auch dem Mütterchen bringe ich etwas mit in die Wirtschaft , « fuhr sie glückselig lächelnd fort und legte der Mutter vier blanke Thaler in die Hand , » ich habe heute meine ersten fünf Thaler Honorar im Institut er halten . « » Aber Elsbeth , « sagte die Mutter mit feuchtem Auge , indem sie das Töchterlein zu sich niederzog , » Ernsts vorjährige Wintermütze sieht noch ganz anständig aus , und du hättest viel nötiger ein Paar warme Handschuhe gebraucht . « » Ich , Mutter ? Fühle doch meine Hände an , ich komme eben von der Straße , und sie sind so warm , als hätten sie im Ofen gesteckt ... nein , das wäre geradezu Luxus . Unser Junge ist größer und stärker geworden , die Mütze aber nicht , drum war diese Ausgabe im Augenblick die nötigste . « » Ach , du liebe , gute Elsbeth ! « rief entzückt der Kleine , » eine solche schöne Mütze hat ja nicht einmal der kleine Baronsjunge unten im ersten Stock ... Die wird aufgesetzt , wenn ich auf die Jagd gehe , gelt , Papa ? « » Auf die Jagd ? « lachte Elisabeth , » du willst wohl auf die unglücklichen Spatzen im Tiergarten schießen ? « » Falsch geraten , Jungfer Else ! « jubelte der Kleine . » Ja , im Tiergarten , « fügte er ernsthaft hinzu , » da würde ich schön ankommen ... nein , im Walde , im wirklichen Walde , wo es von Hirschen und Hasen wimmelt , so daß man gar nicht erst zu zielen braucht , wenn man einen schießen will . « » Nun , ich bin sehr neugierig , was der Onkel zu die ser Ansicht vom edlen Weidwerke meint , « sagte lächelnd der Vater , dann nahm er einen Brief vom Tische und gab ihn dem jungen Mädchen . » Lies dies Schreiben , mein Kind , « sagte er , » es ist vom Försteronkel , wie du ihn nennst , aus Thüringen . « Elisabeth überflog die ersten Zeilen , dann aber las sie laut : ... » Der Fürst , dem ein Teller Sauerkraut mit Rauchfleisch bei mir besser zu schmecken scheint , als die Pasteten seines französischen Kochs im Schlosse zu L. , blieb vorgestern mehrere Stunden bei mir im Forsthause . Er war sehr leutselig und sagte mir , er wolle mir noch eine Art Forstschreiber beigeben , denn er sehe ein , daß zu viel auf meinen Schultern liege . Da nahm ich die Gelegenheit beim Schopfe , das Wild stand schußrecht , und wenn es entwischte , so riskierte ich höchstens ein paar Rehposten ins Blaue hinein , was ich mir freilich sonst nicht passieren lasse . Ich erzählte ihm also , daß Dich das Schicksal seit einer Reihe von Jahren verteufelt aufs Korn genommen habe und Dich zwänge , bei Deinen schönen Kenntnissen und Talenten am Hungertuche zu nagen . Der alte Herr wußte gleich , wo ich hinaus wollte , denn ich sprach gut deutsch , wie immer , und bis jetzt hat mich auch noch keiner falsch verstanden , – es müßten denn die vornehmen Bisambüchsen und Katzenbuckel sein , die um den Herrn scherwenzeln und ihm am liebsten weismachen möchten , das ehrliche Deutsch sei zu grob für fürstliche Ohren , und man könne nur auf französische Art mit ihm reden ... Nun , der alte Herr meinte also , er sei geneigt , Dich als Forstschreiber anzustellen , weil er mich – nun , hier hat er mir einige Dinge gesagt , die Du nicht zu wissen brauchst , über die ich alter Kerl mich aber ebenso gefreut habe , wie dazumal , als unser alter Schulmeister nach dem Examen zu mir sagte : › Karl , du hast deine Sache wacker gemacht . ‹ ... Nun hat mir der Durchlauchtigste aufgetragen , dir darüber zu schreiben , und er will auch die nötigen Befehle geben – dreihundertundfünfzig Thaler Gehalt , Holzbedarf frei . Ueberlege Dir's , das Ding ist so übel nicht , und der grüne Wald ist mir doch tausendmal lieber , als eure vermaledeiten Dachkammern , wo Nachbars Katzen miauen , und wo der Rauch aus Millionen Kaminschlünden euch in die Augen beißt . Daß Du mir nun aber nicht etwa denkst , ich sei auch so einer von den Fuchsschwänzen , welche die Gnade ihres Herrn benützen , um ihre Angehörigen ins Aemtchen zu bringen . Siehst Du , wenn Du nicht wärst , was Du bist , d.h. wenn Du Deine Sache nicht gelernt hättest , da biß ich mir eher die Zunge ab , als daß ich meinen Herrn mit Dir betrügen möchte ; hinwiederum würde ich jeden wildfremden Menschen mit Deinen Kenntnissen und Gesinnungen eben so warm empfehlen , wie Dich ... Nichts für ungut , aber Du weißt es ja , daß ich niemals ein Freund von unklaren Begriffen gewesen bin . Da kommt nun aber noch ein Kasus , der besprochen sein will . Eigentlich müßtest Du bei mir wohnen , und das ginge auch , wenn Du ein Junggeselle wärst , der nur vier Wände für sein Ich und einen Kommodenkasten für seine Vatermörder und dergleichen Zeugs brauchte . Für eine ganze Familie habe ich jedoch schlechterdings keinen Platz in meinem einsamen , alten Rattenneste von Forsthaus , das längst eine eingreifende Kur nötig hätte ; aber die gestrengen Herren von droben denken nicht eher dran , als bis die einbrechenden Balken den Streusand über die einhundertundfünfzigste Eingabe schütten . Das nächste Dorf ist über eine halbe , die nächste Stadt eine ganze Stunde entfernt vom Forsthause – läßt sich durchaus nicht einrichten ; denn Du kannst bei dem Hundewetter , wie wir's zum öftern hier erleben , nicht so weit laufen . Da hatte aber die alte Sabine , meine Haushälterin , die hier im nächsten Dorfe geboren ist , einen pudelnärrischen Einfall . Das alte Schloß Gnadeck – der brillante Nachlaß des hochseligen Herrn von Gnadewitz – liegt , wie ich Dir schon schrieb , ungefähr einen Büchsenschuß weit vom Forsthause . Nun meinte Sabine , als sie noch eine rüstige Dirne gewesen sei – das ist , nebenbei gesagt , weit über ein Vierteljahrhundert her – da hat sie als Stubenmädel bei den Gnadewitzens gedient . Damals sei das neue Schloß noch nicht vollständig eingerichtet gewesen und habe nicht ausgereicht für die vielen Gäste , die jedes Jahr die großen Jagden mitgemacht hätten . Da sei nun der sogenannte Zwischenbau auf Schloß Gnadeck – wahrscheinlich ein Verbindungsgebäude zwischen zwei Hauptflügeln des Schlosses – ein wenig aufgefrischt und hergerichtet worden . Sie selbst hat droben die Betten machen und lüften müssen , wobei sie sich immer sehr gefürchtet haben will . Na , ich glaub 's gerne ; es steckt ja ohnehin unter der alten Bandmütze ein ganzer Wust von Teufelsspuk und Hexengeschichten , sonst ist sie aber eine ganz respektable Person , die meinen Haushalt am Schnürchen hat . Sie behauptet nun steif und fest , der Bau könne noch nicht so arg zerfallen sein ; denn er habe damals sehr fest ausgesehen und gebe doch vielleicht für Dich und die Deinen noch eine ganz hübsche Wohnung . Möglich wär 's schon ; aber ob Deine Kinder sich nicht vor dem Hans Ruprecht und dergleichen fürchten , wenn sie in dem alten Mauerwerke hausen sollen ? Du weißt , daß ich mich schwer geärgert habe über das nichtsnutzige Vermächtnis des › hochseligen Herrn von Gnadewitz ‹ , und es deshalb nicht über mich gewinnen konnte , das alte Nest , seit meiner Versetzung hierher , auch nur ein einziges Mal anzusehen . Auf Sabines Aussage hin hat mir jedoch einer meiner Burschen gestern nachmittag auf einen Baum klettern müssen , an der einzigen Stelle , wo man in das Kuckucksnest sehen kann ; er sagt aber , es liege da drin alles durcheinander wie Kraut und Rüben . Da war ich nun heute morgen drin in der Stadt bei den Herren vom Gericht ; aber sie gaben mir die Schlüssel nicht heraus ohne eine Vollmacht Deiner Frau und thaten überhaupt so ängstlich , als lägen die Schätze von Golkonda in den alten Rumpelkammern . Keiner von denen , die damals versiegelt haben , konnte mir sagen , wie 's drin aussieht ; denn sie waren wohlweislich draußen geblieben , in der Meinung , es möchten einige Zimmerdecken die Freundlichkeit haben , auf ihre weisen Köpfe zu fallen , und haben sich begnügt , das Hauptthor mit einem Dutzend handgroßer Amtssiegel zu beklecksen . Wäre mir nun am allerliebsten , wenn wir die Dinge in Gemeinschaft besehen und überlegen könnten ; deshalb entscheide Dich möglichst rasch und mache Dich dann mit den Deinen auf den Weg – « Hier ließ Elisabeth das Blatt sinken und richtete die leuchtenden Augen in atemloser Spannung auf Ferber . » Nun , und was hast du beschlossen , lieber Vater ? « fragte sie hastig . » Je nun , « erwiderte dieser mit ernstem Gesichte , » es wird mir einigermaßen schwer , dir meinen Entschluß mitzuteilen , denn ich sehe deutlich an deinem Gesichte , daß du das schöne , volksbelebte B. nicht um alles in der Welt mit der Waldeinsamkeit vertauschen möchtest . Indes , erfahren mußt du trotzdem , daß dort auf dem Schreibtische meine Bitte um die Stelle an den Fürsten von L. bereits kouvertiert und versiegelt liegt ... Es ist aber nicht mehr als billig , daß wir auch deine Wünsche dabei in Erwägung ziehen und deshalb sind wir durchaus nicht abgeneigt , dich hier zu lassen , falls – « » Ach nein , wenn Elsbeth nicht mitgeht , dann will ich lieber auch hier bleiben ! « unterbrach ihn der kleine Ernst , indem er sich angstvoll an die Schwester schmiegte . » Sei du nur ruhig , mein Herzchen , « sagte Elisabeth lachend , » ich finde schon meinen Platz auf dem Wagen , und wenn nicht , nun , so weißt du , ich bin mutig wie ein Soldat und kann laufen wie ein Hase . Als Kompaß habe ich die Sehnsucht nach dem grünen Walde bei mir , die schon , als ich noch ein ganz , ganz kleines Kind war , einen großen Winkel in meiner Seele eingenommen hat . So geht es tapfer und bescheidentlich vorwärts auf meinen zwei eigenen Füßen , und was will dann Papa machen , wenn eines Abends ein armer , müder Wanderer mit zerrissenen Schuhen und leerer Tasche vor dem alten Schloßthore erscheint und Einlaß begehrt ? « » Freilich müßten wir aufmachen , « rief lächelnd der Vater , » wenn wir nicht die Rache aller guten Geister , die ein mutiges Herz beschützen , auf unser morsches Dach herabbeschwören wollten ! ... Uebrigens wirst du wohl an dem alten Schlosse vorüberziehen und an irgend eine einsame Bauernhütte im Walde anklopfen müssen , wenn du uns finden willst ; denn in dem Trümmerhaufen wird sich schwerlich ein Asyl für uns einrichten lassen . « » Das fürchte ich auch , « meinte die Mutter . » Wir arbeiten uns mühsam durch Hecken und Gestrüpp , wie ehemals Dornröschens unglückliche Befreier , und finden endlich – « » Die Poesie ! « rief Elisabeth . » Ach , dann wäre ja schon der erste Duft von unserem Waldleben abgestreift , wenn wir nicht im alten Schlosse wohnen könnten ! Vier feste Mauern und eine guterhaltene Zimmerdecke werden doch wahrhaftig noch in einem Turme oder dergleichen zu finden sein , und das übrige läßt sich mit Nachdenken und willigen rüstigen Händen leicht beschaffen ... Wir stopfen Moos in etwaige Mauerritzen , nageln Bretter über unbequeme Thürbogen , die keinen Flügel mehr haben , und tapezieren unsere vier Wände selbst . Auf den zerbröckelten Estrichfußboden legen wir eigenhändig geflochtene Strohmatten , erklären den kleinen vierfüßigen Leckermäulern in grauen Samtröckchen , die unsern Speiseschrank attackieren , ernstlich den Krieg und gehen mit dem Kehrbesen tapfer auf die großen Spinnen los , die über unsern Köpfen hängend , in aller Ruhe überlegen , ob sie sich nicht häuslich darauf niederlassen sollen . « Mit verklärten Augen , ganz versunken in ihre Träumereien von dem demnächstigen Leben im frischen , grünen Walde , trat sie dann ans Klavier und schlug den Deckel zurück . Es war ein altes , ausgespieltes Instrument , dessen schwache , heisere Töne vollkommen harmonierten mit dem herabgekommenen Aeußeren ; allein das Mendelssohnsche Lied : » Durch den Wald , den dunkeln , geht u. s.w. « klang trotzdem hinreißend unter Elisabeths Fingern . Die Eltern saßen lauschend auf dem Sofa . Der kleine Ernst war eingeschlafen . Draußen hatte das Toben des Sturmes aufgehört ; aber an unverhüllten Fenstern vorüber sank in wirbelnden Flocken massenhaft und lautlos der Schnee . Die gegenüberliegenden Schornsteine , die nicht mehr dampften , setzten langsam eine dicke , weiße Nachtmütze auf und blickten steif und kalt , wie das verdrießliche Alter , hinüber in die keine Mansardenstube , die mitten im Schneegestöber hellen Frühlingsjubel in sich schloß . 3 Pfingsten ! Ein Wort , das seinen Zauber auf das menschliche Gemüt üben wird , solange noch ein Baum blüht , eine Lerche schmetternd in die Lüfte steigt , und ein klarer Frühlingshimmel über uns lacht . Ein Wort , dessen Klang selbst unter der härtesten Eiskruste des Egoismus , unter dem Schnee des Alters und in dem Herzen , das in Leid und Kummer erstarrt ist , noch ein Echo von Lenzeslust erwecken kann . Pfingsten ist vor der Thür . Ein weiches Lüftchen flattert über die Thüringer Berge und streift von ihrem Scheitel die letzten Schneereste . Sie wirbeln dampfend empor und verlassen als leuchtende Frühlingswölkchen die alte Lagerstätte , die es sich angelegen sein läßt , ihre gefurchte Stirn mit einem Geflechte von jungen Brombeerranken und rötlich blühendem Heidelbeerkraut zu schmücken . Drunten braust jauchzend der kühle Forellenbach aus dem Waldesdunkel quer über die buntgesprenkelten Thalwiesen . Die einsame Schneidemühle klappert wieder lustig , und auf ihr niedriges , graues , geflicktes Schindeldach streuen die Obstbäume ihre Blütenflocken . Vor den Hüttenfenstern der einsamen Holzhacker und der Dorfbewohner , im engen Käfig , singen die gelehrigen Gimpel , die während der Winterszeit in der heißen dunstigen Stube einen Lehrkursus der höheren Gesangskunst durchgemacht haben , ihre künstlerischen Weisen . Und die drüben im Walddickicht jubeln ungeschult , aber unendlich süßer und herzergreifender – sie baden ja die kleine Sängerbrust im goldenen Strome der Freiheit . Wo noch vor wenig Wochen die gewaltigen Schneewasser im selbstgeschaffenen Bette herabschäumten , da weben jetzt die Moose ungestört ihren buntgefleckten Teppich und legen ihn weich und schonend um die narbenvolle Brust des Berges , und hier und da von dem feinen , silbernen Geäder durchbrochen , das eine hervorsprudelnde Quelle hinabschickt . Auf der Chaussee , die durch einen reizenden Thalgrund des Thüringer Waldes führt , rollte in einer bepackten Postchaise die Familie Ferber ihrer neuen Heimat zu . Es war früh am Morgen , eben verkündete das dünne , scharfe Stimmchen einer kleinen Turmglocke in der Nähe die dritte Stunde . Deshalb hatten auch nur der alte verdrießliche Wegweiser an der Chaussee und ein Rudel stattlicher Hirsche , das am Saume des Waldes erschien , den köstlichen Anblick eines jungen , glücklich lächelnden Menschenangesichts . Elisabeth hatte sich weit aus dem dumpfen Wagen gebogen und sog mit tiefen Atemzügen die kräftige Waldluft ein , die , wie sie behauptete , auf der Stelle Lungen und Augen von dem Staube der verlassenen Hauptstadt reingewaschen habe . Ferber saß ihr sinnend gegenüber . Auch er erquickte sich an der Lieblichkeit und Anmut der Gegend ; noch mehr aber bewegten ihn die leuchtenden Augen seines Kindes , das den Zauber einer schönen Natur so tief empfand , und das so unaussprechlich dankbar war für die neue Gestaltung der Verhältnisse ... Wie hatte sie fleißig die kleinen Hände gerührt , als endlich das heißersehnte Ernennungsdekret des Fürsten von L. erschienen war ! Da gab es tüchtig zu schaffen . Alle Umzugssorgen der Eltern hatte sie treulich mit auf ihre Schultern genommen . Der Fürst hatte zwar dem neuen Diener ein anständiges Reisegeld bewilligt , und auch vom Försteronkel war eine Geldbeisteuer eingelaufen , allein das wollte trotz der ängstlichen Berechnung bei weitem nicht reichen , und deshalb beutete Elisabeth auch noch die wenigen Tagesstunden , die für ihre Erholung bestimmt waren , insofern aus , als sie Arbeiten für ein Weißwarengeschäft übernahm ; ja manche Nacht , während die Eltern arglos schon daneben im Alkoven schliefen , durchwachte sie bei der Nadel . In all dies rege Streben und Schaffen war nur ein einziger bitterer Tropfen gefallen , der dem jungen Mädchen aber auch einige schwere Thränen entlockte : das war , als zwei Männer kamen und ihr liebes Klavier auf die Schultern luden , um es dem neuen Besitzer zu bringen . Es hatte für wenige Thaler verkauft werden müssen , weil es alt und gebrechlich war und voraussichtlich einen so weiten Transport nicht mehr aushalten konnte . Ach , das war ja immer ein so guter , alter Freund der Familie gewesen ! Sein dünnes , zitterndes Stimmchen hatte Elisabeth so traut und lieb geklungen , wie die Stimme der Mutter ! ... Und nun fuhren vielleicht mutwillige Kinderhände gefühllos über die ehrwürdigen Tasten und quälten das alte Instrument , die schwache Stimme zu verstärken , bis es für immer schwieg ... Doch der Schmerz war jetzt auch überwunden und lag hinter ihr , wie so manches , was sie schweigend entbehrt und geleistet hatte , und wie sie so dasaß , mit den fröhlich glänzenden Augen in die Morgendämmerung hineinblickend , als steige vor ihr aus dem grauen Schleier eine Prophezeiung voll künftigen Glückes , wer hätte da an der jugendlichen Gestalt voll Lebensfrische und Elastizität auch nur eine Spur der mühevollen letzten Wochen entdecken können ? Noch ungefähr eine halbe Stunde fuhren die Reisenden die glatte , ebene Chaussee entlang , dann bogen sie seitwärts ab in den dunkeln Wald , durch den ein gutgehaltener Fahrweg lief . Die Sonne zeigte sich bereits in voller Pracht am Himmel und blickte verwundert lächelnd auf die Erde , die ohne Vorwissen ihrer hohen , leuchtenden Protektorin sich über Nacht einen prächtigen Brillantschmuck angeschafft hatte . Nach Mitternacht war ein starkes Gewitter über die Gegend gezogen ; es hatte viel geregnet , noch hingen schwere Tropfen an Bäumen und Gesträuchen und fielen rauschend auf das Wagenverdeck , wenn der Postillon mit der Peitsche einen niederhängenden Ast berührte ... Welch ein prächtiger Wald ! Aus dichtem Unterholze stiegen die mächtigen Baumkolosse himmelan und verschlangen droben brüderlich ihre breiten , vollen Aeste , als gelte es , Licht und Luft wie zwei tödliche Feinde von der stillen , verschwiegenen Heimat abzuwehren . Nur manchmal schmuggelte sich ein feiner , grüngefärbter Sonnenstrahl von Ast zu Ast hinab auf die gefiederten Gräser und die kleinen Erdbeerblüten , die massenhaft , wie hingestreute Schneeflocken , den Boden bedeckten und ihre weißen Köpfchen vorwitzig an die Landstraße legten . Nach kurzer Fahrt lichteten sich die Bäume und bald darauf zeigte sich das mitten auf einer Waldwiese gelegene alte Jagdhaus . Der Postillon stieß in sein Horn ; zugleich erhob sich wütendes Hundegekläff , und eine große Schar Tauben verließ erschrocken und unter lautem Geräusch den gezackten Giebel des Hauses . In der offenen Thür stand ein Mann in Jagduniform , eine wahre Hünengestalt mit einem ungeheuren Barte , der fast bis auf die Brust reichte . Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt nach dem näher kommenden Wagen ; dann aber sprang er mit einem lauten Ausrufe die Stufen herab , riß den Wagenschlag auf und zog den herausspringenden Ferber an seine Brust ... Beide Brüder hielten sich einen Augenblick schweigend in den Armen , bis der Oberförster den Angekommenen leise von sich schob und , ihn an den Schultern haltend , die ganze schmale , blasse Gestalt prüfend musterte . » Armer Adolph ! « sagte er endlich , und die tiefe Stimme klang bewegt . » So hat dich das Schicksal zugerichtet ? Na , warte nur , du sollst mir hier gesund werden , wie ein Fisch im Wasser ... noch ist alles wieder gutzumachen ... Sei mir tausendmal willkommen ! Und nun wollen wir auch zusammenhalten , bis das große Halali geblasen wird , wo wir freilich nicht gefragt werden , ob wir bei einander bleiben wollen oder nicht . « Er suchte seine Rührung zu beherrschen und half seiner Schwägerin und dem kleinen Ernst , den er herzte und küßte , aus dem Wagen . » Nun , « sprach er , » ihr seid früh aufgebrochen , das muß ich sagen – passiert sonst nicht , wenn Weibsleute dabei sind . « » Was denkst du denn von uns , Onkel ? « rief Elisabeth . » Wir sind keine Schlafmützen und wissen recht gut , wie die Sonne aussieht , wenn sie der Erde ihren ersten Morgenbesuch macht . « » Heisa ! « rief überrascht und laut lachend der Oberförster , » was räsoniert denn da hinten in der Wagenecke ? ... Na , komm heraus , kleine Krabbe ! « Ich klein ? .. . Nun , Onkelchen , du wirst dich schön wundern , wenn ich erst aussteige , was für ein großes Mädchen ich bin ! « Mit diesen Worten sprang Elisabeth auf den Boden und stellte sich , alle Glieder möglichst streckend , auf die Zehen neben ihn . Allein , obgleich ihre schlanke , leicht aufgebaute Gestalt die Mittelgröße überschritt , so sah es dennoch in diesem Augenblicke aus , als wolle sich die zierliche Bachstelze mit dem gewaltigen Adler messen . » Siehst du , « sagte sie ein wenig kleinlaut , » ich reiche doch beinahe bis an deine Schulter , und das ist für ein respektables Mädchen mehr als genug . « Der Onkel sah , sich kerzengerade haltend , mit schalkhaftem Blicke und vergnügt in sich hineinlachend , einen Augenblick seitwärts auf sie nieder ; dann aber hob er sie plötzlich wie eine Feder vom Boden auf und trug sie unter dem Gelächter der anderen auf seinem Arme in das Haus , wo er mit wahrer Donnerstimme schrie : » Sabine , Sabine , komm hierher , ich will dir zeigen , wie in B. die Zaunkönige aussehen ! « Im Hausflur setzte er die Erschrockene sacht und vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug nieder , nahm ihren Kopf sanft zwischen seine beiden großen Hände , küßte sie wiederholt auf die Stirn und rief : » Solch ein Liliput , solch eine Mondscheinprinzessin meint so groß zu sein wie ihr großer Onkel ... Kleine Waldhexe , du kannst freilich wissen , wie die Sonne aussieht , hast ja den Kopf voll Sonnenstrahlen ! « Dem jungen Mädchen war infolge des Sturmschrittes , den der Onkel bei der Entführung angenommen , der Hut vom Kopfe gefallen , wobei eine außergewöhnliche Fülle blonden Haares sichtbar wurde , dessen klarer Goldglanz um so mehr auffallen mußte , als ihre sehr schön gezeichneten Augenbrauen und die langen Wimpern tiefschwarz waren . Aus einer Seitenthür war indessen eine alte Frau getreten , und oben am Treppengeländer des ersten Stockwerkes zeigten sich einige Männergesichter , die jedoch schnell wieder verschwanden , als der Oberförster hinaufblickte . » Na , lauft nur nicht davon , gesehen hab ich euch nun schon einmal ! « rief er lachend . » Es sind meine Burschen , « wendete er sich zu seinem Bruder , » die Kerls sind neugierig wie die Spatzen ; nun , heute mag ich 's ihnen nun gerade nicht verdenken ! « meinte er schelmisch lächelnd mit einem heimlichen Seitenblicke auf Elisabeth , die abgewendet , ihre gelösten Flechten wieder um den Kopf schlang . Dann nahm er die alte Frau bei der Hand und führte sie in feierlich-komischer Weise folgendermaßen vor : » Jungfer Sabina Holzin , Minister der inneren Angelegenheiten des Hauses , hohe Polizei für alles , was in Hof und Stall des Forsthauses sich des Lebens freut , und endlich unumschränkte Herrscherin im Küchendepartement ... Bringt sie das Essen auf den Tisch , so folgt getrost ihrem Winke , denn ihr geht einen guten Weg , läßt sie sich aber bedrohlicher Weise an , ihre Sagen und Geistergeschichten auszukramen , so lauft , was ihr laufen könnt , denn da gibt 's kein Ende ... Und nun , « wandte er sich zu der lachenden Alten , die eigentlich grundhäßlich war , trotzdem aber durch einen Zug von Schelmerei und Humor um Mund und Augen , durch ihren treuherzigen Blick und mittels der fleckenlosen Sauberkeit ihres Anzuges sofort alle für sich einnahm , » bringe schnell , was Küche und Keller vermögen . Hast ja deshalb die Pfingstkuchen früher gebacken , damit die Reisenden gleich was Frisches einzubrocken hätten . « Damit zeigte er nach der Küche und öffnete zugleich die Thür einer geräumigen , hellen Eckstube . Alle traten ein , nur Elisabeth konnte nicht unterlassen , noch einen Blick durch die große Thür zu werfen , die nach dem Hofe führte ; denn durch das weiße Staket , das den weiten , von Geflügel aller Art bevölkerten Raum auf zwei Seiten umschloß , leuchteten farbige Blumenbeete , und einige spätblühende Aepfelbäume streckten ihre rosenfarbenen Zweige weit in den Hof herein . Der Garten war groß , stieg terrassenartig den Berg hinauf und nahm noch einige Vortruppen des Waldes , eine schöne Gruppe alter Buchen , mit in sein Bereich . Während Elisabeth wie angefesselt sinnend im Hausflur lehnte , wurde die Thür eines Seitenflügels geöffnet , und ein junges Mädchen trat heraus . Es war auffallend hübsch , wenn auch fast zu klein von Gestalt , was , wie es schien , die Natur wieder auszugleichen gesucht hatte durch die weitgeöffneten großen Augen , die wie prächtige Sonnen flammten . Das üppige , dunkle Haar war mit unverkennbarer Koketterie aufgenestelt und ließ einige zartgekräuselte Löckchen auf die plastisch geformte , bleiche Stirn fallen . Auch der Anzug , obschon sehr einfach im Stoffe , zeigte eine fast peinliche Sorgfalt im Arrangement , und der aufmerksame Beobachter konnte mit dem besten Willen nicht annehmen , daß man das Oberkleid lediglich aus Schonung des Saumes in so zierlichen Falten aufgesteckt habe ; denn zwei reizend geformte Füßchen hatten eine auffallend feine Toilette gemacht , die sicher nicht bestimmt war , unter dem langen Wollkleide zu verkümmern . Das junge Mädchen hielt eine Mulde mit Getreidekörnern im Arme und warf davon eine Handvoll auf das Pflaster . Alsbald entstand ein großer Lärm , von den Dächern stürzten sich die Tauben , die Hühner verließen unter lautem Gegacker Stangen und Nester , und der Hofhund glaubte bei dem allgemeinen Aufstande sich auch mit einem lauten Gebelle beteiligen zu müssen . Elisabeth war überrascht . Der Onkel war zwar verheiratet gewesen , hatte aber nie Kinder gehabt , das wußte sie genau ; wer also war das junge Mädchen , das er nie in einem seiner Briefe erwähnt hatte ? ... Sie ging die Stufen hinab , die nach dem Hofraume führten , und trat der jungen Fremden einige Schritt näher . » Gehören Sie auch ins Forsthaus ? « fragte sie freundlich . Die schwarzen Augen hefteten sich fast stechend auf die Fragerin und drückten einen Augenblick unverkennbar große Ueberraschung aus ; dann erschien ein Zug von Hochmut um die feinen Lippen , die sich noch fester aneinander zu schließen schienen als vorher ; die Augenlider fielen bald über die glänzenden Augen , welche sich abwendeten , und ruhig und schweigsam , als wisse sie gar nicht , daß jemand neben ihr stehe , fuhr sie fort , die Körner in den Hof zu werfen . In dem Augenblick ging Sabine , das Kaffeebrett auf dem Arme , an der Hofthür vorüber . Sie winkte der tiefbetroffenen Elisabeth , und als diese näher kam , faßte sie ihre Hand und zog sie in das Haus , indem sie sagte : » Kommen Sie , Kindchen , das ist nichts für Sie . « In dem Wohnzimmer fand Elisabeth alle schon so gemütlich und vertraut zusammen , als hätte man tagtäglich bei einander gesessen . Die Mutter hatte in einem bequemen Lehnstuhle Platz genommen , den ihr der Oberförster an das Fenster gerückt hatte , und von wo aus sie einen lieblichen Fernblick durch den Wald genoß . Eine große getigerte Katze war vertraulich auf ihren Schoß gesprungen und ließ sich mit sichtbarem Behagen das Streicheln der sanften Hand gefallen . Für den kleinen Ernst aber waren die vier Wände des Zimmers eine wahre Fundgrube aller möglichen interessanten Dinge . Er kletterte von Stuhl zu Stuhl und stand eben in wortloser Bewunderung vor einem großen Glaskasten , der eine prächtige Schmetterlingssammlung enthielt . Die zwei Männer saßen auf dem Sofa , eifrig über den künftigen Wohnsitz der Familie beratschlagend , und Elisabeth hörte , wie eben der Onkel sagte : » Nun , wenn sich auf dem Berge kein Quartier für euch einrichten läßt , so bleibt ihr einstweilen droben in meiner Stube . Ich richte meinen Schreibtisch und meine sonstigen Habseligkeiten unten ein , und dann bombardiere ich die in der Stadt so lange , bis sie mir drüben auf den Seitenflügel ein neues Stockwerk setzen lassen . « Elisabeth legte den Reisemantel ab und war der alten Sabine behilflich , den Kaffeetisch herzurichten . Auf die Glückseligkeit , die ihr ganzes Herz erfüllte , war soeben der erste Schatten gefallen . Mit Unfreundlichkeit war man ihr noch nie begegnet . Daß sie dies dem Liebreiz ihrer Gestalt , der Reinheit und Kindlichkeit ihres Wesens verdanke , deren Einflusse sich oft die rohesten Gemüter nicht zu entziehen vermögen , davon hatte sie keine Ahnung . Sie hatte das so hingenommen als eine Sache , die sich ganz von selbst verstehe , da sie es ja mit allen Menschen wohlmeine und nie sich eine Unhöflichkeit gestatte . Ihre Ueberraschung und Freude , ein junges Mädchen von gleichem Alter hier zu finden , waren zu groß gewesen , als daß ihr nun die Zurückweisung nicht doppelt weh thun sollte . Auch hatte das schöne Gesicht der Fremden ihr lebhaftes Interesse geweckt . Das Gemachte in der Erscheinung war ihr als solches durchaus nicht aufgefallen , da sie selbst das Verlangen gar nicht kannte , ihr Aeußeres durch besondere Hilfsmittel der Toilette zu heben . Die Eltern hatten ihr stets gesagt , sie möge ihren Geist bereichern , so viel sie könne , und sich bestreben immer besser zu werden , dann würde auch ihre äußere Erscheinung nie abstoßend sein , gleichviel welche Form die Natur verliehen habe . Das Nachdenkliche in Elisabeths Zügen fiel der Mutter sogleich auf . Sie rief sie zu sich , und Elisabeth wollte ihr die Begegnung erzählen , aber schon nach den ersten Worten drehte sich der Oberförster nach ihr um . Eine tiefe Falte erschien zwischen den buschigen Augenbrauen und machte das Gesicht finster und grimmig . » So , « sagte er , » hast du die schon gesehen ? .. . Nun , dann will ich euch auch erzählen , wer und was sie ist . Ich habe sie vor mehreren Jahren in mein Haus genommen , um eine Stütze für Sabine im Hauswesen zu haben . Sie ist eine Verwandte meiner verstorbenen Frau und hat weder Eltern noch Geschwister . Ich wollte ein gutes Werk thun und habe mir damit eine Rute aufgebunden , die mich züchtigt , ohne daß ich gesündigt hätte ... Schon in den ersten Wochen merkte ich , daß in dem Kopfe auch nicht ein gesunder Gedanke stecke ... nichts als ein Wust von überspannten Ideen und ein unglaublicher Hochmut . Ich hatte nicht übel Lust , sie wieder dahin zu schicken , wo sie hergekommen , aber da lamentierte die Sabine und bat vor , obgleich sie am allerwenigsten Ursache dazu hatte ; denn das junge Ding machte ihr schwer zu schaffen , war naseweis und kehrte bei jeder Gelegenheit die Verwandte des Herrn gegen die alte Dienerin heraus ... Ich drückte ihr den Daumen aufs Auge , soviel ich konnte , und ließ sie tüchtig schaffen und arbeiten , um ihr den Hochmutsteufel auszutreiben , und da ging 's auch eine Zeitlang erträglich ... Da lebt aber da drüben auf Lindhof – das ist die ehemals Gnadewitzsche Besitzung , die der Universalerbe an einen Herrn von Walde verkauft hat , – seit ungefähr einem Jahre eine Baronin Lessen . Der Besitzer selbst , der weder Frau noch Kinder hat , ist so eine Art Altertumsforscher , reist viel und läßt deshalb seine einzige unverheiratete Schwester durch die genannte Dame beschützen – Gott sei's geklagt ! denn seitdem ist alles dort auf den Kopf gestellt ... Wenn mir früher gesagt wurde , das ist ein Frommer , da hatte ich Respekt und nahm meine Kappe ab ; jetzt mache ich eine Faust und möchte am liebsten die Kappe über Augen und Ohren ziehen , denn die Welt hat sich verkehrt ... Die Baronin Lessen gehört auch zu den Frommen , die vor lauter gottseligem Wandeln hart , grausam und engherzig werden , die denjenigen , der nicht immer die Augen heuchlerisch am Boden hat , sondern sie aufschlägt nach oben , wo er seinen Gott sucht , hartnäckiger verfolgen , als meine Meute das Wild ... In dies Gehege ist denn nun meine vortreffliche Nichte auch geraten ; ein besseres Feld für all das Unkraut in ihrem Kopfe konnte es nicht geben , und da haben wir denn nun auch die allerliebste Bescherung . Sie hatte mit einer Kammerjungfer da drüben Bekanntschaft gemacht und brachte ihre ganze freie Zeit dort zu . Anfangs hatte ich kein Arges , bis sie auf einmal mit Bekehrungsversuchen anfing ... Da sollte die Sabine nicht fromm sein , weil sie nicht des Tages wenigstens zehnmal die dringende Arbeit stehen ließ , um zu beten ... die arme Alte , die durch Wind und Wetter , oft schwer von Rheumatismus geplagt , jeden Sonntag nach Lindhof in die Kirche geht und ein arbeitsvolles , pflichtgetreues Leben hinter sich hat , ein Pfund , das eine lebenslängliche Knierutscherei bei Nichtsthun jedenfalls zehnmal aufwiegt ... Auch an mich wagte sich die Moralpredigerin ; aber da kam sie an den Rechten – sie hat es bei einem Versuche bewenden lassen . Ich verbot ihr nun den Umgang mit den Leuten auf Lindhof . Das hat mir freilich wenig geholfen ; denn jeden unbewachten Moment hat sie benützt , um heimlicherweise hinüber zu schlüpfen ... Von einer Dankbarkeit gegen mich , der ich für sie sorge , ist nicht die Rede ; es fehlt jedes innere Band zwischen ihr und mir , und da ist es für mich doppelt schwer , sie zu hüten . Gott mag nun wissen , welche fixe Idee sie in ihrem Kopfe ausgebrütet hat , genug , seit ungefähr zwei Monaten ist sie vollständig stumm , aber nicht allein hier im Hause , sondern gegen alle Menschen . Seit der Zeit ist auch nicht ein Laut über ihre Lippen gekommen . Weder Strenge noch ruhiges Zureden richten etwas aus . Sie verrichtet ihre Geschäfte nach wie vor , ißt und trinkt wie jeder andere gesunde Mensch , und ist nicht um ein Jota weniger eitel als sonst . Weil sie aber ihre roten Backen verlor und blaß aussah , so befragte ich einen Arzt , der sie schon früher behandelt hatte . Der sagte mir , sie sei körperlich ganz gesund , scheine ihm aber eine höchst exaltierte Person zu sein , und da schon in ihrer Familie Fälle von Geistesstörungen vorgekommen seien , so möchten wir sie ruhig gewähren lassen . Sie würde mit der Zeit des Schweigens selbst überdrüssig werden und eines schönen Tages sprechen wie eine Elster ... Nun meinetwegen , ich will 's drauf ankommen lassen ; daß ich aber damit ein schweres Opfer bringe , das ist gewiß . Ich habe mein Lebtag keine sauertöpfische Miene um mich leiden mögen und will lieber Salz und Brot essen inmitten fröhlicher Gesichter , als die köstlichsten Leckerbissen bei Duckmäusern ... Na , kleines Goldköpfchen , « wandte er sich an Elisabeth , indem er mit der Hand über die Stirn strich , als wolle er alle ärgerlichen Gedanken wegwischen , » schiebe dein Mütterlein fein säuberlich im Lehnstuhle hierher an den Tisch , binde dem kleinen Kerl da , der sich blind guckt an meinem Gewehrschranke , eine Serviette um den Hals , und nun wollen wir zusammen frühstücken . Dann mögt ihr Rast halten und die Glieder ein wenig ruhen lassen von der langen Reise . Nach Tische aber geht 's hinauf nach Schloß Gnadeck . Es wird gut thun , wenn ihr die Augen durch etwas Schlaf vorher stärkt , denn sie möchten Schaden leiden unter all dem Glanze , den wir da droben vorfinden werden . « Nach dem Frühstücke , während Vater und Mutter schliefen , und der kleine Ernst in einem großen Bette von den Wunderdingen in der Forsthausstube träumte , packte Elisabeth das Nötigste in der Oberstube aus . Sie hätte um alles in der Welt nicht schlafen können . Immer wieder trat sie an das Fenster und blickte hinüber nach dem waldigen Berge , der hinter dem Forsthause emporstieg . Dort oben aus den Baumwipfeln erhob sich ein feiner schwarzer Strich und zeichnete sich scharf von dem tiefblauen Himmel ab . Das war , wie ihr die alte Sabine gesagt hatte , eine uralte Eisenstange auf dem Dache des Schlosses Gnadeck , von welcher in längst versunkenen Zeiten das stolze Banner der Gnadewitze geflattert hatte ... Fand sich wohl hinter jenen Bäumen das seit Jahren heißersehnte Asyl , wo die Eltern ihre müden Füße ausruhen konnten vom mühsamen Wandern auf nicht heimischer Erde ? Auch in den Hof fielen ihre suchenden Blicke ; aber das stumme Mädchen ließ sich nicht mehr sehen . Sie war auch nicht beim Frühstück erschienen und schien sich vorgenommen zu haben , jede Berührung mit den Gästen zu vermeiden . Das that Elisabeth leid . Die Schilderung des Onkels hatte zwar einen sehr unerquicklichen Eindruck auf sie gemacht , allein ein junges Gemüt gibt seine Illusionen nicht so leicht auf und läßt sich lieber durch das Zerspringen seiner bunten Seifenblasen enttäuschen , als durch die weisen Erfahrungen des Alters ... Das schöne Mädchen , das sein Geheimnis so beharrlich hinter den Lippen verschloß , wurde ihr nun doppelt interessant , und sie erschöpfte sich in Vermutungen über den Grund dieses Schweigens . 