1 Na , jetzt sag mir nur um Gotteswillen , wo willst du eigentlich hin , Hellwig ? « » Direkt nach X. , wenn du erlaubst ! « klang es halb trotzig , halb spöttisch zurück . » Aber dahin geht es doch in seinem ganzen Leben nicht über eine Anhöhe ! ... Du bist nicht gescheit , Hellwig ... Heda , ich will aussteigen ! Ich habe durchaus keine Lust , mich umwerfen zu lassen und meine heilen Knochen einzubüßen – wirst du wohl halten ? « » Umwerfen ? Ich ? ... I , das wäre doch das erste Mal in meinem Leben « – wollte er vermutlich sagen , aber ein entsetzlicher Krach erfolgte , und mit demselben verstummten die Lippen des Sprechenden wie die eines Toten . Das Schnauben und Stampfen eines Pferdes wurde für einen Augenblick hörbar ; dann stand das Tier auf seinen vier Hufen und jagte wie rasend querfeldein . » Na , da haben wir die Bescherung ! « brummte endlich der erste Sprecher , indem er sich auf dem nassen , frisch gepflügten Ackerfelde aufsetzte . » He , Hellwig , Böhm , seid ihr noch am Leben ? « » Ja , « rief Hellwig nicht weit von ihm und tastete suchend auf den triefenden Erdschollen nach seiner Perücke . Alles Selbstvertrauen , aller Spott waren wie weggeblasen von dieser schwachen Stimme . Auch das dritte Opfer versuchte es zunächst mit einer Bewegung auf allen vieren , wobei es entsetzlich fluchte und stöhnte ; denn seine gewaltige Korpulenz fühlte sich unwiderstehlich zur Mutter Erde hingezogen . Endlich war die edle Stellung , die den Menschen als die bevorzugteste Kreatur in Gottes weiter Schöpfung kennzeichnet , wiedergewonnen ; die drei Gefallenen standen auf ihren Füßen und besannen sich , was eigentlich geschehen sei , und was nun geschehen müsse . Fürs erste lag die kleine Chaise , in welcher die drei Herren heute morgen ihr Vaterstädtchen X. verlassen hatten , um zu jagen , umgestürzt neben der unglückseligen Anhöhe und zeigte dem Himmel ihre vier Räder , wie die drei tastend bemerkten ; der Hufschlag des entfliehenden Rappen war längst verhallt , und eine stockfinstere Nacht bedeckte die traurigen Folgen des Hellwigschen Selbstvertrauens . » Na , hier übernachten können wir nicht – das steht fest . Machen wir , daß wir fortkommen ! « mahnte endlich Hellwig mit ermutigter Stimme . » Ja , nun kommandiere auch noch ! « grollte der Dicke , indem er sich heimlich überzeugte , daß nicht eine seiner Rippen , sondern die Scherben seines schönen Pfeifenkopfes das beängstigende , knirschende Geräusch an seiner Herzwand verursachten . » Kommandiere auch noch , das steht dir gut an , nachdem du um ein Haar in deinem schandbaren Leichtsinn zwei Familienväter gemordet hättest ... Uebernachten will ich freilich nicht in dieser Löwengrube ; aber nun siehe du auch , wie du Rat schaffst .. . Nicht zehn Pferde bringen mich ohne Licht von dieser Stelle ! Ich versinke zwar im Ackerschlamme , und von da drüben her kommt eine Luft , die mir für ein halbes Jahr meinen Rheumatismus in die Knochen jagt – da drein ergebe ich mich , du magst es verantworten , Hellwig ! Aber ich werde nicht so verrückt sein , mir mutwillig in den tausend Löchern und Gräben , die diese gesegnete Gegend aufzuweisen hat , Arme und Beine zu brechen oder die Augen einzuschlagen . « » Sei kein Narr , Doktor , « sagte der dritte . » Du kannst nicht wie ein Meilenzeiger abwechselnd auf einem Beine hier stehen und abwarten , bis Hellwig und ich in die Stadt tappen und Hilfe holen . Ich hatte längst gemerkt , daß dieser ausgezeichnete Rosselenker zu viel nach links fuhr . Wir gehen jetzt schnurstracks über den Acker nach rechts und kommen an den Fahrweg , dafür stehe ich ein . Und nun komm und mache keine Flausen ; denk an Weib und Kind , die vielleicht jetzt schon jammern und schreien , weil du bei der Abendsuppe fehlst . « Der Dicke brummte etwas von » heilloser Wirtschaft « in den Bart ; aber er verließ seinen Posten und tappte mit den anderen vorwärts . Das war ein schreckliches Stück Arbeit ! Faustdick hingen sich Erdsohlen an die Jagdstiefeln , und hier und da sank ein unsicher tappender Fuß mit aller Vehemenz in eine Pfütze , deren alterierter Wasserspiegel sich sofort in Fontänenform über die Köpfe und Flausröcke der drei Unglücklichen ergoß . Sie erreichten aber doch ohne ernstlichen Unfall den Fahrweg , und nun wurde tapfer und wohlgemut drauf losgeschritten . Selbst der Doktor gewann allmählich seine