4 Nach dem Essen , das in heiterster Weise verflossen war , holte Sabine eine gestopfte Pfeife vom Eckbrette und brachte sie nebst einem brennenden Fidibus dem Oberförster . » Was fällt dir ein , Sabine ? « sagte er abwehrend und mit komischer Entrüstung . » Meinst du , ich könnte es übers Herz bringen , in aller Ruhe eine Pfeife zu rauchen , während es der kleinen Else da in den Füßen kribbelt und krabbelt , den Berg hinaufzulaufen und die kleine Nase in das Zauberschloß zu stecken ? Nein , jetzt meine ich , könnten wir unsere Entdeckungsreise antreten . « Alles machte sich fertig . Der Oberförster reichte seiner Schwägerin den Arm und fort ging es durch Hof und Garten . Draußen schloß sich ein Mann der Gesellschaft an ; es war ein Maurer aus dem nächsten Dorfe , den der Oberförster bestellt hatte , um nötigenfalls bei der Hand zu sein . Es ging ziemlich steil bergauf durch den dichten Wald , auf einem wenig betretenen engen Wege , der sich jedoch allmählich etwas erweiterte und endlich in einen kleinen , freien Platz auslief , hinter welchem sich , wie es schien , ein hoher , grauer Felsen erhob . » Hier habe ich das Vergnügen , « sagte der Oberförster sarkastisch lächelnd zu dem erstaunten Ferber , » dir das Vermächtnis des hochseligen Herrn von Gnadewitz in seiner Herrlichkeit vorzustellen . « Sie standen vor einer ungeheuren Mauer , die allerdings wie ein einziger Granitblock aussah . Von den Gebäuden , die hinter ihr lagen , konnte man schon deshalb keine Spur sehen , weil der Wald sich zu nahe herandrängte und dem Beschauer kein Zurücktreten gestattete . Der Oberförster schritt die Mauer entlang , deren Fuß dichtes Gestrüpp umwob , und machte endlich Halt vor einem mächtigen eichenen Thore , dessen oberer Teil in ein eisernes Gitter auslief . Hier hatte er tags zuvor das Gebüsch wegräumen lassen und zog nun einen Bund großer Schlüssel hervor , welche Frau Ferber gestern auf der Durchreise in L. in Empfang genommen hatte . Es bedurfte bedeutender Anstrengung der drei Männer , ehe die verrosteten Schlösser und Riegel sich öffnen ließen . Endlich drehte sich das Thor krachend in den Angeln und wirbelte eine mächtige Staubwolke in die Höhe . Die Eintretenden befanden sich in einem auf drei Seiten von Gebäuden umschlossenen Hofraume . Ihnen gegenüber dehnte sich die imposante Front des Schlosses , zu dessen erstem Stocke von außen eine breite Steintreppe mit schwerfälligem Eisengeländer führte . Längs der Seitenflügel liefen düstere Kolonnaden , deren granitene Säulen und Bogen unüberwindlich der Zeit zu trotzen schienen . Inmitten des Hofes breiteten einige alte Kastanien ihre dürftigen Aeste über ein ungeheures Becken , in dessen Mitte vier steinerne Löwen mit aufgesperrtem Rachen lagerten . Früher mochten hier vier starke Wasserstrahlen aus den Tiefen der Erde emporgestiegen sein und das Bassin gefüllt haben ; jetzt aber floß nur noch ein schwaches Brünnlein durch die dräuenden Zähne des einen Ungeheuers , gerade stark genug , um die naseweisen Grashalme zwischen den Steinritzen des Beckens zu bespritzen und durch sein leises , melancholisches Rieseln einen schwachen Schein von Leben in die Wüstenei zu hauchen . Die äußeren Mauern der Gebäude und die Säulengänge waren das einzige in diesem Raume , an welchem der Blick ohne Angst haften konnte . Die aller Glasscheiben beraubten Fensterhöhlen zeigten eine greuliche Verwüstung im Innern . In einigen Zimmern waren die Decken bereits eingestürzt , in andern bogen sich die Balken hernieder , als wollten sie bei der leisesten Berührung zusammenbrechen . Die äußere Treppe hing drohend halb in der Luft ; einige schwere , grünbemoste Steine hatten sich bereits gelöst und waren bis zur Mitte des Hofes gerollt . » Hier ist nichts zu machen , « sagte Ferber , » gehen wir weiter . « Durch einen tiefen , finsteren Thorweg traten sie in einen zweiten Hof , der , obgleich bei weitem größer als der erste , doch einen noch viel unheimlicheren Eindruck machte , und zwar durch seine Unregelmäßigkeit . Hier trat ein zusammensinkender , düsterer Bau weit in den Hof herein und bildete eine dunkle Ecke , in die kein Sonnenstrahl fiel ; dort stieg ein dumpfer Turm in die Höhe und warf einen tiefen Schatten auf den hinter ihm liegenden Flügel . Ein alter Holunderbusch , der in einer Ecke kümmerlich sein Leben fristete , und dessen Blätter mit herabgefallenem Mörtel bedeckt waren , sowie einzelne graue Gräser zwischen dem Pflaster ließen die Oede noch trauriger erscheinen . Kein Laut unterbrach die Totenstille , die hier waltete ; selbst eine Dohlenschar , die droben das heitere Blau des Himmels durchschnitt , flog lautlos vorüber , und deshalb klang den Eintretenden das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem hallenden Steinpflaster fast gespenstisch . » Da haben nun , « sagte Ferber , ergriffen von dem Anblicke des Verfalles ringsum , » die alten , gewaltigen Herren Steinmassen aufgehäuft und gemeint , die Wiege ihres Geschlechts werde , fest und unzerstörbar , durch alle Zeiten den Ruhm ihres Namens verkünden . Ein jeder hat sich , wie der verschiedene Baustil zeigt , das Erbe nach Bedürfnis und Geschmack eingerichtet , als ob da nie ein Ende kommen könne ... « » Und doch wohnte er nur ein kleines Weilchen zur Miete , « unterbrach ihn der Oberförster , » und mußte es sich zuletzt sogar gefallen lassen , daß der große Hausherr , die Erde , ihn selbst mit Haut und Haar als Mietzins einforderte ... Doch gehen wir weiter ... Brr , mich friert ... hier ist Tod , nichts als Tod ! « » Nennst du das Tod , Onkel ? « rief plötzlich Elisabeth , die bis dahin beklommen geschwiegen hatte , indem sie nach einem Thorbogen zeigte , der halb von einem vorspringenden Pfeiler bedeckt wurde . Dort hinter einer Gitterthür schimmerte sonnenbeschienenes Grün , und junge Heckenrosen schmiegten ihre Köpfchen an die Eisenstäbe . Elisabeth war mit wenigen Sprüngen an der Thür , die sie mit einem kräftigen Rucke aufstieß . Dieser ziemlich große , freie Platz , vor dem sie stand , mochte wohl ehemals den Garten vorgestellt haben – jetzt konnte man die grüne Wildnis unmöglich noch so nennen , denn nicht ein fußbreit Weges war zu entdecken , kaum daß hier und da der verstümmelte Kopf einer Statue unter dem Gewirre von Stauden , Gesträuchen und Schmarotzerpflanzen erschien . Die wilde Weinrebe lief in dicken Strängen bis an das obere Stockwerk der Gebäude , rankte sich an den Fenstersimsen fest und fiel von dort wie ein grüner Regen wieder auf die blühenden wilden Rosen und Fliedersträuche hernieder . Es war ein Schwirren und Summen auf diesem abgeschiedenen , blühenden Fleckchen Erde , als ob der Frühling seine ganzen geflügelten Heerscharen hier versammelt hielte . Zahllose Schmetterlinge flatterten durch die Luft , und über die riesigen Fächer der Farnkräuter zu Elisabeths Füßen liefen geschäftig goldglänzende Käfer . Ueber all dies Blühen und Treiben erhoben einige Obstbäume und mehrere schöne Linden ihre Kronen , und auf einer kleinen Anhöhe lagen die Ueberreste eines Pavillons . Der Garten war auf drei Seiten von zweistöckigen Gebäuden umgeben , und das Viereck des Raumes wurde durch eine Art hohen Dammes vervollständigt , über den die Wipfel der Waldbäume hereinsahen . Auch hier trugen die Baulichkeiten das Gepräge des Verfalles ; abermals ziemlich gut erhaltene Mauern nach außen , doch vollständige Verwüstung im Innern . Nur ein zwischen zwei hohe Flügel eingeklemmter , einstockiger Bau fiel auf durch sein dunkles Aussehen . Er war nicht durchsichtig , wie die anderen decken- und thürenlosen Gebäude ; das flache Dach , das an beiden Seiten schwere Steingeländer hatte , mußte Sturm und Wetter Trotz geboten haben , wie die grauen Fensterläden auch , die hier und da unter dem Wuste von Schlingpflanzen hervorsahen . Der Oberförster meinte mit prüfendem Blicke , dies sei höchst wahrscheinlich Sabines berühmter Zwischenbau ; möglicherweise sei er innen nicht so despektierlich zugerichtet , wie die anderen Baulichkeiten ; nur begreife er nicht , wie man zu dem angeklebten Schwalbenneste gelangen könne . Allerdings war weder von Treppen noch Thüren eine Spur zu sehen , was freilich schon durch das undurchdringliche Gebüsch am Erdgeschosse unmöglich wurde . Man beschloß deshalb , das Besteigen einer ausgetretenen , aber noch ziemlich festen Steintreppe in einem der großen Flügel zu wagen und so auf das Ziel loszusteuern . Es gelang , wenn auch unter beständigem Anklammern an die unebene Mauer . Sie kamen zuerst durch einen großen Saal , der den blauen Himmel als Decke und einige grüne Büsche droben auf den Mauern als einzigen Schmuck aufzuweisen hatte . Zertrümmerte Balken , Dachsparren , einzelne Plafondstücke mit Ueberresten von Malerei bildeten ein grauses Gemisch , über das die Suchenden hinwegklettern mußten . Dann folgte eine Reihe von Zimmern , in demselben Zustande der Zerstörung . An einigen Wänden hingen noch Fetzen von Familienbildern , die oft , schauerlich und komisch zugleich , nur ein Auge , ein Paar gekreuzter , bleicher Frauenhände oder einen theatralisch vorgestreckten , schienenbekleideten Männerfuß zeigten . Endlich hatten sie den letzten Raum erreicht und standen vor einem hohen Thürbogen , der mit Ziegelsteinen vermauert war . » Aha ! « sagte Ferber , » hier hat man den Zwischenbau abzuschließen gesucht von der allgemeinen Zerstörung . Ich meine , ehe wir noch länger die halsbrechende Arbeit des Suchens fortsetzen , wäre es gescheiter , die Steine herauszunehmen . « Der Vorschlag fand Beifall , und der Maurer begann sein Werk ; er drang in eine tiefe Wandnische ein und versicherte , hier seien doppelte Wände . Beide Männer halfen wacker mit , und bald erschien eine mächtige Eichenthür hinter dem zerstörten Mauerwerke , das schnell hinweggeräumt wurde . Die Thür war nicht verschlossen und gab dem Drucke der Männer sogleich nach . Sie traten in einen völlig dunklen , dumpfen Raum . Nur ein dünner Sonnenstrahl drang durch eine schmale Ritze und zeigte die Richtung der Fenster . Das seit so langer Zeit nicht berührte Fensterschloß sträubte sich tapfer gegen die Kraftaufwendung des Oberförsters , ebenso der Laden , den die starken Zweige der Bäume draußen fest andrückten . Endlich wich er mit lautem Gekreische – ein grüngoldenes Sonnenlicht strömte durch ein hohes Bogenfenster herein und beleuchtete ein nicht sehr breites aber tiefes Zimmer , dessen Fenster mit Gobelins behangen waren . Der Plafond zeigte in den vier Ecken das sauber gemalte Wappen der Gnadewitze . Zum Erstaunen aller war es vollständig möbliert , und zwar als Schlafzimmer . Zwei Himmelbetten mit vergilbtem Behange , welche an den zwei langen Wänden standen , waren vollkommen eingerichtet . Das Bettzeug steckte noch in den feinen Leinenüberzügen , und die seidenen Steppdecken schienen nichts an Farbe und Haltbarkeit eingebüßt zu haben . Alles , was zur Bequemlichkeit vornehmer Leute gehört , war hier vorhanden , und wenn auch unter einer Last von Staub vergraben , doch noch in völlig brauchbarem Zustande . An dies Zimmer stieß ein zweites , weit größeres mit zwei Fenstern ; es war ebenfalls möbliert , wenngleich in veraltetem Geschmacke und , wie nicht zu verkennen war , mit Möbeln , die man allerorten zusammengesucht hatte . Ein altertümlicher Schreibtisch mit kunstreich ausgelegter Platte und seltsam geschnörkelten Füßen wollte durchaus nicht zu der mehr modernen Form des rot überzogenen Sofas passen , und die goldenen Rahmen , in denen einige nicht übel gemalte Jagdstücke an den Wänden hingen , harmonierten nicht mit der versilberten Fassung des großen Wandspiegels . Aber sei es auch darum – es fehlte ja nichts , was den Raum behaglich machen konnte ; selbst ein großer , wenn auch etwas verblichener Teppich lag auf dem Boden , und unter dem Spiegel stand eine große , altertümliche Uhr . Es folgte noch ein kleines , ebenfalls eingerichtetes Kabinett , von welchem eine Thür nach Vorsaal und Treppe führte . Hinter den Zimmern lagen drei Räume von gleicher Größe , deren Fenster in den Garten sahen , und von denen das eine tannene Möbel und zwei Betten enthaltend , jedenfalls für die Dienerschaft bestimmt gewesen war . » Potztausend ! « sagte der Oberförster vergnügt lachend , » da finden wir ja eine Bescherung , die unsere bescheidenen Seelen sich nicht einmal haben träumen lassen . Na , wenn das der Hochselige wüßte , er drehte sich in seinem zinnernen Grabe um ... Das sind lauter Dinge , die wir der pflichtvergessenen Seele einer Beschließerin oder dem ungetreuen Gedächtnis eines altersschwachen Haushofmeisters verdanken . « » Aber dürfen wir sie denn auch behalten ? « fragten Frau Ferber und Elisabeth , die bis dahin vor freudiger Ueberraschung starr gewesen waren , wie aus einem Munde . » Ei freilich , liebe Frau , « beruhigte der Vater . » Dein Onkel hat dir das Schloß vermacht mit allem , was es enthalte . « » Und das ist wenig genug , « grollte der Oberförster . » Im Vergleiche zu unseren Erwartungen aber eine wahre Fundgrube von Schätzen , « sagte Frau Ferber , indem sie einen hübschen Glasschrank öffnete , der verschiedenes Porzellan enthielt , » und wenn mich damals , als ich noch hoffnungsmutig und anspruchslos ins Leben sah , der Onkel mit einem reichen Vermächtnis bedacht hätte , es würde mir sicher keinen größeren Eindruck gemacht haben , als in diesem Augenblicke die unverhoffte Entdeckung , welche uns großer Sorgen enthebt . « Elisabeth bog sich unterdessen aus dem Fenster des zuerst betretenen Zimmers und versuchte , mit ihren Armen die Zweige zu trennen , welche die ganze Fensterreihe der Fronte vollständig verbarrikadierten und deshalb in den Zimmern gerade nur ein grünes Dämmerlicht zuließen . » Schade , « meinte sie , das Ohnmächtige ihrer Anstrengung einsehend , » ein wenig Aussicht in den Wald hätte ich schon gern gehabt ! « » Glaubst du denn , « sagte der Oberförster , » ich würde euch hinter dieser grünen Verschanzung stecken lassen , die jeden frischen Luftzug abwehrt ? Dem soll heute noch abgeholfen werden , darauf verlasse dich , Klein-Else . « Sie gingen die Treppe hinab . Auch sie war in gutem Zustande und führte in eine große Halle , in deren Mitte eine Tafel , von hochbeinigen Stühlen umgeben , stand . Der Fußboden war von roten Backsteinen , Wände und Plafond aber zeigten kunstvolle Holzschnitzereien . Dieser große Raum hatte außer vier Fenstern zwei Thüren , die sich gegenüber lagen ; eine derselben führte in den Garten , die andere , die sich nur schwer öffnen ließ , auf einen schmalen freien Platz , der sich zwischen das Gebäude und die äußere Mauer drängte . Hier hatten sich die Syringen und Haselsträucher ungemein üppig ausgebreitet , allein es gelang doch den Männern , einen Durchgang zu erzwingen , und mit drei Schritten standen sie vor einem Pförtchen in der gegenüberliegenden Mauer , das hin aus in das Waldgestrüpp führte . » Nun , « sagte Ferber erfreut , » hier fällt auch das letzte Bedenken weg . Dieser Eingang ist viel wert . Wir brauchen nun nicht mehr durch die Höfe zu gehen , was jedenfalls sehr umständlich und immerhin gefährlich gewesen wäre . « Noch einmal wurde die Wohnung durchschritten , die künftige Einrichtung derselben besprochen , und der Maurer für morgen bestellt , damit er eines der Hinterzimmer zur Küche einrichte . Dann , nachdem man die Eichenthür , die nach dem großen Flügel führte , gehörig verrammelt und verriegelt hatte , wurde der Rückweg angetreten , ein Unternehmen , das für den Augenblick durch das dichte Gebüsch zwar sehr erschwert wurde , trotzdem aber dem ersten halsbrechenden Weg vorzuziehen war . Als die Heimkehrenden den Garten des Forsthauses betraten , kamen ihnen Sabine in Begleitung des kleinen Ernst , den man ihrer Obhut anvertraut hatte , erwartungsvoll entgegen . Sie hatte unter den Buchen auf einem weißgedeckten Tische den Nachmittagskaffee serviert und das schattige Plätzchen auf das Behaglichste eingerichtet , wollte nun aber auch wissen , wie man die Dinge droben gefunden , und schlug bei dem Berichte vor freudigem Erstaunen die Hände zusammen . » Ach , du meine Güte , « rief sie aus , » sehen der Herr Oberförster , daß ich recht hatte ? ... Ja , ja , die Sachen sind vergessen worden , und ist auch gar nicht zu verwundern . Sowie der junge Herr von Gnadewitz unter die Erde gebracht war , ist der alte Gnädige über Hals und Kopf abgereist und hat alle Dienerschaft mitgenommen . Nur der alte Hausverwalter Silber ist zurückgeblieben ; der war aber zuletzt ganz schwach im Kopfe , und ein unmenschlich viel Zeug hat auch drunten im neuen Schlosse gesteckt , da hatte er mehr als genug zu thun , daß ihm nichts unter der Hand wegkam , und da ist zuletzt das alles da droben stehen geblieben , und keine Menschenseele hat mehr davon gewußt ... Du lieber Gott , ich habe ja jedes Stück davon unter den Händen gehabt und habe es abstäuben und putzen müssen ... Und vor der Uhr habe ich mich immer so gefürchtet , denn die spielt ein trauriges Stückchen , wenn sie schlägt , und das klang so grausig durch die Stuben , wo ich mutterseelenallein hantieren mußte ... Ja , damals war ich noch jung ... wo sind die Zeiten hin ! « Es folgte nun eine gemütliche Stunde der Ruhe und des behaglichen Ueberlegens , während der Kaffee getrunken wurde . Weil Elisabeth gemeint hatte , sie könne sich nichts Schöneres denken , als zum erstenmal am Pfingstmorgen da droben aufzuwachen , wenn die Kirchenglocken der umliegenden Dörfer hinauf klängen , eine Ansicht , die auch Frau Ferber teilte , so wurde beschlossen , die Renovierung mit allen Kräften schon morgen ins Werk zu setzen , um das Beziehen der Wohnung bis zum Pfingstabend zu ermöglichen , und der Oberförster stellte alle seine Leute zur Verfügung . Sabine hatte nicht weit von der Gesellschaft auf einer Rasenbank Platz genommen , um bei der Hand zu sein , wenn man etwas bedürfe . Um nicht ganz müßig zu bleiben , hatte sie ein paar Hände voll junger Möhren aus dem Beete gezogen , die sie eifrig schabte und putzte . Elisabeth setzte sich zu ihr . Die Alte warf einen schelmischen Blick auf die schlanken weißen Finger , die neben ihren eigenen braunen , schwielenharten Händen erschienen und einige Möhren von ihrem Schoße nahmen . » Nichts da , « sagte sie abwehrend , » das ist keine Arbeit für Sie – Sie kriegen gelbe Finger . « » Daraus mache ich mir nichts ! « lachte Elisabeth . » Ich helfe Ihnen und Sie erzählen mir ein wenig . Sie sind hier aus der Gegend und wissen gewiß auch etwas von der Geschichte des alten Schlosses . « » I nu freilich , « entgegnete die alte Haushälterin ; » Lindhof , wo ich geboren bin , hat ja den Herren von Gnadewitz seit undenklichen Zeiten gehört , und sehen Sie , in einem so kleinen Orte da dreht sich nachher alles um die Herrschaft , der man unterthänig ist . Da geht nichts verloren , was besonderes im Herrenhause vorfällt ; das vererbt sich auf Kind und Kindeskinder ; und wenn den vornehmen Leuten schon lange kein Zahn mehr weh thut , da erzählen sich noch die Bursche und Mädchen im Dorfe ihre Geschichte . Da war meine selige Urgroßmutter , die ich noch recht gut gekannt habe , die wußte Dinge , daß einem die Haare zu Berge standen . Sie hatte aber einen heiligen Respekt vor denen auf Gnadeck und duckte mich mit ihren beiden zitternden Händen immer tief auf den Boden , wenn die Herrschaft vorbeifuhr ; denn ich war dazumal noch ein kleines Ding und konnte keinen rechten Knicks machen ... Sie wußte weit , weit in die uralte Zeit hinein die Namen von all den Herren , wie sie der Reihe nach da droben gehaust haben , und gar vieles , was dort wider Gott und Recht geschehen ist . Wie ich nachher auf das neue Schloß kam und die großen Säle fegen mußte , wo sie alle abgemalt waren , von denen vielleicht jetzt kein Staubkörnchen mehr übrig ist , da habe ich manchmal dort gestanden und mich gewundert , wie sie doch ganz und gar nicht anders ausgesehen haben als andere Menschenkinder auch , und haben doch ein Wesens von sich gemacht , als ob sie der liebe Gott in eigener Person auf die Welt ' runter gebracht hätte ... Von Schönheit war bei den Weibern auch nicht viel zu sehen . Ich meinte immer in meinen dummen Gedanken , wenn das schöne Lieschen , das schönste und feinste Mädchen im Dorfe , in den goldenen Rahmen 'naufgestiegen wäre , in der seidenen Schleppe und mit so viel Edelsteinen auf der Brust und in den Haaren und der Mohr mit dem silbernen Präsentierteller hätte hinter ihrem schneeweißen Gesichte gestanden , das wär' tausendmal schöner gewesen , als die Dame , die eigentlich bitter häßlich war und zwei schwarze , dicke Striche über den Augen hatte , die sie bis unter die Haare hinaufzog vor lauter Hochmut . Aber gerade auf die war die ganze Familie stolz . Es sollte eine reiche , reiche Gräfin gewesen sein , aber hart und gefühllos wie Stein . Unter den Männern war auch nur einer , den ich gern ansehen mochte . Der hat aber gar ein liebes , treuherziges Gesicht gehabt und ein paar Augen , so schwarz wie die Schlehen ; und an dem ist 's auch wieder wahr geworden , daß der Beste am meisten zu leiden hat in der Welt . Von allen anderen in der langen Reihe hat man nichts gewußt , als daß es ihnen gut gegangen ist ihr lebenlang ... Viele davon haben Unglück genug in die Welt gebracht , und haben sich doch nachher so ruhig auf ihr Sterbebett gelegt , als sei das alles von Rechts wegen geschehen ... Na , um wieder auf den Jost von Gnadewitz zu kommen , der hat ein recht trauriges Schicksal gehabt . Die Großmutter von meiner Urgroßmutter hat ihn selbst gekannt , als sie noch ein kleines Kind gewesen ist . Er hat dazumal nur der wilde Jäger geheißen , weil er den ganzen geschlagenen Tag nicht aus dem Walde gekommen ist . – Auf dem Bilde war er auch im grünen Rocke gemalt und hatte eine lange , weiße Feder auf dem Hute , was mir immer so gefallen hat zu seinen kohlschwarzen lockigen Haaren . Aber gut ist er gewesen und hat keinem Kinde was zuleide thun mögen . Dazumal ist es den Leuten im Dorfe gar gut gegangen , und sie haben gewünscht , es möchte immer so bleiben . Aber auf einmal ist er eine Zeit fortgewesen ; kein Mensch hat gewußt , wo er steckt , bis er endlich bei Nacht und Nebel wiedergekommen ist , ohne daß es jemand gemerkt hätte ... Von der Zeit an war er aber ganz verwandelt ... Den Leuten in Lindhof ist zwar nichts entzogen worden ; aber sie haben ihren Herrn nicht mehr zu sehen gekriegt . Er hat alle Dienerschaft fortgeschickt und ist im alten Schlosse mutterseelenallein mit einem Lieblingsdiener geblieben . Da haben denn endlich die Leute viel gemunkelt von der schwarzen Kunst , die er da oben treibe , und hat sich kein Mensch mehr bei hellem , lichtem Tage auf den Berg getraut , geschweige denn in der Nacht ... Die alte Großmutter ist aber in ihrer Jugendzeit gar ein keckes Ding gewesen und hat just erst recht ihre Ziegen bei den Schloßmauern grasen lassen ... Nun , und da hat sie einmal ganz still und in Gedanken unter einem Baume gesessen und hat hinübergesehen nach der Mauer , wie die doch so hoch sei , und was wohl dahinter stecken möchte . Und da ist mit einem Male da droben ein Arm , so weiß wie Schnee , hervorgekommen , nachher ein Gesicht – die Großmutter hat erzählt , schöner sei das gewesen , als Sonne , Mond und Sterne – und zuletzt hat mit einem Sprunge ein Mädchen droben gestanden , das hat die Arme in die Luft gestreckt , hat etwas gerufen , was die Großmutter nicht verstehen konnte , und wäre um ein Haar hinunter in das Wasser gesprungen , das dazumal um das ganze Schloß herumgelaufen ist ... Aber da hat auf einmal der Jost hinter ihr gestanden , der hat sie umfaßt und mit ihr gerungen und hat sie gebeten und gefleht , daß es einen Stein hätte erbarmen mögen , und die kohlschwarzen Haare haben ihm vor Angst in die Höhe gestanden . Nachher hat er sie auf seinen Arm genommen , wie ein Kind , und weg waren sie von der Mauer ... Dem Mädchen ist aber der Schleier vom Kopfe gefallen und ist hinübergeflogen bis zu der Großmutter . Er ist wunderfein gewesen , und sie hat ihn voller Freude mit heimgenommen zu ihrem Vater ; der hat ihn voll Schreck ins Feuer geworfen , weil es Teufelsspuk sei , und die Großmutter hat nie wieder auf den Berg gedurft . Später – es ist wohl ein volles Jahr herum gewesen , seit der Jost so still auf Gnadeck gelebt hat – ist er auf einmal frühmorgens zu Pferde den Berg herabgekommen ; aber niemand hat ihn kennen mögen , so verfallen war sein Gesicht , und hat wohl noch viel blässer deswegen ausgesehen , weil er kohlschwarz angezogen war . Er ist langsam geritten und hat jedem , der ihm begegnet ist , noch einmal traurig zugenickt . Dann ist er fortgewesen und ist auch nie wiedergekommen ... er ist in der Schlacht erschossen worden , und sein alter Diener auch , der mit ihm war ... es war dazumal der Dreißigjährige Krieg . « » Nun , und das schöne Mädchen ? « fragte Elisabeth . » Ja , von dem hat niemand weiter eine Spur gehört noch gesehen ... Der Jost hat auf dem Rathause zu L. ein großes versiegeltes Paket niedergelegt und hat gesagt , das sei sein letzter Wille . Man solle es aufmachen , wenn die Nachricht von seinem Tode käme . Aber da war eine große , große Feuersbrunst in L. , viele Häuser , selbst die Kirchen und das Rathaus mit allem , was darin war , sind bis auf den Grund niedergebrannt , und das Paket natürlich auch mit . In der letzten Zeit soll auch einige Male der Pfarrer von Lindhof oben bei dem Jost gewesen sein . Der geistliche Herr hat aber stillgeschwiegen wie ein Mäuschen ; und weil er alt war und bald darauf das Zeitliche segnen mußte , so hat er das , was er vielleicht da droben erfahren hat , mit ins Grab genommen ... So weiß nun kein Mensch , was es mit dem fremden Mädchen für ein Bewenden gehabt hat , und es wird wohl auch ein Geheimnis bleiben bis an den jüngsten Tag . « » Na , geniere dich nur nicht , Sabine ! « rief der Oberförster herüber , indem er seine Pfeife ausklopfte , » es ist besser , die Else gewöhnt sich gleich von vornherein an den schauerlichen Schluß deiner Geschichten – sag's nur , denn du weißt es ja doch ganz genau , daß das schöne Mädchen eines schönen Tages auf dem Besen zum Schornsteine hinausgefahren ist . « » Nein , das glaube ich nicht , Herr Oberförster , wenn ich auch – « » Drauf schwöre , daß es in der Umgegend wimmelt von solchen , die jeden Tag zum Scheiterhaufen reif wären , « unterbrach sie der Oberförster . » Ja , ja , « wandte er sich zu den anderen , » die Sabine ist noch vom alten Thüringer Schlage . Es fehlt ihr sonst nicht an Verstand und sie hat auch das Herz auf dem rechten Flecke ; wenn aber der Hexenglaube ins Spiel kommt , da verliert sie beides und ist im stande , ein armes , altes Weib , weil es rote Augen hat , von der Thür wegzuschicken , ohne einen Bissen Brot abzuschneiden . « » Nu , so schlimm ist 's doch nicht , Herr Oberförster , « entgegnete die Alte gekränkt , » ich gebe ihr zu essen , aber ich ziehe die Daumen ein und antworte weder ja noch nein – und das kann mir kein Mensch verdenken . « Alle lachten über dies Präservativ gegen das Behexen , welch ersteres augenscheinlich sehr ernst gemeint war . Die alte Haushälterin aber strich die Möhrenüberreste von der Schürze und erhob sich , um das Abendbrot für die Leute herzurichten , die heute früher essen sollten , denn bis zum Einbruche der Nacht gab es noch tüchtig zu thun im alten Schlosse . 5 Als Elisabeth am andern Morgen die Augen aufschlug , verkündete die große Wanduhr drunten in der Stube gerade die achte Stunde und überzeugte sie zu ihrem Verdrusse und Schrecken , daß sie sich verschlafen habe . Daran aber war nichts schuld , als ein tiefer häßlicher Morgentraum ... Der goldene , poetische Duft , den ihre Phantasie gestern um Sabines Erzählung gehaucht hatte , war über Nacht zur trüben Wolke geworden , deren Druck noch im Augenblicke des Erwachens auf ihr lastete ... Sie war in Todesangst durch die wüsten , weiten Säle des alten Schlosses gelaufen , immer verfolgt von Jost , dem sich die Haare auf der todblassen Stirn aufbäumten , und der sie mit den schwarzen Augen anglühte , und hatte eben unter tiefem , nie empfundenem Grauen die Hände ausgestreckt , um ihn zurückzustoßen , als sie erwachte ... Noch klopfte ihr das Herz , und sie dachte mit Schauder an jene Unglückliche auf der Mauer , die vielleicht , ebenso gehetzt wie sie , verzweiflungsvoll den Tod suchte und in dem fürchterlichen Augenblicke von dem Verfolger ergriffen wurde . Sie sprang auf und kühlte sich das Gesicht in frischem Wasser ; dann öffnete sie das Fenster und sah hinunter in den Hof . Dort saß Sabine unter einem Birnbaum , mit dem Butterfasse beschäftigt . Das ganze Hühnervolk hatte sich um sie geschart und sah erwartungsvoll zu ihr empor , denn von dem großen Butterbrote , das neben ihr auf dem Steintische lag , warf sie dann und wann einige Brocken auf den Boden , wobei sie nicht unterließ , die Unverschämten zu schelten und die Unterdrückten zu trösten . Als sie das junge Mädchen erblickte , nickte sie freundlich und rief hinauf , alles , was im Forsthause Hände und Füße habe , arbeite seit sechs Uhr droben im alten Schlosse . Auf Elisabeths Vorwurf , weshalb man sie nicht geweckt , entgegnete sie , das sei auf den Wunsch der Mama geschehen , weil ihr Töchterlein sich in den letzten Wochen weit über seine Kräfte angestrengt habe . Sabines gutes , friedvolles Gesicht und die frische Morgenluft beruhigten Elisabeths Nerven augenblicklich und führten die Wirklichkeit zurück , die sich ja gerade jetzt so hell und so rosig gestaltete ... Sie gab sich unsägliche Mühe , sich selbst auszuschelten , daß sie , der väterlichen Ermahnung des Onkels entgegen , gestern bis um Mitternacht am Fenster gelehnt und über die mondbeglänzte Wiese in den schweigenden Wald hinausgesehen hatte . Allein der angeregten Phantasie gegenüber spielt der Verstand oft eine klägliche Rolle . Mitten in der Untersuchung verschwinden plötzlich Ankläger und Zeugen , er sieht sich allein auf seinem Richterstuhle und muß es sich sogar gefallen lassen , daß er hinter die Kulissen gesteckt wird , während um und neben ihm die Spektakelstücke der Phantasie von vorn anheben . Deshalb verstummten Elisabeths ärgerliche Betrachtungen auch sehr bald vor dem Bilde , das sich in einem Nu vor ihrem inneren Auge aufrollte und sich noch einmal den ganzen Zauber einer Mondnacht im Walde nachempfinden ließ . Nachdem sie sich angekleidet und rasch ein Glas frische Milch getrunken hatte , eilte sie den Berg hinauf . Der Himmel war bedeckt , aber nur mit jener hellen , hohen Wolkenschicht , die zwar keinen goldenen , aber einen desto frischeren Frühlingstag verheißt . Deswegen dauerte auch heute das Morgenkonzert der Vögel etwas länger , und die Tautropfen schaukelten sich noch so voll in den Blumenkelchen , als sei ihr zartes Dasein für heute unantastbar . Als Elisabeth in das weit offene Hauptthor des Schlosses trat , fiel ihr sogleich ein ungeheurer grüner Hügel neben dem Brunnen ins Auge . Es waren Distelbüsche , Farnkrautbündel und Brombeerranken , die , ihrem alten , trauten Wohnplatze , dem Garten , entrissen , hier ihr lustiges Leben verhauchen mußten . Der Weg durch den gewölbten Thorbogen des zweiten Hofes bis zur Gitterthür war mit verzetteltem Grünzeuge bestreut , als solle ein fröhlicher Hochzeitszug durch die Ruine wandeln , und sogar an dem Sims eines hohen Fensters , das droben in seinem Spitzbogen eine prächtige durchbrochene Steinrosette mit Resten bunter Glasmalerei zeigte , hatten sich im Vorübertragen einige Ranken gehängt und legten ihr lebendiges Grün traulich neben die steinernen Kleeblätter der heiligen Dreifaltigkeit , die nicht verkennen ließen , daß der dunkle , wüste Raum da drinnen einst die Schloßkapelle gewesen war . Der Garten , in welchem man gestern nicht zwei Schritt weit vordringen konnte , erschien dem jungen Mädchen völlig verwandelt . Ein beträchtliches Stück lag aufgedeckt und zeigte nun die Reste zierlicher Anlagen . Elisabeth konnte auf einem ziemlich gesäuberten Hauptwege , über den erschreckte Eidechsen blitzschnell huschten , bis nach dem grünen Damme gelangen , den man gestern von der Ferne aus entdeckt hatte . Zu beiden Seiten des langen , berasten Erdaufwurfs führten breite , ausgewaschene Steintreppen in die Höhe bis zu einer niedrigen Brüstung , über die man in den Wald und da , wo die Bäume ein wenig auseinander traten , hinunter in das Thal sehen konnte , wo das Forsthaus mit seinem blauen Schieferdache voll weißer Tauben behaglich auf der grünen Wiese lag . Zu Füßen des Walles , gerade da , wo der Hauptweg endete , befand sich ein kleines Bassin , in das eine grünbemoste Gnomengestalt einen starken , kristallhellen Wasserstrahl spie . Zwei Linden wölbten sich über dem rauschenden Brunnen und warfen ihren wohlthätigen Schatten auf die zarten Vergißmeinnicht , die hier massenhaft aus der feuchten Erde sproßten und das Bassin in dunkler Bläue umfingen . Dem Damme gegenüber lag der Zwischenbau ; er sah mit seinen zurückgeschlagenen Fensterläden und der großen , offenen Thür im Erdgeschosse heute so hell und gastlich aus , daß sich Elisabeth freudig dem süßen Gefühle hingab , hier auf heimischem Boden zu stehen . Sie überblickte den Garten und dachte an ihre Kinderjahre , an jene Momente voll unbezwingbarer Sehnsucht , wo sie beim Spaziergange hinter den Eltern zurückblieb und , ihr Gesicht an das festgeschlossene Gitter gepreßt , in fremde Gärten hineinsah . Dort tummelten sich glückliche Kinder ungezwungen auf den Rasenplätzen ; sie durften die aufgeblühten Rosen am Stocke in ihre kleinen Hände nehmen und sich an dem Dufte erquicken , solange sie wollten ... Und was mußte das für eine Lust sein , den kleinen Körper unter einen vollen Strauch zu ducken und gerade so im Grünen zu sitzen , wie die großen Leute in einer Laube ! Damals blieb es bei Wunsch und Sehnsucht . Nie öffnete sich eine der geschlossenen Thüren vor dem Kinde mit den bittenden Augen , und es wäre doch schon zufrieden gewesen , wenn man durch das Gitter einige Blumen in seine kleinen Hände gelegt hätte . Während Elisabeth auf dem Walle stand , erschien der Oberförster an einem der oberen Fenster des Zwischenbaues . Als er das junge Mädchen erblickte , wie es , die zarte Gestalt an die Brüstung gelehnt und den schönen Kopf halb nach dem Garten gewendet , sinnend vor sich hinsah , da überflog ein unverkennbarer Ausdruck von Wohlgefallen und stiller Freude sein Gesicht . Auch Else wurde den Onkel gewahr , nickte lustig ihm zu und lief schnell die Stufen hinab nach dem Hause . Da sprang ihr der kleine Ernst aus der großen Halle entgegen und lachend fing sie ihn in ihren Armen auf . Seiner enthusiastischen Beschreibung nach hatte der Kleine schon Unglaubliches geleistet . Er hatte dem Maurer , der den Herd errichtete , Backsteine zugetragen , war von Mama beim Ausklopfen der Betten beschäftigt worden und meinte mit großem Stolze , die Herren und Damen auf der wollenen Tapete sähen viel schöner und freundlicher aus , seit er mit der Bürste über ihre staubigen Gesichter gefahren sei . Er schlang entzückt die Arme um den Hals der Schwester , die ihn die Treppe hinauftrug , und hörte nicht auf zu versichern , daß er es hier oben doch tausendmal schöner finde , als in B . Der Oberförster empfing Elisabeth droben im Vorsaale . Er ließ ihr kaum Zeit , die Eltern zu begrüßen , und führte sie , ohne ein Wort zu sagen , in das Zimmer mit den Gobelins ... Welche Veränderung ! .. . Das grüne Bollwerk vor dem Fenster war verschwunden , draußen , jenseits der äußeren Mauer , trat der Wald auf beiden Seiten kulissenartig zurück und gewährte einen vollen Einblick in ein weites Thal , das Elisabeth wahrhaftig paradiesisch erschien . » Das ist Lindhof , « sagte der Oberförster und zeigte auf ein ungeheures Gebäude in italienischem Geschmacke , das sich ziemlich nahe an den Fuß des Berges drängte , auf welchem Gnadeck lag . » Ich habe dir hier etwas mitgebracht , das dir sofort jeden Baum drüben auf den Bergen und jeden Grashalm drunten auf den Wiesen vorführen wird , « fuhr er fort , indem er dem jungen Mädchen ein gutes Perspektiv vor die Augen hielt . Da rückten die gewaltigen , ernsten Bergkuppen herüber , deren granitene Gipfel hier und da den Wald zerrissen und auf ihrer äußersten Spitze eine einsame Tanne gen Himmel streckten . Hinter diesen nächsten Bergen türmten sich zahllose bewaldete Rücken im blauen Dämmerlichte , und aus einem fernen dunklen Thale , das nur wie ein tiefer Einschnitt zwei Bergriesen voneinander trennte , tauchten zwei schlanke gotische Türme bleich und nebelhaft empor . Ein kleiner Fluß , eine von Pappeln eingefaßte Chaussee und mehrere schmucke Dörfer belebten den Hintergrund des Thales ; vorn lag das Schloß Lindhof , umgeben von einem im großartigsten Stile angelegten Parke . Unter den Fenstern des Schlosses breitete sich ein weiter , kurzgeschorener Rasenplatz aus , auf dem kleine , wunderlich geformte Beete in feuriger Tulpenpracht hingestreut lagen . Elisabeths Blick schweifte darüber hinaus und tauchte erquickt in das geheimnisvolle Dunkel einer Allee prächtiger Linden , deren Kronen sich dicht über den braunen Stämmen wölbten , während einzelne schwere untere Zweige ihre breiten Blätter zwanglos auf den Kies niederhingen . Bisweilen streckte ein Schwan seinen weißen Hals neugierig in den Schatten der Allee , wobei seine Flügel einen blitzenden Regenschauer an die alten Stämme schleuderten – ein klarer kleiner See schmiegte sich dicht an ihre Füße ; er lag in diesem Augenblicke ziemlich melancholisch in seinem blumengeschmückten Ringe , denn ein bewölkter Himmel spiegelte sich in seiner Fläche . Hatte Elisabeth das Fernrohr bis dahin rastlos von einem Gegenstande zu dem andern wandern lassen , so suchte sie jetzt einen festen Halt und Stützpunkt für dasselbe ; denn sie hatte eine Entdeckung gemacht , die ihr Interesse in hohem Grade fesselte . Unter dem letzten Baume in der Allee stand ein Ruhebett . Eine junge Dame lag darauf ; sie hatte den reizenden Kopf zurückgelehnt , so daß ein Teil ihrer langen kastanienbraunen Locken über das Polster herabfiel . Unter dem Saume des langen weißen Musselinkleides , das die ganze Gestalt bis an den Hals züchtig verhüllte , erschienen zwei zarte Füßchen in goldglänzenden Saffianschuhen . Die Dame hielt zwischen den feinen , fast durchsichtig mageren Fingern einige Aurikeln , welche sie gedankenlos unaufhörlich hin und her drehte . Nur auf den schmalen Lippen lag ein schwacher Anflug von Rot , sonst war das Gesicht lilienweiß , man hätte sich versucht fühlen können , seine Lebenswärme zu bezweifeln , hätten nicht die blauen Augen in einem wundersamen Ausdrucke geleuchtet . Diese Augen mit diesem Ausdrucke aber waren auf das Gesicht eines Mannes gerichtet , der , gegenüber sitzend , ihr vorzulesen schien . Elisabeth konnte sein Gesicht nicht sehen , denn er wendete ihr den Rücken zu . Er schien jung , groß und schlank zu sein und hatte üppiges dunkelblondes Haar . » Ist die reizende Dame da drunten die Baronin Lessen ? « fragte Elisabeth gespannt . Der Oberförster nahm das Perspektiv . » Nein , « sagte er , » das ist Fräulein von Walde , die Schwester des Besitzers von Lindhof . Du nennst sie reizend , und ihr Kopf ist es auch , aber ihr Körper ist krüppelhaft – sie geht an der Krücke . « In diesem Augenblicke trat Frau Ferber hinzu . Auch sie sah durch das Glas und fand das Gesicht der jungen Dame überaus lieblich ; sie hob besonders den Ausdruck von Seelengüte hervor , der » die Züge verkläre « . » Ja , « sagte der Oberförster , » gut und mildthätig soll sie auch sein . Als sie hierher kam , war die ganze Umgegend ihres Lobes voll ... Aber auch darin hat sich das Blättchen sehr gewendet , seit die Baronin Lessen das Regiment im Hause führt ... Da kommt kein Almosen mehr unter die Armen , das nicht erst mit dem Muckertum auf der Goldwage gelegen hätte ... Wehe dem armen Bittsteller , er kriegt keinen Pfennig Unterstützung , und noch spitze Bemerkungen obendrein , wenn es sich nämlich herausstellt , daß er lieber beim Pfarrer in Lindhof die Predigt hört , als in der Schloßkapelle , wo ein Kandidat – der Hauslehrer der Baronin – allsonntäglich Feuer und Schwefel und alle erdenklichen Höllenqualen von der Kanzel herab auf die Häupter der Gottlosen schleudert . « » Solche Zwangsmaßregeln sind ein sehr übles Mittel , den christlichen Sinn im Volke wieder zu erwecken , « meinte Frau Ferber . » Sie schlagen ihn vollends tot und füttern dafür die Heuchelei groß , sage ich ! « rief zornig der Oberförster . » Schon deshalb , weil sie selbst das Beispiel dazu geben . Da lesen sie jederzeit in der Bibel von der christlichen Demut und werden doch von Tag zu Tag hochmütiger und anmaßender ; ja , sie wollen einem sogar weismachen , ihr hochgeborener Leib sei schon aus einem ganz andern Stoffe , als der ihrer niederen Brüder in Christo ... Wenn du aber Almosen gibst , so lasse deine linke Hand nicht wissen , was deine rechte thut , so steht geschrieben ... ein Huhn macht aber wahrlich nicht mehr Geschrei um sein eben gelegtes Ei , als diese Leute um ihre milden Thaten . Da gibt's Kollekten , Armenlotterien u. dergl. m. , wobei die ganze Umgegend unaufhörlich gebrandschatzt wird ; wenn es aber gilt , da zu nehmen , wo am meisten zu finden ist , im eigenen Geldbeutel , da hört der Spaß auf , wie man zu sagen pflegt ... Ich kenne Leute , die seit zwanzig Jahren milde Gaben anderer sorgfältig zusammensparen , um dereinst ein Armenhaus zu gründen . Diese vortrefflichen Leute beziehen ein jährliches Einkommen von ungefähr sechstausend Thalern . Zu verlangen , daß sie von diesem Lumpengelde hier und da ein Sümmchen abbrechen sollen zum Besten ihres löblichen Vorhabens , das darf einem beileibe nicht einfallen ... sie haben den Heiligenschein christlicher Aufopferung und Hingebung so billiger ... Herr Gott , wie mich das ärgert , wenn die Leute ihre Frömmigkeit so auf dem Präsentierteller herumtragen ! ... Da drunten in dem Hause , da bimmelt das Glöckchen so und so vielmal des Tages ; dann heißt es in der Umgegend – denn man hört 's weit und breit – › jetzt beten die im Schlosse ‹ . Das Kämmerlein , in welchem sie nach Gottes Gebot zu ihm reden sollen , ist ihnen zu klein und nicht nach ihrem Geschmacke ... Aber mir ist nicht allein das Gesperr ein Greuel ; nein , es ist auch geradezu gottheillos , so mir nichts dir nichts das Heiligste in die Berufsgeschäfte hineinzuziehen ... Jetzt frage ich , ob die Jungfer , die eben ein glühendes Plätteisen handhabt , oder der Koch , der einen heiklen Braten in der Röhre hat , sich freuen kann , wenn das Glöckchen mit einemmale anfängt ? « » Ja , in diese Art Andacht setze ich allerdings einige Zweifel , « sagte lächelnd Frau Ferber . » Oder ob der Gnädigen selbst – die vielleicht gerade einen interessanten Roman liest , oder eine neue Hofintrige im Kopfe hat – denn diese Geschichten lassen sich auch neben der Frömmigkeit ganz vortrefflich abwickeln – ein solcher Harrassprung vom Weltlichen in die Gottesverehrung wohl möglich ist ? ... Ja , ja , da laufen diese Leute ungesäubert und ungewaschen im Reiche Gottes aus und ein und denken auch noch wunder , wie sehr sich unser Herrgott freuen muß , daß sie ihm diese Ehre schenken . « » Und ist Herr von Walde mit den Reformen der Baronin Lessen einverstanden ? « fragte Frau Ferber . » Nach allem , was ich in der Beziehung von ihm höre , wahrscheinlicherweise nicht ; aber was hilft das ? ... Der durchstöbert vielleicht im Augenblicke die Pyramiden , um Licht in die alten Zeiten zu bringen ; daß seine Frau Kousine unterdes im christlichen Eifer das anrüchige Licht der Gegenwart nach Kräften mit auszublasen sucht , das kann er ja nicht wissen ... Er mag übrigens auch seinen ganz gehörigen Sparren haben ... Der Fürst von L. , dem er sehr nahe steht , soll in früheren Jahren lebhaft eine Verbindung zwischen ihm und einer jungen Dame am Hofe gewünscht haben ; er hat , dem Vernehmen nach , die Partie ausgeschlagen , weil das Fräulein nicht die erforderliche Anzahl Ahnen besitze . « » Nun , da kann es sich wohl ereignen , daß er einstmals eine schöne Fellahtochter , die ihre Ahnen noch unter den Mumien von Memphis suchen darf , als Herrin in das reizende Lindhof einführt ? « meinte lachend Elisabeth . » Ich glaube überhaupt nicht , daß er sich noch verheiratet , « entgegnete der Oberförster . » Er ist nicht mehr ganz jung , hängt viel zu sehr am Wanderleben und soll sich auch im ganzen nie was aus Weibsleuten gemacht haben ... Ich will gleich meinen kleinen Finger verwetten , daß der da drunten mit dem Buche in der Hand diese meine Ansicht teilt und Lindhof und alle die anderen schönen Besitzungen in Sachsen und Gott weiß wo noch im innersten Schrein seiner Seele als unverlierbares Eigentum betrachtet . « » Hat er Ansprüche daran ? « fragte Frau Ferber . » Freilich wohl . Er ist der Sohn der Baronin Lessen . Außer dieser Familie haben die Geschwister von Walde keine Verwandten in der ganzen weiten Welt . Die Baronin war zuerst mit einem Herrn von Hollfeld verheiratet ; aus dieser Ehe stammt der junge Mann da drunten , der durch den frühen Tod seines Vaters Herr von Odenberg , einer großen Besitzung jenseits L. , geworden ist . Die schöne Witwe hat damals gemeint , sie müsse eiligst ihre Freiheit benützen , um wenigstens noch eine Staffel auf der Leiter menschlicher Glückseligkeit und Vollkommenheit zu ersteigen ; diese Staffel aber konnte natürlicherweise nur der Freiherrnrang sein , und deshalb wurde Frau von Hollfeld eines schönen Tages die Gemahlin des Baron Lessen . Sein Name war zwar etwas anrüchig , es klebten einige Thatsachen daran , die man in niedrigerer Sphäre spießbürgerlicherweise unehrenhaft nennt , aber das schadete nichts , er war ja auch Kammerherr , der Schlüssel am Rockknopfe schließt das Hofparadies auf , und davor müssen sich selbst die gewaltigen Schlüssel des heiligen Petrus verstecken , trotz aller Verheißungen , die sie einst wahrmachen sollen . Der Baron machte übrigens nach zehnjähriger Ehe seine Gemahlin abermals zur Witwe und hinterließ ihr , außer einer kleinen Tochter , eine enorme Schuldenlast ... Es mag ihr nun freilich gefallen , in Lindhof unumschränkt die Herrin spielen zu dürfen , denn wie ich höre , hat sie auf dem Gute ihres Sohnes weder Sitz noch Stimme . « Eine Magd aus dem Forsthause unterbrach hier das Gespräch , indem sie , mit Scheuereimer und Kehrbesen bewaffnet , durch unzweideutige Bewegungen zu erkennen gab , daß jetzt ihr Herrscheramt hier beginne . Das Fernrohr wurde eiligst zusammengeschraubt , und während der Oberförster daran ging , die Fenstersimse an der Gartenseite von den Umarmungen der Schlingpflanzen vollends zu befreien , nahmen Frau Ferber und Elisabeth die inmitten der Zimmer zusammengestellten Möbel in Angriff , um deren ursprünglichen Glanz mittels Staubtuch und Bürste wiederherzustellen . 6 Pfingsten war vorüber . Die Glocken , die ehernen , hatten sich ins Stilleben zurückgezogen und blickten droben schwarz und ganz unbeweglich durch die Schalllöcher , als seien sie die Särge des melodischen Lebens , das während der Feiertage die Türme umbraust hatte . Die bunten Glöckchen im Walde aber , lose auf grünem Stengel hängend und ihres feierlichen Amtes wohl bewußt , konnten das Fest nicht vergessen . Sie waren wacker mit eingefallen , wenn es durch die Lüfte harmonisch und erhaben gezittert hatte , und läuteten nun auch unermüdlich weiter bei jedem Windhauche , der durch das Unterholz strich . Es kümmerte sie ganz und gar nicht , daß der Holzhacker , Sonntagsstaat und Festmiene zu Hause lassend , nun mit grober Sohle an ihnen hinstreifte und ein rauhes Lied vor sich hin pfiff . Ließ sich doch der Wald auch nicht irre machen ; es zog und wehte geheimnisvoll durch seine Baumwipfel , wie ein von tausend Stimmen geflüstertes Gebet , und die Vögel sangen in den Morgen- und Abendstunden nach wie vor ihre Hymne zur Ehre Gottes . Droben im alten Schlosse Gnadeck harmonierte die nachhaltige Festtagsstimmung mit der des Waldes , obgleich Ferber seine Geschäfte übernommen und außerdem die unvermeidlichen Antrittsbesuche in L. abzumachen hatte . Frau Ferber und Elisabeth hatten sich durch Sabine bedeutende Aufträge eines Weißwarengeschäfts in L. zu verschaffen gewußt und waren nebenbei im Garten beschäftigt , der in diesem Jahre noch nach Kräften seinen Tribut abgeben sollte . Daß trotz dieser Rührigkeit immer noch ein sonntäglicher Hauch durch die Räume des Zwischenbaues wehte , lag in der gehobenen Stimmung der Familie selbst , die den Einfluß eines glücklichen Wendepunktes in ihrem Leben ungeschwächt fortempfand und sich jeden Augenblick angeregt fühlte , das Sonst mit dem Jetzt zu vergleichen ; das Waldleben , so ungewohnt und neu , wirkte fast berauschend auf die Gemüter . Die zärtlichen Eltern hatten Elisabeth das Zimmer mit den Gobelins angewiesen , weil es die schönste Aussicht bot und gleich bei der ersten Musterung des Zwischenbaues von dem jungen Mädchen für das hübscheste und gemütlichste erklärt worden war . Die unheimliche Thür , die nach dem großen Flügel führte , hatte man wieder zugemauert ; die hohen Eichenflügel mit den Messingschlössern und Riegeln bedeckte das Mauerwerk und ließ nicht ahnen , daß jenseits die Wüstenei begann . Den Hintergrund des Zimmers füllte eines der neu hergerichteten Himmelbetten aus ; in der Nähe des Fensters befand sich der altertümliche Schreibtisch , außer einem altmodischen Porzellanschreibzeuge und den nötigen Schreibutensilien auch noch zwei hübsche kleine Vasen voll frischer Blumen auf seiner Platte tragend , und draußen auf dem breiten Steinsims , von der Krone eines Syringenbusches schmeichelnd umspielt , stand der gelbe Messingkäfig , in welchem Hänschen , der Kanarienvogel , mit dem ganzen Neide einer verzogenen Bravoursängerin seine schmetternden Triller vor denen der Waldvirtuosen geltend zu machen suchte . Als das Zimmer eingerichtet wurde und Frau Ferber alle Augenblicke einen neuen Gegenstand brachte , um den kleinen Raum auch recht anmutend auszuschmücken , da trat der Vater endlich an die längste Wand , breitete die Arme darüber und verbannte den kleinen Divan , der eben hereingeschoben werden sollte , wieder in das Nebenzimmer . » Halt , diesen Platz reserviere ich mir ! « rief er lachend . Er holte eine große Konsole von dunklem Holze und befestigte sie an der Wand , die gerade an dieser Stelle eine sehr breite Holzleiste zeigte . » Hier , « fuhr er fort , indem er eine Büste Beethovens darauf stellte , » hier soll er , der Einzige , ganz allein thronen ! « » Aber das sieht ja abscheulich aus , « meinte Frau Ferber . » Na , warte nur , morgen oder übermorgen wirst du dich überzeugen , daß mein Arrangement nicht so sehr zu verwerfen ist , und daß für Elisabeth noch ein ganz besonderer Vorteil aus den vorgefundenen Möbeln entspringt . « Am folgenden Tage , es war der Pfingstabend , fuhr er mit dem Oberförster nach der Stadt , und als er gegen Abend zurückkehrte , kam er nicht durch das Mauerpförtchen . Das große Thor wurde geöffnet , und vier starke Männer trugen einen großen , glänzenden Gegenstand durch die Ruinen . Elisabeth stand gerade in der Nähe des Küchenfensters und war – zum erstenmal in der neuen Wohnung – mit der Zubereitung des Abendbrotes beschäftigt , als die Männer mit ihrer Last den Garten betraten . Sie schrie laut auf ; denn das war ja ein Klavier , ein schönes , tafelförmiges Instrument , das ohne weiteres in den Zwischenbau hineingetragen und droben im Gobelinzimmer unter Beethovens Büste gestellt wurde . Elisabeth weinte und lachte in einem Atem und schlang jubelnd die Arme um den Hals des Vaters , der sein einziges kleines Kapital – den Erlös aus den Möbeln in B. – hingegeben hatte , um ihr das , was die Wonne ihres Lebens war , wieder zu verschaffen . Dann aber öffnete sie das Instrument , und gleich darauf schlugen mächtige Akkorde an die engen Wände , die so lange das Schweigen des Todes umfangen hatte . Der Oberförster war auch mitgekommen , denn er wollte Elisabeths Freude und Ueberraschung sehen . Er lehnte jetzt stumm an der Wand , als die wunderbaren Melodieen unter den Fingern des jungen Mädchens hervorrauschten . In diesem Augenblicke sprach ja die glühende , mächtige Seele , die in der lieblichen jungen Hülle wohnte , zum erstenmal in ihrer ganzen Gewalt zu ihm . Dieser feingemeißelte Kopf , wie wunderbar beseelt und gedankenschwer erhob er sich jetzt über der zarten Gestalt , welche der ganze Zauber des Mädchenhaften und Tiefsinnigen umwob ! Bis dahin waren ja nur Neckereien und Witzworte zwischen ihr und dem Onkel hin und her geflogen . Er nannte sie der Leichtigkeit ihrer Bewegungen und ihrer Gedankenschnelle halber , die nie um eine witzige Replik verlegen sein ließ , oft seinen Schmetterling , am meisten aber » Goldelse « , indem er behauptete , ihr Haar sei so golden , daß er es durch den dichtesten Wald blitzen und schimmern sähe , wie einst jung Roland das Kleinod im Schilde des Riesen . Als Elisabeth geendet , legte sie beide Hände über das Klavier , als wollte sie den neuen Besitz umarmen , und lächelte glückselig vor sich hin ; der Oberförster aber näherte sich ihr leise , küßte sie auf die Stirn und ging schweigend hinaus . Von diesem Momente an kam er jeden Abend hinauf ins alte Schloß . Sobald die letzten Streiflichter der Sonne auf den Baumgipfeln erloschen waren , mußte sich Elisabeth an das Klavier setzen . Die kleine Familie nahm Platz in der Nische des weiten Bogenfensters und versenkte sich in das Gedankenmeer des Meisters , dessen Bild von der Wand herab ernst auf die begeisterte junge Spielerin schaute . Dann dachte Ferber wohl daran , wie sich Elisabeth das Leben im Walde ausgemalt hatte , als der Brief vom Försteronkel in B. eingelaufen war . Elfen und Kobolde erschienen freilich nicht ; wohl aber zogen die Geister , die der gewaltige Tondichter in die Töne gebannt hat , entfesselt auf dem Musikstrome hinaus und hauchten in die feierliche Stille jenes geheimnisvolle Leben , dessen Wonnen und Leiden , wenn auch durch jede empfindende Menschenbrust flutend , auszusprechen und zu verkörpern doch nur dem Genius beschieden ist . Eines Nachmittags saß die Familie Ferber beim Kaffee . Der Oberförster war auch heraufgekommen , hatte Zeitung und Pfeife mitgebracht und ließ es sich gern gefallen , daß ihm Elisabeth eine Tasse des dampfenden Trankes einschenkte . Er wollte eben einen interessanten Artikel vorlesen , als draußen am Mauerpförtchen geläutet wurde . Zum Erstaunen aller trat , nachdem der kleine Ernst geöffnet hatte , ein Bedienter vom Schlosse zu Lindhof ein und überreichte Elisabeth einen Brief . Er war von der Baronin Lessen . Sie begann damit , dem jungen Mädchen sehr viel Schmeichelhaftes zu sagen über sein vortreffliches Klavierspiel , das sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald seit einigen Abenden belauscht haben wollte , und knüpfte daran die Frage , ob Fräulein Ferber geneigt sei , natürlich unter vorher festzustellenden Bedingungen , wöchentlich einigemal mit Fräulein von Walde vierhändig zu spielen . Der Brief war in sehr höflichem Tone gehalten ; gleichwohl warf ihn der Oberförster , nachdem er ihn zum zweitenmal durchgelesen , unmutig auf den Tisch und sagte , Elisabeth scharf anblickend : » Du gehst nicht darauf ein , wie ich denke ? « » Und warum nicht , lieber Karl ? « fragte Ferber an ihrer Stelle . » Weil Elisabeth nun und nimmermehr in den Kram da drunten paßt ! « rief ziemlich heftig der Oberförster . » Willst du das , was du sorgfältig aufgebaut hast , unter giftigem Mehltau oder Reif vergehen sehen – nun , so thue es . « » Ich habe allerdings , « entgegnete Ferber ruhig , » bis jetzt die Seele meines Kindes allein in den Händen gehabt und bin , wie es meine Pflicht war , eifrig besorgt gewesen , jeden Keim zu wecken , jedes Pflänzchen , das ausbiegen wollte , zu stützen . Nichtsdestoweniger ist es mir nie eingefallen , eine kraftlose Treibhauspflanze erziehen zu wollen , und wehe mir und ihr , wenn das , was ich seit achtzehn Jahren unermüdlich gehegt und gepflegt habe , wurzellos im Boden hinge , um von dem ersten Windhauche des Lebens hinweggerissen zu werden ... Ich habe meine Tochter für das Leben erzogen ; denn sie wird den Kampf mit demselben so gut beginnen müssen , wie jedes andere Menschenkind auch . Und wenn ich heute meine Augen schließe , so muß sie das Steuer selbst ergreifen können , das ich bisher für sie geführt habe ... Sind die Leute drunten im Schlosse in der That kein Umgang für sie , nun , dann wird sich das sehr bald herausstellen . Entweder es fühlen beide Teile sofort , daß sie nicht für einander passen , und das Verhältnis löst sich von selbst wieder , oder aber Elisabeth geht an dem vorüber , was ihren Grundsätzen widerspricht , und es bleibt deshalb nicht an ihr haften ... Du gehörst ja selbst zu denen , die nie einer Gefahr ausweichen , sondern stets ihre Kraft , ihren Wert an ihr erproben . « » Alle Wetter , dafür bin ich auch ein Mann , der für sich selbst einstehen muß ! « » Weißt du denn , ob Elisabeth in späteren Jahren je eine andere Stütze haben wird , als sich selbst , je eine fremde Kraft , die die Verantwortlichkeit für sie mit übernimmt ? « Der Oberförster warf einen schnellen Blick auf das junge Mädchen , das seine Augen feurig auf den Vater geheftet hielt . Er sprach ihr aus der Seele , der für sie der Inbegriff des Unfehlbaren und der Weisheit war – das lag sprechend in ihren Zügen . » Vater , « sagte sie , » du sollst sehen , daß du dich nicht geirrt hast , daß ich nicht schwach bin ... Ich habe von jeher das abgenutzte Bild vom Epheu und der Eiche nicht leiden mögen und werde es am allerwenigsten an mir wahr machen ... Lasse mich getrost ins Schloß hinuntergehen , Onkelchen , « wandte sie sich schelmisch lächelnd an den Oberförster , dem die grimmige Falte in möglichster Entwickelung zwischen den Augenbrauen erschienen war . » Sind die Bewohner herzlos , ei , so setzt das noch lange nicht voraus , daß ich sofort zum Kannibalen werden und mein eigenes Herz unter dem Mühlsteine der Grausamkeit zermalmen muß . Wollen sie mich treten und verletzen durch Hochmut , dann setze ich mich innerlich auf einen so hohen Standpunkt , daß alle Pfeile umsonst nach mir verschossen werden , und sind sie Heuchler , nun , so sehe ich der Wahrheit um so fester ins sonnige Angesicht und weiß dann desto klarer , wie häßlich jene schwarzen Masken sind . « » Schön gesagt , unvergleichliche Else , und wäre auch wunderleicht durchzuführen , wenn nur die Leute die Freundlichkeit haben wollten , ihre Masken so handgreiflich zur Schau zu tragen ... Wirst dich schon wundern , wenn du eines Tages Spreu da findest , wo du so und so lange auf Gold geschworen hast . « » Aber , lieber Onkel , ich werde doch nicht so thöricht sein , mich lediglich Illusionen hinzugeben ... Bedenke nur , wie viel Trübes in meine Kinderzeit gefallen ist ; und das ist durchaus nicht so unverstanden an mir vorübergegangen ... Allein , ein wenig Vertrauen auf seinen guten Stern und auf sich selbst muß das Menschenkind auch haben ; und deshalb verzweifle ich noch gar lange nicht , selbst wenn ich gleich beim Eintritt in die fremde Welt in einen Abgrund von ägyptischer Finsternis und greulicher Molche fallen sollte ... Siehst du , liebes Onkelchen , das hast du nun von deinem Eifer für mein Seelenheil – deine Tasse sieht aus , als solle eine Eisbahn darauf eröffnet werden und dein unglücklicher Meerschaumkopf liegt in den letzten Zügen . « Der Oberförster lachte , wenn auch , wie es schien , wider Willen . Dann aber