gute Laune wieder ; er brummte mit einem fürchterlichen Basse : » Zu Fuß sind wir gar wohl bestellt , juchhe ! « etc . In der Nähe der Stadt tauchte ein Licht aus der Finsternis auf ; es kam in stürmischer Eile auf die Wandernden zu , und Hellwig erkannte alsbald in dem breiten , fröhlich lachenden Gesicht , das sich in greller Beleuchtung über die Laterne erhob , seinen Hausknecht Heinrich . » Ja , herrje , Herr Hellwig , sind Sie 's denn wirklich ? « schrie der Bursche . » Die Madame denkt , Sie liegen mausetot da draußen ! « » Woher weiß denn meine Frau schon , daß wir Unglück gehabt haben ? « » Ja , sehen Sie , Herr Hellwig , da ist heute abend eine Kutsche mit Spielern angekommen « – der ehrliche Bursche hatte für Schauspieler , Taschenspieler , Seiltänzer und dergleichen nur diese eine Rubrik – » und wie die Kutsche in den Löwen eingefahren ist , da war das Beest , unser Rappe , hintendran , als ob er dazu gehörte . Der Löwenwirt kennt ihn ja , unseren Alten , und hat ihn gleich selbst gebracht ... Na , aber der Schreck von der Madame ! Sie hat mich gleich fortgeschickt mit der Laterne , und Friederike muß einen Kamillenthee kochen . « » Kamillenthee ? ... Hm , ich meine , ein Glas Glühwein oder wenigstens ein Warmbier wäre vielleicht zweckmäßiger gewesen . « » Ja , das meinte ich auch , Herr Hellwig ; aber Sie wissen ja , wie die Madame – « » Schon gut , Heinrich , schon gut . Jetzt gehe du voran mit der Laterne . Wir wollen machen , daß wir heimkommen . « Auf dem Marktplatze trennten sich die drei Leidensgefährten mit stummem Händedrucke ; der eine , um pflichtschuldigst seinen Kamillenthee zu trinken , und die anderen in dem niederschlagenden Bewußtsein , daß ihrer eine Gardinenpredigt daheim warte . Denn die Frauen waren der » noblen Passion « ihrer Eheherren ohnehin nicht hold , und nun lag die Jagdbeute , das einzige Beschwichtigungsmittel , zerquetscht draußen unter der umgestürzten Chaise , und das mit zähem Schlamme bedeckte Jagdkostüm verwandelte sicherlich schon die erste Umarmung in einen jähen Zornausbruch . Am anderen Morgen klebten an allen Straßenecken rote Zettel , welche die Ankunft des berühmten Eskamoteurs Orlowsky und seine ausgezeichneten Kunstleistungen ankündigten , und eine junge Frau ging von Haus zu Haus , um Billets zu den Vorstellungen anzubieten ... Sie war sehr schön , diese Frau , mit ihrem prächtigen , blonden Haare und der imposanten Gestalt voll Adel und Anmut ; aber das liebliche Gesicht war blaß , » blaß wie der Tod « , sagten die Leute , und wenn sie die goldig bewimperten Lider hob , was nicht häufig geschah , da brach ein rührend sanfter , aber thränenvoller Blick aus den dunkelgrauen Augensternen . Sie kam auch in Hellwigs Haus , das stattlichste am Marktplatz . » Madame , « rief Heinrich in das Zimmer im Erdgeschosse , während er den hellpolierten Messingknopf an der glänzend weißen Thür in der Hand behielt , » die Spielersfrau ist draußen ! « » Was will sie ? « rief eine weibliche Stimme streng zurück . » Ihr Mann spielt morgen , und da möchte sie gern eine Karte an die Madame verkaufen . « » Wir sind anständige Christen und haben kein Geld für solche Faxereien – schick sie fort , Heinrich ! « Der Bursche schloß die Thür wieder . Er kratzte sich hinter den Ohren und machte ein sehr verlegenes Gesicht ; denn die » Spielersfrau « mußte ja jedes Wort gehört haben . Sie stand auch einen Augenblick wie zusammengebrochen vor ihm : eine fliegende Röte war in ihr bleiches Gesicht getreten , und ein schwerer Seufzer hob ihre Brust ... Da wurde leise ein kleines Fenster geöffnet , das in die Hausflur mündete ; eine unterdrückte Männerstimme verlangte ein Billet – es wurde in Empfang genommen , und ein harter Thaler glitt dafür in die Hand der jungen Frau . Ehe sie nur aufblicken konnte , war der Fensterflügel wieder geschlossen , und ein grüner Vorhang hing in dichten , undurchdringlichen Falten hinter den Scheiben . Heinrich öffnete mit einem linkischen Kratzfuße und gutmütig lächelnd die Hausthür , und die Frau schwankte hinaus , schwankte weiter auf dem Wege voller Dornen und Stacheln . Der Hausknecht nahm ein Paar blankgewichster Stiefel , die er vorhin bei dem Erscheinen der Frau niedergesetzt hatte , wieder auf und trat in das Zimmer seines Herrn , der sich uns jetzt im vollen Tageslichte als einen kleinen , älteren Mann