sagte er zu Elisabeth , die geschäftig seine Tasse frisch füllte und einen brennenden Fidibus herbeibrachte , » du brauchst nicht etwa zu denken , daß ich all mein Pulver verschossen habe , wenn ich sage : › na meinetwegen , da gehe hin und versuch 's ‹ . – Ich will mir lediglich die Genugthuung verschaffen , eines schönen Tages das heldenmütige Küchlein eilig und verscheucht unter den schützenden Flügel des Daheim kriechen zu sehen . « » Ach ! « lachte Frau Ferber , » da kannst du warten , du kennst unsern kleinen Eisenkopf schlecht ! ... Aber laßt uns einen Entschluß fassen . Meiner Ansicht nach wäre es passend , wenn Elisabeth sich morgen den Damen vorstellte . « – Tags darauf , und zwar nachmittags gegen fünf Uhr , stieg Elisabeth den Berg hinab . Ein schön gehaltener Weg führte durch den Wald , der in dem Parke gewissermaßen aufging . Kein Gitter trennte den ersten , herrlich gepflegten Rasenplan , der mit seinen feinen , elastisch auf und ab wehenden Gräsern wie ein duftiges grünes Gefieder dalag , von dem mit knorrigen Wurzeln bedeckten Waldboden . Elisabeth hatte ein frischgewaschenes , helles Musselinkleid angezogen , und ein weißer , runder Strohhut bog sich leicht über ihre Stirn . Der Vater gab ihr das Geleite bis an die erste Wiese , dann schritt sie allein mutig vorwärts . Keine menschliche Seele begegnete ihr auf dem langen Wege durch die reizenden Anlagen ; ja , es schien , als flüsterte es hier im Laube der Bosketts tiefer , als droben im Walde , und als hüteten sich selbst die Vögel , allzu laut zu werden . Sie erschrak vor dem Knirschen des Sandes unter ihren Füßen , als sie in die Nähe des Schlosses kam , und wunderte sich über sich selbst , wie diese bängliche Stille sie mit einemmal so verzagt mache . Endlich hatte sie den Hauptflügel erreicht und erblickte das erste Menschenangesicht . Es war ein Bedienter , der in einem imposanten Vestibüle geschäftig , aber möglichst geräuschlos hantierte . Auf ihre Bitte , sie bei der Baronin zu melden , schlüpfte er die breite , gegenüberliegende Treppe hinauf , an deren Fuß zwei hohe Statuen standen , die ihre weißen Glieder halb unter dem dunklen Laube mehrerer Orangenbäume versteckten . Sehr bald zurückkehrend , meldete er , daß sie willkommen sei , und eilte flüchtigen Fußes wieder voraus , kaum mit der Fußspitze die Stufen berührend . Beklommenen Herzens folgte ihm Elisabeth . Nicht der sie umgebende Glanz war es , der sie niederdrückte , nein , es war das Gefühl des Alleinstehens in dieser neuen , ungekannten Sphäre . Der Diener führte sie durch einen langen Korridor , an den sich mehrere Zimmer anschlossen , die , außerordentlich reich und elegant ausgestattet , jene tausend Kleinigkeiten in sich schlossen , welche ein unbefangenes und unverwöhntes Menschenkind auf die Vermutung bringen müssen , es sei in eine Warenausstellung geraten . Der Bediente öffnete leise und behutsam eine Flügelthür und ließ das junge Mädchen eintreten . In der Nähe des Fensters , Elisabeth gegenüber , lag auf einem Ruhebette eine dem Anscheine nach sehr leidende Dame . Ihr Kopf ruhte auf einem weißen Kissen , warme Decken verhüllten fast die ganze Gestalt , die jedoch – so viel ließ sich trotz der Umhüllung beurteilen – von beträchtlichem Embonpoint sein mußte . In der Hand hielt sie ein Flakon . Die Dame richtete sich ein wenig in die Höhe , so daß Elisabeth vollständig ihr Gesicht sehen konnte ; es war voll und blaß und erschien im ersten Augenblicke nicht unangenehm . Bei schärferer Beobachtung jedoch mußte man finden , daß die großen blauen Augen , von weißblonden Wimpern umrahmt und unter ebenso hellen , in die Höhe gezogenen Brauen liegend , kalt wie Gletschereis blickten , ein Ausdruck , den ein Zug von Hochmut um Lippen und Nasenflügel und ein stark hervortretendes , breites Kinn keineswegs milderte . » Ach , es ist sehr freundlich von Ihnen , mein Fräulein , daß Sie kommen ! « rief die Baronin mit schwacher , aber trotzdem hart und spröde klingender Stimme , indem sie mittels einer Handbewegung nach einem ihr nahe stehenden Fauteuil deutete und das sich höflich verbeugende junge Mädchen aufforderte , sich zu setzen . » Ich habe , « fuhr sie fort , » meine Kousine bitten lassen , sich bei mir mit Ihnen zu verständigen , da ich leider zu unwohl bin , Sie hinüberführen zu können . « Der Empfang war jedenfalls höflich und zuvorkommend , obgleich sich in Ton und Bewegung der Dame eine bedeutende Dosis Herablassung nicht verkennen ließ . Elisabeth setzte sich und wollte eben auf die Frage , wie es ihr in Thüringen gefalle , antworten , als die Thür heftig aufgerissen wurde . Ein kleines , ungefähr achtjähriges Mädchen mit fliegenden , etwas rötlichen Locken stürzte herein , in ihren Armen einen niedlichen , zappelnden und quiekenden Hund an sich drückend . » Ali ist so unartig , Mama , er will gar nicht bei mir bleiben ! « rief die Kleine fast atemlos , indem sie den Hund auf den Teppich warf . » Wahrscheinlich hast du das kleine Tier wieder einmal zu arg geneckt , mein Kind , « sagte die Mama . » Ich kann dich übrigens hier nicht brauchen , Bella ; du machst zu argen Lärm , und ich habe Kopfweh ... Geh hinüber auf dein Zimmer . « » Ach , dort ist's so langweilig . Miß Mertens hat mir verboten , mit Ali zu spielen , immer soll ich die alten Fabeln lernen , die ich gar nicht leiden mag . « » Nun , so bleibe hier , aber verhalte dich ruhig . « Die Kleine strich dicht an Elisabeth vorüber , wobei sie deren Anzug von oben bis unten musterte , und stieg auf einen gestickten Fußschemel neben der Spiegelkonsole , um eine Vase voll frischer Blumen besser erreichen zu können . Im Nu verwandelte sich das reizend geordnete Boukett in ein wildes Chaos unter den kleinen Händen , die sich eifrig bemühten , einzelne Blumen in die feingestickten Löcher der Vorhangsbordüre zu placieren . Bei diesem Arrangement liefen dicke Tropfen der trüben Lache , in der die Blumen gestanden , von den Stielen auf Elisabeths Kleid , so daß diese sich genötigt sah , weiter zu rücken , denn es hatte nicht den Anschein , als ob die kleine Vandalin selbst oder ein Verbot der Mama dem Amüsement so bald ein Ende machen würde . Elisabeth hatte eben nur so viel Zeit gehabt , zu retirieren und auf die wiederholte Frage der Baronin zu antworten , daß sie sich in Thüringen bereits vollkommen heimisch und sehr glücklich fühle , als die Dame sich ziemlich rasch aus ihrer liegenden Stellung emporrichtete und mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen nach einer Tapetenthür winkte , die sich seitwärts geräuschlos aufthat . Auf ihrer Schwelle erschienen die zwei jungen Leute , die Elisabeth neulich durch das Fernrohr beobachtet hatte ; aber wie ganz anders und seltsam sahen sie jetzt nebeneinander aus ! Herr von Hollfeld , eine fast übergroße , schlanke Gestalt , mußte sich tief auf die Seite neigen , um der kleinen Hand eine Stütze sein zu können , die auf seinem Arme lag . Jenes sylphenartige Wesen , das damals auf dem Ruhebette gelegen , war eine gänzlich verschobene Kindergestalt . Der auch in diesem Augenblicke vollendet schöne Kopf steckte tief in den Schultern und die Krücke in der rechten Hand zeigte , daß auch in den Füßen ein Mißverhältnis sein müsse . » Verzeihe , teure Helene , « rief die Baronin der Eintretenden entgegen , » daß ich dich herüberbemühen mußte ; allein du siehst , ich bin wieder einmal der arme , geplagte Lazarus , an dem du deine Engelsgüte ja stets übst ... Fräulein Ferber , « deutete sie vorstellend auf das junge Mädchen , das sich errötend erhob , » hat die Freundlichkeit gehabt , auf mein gestriges Billet selbst zu kommen . « » Und dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar ! « wandte sich die junge Dame mit einem liebreizenden Lächeln an Elisabeth und reichte ihr die Hand . Ihr Auge glitt dabei wie im bewundernden Erstaunen über die Erscheinung des jungen Mädchens und blieb dann in den blonden Flechten haften , die unter dem Hute hervorquollen . » Ach ja , « sagte sie , » Ihr schönes Goldhaar habe ich schon gesehen , und zwar gestern auf einem Spaziergange durch den Wald – Sie bogen sich über eine Mauer droben im alten Schlosse . « Elisabeth errötete noch tiefer . » Aber eben weil Sie dort waren , « fuhr die junge Dame fort , » kam ich um den Genuß , um dessenwillen ich eigentlich die Anhöhe hinaufgeklettert war – lediglich um Sie noch einmal , wie am Abend zuvor , spielen zu hören ... So jung und kindlich , und ein so tiefes Verständnis der klassischen Musik , wie ist das möglich ! ... Sie werden mich sehr glücklich machen , wenn Sie öfter mit mir spielen wollen . « Es glitt etwas wie Mißbilligung über das Gesicht der Baronin , und einem feinen Beobachter wäre auch wahrscheinlicherweise das leise , spöttische Lächeln in den Mundwinkeln nicht entgangen ; für Elisabeth aber war es vollständig verloren , denn ihr ganzes Interesse wandte sich der unglücklichen jungen Dame zu , deren weiche Silberstimme unmittelbar aus dem Herzen zu quellen schien . Herr von Hollfeld hatte unterdes einen Fauteuil für Fräulein von Walde an das Ruhebett gerückt ; dann empfahl er sich , ohne ein Wort gesprochen zu haben . Weil er aber durch die Thür das Zimmer verließ , die Elisabeth gerade gegenüberlag , so konnte ihr nicht entgehen , daß sein letzter langer Blick auf ihr ruhte , ehe er die Thür langsam schloß . Sie erschrak förmlich darüber , denn die Art und Weise , wie er sie angesehen , war zu eigentümlich gewesen , so daß sie im stillen ihren Anzug prüfte , ob er wohl am Ende gar zu auffallend sei . Fräulein von Walde unterbrach diese Musterung mit der Frage , welchem Lehrer Elisabeth ihr vollendetes Spiel verdanke , worauf letztere erzählte , daß die Mutter sie ganz allein ausgebildet , wie überhaupt die Eltern sie in allem , was sie habe lernen müssen , selbst unterrichtet hätten . Während dieser Mitteilung hatte sich Bella auf den Teppich gekauert und spielte mit dem Hunde . Es würde ein allerliebstes Bild gewesen sein , hätten nicht das Gewinsel und die heftigen Bewegungen des kleinen Tieres bewiesen , daß es gequält werde . Nach jedem lauteren Schrei des Hundes , bei dem Fräulein von Walde stets erschreckt zusammenfuhr , rief die Baronin wie mechanisch : » Laß doch die Possen , Bella ! « Endlich aber , als das Tier in ein schmerzliches Geheul ausbrach , hob sie drohend den Finger gegen die kleine Unartige und sagte : » Ich werde Miß Mertens rufen müssen . « » Ach , « entgegnete die Kleine geringschätzend , » die darf sich doch nicht unterstehen , mich zu strafen ; du hast es ihr ja selbst streng verboten . « In dem Augenblicke wurde die Tapetenthür leise aufgemacht , und ein blasses , älteres Frauenzimmer trat ein . Indem sie sich demütig vor den Damen verbeugte , sagte sie schüchtern : » Der Herr Kandidat wartet auf Bella . « » Ich will heute aber keine Stunde ! « rief die Kleine , während sie ein Wollknäuel vom Tische nahm und dasselbe nach der Eingetretenen warf . » Ja , mein Kind , das muß sein , « sagte die Baronin . » Gehe mit Miß Mertens , sei hübsch artig , Bella . « Bella setzte sich , als ginge sie die Sache so wenig an , als den hinter das Sofa geflüchteten Ali , in ein Fauteuil und zog die Füße in die Höhe . Die Gouvernante schien sich ihr nähern zu wollen , aber ein zorniger Blick der Baronin wies sie an die Thür zurück . Wahrscheinlicherweise würde diese widerwärtige Szene noch lange gespielt haben , hätte nicht die Baronin Hilfstruppen in Gestalt von Bonbons aufmarschieren lassen . Die Kleine verließ , nachdem sie Mund und Taschen vollgestopft hatte , ihren Sitz , und während sie die Hand der Gouvernante , die sie führen wollte , zurückstieß , lief sie hinaus . Elisabeth saß starr vor Erstaunen . Auch die sanften Züge des Fräuleins von Walde drückten unverkennbare Mißbilligung aus , aber sie sagte kein Wort . Die Baronin sank in die Kissen zurück . » Diese Gouvernanten rauben mir Jahre vom Leben ! « seufzte sie . » Ob diese Miß Mertens nur einmal lernen wird , Bella zu behandeln , wie es dies erregbare Kind mit seinen empfindlichen Nerven verlangt ... Da wird keine Rücksicht auf Lebensstellung , Temperament und Körperkonstitution genommen . Alles kommt unter eine Schablone , gleichviel , ob Krämer- oder Pairstochter , ob zartbesaitete Wesen oder robuste Tagelöhnernaturen ... Miß Mertens ist ein widerwärtiger pedantischer Schulmeister . Dabei ist ihr Englisch abscheulich ; Gott weiß , aus welchem Winkel Englands sie stammen mag ! « » Aber das kann ich durchaus nicht finden , liebe Amalie , « sagte Fräulein von Walde ; ihre Stimme hatte dabei etwas unendlich Begütigendes . » Ach ja , das sagst du nun wieder in deiner Engelsgüte ; aber obgleich ich selbst nicht Englisch verstehe , so höre ich doch auf der Stelle , wenn du , liebes Herz , mit ihr sprichst , wie ungleich eleganter deine Aussprache ist . « Elisabeth bezweifelte innerlich die Kompetenz dieses Urteils , und Fräulein von Walde machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand , wobei sie leicht errötete . Die Baronin aber fuhr unbehindert fort : » Bella scheint dies auch recht gut zu fühlen . Sie schweigt hartnäckig , wenn ihre Gouvernante sie englisch anredet ; ich verdenke es ihr keinen Augenblick , muß mich aber immer unbeschreiblich ärgern , wenn diese Person auch noch behauptet , es sei Eigensinn und Bosheit von dem Kinde . « Die anfänglich so schwache und angegriffene Stimme der Baronin war unter dem Ergusse des Verdrusses merkwürdig kräftig geworden . Sie schien dies plötzlich selbst inne zu werden und schloß ermüdet die Augen . » O mein Gott , « seufzte sie , » da spielen mir nun wieder einmal meine unglücklichen Nerven übel mit ... Ich werde heftig , wo ich langmütig sein sollte ; diese Verdrießlichkeiten sind doch wahres Gift für Leib und Seele . « » Ich würde dir raten , zuzeiten , wo du so angegriffen bist , wie heute , Bella unter der Obhut des Herrn Möhring und der Miß Mertens getrost zu lassen . Ich bin überzeugt , daß sie da ganz gut aufgehoben ist ... Wenn ich auch deine rührende Angst und Sorge um das Kind vollkommen begreife , so muß ich doch zu deiner Beruhigung sagen , daß Miß Mertens viel zu sanft und gebildet ist , um irgend etwas zu thun , was nicht zum Heile der Kleinen wäre ... Du siehst ganz erschöpft aus , « fügte sie teilnehmend hinzu . » Es wird gut sein , wenn ich dich jetzt allein lasse . Fräulein Ferber wird gewiß die Güte haben , mich bis an mein Zimmer zu führen . « Damit erhob sie sich , bog sich über die Baronin und hauchte einen Kuß auf deren Wange . Dann legte sie ihre Hand auf Elisabeths Arm , die von der Baronin mittels einer sehr gnädig aussehenden Handbewegung verabschiedet wurde , und verließ das Zimmer . Auf der langsamen Wanderung durch verschiedene Korridors sagte sie , es werde vorzüglich für ihren Bruder , der jetzt so fern von ihr lebe , eine große Freude sein , wenn sie die Musik wieder aufnehme . Er habe früher stundenlang in einer dunklen Ecke sitzen und ihr zuhören können , bis eine erhöhte Nervenreizbarkeit sie gezwungen habe , auf eine lange Zeit der geliebten Musik zu entsagen . Jetzt fühle sie sich wieder viel kräftiger , und auch der Arzt habe seine Zustimmung gegeben – nun wolle sie fleißig üben , um den Bruder zu überraschen , wenn er dereinst zurückkehre . Elisabeth eilte wie geflügelt durch den einsamen Park und den Weg hinauf . Droben auf der Waldblöße vor dem offenen Mauerpförtchen gingen die Eltern auf und ab , und der kleine Ernst sprang ihr schon von weitem entgegen . Wie heimisch und traut erschien ihr alles hier oben . Die Ihrigen begrüßten sie , als sei sie schmerzlich vermißt worden ; droben am Fenster schmetterte und jubelte Hänschen , daß es eine wahre Lust war , und hinter den zwei sich gegenüberliegenden offenen Thüren der großen , dämmerstillen Halle glänzte der grüne Garten doppelt sonnig und zeigte im Hintergrunde die Lindengruppe über dem kühlen Brunnen , in dessen Nähe ein weißgedeckter Tisch mit dem Abendbrote stand . Das ganze italienische Schloß mit all seiner Pracht , seiner vornehmen Atmosphäre und seiner fast beängstigenden Stille , die nur durch den Lärm eines ungebärdigen , verzogenen Kindes unterbrochen worden war , versank hinter ihr wie ein Traum , den man gern abschüttelt ; und als sie die Reihenfolge ihrer Eindrücke den Eltern mitgeteilt hatte , da schloß sie mit den Worten : » Deiner Lehre nach , Väterchen , dürfte ich mir heute noch kein festes Urteil über die neue Bekanntschaft bilden ; denn du verwirfst den ersten Eindruck als etwas Trügliches , das uns leicht ungerecht macht . Aber was kann ich für meine widerspenstige Phantasie ? So oft ich an die beiden Damen denke , sehe ich eine junge , einsame Hängebirke , die einer vom Sturme getragenen Wetterwolke ihre elastischen Zweige willenlos preisgibt . « 7 Von nun an ging Elisabeth zweimal wöchentlich hinunter nach Lindhof . Die Baronin Lessen hatte am Tage nach ihrer Aufwartung mittels eines höflichen Billets die Stunden angeordnet und zugleich ein sehr anständiges Honorar für Elisabeths Bemühung festgestellt . Diese Stunden wurden für das junge Mädchen sehr bald eine Quelle hoher Genüsse . Helene von Walde hatte zwar durch jahrelangen Mangel an Uebung in Hinsicht auf technische Fertigkeit sehr verloren und konnte sich mit Elisabeth nicht messen ; aber sie spielte mit tiefer Empfindung , hatte einen durchaus geläuterten Geschmack und besaß nicht im entferntesten jene häßliche Angewohnheit der meisten Dilettanten , nämlich , das gering zu schätzen , was über ihren Horizont geht . Die Baronin Lessen war nie zugegen , wenn musiziert wurde , und deshalb gewannen auch die Erholungspausen nach und nach einen eigentümlichen Reiz für Elisabeth . Ein Bedienter brachte dann gewöhnlich einige kleine Erfrischungen ; Helene lehnte sich in ihren Fauteuil zurück , und Elisabeth setzte sich auf einen Fußschemel zu ihren Füßen , entzückt der flötenartigen , melancholischen Stimme lauschend , mit der das arme , mißgestalte Wesen aus seiner Vergangenheit erzählte . Dann trat jedesmal das Bild des fernen Bruders in den Vordergrund . Sie konnte nicht genug rühmen , wie er für sie sorge und denke , wie er , obgleich bedeutend älter und sehr ernst , sich bemühe , auf ihre kleinen Liebhabereien und Eigenheiten einzugehen . Sie erzählte ferner , daß er die Besitzung Lindhof einzig aus dem Grunde gekauft , weil die Schwester bei einem längeren Besuche am Hofe zu L. gefunden habe , die Thüringer Luft wirke ganz besonders wohlthätig auf ihren leidenden Zustand . Aus allem ging hervor , daß er Helene zärtlich lieben müsse . Eines Nachmittags , als ungewöhnlich lange musiziert worden war , trat ein Bedienter ein und meldete Besuch . » Bleiben Sie heute abend bei mir zum Thee , « sagte Fräulein von Walde zu Elisabeth . » Mein Arzt aus L. ist gekommen , und es haben sich auch einige Damen aus der Nachbarschaft melden lassen . Ich werde jemand hinaufschicken zu Ihrer Mama , damit sie sich über Ihr Ausbleiben nicht ängstigt . Mein Zwiegespräch mit dem Doktor wird nicht lange dauern , bald bin ich wieder bei Ihnen . « Damit ging sie hinaus . Es waren kaum zehn Minuten vergangen , als die Thür sich wieder öffnete und Fräulein von Walde am Arme eines Herrn eintrat , den sie Elisabeth als Herrn Doktor Fels aus L. vorstellte . Er war ein stattlicher Mann mit einem geistvollen Gesichte , der sich bei Nennung ihres Namens sogleich lebhaft an Elisabeth wandte und ihr in ergötzlicher Weise erzählte , wie er sowohl , als die ganze ehrsame Bewohnerschaft von L. des Erstaunens und Entsetzens kein Ende gewußt hätten , als es laut geworden sei , daß das alte Gnadeck wieder Bewohner und zwar aus Fleisch und Bein beherberge . Plötzlich rauschte es im Nebenzimmer , und gleich darauf erschienen zwei weibliche Gestalten , eine alte und eine jüngere , von etwas absonderlichem Aeußeren , in der Thür . Die große Aehnlichkeit in den Gesichtszügen ließ sogleich erkennen , daß die Eingetretenen Mutter und Tochter seien . Beide trugen dunkle Kleider , die gegen die herrschende Mode lang und schlaff auf den Boden fielen , große Mantillen von schwarzem Wollstoffe und braune , runde Strohhüte , die bei der Mutter mit einer schwarzen , bei der Tochter dagegen mit einer lila Schleife unter dem Kinn gebunden waren . Helene von Walde begrüßte die Damen als Frau und Fräulein von Lehr , und Elisabeth erfuhr später , daß sie , in L. wohnhaft , den Sommer gewöhnlich im Dorfe Lindhof zuzubringen pflegten , wo sie sich in einem Bauernhause eingemietet hatten . Unmittelbar nach den Eingetretenen kam die Baronin Lessen am Arme ihres Sohnes und von einem Herrn begleitet , der von den Anwesenden als Herr Kandidat Möhring angeredet wurde . Die Baronin war dunkel , aber mit ausgesuchtester Eleganz gekleidet ; sie sah imposant aus . Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick stehen und schien sehr unangenehm überrascht durch Elisabeths Anwesenheit . Sie maß das junge Mädchen mit einem hochmütig fragenden Blicke und erwiderte ihre Verbeugung mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken . Helene hatte den Blick aufgefangen und trat ihr näher , indem sie begütigend flüsterte : » Ich habe meinen kleinen Liebling heute hier behalten , weil es durch mein Verschulden doch gar zu spät geworden war . « Elisabeths feinem Ohre entging jedoch diese Entschuldigung nicht . Sie war empört und wäre am liebsten durch das Fenster geflohen , in dessen Nische sie stand , hätte nicht gerade der Stolz ihr geboten , zu bleiben und dem Hochmut der Baronin die Stirn zu bieten . Diese schien indes durch die Sühne des hinter ihrem Rücken begangenen Verbrechens zufriedengestellt zu sein . Sie nahm Helene in ihre Arme , streichelte zärtlich ihre Locken und sagte ihr tausend Schmeicheleien . Dann forderte sie die Anwesenden auf , ihr in das Nebenzimmer zu folgen , wo serviert sei . Sie machte die Honneurs am Theetische und entwickelte dabei die allerdings nicht wegzuleugnende Gabe , das Gespräch in Atem zu erhalten . Mit bewunderungswürdigem Geschick wußte sie es außerdem einzurichten , daß Helene stets der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeiten blieb , ohne daß die anderen dadurch irgendwie hätten verletzt werden können . Elisabeth saß schweigend zwischen dem Arzte und Fräulein von Lehr . Die Unterhaltung hatte im ganzen für sie wenig Interesse , da sie sich hauptsächlich um ihr ganz fremde Persönlichkeiten und Verhältnisse drehte . Frau von Lehr erzählte viel und schien sehr unterrichtet von allem , was während der letzten Wochen , gleichviel ob von den Betreffenden geheim gehalten oder öffentlich ausgesprochen , in der Umgegend von Lindhof geschehen war . Sie sprach dabei in eigentümlich klagenden , gehaltenen Tönen und senkte jedesmal beim Schlusse irgend einer empörenden Neuigkeit demütig und sanft das ausgetrocknete Eulengesicht , als sei sie das Lamm , das der Welt Sünde trage . Dann und wann zog sie ein Fläschchen mit Fenchelwasser aus dem großen Strickbeutel und befeuchtete damit ihre angegriffenen Augen , die fast immer den Himmel suchten . Welch ein Kontrast zwischen ihr und Helenes Madonnengesichtchen , das , an den dunklen Plüsch des Sofas geschmiegt , Elisabeth heute mehr denn sonst an die Seerose denken ließ , wie sie ihr glänzendweißes Haupt träumerisch erhebt aus dem dunklen Grunde . Es lag aber auch heute ein seltsamer Schimmer über ihren Zügen . Ganz verwischt war der Ausdruck des Leidens freilich nicht , aber es brach ein voller Strahl des Glückes aus den Augen , und um die blaßroten Lippen spielte ein entzücktes Lächeln , so oft sie das volle Rosenboukett vom Schoße aufnahm , das Herr von Hollfeld bei seinem Kommen in ihre Hand gedrückt hatte . Er saß neben ihr und mischte sich einige Male in das Gespräch . Sobald er sprach , schwiegen sämtliche Damen und hörten mit sichtbarem Eifer und Interesse zu , obgleich seine Art zu sprechen nichts weniger als fließend war und , wie es Elisabeth vorkam , auch durchaus keinen originellen Gedanken verriet . Es war ein schöner junger Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren . Es lag eine große Ruhe in den edelgeformten Zügen , die in ihren Linien leicht auf männliche Festigkeit hätten schließen lassen ; allein wer nur einmal fest und forschend in sein Auge gesehen hatte , dem imponierte die plastische Gesichtsbildung sicher nicht mehr . Diese Augen , obgleich groß und tadellos geschnitten , entbehrten der Tiefe und zeigten nie jenes meteorartige Aufleuchten , das uns oft den geistreichen Menschen verrät , selbst wenn er noch kein Wort gesprochen hat . Dieser Mangel kann übrigens ersetzt werden durch jenen milden dauerhaften Glanz , der von einem tiefen Gemüte ausgeht , und der uns nicht hinreißt , wohl aber anzieht und fesselt . Aber auch davon verrieten die großen schönen Blauen des Herrn von Hollfeld keine Spur . Diese Beobachtung indes machten vielleicht nur sehr wenige ; denn es war nun einmal , und zwar vorzüglich am Hofe zu L. , hergebracht , in Herrn von Hollfeld einen Sonderling zu sehen , dessen meist schweigsamer Mund ein um so tieferes Innere verschließe , und am allerwenigsten würden wohl die Damen in und um Lindhof jene Ansicht unterzeichnet haben . Das bewies vor allen Frau von Lehrs sehr korpulente Tochter , indem sie sich jedesmal , als gelte es die Verkündigung eines Evangeliums , über die ängstlich zurückweichende Elisabeth hinüberbog , so oft Herr von Hollfeld den Mund aufthat . Aber auch sie schien gern ihr Licht leuchten zu lassen . » Sind Sie nicht auch entzückt von den herrlichen Predigten , mit denen uns Herr Kandidat Möhring an den heiligen Festtagen erquickt hat ? « fragte sie , sich an Elisabeth wendend . » Ich bedaure , sie nicht gehört zu haben , « entgegnete Elisabeth . » So haben Sie den Gottesdienst gar nicht besucht ? « » O ja ... ich war in Begleitung meiner Eltern in der Dorfkirche zu Lindhof . « » So , « sagte die Baronin Lessen , indem sie zum erstenmal den Kopf nach Elisabeth umwandte , wodurch diese ein äußerst höhnisches Lächeln zu sehen bekam , » und es war wohl recht erbaulich in der Dorfkirche zu Lindhof ? « » Gewiß , gnädige Frau , « entgegnete ruhig Elisabeth und sah fest in das spöttisch funkelnde Auge der Dame . » Ich war tief bewegt von den schlichten und doch so ergreifenden Worten des Predigers , der übrigens nicht in der Kirche , sondern außerhalb derselben , unter den Eichen seinen Vortrag hielt ... Als der Gottesdienst beginnen sollte , da stellte es sich heraus , daß die kleine Kirche die massenhaft herbeigeströmten Zuhörer nicht fassen könne . Es wurde sofort eine Art Altar unter Gottes freiem Himmel errichtet , wie es schon oft geschehen sein soll . « » Jawohl , ist leider bekannt , « unterbrach sie hier der Kandidat Möhring , der bis dahin nicht viel gesprochen und sich damit begnügt hatte , die Berichte der Frau von Lehr mit einem zuvorkommenden Lächeln oder einem beipflichtenden Kopfnicken zu begleiten . Jetzt aber war sein breites , etwas glänzendes Gesicht dunkelrot , als er , gegen die Baronin gewendet , spöttisch fortfuhr : » Gnädigste Frau Baronin , ja , es ist weit gekommen – die alten Götzen steigen hernieder in die heiligen Haine , und der Druide opfert ihnen unter den Eichen ! « » Ich wüßte nicht , daß dergleichen vorgekommen wäre , und hätte mir mit der lebhaftesten Einbildungskraft in jenem Augenblicke auch nicht vorstellen können , daß ich einem heidnischen Opferfeste beiwohne , « entgegnete Elisabeth . Sie lächelte , fuhr dann aber warm und ernster fort : » Mir war an dem herrlichen Pfingstmorgen , als der Orgelton aus den geöffneten Kirchenfenstern und Thüren quoll , und der ehrwürdige alte Mann unter dem lebendigen Grün der Bäume seine bewegte Stimme erhob , genau so zu Mute , wie da ich zum erstenmal in meinem Leben das Gotteshaus betreten durfte . « » Sie scheinen ein vortreffliches Gedächtnis zu haben , mein Fräulein , « warf hier Frau von Lehr ein . » Wie alt waren Sie damals , wenn man fragen darf ? « » Elf Jahre . « » Elf Jahre ? ... O , mein Gott , wie ist das möglich ? « rief die alte Dame entsetzt . » Können das christliche Eltern wohl übers Herz bringen ? ... Meine Kinder kannten das Haus des Herrn schon in ihrer frühesten Kindheit , das müssen Sie mir bezeugen , bester Doktor ! « » Ja wohl , meine Gnädigste , « entgegnete dieser ernst . » Ich erinnere mich , daß Sie den Krupanfall , an welchem Sie leider Ihr zweijähriges Söhnchen verlieren mußten , einem Besuche des Kindes in der kalten Kirche zuschrieben . « Elisabeth sah erschrocken ihren Nachbar an . Der Doktor hatte der anfänglichen Unterhaltung nur insofern beigewohnt , als er hier und da in trockener Weise Sarkasmen einstreute , die dem jungen Mädchen um so ergötzlicher waren , als die Baronin ihm jedesmal einen verweisenden Blick dafür zusandte . Als Elisabeth selbst zu sprechen begann , hatte sie auf ihn nicht mehr geachtet , ebensowenig wie die anderen , die nur das unglückliche Heidenkind im Auge hatten ; deshalb bemerkte niemand , daß er sich innerlich fast zu Tode lachen wollte über die freimütigen Antworten des jungen Mädchens und deren Wirkung auf die Anwesenden . Jetzt kam er Elisabeth grausam vor durch seine Antwort ; aber er mußte wohl seine Leute kennen , denn Frau von Lehr blieb ruhig und unbewegt und sagte salbungsvoll : » Ja , der Herr nahm den kleinen , frommen Engel zu sich , er war zu gut für diese Welt ... Und so war und blieb Ihnen für die ersten elf Jahre Ihres Lebens das Reich des Herrn verschlossen ? « wandte sie sich an Elisabeth . » Nur sein Tempel , gnädige Frau ... Ich wußte schon als kleines Kind die Geschichte des Christentums und lernte jedenfalls mit meinen ersten Gedanken das höchste Wesen kennen und verehren , denn ich weiß nicht , daß ich je gelebt hätte ohne die Vorstellungen von Gottes Dasein ... Es ist meines Vaters Grundsatz , seine Kinder nicht zu früh das Haus Gottes betreten zu lassen ; er meint , so junge Seelen seien unfähig , die hohe Bedeutung desselben zu verstehen , langweilen sich bei der Predigt , die sie mit dem besten Willen nicht fassen könnten , und so entstände von vornherein eine saloppe Anschauung ... Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre alt und war noch nicht in der Kirche . « » O der glückliche Vater , « rief der Doktor , » daß er dies durchführen kann und darf ! « » Nun , was hindert Sie , Ihre Kinder moralisch wie die Pilze aufschießen zu lassen ? « fragte malitiös die Baronin . » Das kann ich Ihnen mit wenig Worten sagen , gnädige Frau . Ich habe sechs Kinder und bin nicht reich genug , einen Hauslehrer für sie zu halten . Sie selbst zu unterrichten , daran hindert mich mein Beruf ; mithin bin ich gezwungen , sie in die öffentliche Schule zu schicken und mich mit ihnen zugleich in die Gesetze der Anstalt zu fügen – dahin gehört der Kirchenbesuch der Kleinen ... Genau so verhält es sich mit einer anderen Ueberzeugung , die ich ebensowenig zur Geltung bringen darf – das ist das selbständige Bibellesen der Kinder . In diese kleinen Hände gehört die Bibel nicht , die , als Fundament unseres ganzen späteren Lebens und Wirkens , für die Jugend mit einer unnahbaren Glorie umgeben sein müßte ... Das Kind , mit sehr seltenen Ausnahmen , sucht lieber Unterhaltung als ernste Belehrung , und hat den Trieb , gerade das , was ihm verschwiegen wird , zu enthüllen . Und so weiß ich , und streng beobachtende Lehrer wissen es auch , daß die Kleinen , das ehrwürdige Buch auf dem Schoße und von unachtsamen Eltern darüber belobt , nicht immer den Text der letzten Predigt , sondern auch anderes aufblättern und sich gegenseitig auf verpönte Worte aufmerksam machen , die die gebildete und moralische Mutter daheim nie zu ihren Ohren gelangen läßt , deren Sinn ihnen aber oft genug klar gemacht wird durch Kinder , die , in ungebildeter Sphäre lebend , von unvorsichtigen , rohen Eltern und Dienstboten mehr erfahren , als ihnen gesund ist . Und gesetzt auch , das letztere fällt nicht vor und das Kind fragt die Mutter über die Bedeutung des unverstandenen Wortes , so wird sich eine verständige Frau wohl zu helfen wissen , aber sie wird sich trotzdem genötigt sehen , dem Kinde den Gebrauch der Ausdrücke zu verbieten – denken wir nur an das Hohelied – so entstehen aber die ersten Skrupel und Zweifel in der jungen Seele , die um so tiefer Wurzel greifen müssen , als das unausgebildete moralische Gefühl und der unreife Verstand noch kein Gegengewicht bieten können . « Hier erhob sich die Baronin Lessen mit einer ungeduldigen Bewegung . Auf ihren blassen , vollen Wangen waren allmählich zwei rote Flecken aufgeblüht , welche für alle , die sie kannten , das Zeichen inneren Zornes waren . Deshalb stand auch Fräulein von Walde , die sich während des ganzen Gesprächs passiv verhalten hatte , sofort auf , bot ihrer Kousine den Arm und führte sie ans Fenster , indem sie fragte , ob es ihr wohl genehm sei , wenn sie mit Elisabeth ein wenig musiziere . Dieser Blitzableiter wurde mit einem Kopfnicken bewilligt , vielleicht hauptsächlich aus dem Grunde , weil die Frau Baronin dem Doktor gegenüber sich doch nicht gewachsen fühlte . Ihre Indignation mußte jedes gemerkt haben , und so war es ja die schöne Musik , durch welche sie sich besänftigen und abhalten ließ , des Doktors himmelschreiende Angriffe gegen ihren Eifer im Dienste des Herrn – sie verteilte ja höchst eigenhändig die Bibeln unter die armen Kinder – zu Boden zu schmettern . Sie zog sich in eine Fensternische zurück und starrte hinaus in die Gegend , auf die sich die ersten , leichten Schatten der hereindämmernden Nacht legten . Ihr Blick zeigte einen kaltgrausamen Ausdruck , wie er jener gewissen Art wasserblauer , hellbewimperter Augen so leicht innewohnen kann . Eine tiefe Falte lagerte um die Mundwinkel , ein Zeuge tiefen Grolles , der auch nicht verschwand , als Schuberts Erlkönig , zu vier Händen und meisterhaft von den beiden Damen vorgetragen , in dämonischer Gewalt erbrauste . An dieser Brust verhallten ungefühlt die Töne , wie der Wellengesang am Uferfelsen . Als der letzte Akkord verklungen war , erhoben sich die beiden Damen , und der Doktor , der regungslos zugehört hatte , eilte aus sie zu . Sein Auge glänzte ; er dankte begeistert für den Genuß , der ihm , wie er versicherte , seit vielen Jahren nicht zu teil geworden sei ... Hier wurde Fräulein von Lehrs Gesicht dunkelrot , und die Mama schoß einen wahren Giftblick nach dem unglücklichen Enthusiasten ... Hatte nicht die Tochter im vergangenen Winter zum Besten mildthätiger Zwecke mehrere Male öffentlich in L. gespielt , und war er nicht in jedem Konzerte zugegen gewesen ? ... Der Doktor schien übrigens gar nicht zu bemerken , welches Gewitter sich hinter seinem Rücken auftürmte . Er sprach eingehend über Schuberts herrliche Tonschöpfung , wobei er ein feines Urteil und den gründlich gebildeten Musikverständigen verriet . Plötzlich wurde mit hartem Anschlage ein voller Akkord auf dem Flügel gegriffen – es war , als ob knöcherne Finger auf die Tasten schlügen . Erschrocken drehten sich die Plaudernden um . Der Kandidat saß am Klavier mit hochgehobenem Kopfe und ausgedehnten Nasenflügeln und ließ eben wieder beide Hände zu einem zweiten schrillenden Akkorde auf die Tasten fallen . Er begann einen schönen Choral , der aber durch das schauderhafte Spiel zu einer wahren Marter für feingebildete Ohren wurde . Das hätte sich am Ende noch überstehen lassen ; aber nun fiel er zu Elisabeths Verzweiflung auch noch mit einer ab scheulich näselnden Stimme ein . – Das war zu viel . Der Doktor griff nach seinem Hute und verbeugte sich abschiednehmend vor Helene und der Baronin . Die letztere bog ihr Gesicht nach dem Fenster und bewegte nachlässig ihre Hand als Zeichen der Entlassung . Ein unvergleichlicher Ausdruck von Humor überflog die Züge des Doktors . Er drückte Elisabeths Hand herzlich beim Scheiden und empfahl sich dann mit einer höflichen Verbeugung bei den übrigen . Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte , erhob sich die Baronin und trat aufgeregt zu Helene , die sich still in einer Sofaecke niedergelassen hatte . » Unerträglich ! « rief sie , und ihre scharfe Stimme klang gedämpft , als ob ihr der innere Grimm den Hals zusammenschnüre , während sie ihr stechendes Auge fest auf das junge Mädchen heftete , das fast schüchtern und beklommen den blick zu ihr erhob . » Und du duldest es so widerstandslos , Helene , « fuhr sie fort , » daß man in deinen Zimmern unsere Standesvorrechte , unsere Frauenwürde , ja , das Heiligste , was wir treulich behüten und pflegen , mit Füßen tritt ? « » Aber , liebe Amalie , ich sehe nicht ein – « » Du willst nicht einsehen , Kind , in deiner unerschöpflichen Geduld und Langmut , daß dieser Doktor mich beleidigt , wo er kann . Nun , ich muß mir das gefallen lassen , weil es nicht in meinem Hause geschieht , und weil ich als gute Christin lieber dulde und Unrecht leide , als daß ich die unziemlichen Waffen der Wiedervergeltung in die Hand nehmen möchte ... Diese Duldsamkeit jedoch findet ihr Ende , sobald unser Herr in seinen göttlichen Rechten angegriffen wird . Hier sollen wir kämpfen und streiten und nicht ermüden ... Ist es nicht wahrhaft gotteslästerlich , daß dieser Mensch sans façon seinen Hut nimmt und mit großem Geräusche das Zimmer verläßt , während unsere Seelen durch den erhabensten Gedanken der Musik , durch den Choral , tief bewegt sind ? « Sie war immer lauter und heftiger geworden und bedachte nicht , daß sie in diesem Augenblicke ein sanftes , sämtliche Töne einer ganzen Oktave berührendes Hinaufschleifen des unermüdlich weitersingenden Kandidaten völlig wirkungslos machte . » Ach , das mußt du dem Doktor nicht so übel nehmen , « sagte Fräulein von Walde . » Er ist an seine Zeit gebunden , hat vielleicht noch einen Krankenbesuch in L. zu machen und wollte ja eigentlich schon aufbrechen , ehe wir zu spielen anfingen . « » Indes der heidnische Spuk des Erlkönigs ließ diesen vortrefflichen Mann seine Patienten vergessen , « unterbrach sie die Baronin höhnisch . » Nun , ich bescheide mich ... Es liegt leider in unserer traurigen Zeit , daß die Vertreter des Unglaubens die herrschenden werden . « » Aber , mein Gott , Amalie , was willst du denn , daß ich thun soll ? Du weißt ja nur zu gut , daß Fels mir unentbehrlich ist .. er ist der erste und einzige Arzt , der meine körperlichen Leiden zu lindern versteht ! « rief Helene , und ihr Auge schimmerte feucht , während die Röte der Aufregung in ihre blassen Wangen stieg . » Ich dächte , mein Fräulein , « begann hier Frau von Lehr , die bis dahin schweigend und lauernd wie eine Spinne in einer Ecke gesessen hatte , langsam und feierlich , » vor allem müsse wohl das Seelenheil berücksichtigt werden ; die Sorge für das körperliche Wohl kommt meiner Ansicht nach erst in zweiter Linie ... Im übrigen hat L. noch mehr vortreffliche Aerzte aufzuweisen , die es getrost mit der Gelehrsamkeit des Herrn Doktor Fels aufnehmen können ... Glauben Sie mir , liebes Fräulein , es berührt die Gläubigen in unserem guten L. oft schmerzlich , wenn sie sehen müssen , wie ihr offenkundiger Widersacher als Freund und Ratgeber in Ihrem Hause aus und ein gehen darf . « » Wenn ich auch das Opfer bringen wollte , einen anderen Arzt zu nehmen , « entgegnete Helene , » so dürfte ich doch ohne die Einwilligung meines Bruders diesen Schritt nicht thun . Da aber würde ich auf den heftigsten Widerstand stoßen – ich weiß es – denn Rudolf hält sehr viel auf den Doktor und schenkt ihm sein unbedingtes Vertrauen . « » Ja , Gott sei's geklagt ! « rief die Baronin . » Das ist auch so eine schwache Seite in Rudolfs Charakter , die ich nie habe begreifen können ! ... Mit diesem sogenannten Freimute , den man am besten mit Frechheit übersetzen könnte , imponiert ihm der Herr Fels ... Nun , ich wasche meine Hände , werde mir aber künftig die Besuche des Herrn Doktors verbitten und halte mich bei dir , liebe Helene , für die Zeit stets entschuldigt , wenn du ihn bei dir siehst . « Fräulein von Walde erwiderte kein Wort . Sie erhob sich , während ihr getrübtes Auge durch das Zimmer glitt , als vermisse sie etwas ; es schien Elisabeth , als gelte dieser suchende Blick Herrn von Hollfeld , der vor einer Weile unbemerkt das Zimmer verlassen hatte . Die Baronin griff nach ihrer Spitzenumhüllung , und auch Frau von Lehr nebst Tochter rüsteten sich zum Aufbruche . Beide sagten dem Kandidaten , der seinen Vortrag geendet hatte und nun , verlegen seine Hände reibend , am Flügel stand , noch einige Liebenswürdigkeiten und verabschiedeten sich dann in Begleitung der Baronin von Helene , die ihnen mit erschöpfter Stimme gute Nacht sagte . Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg , sah sie Herrn von Hollfeld in einem gegenüberliegenden , nur schwach beleuchteten Korridor stehen . Er hatte droben während des Zornergusses seiner Mutter in einem Album geblättert und sich mit keinem Worte in die leidenschaftlichen Verhandlungen gemischt . Das war Elisabeth ganz abscheulich vorgekommen ; sie hatte lebhaft gewünscht , er möge zu Helene stehen und dem Treiben der Baronin durch ein männlich ernstes Wort ein Ende machen . Noch mehr aber mißfiel es ihr , als sie bemerken mußte , daß er , über das Buch hinweg , sie unausgesetzt fixiere . Möglich war es schon , daß er in ihren Zügen den Verdruß über sein Benehmen gelesen hatte , aber sie meinte , dafür habe er sie nun lange genug angestarrt . Sie fühlte , daß sie endlich unter seinem Blicke tief errötete , und ärgerte sich darüber um so mehr , als dies ihm gegenüber , ganz gegen ihren Willen , schon einige Male der Fall gewesen war . Ein eigentümlicher Zufall wollte nämlich , daß sie beim Nachhausegehen von Schloß Lindhof Herrn von Hollfeld stets begegnete , sei es nun im Korridor , auf der Treppe , oder daß er plötzlich hinter einem Boskett hervortrat . Warum ihr dies zuletzt peinlich wurde und sie verlegen machte , wußte sie selbst nicht . Sie grübelte auch nicht weiter darüber und hatte die Begegnung meist vergessen , ehe sie noch daheim war . Jetzt nun stand er da drunten in dem dunklen Gange . Ein schwarzer , tief herabgedrückter Hut bedeckte halb sein Gesicht , und den hellen Sommerrock hatte er mit einem dunklen Ueberzieher vertauscht . Er schien auf etwas gewartet zu haben und trat , sobald Elisabeth die letzte Stufe erreicht hatte , rasch auf sie zu , als ob er ihr etwas sagen wolle . In dem Augenblicke erschienen Frau und Fräulein von Lehr droben auf der Treppe . » Ei , Herr von Hollfeld , « rief die alte Dame hinab , » wollen Sie denn noch eine Promenade machen ? « Die Züge des jungen Mannes , die Elisabeth auffallend belebt und erregt vorgekommen waren , nahmen sofort einen gleichgültigen , ruhigen Ausdruck an . » Ich komme aus dem Garten , « sagte er in eigentümlich nachlässigem Tone , » wo ich mich in der milden Nachtluft noch ein wenig ergangen habe . Bringe Fräulein Ferber nach Hause , « gebot er dann dem Hausknechte , der eben zu diesem Zwecke mit einer Laterne aus der Domestikenstube trat , und schritt , nach einer Verbeugung gegen die Damen , in den Korridor zurück . » Wie gut ist's , « sagte Elisabeth eine Stunde später , als sie , am Bette der Mutter sitzend , ihren Bericht über die heutigen Erlebnisse schloß , » daß wir morgen Sonntag haben . Da wasche ich in unserer lieben , einfachen Lindorfer Dorfkirche den häßlichen Eindruck aus der Seele , den mir die letzten Stunden hinterlassen haben ... Nie hätte ich geglaubt , daß ich beim Anhören eines Chorales je eine andere Empfindung haben würde , als die der Erhebung und Andacht . Heute aber überkam es mich wie Zorn , ja , ich fühlte mich im Innersten tief verletzt , als mitten in das Theetassengeklirr und , nachdem man stundenlang über dem guten Namen des Nächsten durchaus nicht liebevoll zu Gericht gesessen , plötzlich das Lied einfiel , das ich gewohnt bin , nur in weihevollen Stunden zu hören ... Hinter diesem christlichen Eifer steckt eine maßlose Herrschsucht – das ist mir heute klar geworden ; wenn aber andere so empfinden wie ich , dann steht es schlimm um die Siege dieser Bekehrer ... gelt , Mütterchen , ich habe doch eigentlich keine Ader vom Rebellen ? allein , heute zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich eine unwiderstehliche Neigung zum Trotz und Widerspruch in mir . « Schließlich gedachte sie noch des Herrn von Hollfeld und seines sonderbaren Benehmens in der Hausflur , woran sie die Bemerkung knüpfte , daß sie sich doch gar nicht denken könne , was er eigentlich von ihr gewollt habe . » Nun , darüber wollen wir uns auch den Kopf nicht zerbrechen , « sagte Frau Ferber . » Sollte es ihm jedoch einmal einfallen , dir seine Begleitung beim Nachhausegehen anbieten zu wollen , so weise sie unter allen Umständen zurück . Hörst du , Elisabeth ? « » Aber , liebe Mama , was denkst du denn ? « rief lachend das junge Mädchen . » Da steht eher des Himmels Einfall zu erwarten , als ein solches Anerbieten ... Haben Frau und Fräulein von Lehr , die sich jedenfalls zu den vornehmen Leuten zählen , allein nach Hause gehen müssen , da wird er sich doch wahrhaftig meiner simplen Persönlichkeit gegenüber nicht herablassen . « 8 Der Oberförster hatte ungefähr acht Tage nach Ankunft seiner Verwandten ein neues Hausgesetz erlassen , das , wie er sagte , von seinem Minister freudig begrüßt worden war , und kraft dessen der Familie Ferber die Verpflichtung auferlegt wurde , allsonntäglich im Forsthause das Mittagbrot einzunehmen ... Das waren Freudentage für Elisabeth . Lange vor dem ersten Glockenläuten wurde gewöhnlich der Kirchgang angetreten . Im wehenden weißen Kleide , die Seele geschwellt von jener süßen Ahnung der Jugend , als könne ein schöner , heiterer Tag auch nur Glück in sich schließen , schritt Elisabeth den Eltern voraus und freute sich stets auf den Moment , wo der goldene Knopf des Lindhofer Kirchleins tief drunten im Thale aus den grünen Wogen des Waldes aufleuchtete ; wenn rechts und links auf dunklen , verschwiegenen Waldwegen die Kirchgänger der verschiedenen Filialen ihnen entgegenschritten und sich mit freundlichem Gruße und Handschlage zu ihnen gesellten , bis sie in zahlreicher Gesellschaft unter dem Geläute der Glocken den weiten Wiesenplan vor der Kirche betraten , wo meist der Onkel schon wartete . Er begrüßte sie dann schon von weitem mit glänzenden Augen und freudigem Hut schwenken . In jeder Bewegung seiner hohen Gestalt , in seiner ganzen Haltung offenbarte sich jene unbeugsame Wahrhaftigkeit , die vor dem Größten nicht zurückschreckt , jener Ausdruck von Manneskraft und Manneswillen , hinter dem wir große Entschlüsse , kühne Thaten , nie aber die zarten Empfindungen eines reichen Gemütes vermuten . Deshalb meinte auch Elisabeth , es sei unbeschreiblich rührend und ergreifend , wenn ein einzelner , kleiner Stern sein mildstrahlendes Gesichtchen aus dunklen Wolken strecke ; genau so aber erscheine ihr der gerade , feste Blick des Onkels , sobald er in einem weichen Gefühle schmelze . Und sie hatte oft genug Gelegenheit , die Metamorphose zu beobachten ; denn sie war sein Augapfel geworden . Er hatte ja nie Kinder gehabt und trug nun alle Vaterzärtlichkeit , deren sein reiches , volles Herz fähig war , auf sein liebliches Bruderskind über , das , wie er deutlich mit großem Stolze fühlte , ihm in vieler Beziehung geistig verwandt war , wenn auch hier alle jene Charakterzüge unter dem Hauche echt holdseliger Weiblichkeit sich verklärten . Sie vergalt ihm aber auch seine Liebe mit kindlicher Hingebung und zärtlicher Fürsorge . Bald hatte sie alles das , was zu seinem häuslichen Wohlbehagen gehörte , herausgefunden und griff da , wo Sabines Scharfsinn oder ihre waltende Hand nicht mehr ausreichte , unmerklich und mit so vielem Takte ein , daß die alte treue Dienerin niemals verletzt wurde , während um den Onkel ein ganz neues , behagliches Leben aufblühte , da Elisabeth auch auf seine kleinen Liebhabereien geschickt einzugehen und ihnen Geschmack abzugewinnen wußte . Auf dem Heimwege aus der Kirche , der dann gemeinschaftlich angetreten wurde , führte der Onkel Elisabeth gewöhnlich an der Hand , » wie ein kleines Schulmädchen « sagte sie , und es sah auch genau so aus . Die eben gehörte vortreffliche Predigt gab Veranlassung zu einem lebhaften Austausche neu angeregter Gedanken und Empfindungen ; dazu sangen und schmetterten die Vögel im grünen Dickicht , als sei es ihr gutes Recht , hier auch mitzusprechen , und durch die dichten Baumkronen taumelten grüngoldene Lichter verklärend auf die Häupter der Wandelnden . Am fernsten Ende des langen , dunklen Laubganges , denn es war ein sehr schmaler Holzweg , der vom Dorfe Lindhof nach der Försterei lief , blinkte wie ein goldener Punkt die helle , sonnenbeglänzte Lichtung , auf deren Mitte das alte Jagdhaus lag . Mit jedem Schritte näher wurde das kleine Bild deutlicher und klarer , bis man unter der Thür die harrende Sabine zu erkennen vermochte , wie sie , den einen Zipfel der weißen Küchenschürze quer aufgesteckt , die Hand schützend über die Augen haltend , nach den Heimkehrenden spähte und bei ihrem Erblicken eiligst in das Haus zurücklief ; denn es galt ja , droben unter den Buchen hinter der dampfenden Suppenterrine in treuer Pflichterfüllung zu stehen , wie der gewissenhafte Festungskommandant auf seinen Wällen . Heute aber hatte die alte Sabine ein besonders herrliches Mahl hergerichtet ; neben der Suppenschüssel leuchtete eine purpurrote Pyramide , die ersten Walderdbeeren , die der kleine Ernst , aber auch die große Elisabeth mit lautem Jubel begrüßte . Der Oberförster lachte über den Enthusiasmus des großen und des kleinen Kindes und meinte , er dürfe doch nicht hinter Sabine und ihrer Extraüberraschung zurückbleiben ; er wolle deshalb den Braunen einspannen und Elisabeth , wie längst versprochen , nach L. fahren , wo er ohnehin Geschäfte abzumachen habe . Der Vorschlag wurde von dem jungen Mädchen mit heller Lust aufgenommen . Bei Tische erzählte Elisabeth vom gestrigen Abend . Der Onkel wollte sich ausschütten vor Lachen . » Kourage hat der Doktor freilich gezeigt , « rief er lachend , » aber was hilft 's ihn , es war doch die letzte Tasse Thee , die er gestern in Lindhof getrunken hat . « » Unmöglich , Onkel , es wäre empörend ! « rief Elisabeth , » das kann und wird Fräulein von Walde nicht zugeben , sie wird sich aus allen Kräften widersetzen . « » Nun , « sagte er , » ich wünschte nur , wir könnten auf der Stelle das Fräulein um ihre heutigen Gesinnungen gegen den Doktor befragen , da solltest du dein blaues Wunder hören ... Wie sollte auch in solch einem gebrechlichen Gehäuse eine starke Seele stecken ; mit der wird das herrschsüchtige Weib bald fertig , und jeder andere Zügel fehlt , denn der Himmel ist hoch und der Zar ist weit , sagen die Russen ... Gelt , Sabine , wir haben schon gar wunderliche Dinge erlebt , seit die Frau Baronin das Regiment führt ? « » Ach , ja wohl , Herr Oberförster , « entgegnete die Alte , die eben ein neues Gericht auf den Tisch setzte , » wenn ich nur an die arme Schneider denke ... Das ist eine Taglöhnerswitwe aus Dorf Lindhof , « wandte sie sich an die anderen , » sie hat immer rechtschaffen gearbeitet , um sich durchzubringen , und hat ihr auch niemand was Unrechtes nachsagen können ; aber sie muß vier kleine Kinder ernähren , das arme Weib , und lebt nur von der Hand in den Mund ... Und da ist's ihr einmal im vorigen Herbst recht schlecht gegangen ; sie hat nicht gewußt , wie sie die Kinder satt machen soll , nu , da hat sie sich etwas zu schulden kommen lassen , was freilich nicht recht war – sie hat von einem herrschaftlichen Acker eine Schürze voll Kartoffeln mitgenommen . Der Verwalter Linke aber hat hinter einem Busche gestanden ; das sehen , vorspringen und auf die Frau losschlagen ist eins gewesen . Ja , wenn er's bei einem kleinen Denkzettel hätte bewenden lassen , da wollte ich nichts sagen ; aber er hat gar nicht wieder aufgehört und hat sie sogar wütend mit dem Fuße getreten ... Ich hatte dazumal gerade etwas in Lindhof zu besorgen , und wie ich da unter den Kirschbäumen beim Dorfe hingehe , sehe ich einen Menschen an der Erde liegen , es war die Schneider ; sie hatte ein erschreckliches Blutbrechen , konnte kein Glied mehr rühren , und keine Menschenseele war bei ihr . Da hab' ich Leute gerufen , und die haben mir geholfen , sie nach Hause zu bringen . Der Herr Oberförster war zwar damals verreist , aber ich habe mir gedacht , er würde mir 's auch nicht verwehren , wenn er da wäre , und habe das arme Weib verpflegt , soviel in meinen Kräften stand ... Die Leute im Dorfe waren wütend über den Verwalter , aber was konnten sie denn machen ? Es wurde zwar gesagt , die Sache käme vor Gericht ; ja , da kann man warten ... Der Linke ist einer von den Frommen ; er ist die rechte Hand bei der Baronin , verdreht die Augen und thut alles im Namen des Herrn . Es durfte doch um keinen Preis unter die Leute kommen , daß so ein Frommer mitunter auch recht unmenschlich sein könne , und da ist die Frau Baronin alle Tage in die Stadt gefahren und hat sich sehr herabgelassen ; kurz und gut , die Geschichte ist vertuscht worden , und die Schneider , die noch immer nicht ordentlich fort kann , hat ihre Schmerzen leiden müssen , und ist ihr und ihren Kindern weder ein Trank noch ein Bissen Brot vom Schlosse aus gereicht worden während ihrer schweren Krankheit ... Ja , der Verwalter und die alte Kammerjungfer bei der Baronin , die treiben's arg zu Lindhof . Die sitzen in der Bibelstunde und in der Schloßkirche und schnüffeln und merken sich fleißig , wer fehlt , und das hat schon manchen ordentlichen Menschen um die Arbeit im Schlosse gebracht . « » Na , jetzt wollen wir uns aber nicht weiter ärgern , « sagte der Oberförster . » Mir wird jeder Bissen im Munde bitter , wenn ich an diese Geschichten denke , und unser schöner Sonntag , auf den ich mich die ganze Woche freue , soll keinen anderen Schatten haben , als den sich die schuldlosen , weißen Wölkchen da droben erlauben . « Bald nach dem Essen rollte die kleine Equipage vor das Haus . Der Oberförster stieg hinauf , und wie ein Blitz war Elisabeth an seiner Seite . Indem sie den Zurückbleibenden noch einmal grüßend zunickte , flog ihr Blick über das Haus ; aber sie erschrak bis ins innerste Herz vor den Augen , die aus dem oberen Stockwerke auf sie niederstarrten . Freilich verschwand der Kopf gleich wieder , allein Elisabeth hatte die stumme Bertha erkannt , hatte gesehen , daß der Blick voll Haß und Ingrimm ihr gegolten , obgleich sie sich die Ursache dieser Feindseligkeit nicht denken konnte . Bertha hatte bisher in der strengsten Zurückgezogenheit der Familie Ferber gegenüber beharrt ; nie kam sie zum Vorschein , so oft auch Elisabeth im Forsthause war . Sie aß allein auf ihrem Zimmer , seit sie wußte , daß der Onkel allsonntäglich Gäste habe , und er ließ sie auch gewähren . Es mochte ihm ganz recht sein , daß die beiden Mädchen gar nicht zusammenkamen . Frau Ferber hatte auch einmal den Versuch gemacht , sich dem jungen Mädchen zu nähern . Ihrer echt weiblichen Anschauungsweise gemäß hielt sie es für unmöglich , daß Trotz und Böswilligkeit die Triebfedern zu Berthas sonderbarem Benehmen sein könnten . Sie vermutete eine tiefere innere Niedergeschlagenheit , irgend einen Kummer , der sie gegen ihre Umgebung gleichgültig , oder auch bei ihrem heftigen Naturell wohl gar so gereizt mache , daß sie lieber das Sprechen vermeide , um keinen Konflikt herbeizuführen . Sanftes Zureden , ein freundliches Entgegenkommen , hatte sie gehofft , werde das Siegel auf Berthas Lippen lösen ; allein es war ihr nicht besser gegangen , als Elisabeth , ja das Benehmen des Mädchens hatte sie dermaßen empört , daß sie ihrer Tochter jeden ferneren Annäherungsversuch streng untersagte . – Nach kurzer Fahrt war das Ziel erreicht . L. war eine echte Kleinstadt und verleugnete auch dies bescheidene Gepräge durchaus nicht , obgleich vom Erscheinen der ersten Primel an bis zum Sinken der letzten herbstlichen Blätter der Hof hier residierte , und die Hauptbewohnerschaft großen Eifer und Fleiß darauf verwendete , in ihrem geselligen Leben , wie auch hinsichtlich der Moden den großstädtischen Ton zu erreichen . Allein die rasselnden Leiterwagen samt Zubehör einer sehr schwunghaft betriebenen Oekonomie ließen sich durch das Rauschen selbst der umfangreichsten , elegantesten Krinolinen nicht übertönen . Das ehrliche Hühnervolk , das die weit offenen Einfahrten der Häuser in vollkommener Sicherheit verließ , um zwischen den unebenen Pflastersteinen und auf den grünen Rasenstreifen längs der Häuserseiten sein tägliches Brot zu suchen , wurde so wenig zu stolzen Pfauen , wie Nachbars Enten , die freudig auf dem quer die Stadt durchschneidenden kleinen Bache hinsegelten , auf Schwanenhoheit Anspruch machten . Die Lage des Städtchens war unbestritten eine reizende . Inmitten eines nicht sehr weiten Thales , an den Fuß einer Anhöhe geschmiegt , deren Gipfel das imposante fürstliche Schloß krönte , lag es tief gebettet im dunklen Grün schöner , alter Lindenalleen und im Frühling umwogt von einem wahren Blütenmeere zahlloser Obstgärten . Der Oberförster führte Elisabeth in das Haus eines ihm befreundeten Assessors . Sie sollte dort auf ihn warten , bis er seine Geschäfte besorgt haben würde . Wenn auch herzlich bewillkommnet von der Dame des Hauses , hätte das junge Mädchen doch am liebsten sofort umkehren und dem die Treppe hinabeilenden Onkel folgen mögen ; denn zu ihrem Verdrusse geriet sie mitten in einen großen Damenzirkel . Die Assessorin teilte ihr in wenigen flüchtigen Worten mit , daß zur Feier des Geburtstages ihres Mannes lebende Bilder aus der Mythologie gestellt werden sollten , zu welchem Zwecke sich das darstellende weibliche Personal bereits eingefunden habe .