mit einem mageren , blassen , aber unendlich gutmütigen Gesicht zeigt . » Ach , Herr Hellwig , « meinte Heinrich , nachdem er die Stiefel an den gehörigen Platz gestellt hatte , » das war wirklich recht schön , daß Sie eine Karte gekauft haben ! Die arme Frau sieht ja aus wie 's Leiden Christi ; sie dauert mich , und wenn zehnmal ihr Mann sein Brot nicht ehrlich verdient ... Er hat hier so kein Glück – denken Sie einmal an mich , Herr Hellwig ! « » Warum denn nicht , Heinrich ? « » Ja , weil der Racker , unser Rappe , sich wie eine Klette an den Wagen gehängt hat , wie er zum Thore hereingefahren ist – das bedeutet nicht Gutes – das Unglücksvieh kam ja justament von einem Unglücksplatze ... Passen Sie mal auf , Herr Hellwig , was ich gesagt habe , die Leute haben kein Glück ! « Er schüttelte seinen dicken Kopf und ging , da sein Herr auf die Prophezeiung hin weder ein Für noch Wider verlauten ließ , wieder in die Hausflur , um die Strohmatte vor der Thür der strengen Madame regelrecht zu placieren ; die fremde Frau hatte unbewußt mit dem Fuße daran gestoßen . 2 Der Rathaussaal war gedrängt voll Zuschauer , und immer noch strömten die Menschen die Treppe herauf . Heinrich stand im dichtesten Gedränge und suchte sich schimpfend Luft zu machen mittels derber Püffe und heimlicher Attacken auf die Hühneraugen seiner Nächsten . » Herr Jesus , wenn das die Madame wüßte , das gäb' ein Donnerwetter ! – Der Herr müßte gleich morgen in aller Frühe zur Beichte , « flüsterte er vergnüglich schmunzelnd einem Nachbar zu , indem er seinen schwieligen Zeigefinger nach einem der erhöhten Sitze an der Seitenwand des Saales ausstreckte . Dort saß Herr Hellwig in Gesellschaft seines Leidensgefährten , des Doktor Böhm . Es hatte dem ehrlichen Burschen Mühe genug gekostet , seinen schmächtigen Herrn herauszufinden : denn die Honoratioren waren stark vertreten . Das Programm versprach aber auch lauter neue Wunderdinge , und der Schluß desselben lautete folgendermaßen : Madame d' Orlowska erscheint als Schildjungfrau . Sechs Mann Militär werden mit scharfgeladenem Gewehre auf sie schießen , und sie wird mit einem Hiebe ihres Schwertes die sechs Kugeln in der Luft zerhauen . « Die Bewohner von X. waren hauptsächlich gekommen , um sich von der Wahrheit dieses Wunders überzeugen zu lassen . Die schöne , junge Frau hatte das allgemeine Interesse geweckt , und jeder mochte gern wissen , wie sie wohl aussehe , wenn sie die Feuerrohre auf sich gerichtet wüßte ... Es gelang übrigens auch dem Taschenspieler , die Aufmerksamkeit des Publikums für seine Kunstleistungen zu gewinnen . Er war , was die Frauen einen interessanten Mann zu nennen pflegen . Mittelgroß , von schlanker , biegsamer Gestalt , mit regelmäßigen , aber bleichen Zügen , braunen Locken und ausdrucksvollen Augen , zeigte er sehr elegante Manieren , und sein eigentümlich klingendes Deutsch , das ihn als den Sohn jenes unglücklichen , auseinander gerissenen Volkes kennzeichnete , machte ihn noch anziehender ... Das alles war aber sofort vergessen , als die annoncierten sechs Soldaten unter Kommando eines Unteroffiziers aufmarschierten . Ein Geräusch entstand im Publikum , wie das Tosen einer Brandung – dann folgte plötzlich bängliche Stille . Der Pole trat an einen Tisch und machte die Patronen angesichts des Publikums . Mit einem Hammer klopfte er auf jede einzelne Kugel , um die atemlosen Zuschauer durch den Klang zu überzeugen , daß es wirkliche , zweilötige Gewehrkugeln seien . Dann gab er jedem der Soldaten eine Patrone und ließ vor den Augen des Publikums laden ... Der Taschenspieler klingelte . Gleich darauf trat die Frau hinter einem breiten Schirme hervor . Sie schritt langsam seitwärts und stellte sich den Soldaten gegenüber . Es war eine wundervolle Erscheinung , den linken Arm deckte der Schild und in der Rechten hielt sie das Schwert . Ein weißes Gewand floß in reichen Falten auf die Füße nieder ; um die Hüften legten sich silberglänzende Schuppen , und ein strahlender Harnisch deckte die herrliche Büste ... Was war aber all dieser Glanz gegen den matten Goldschimmer der Haarwellen , die unter dem Helme hervorquollen und fast bis auf den Saum des Gewandes herabfielen ! Das bleiche , schwermütige Gesicht richtete den traurigen Blick auf die Mündungen der todbringenden Waffen , die hinüber starrten . Keine Wimper zuckte . Nicht die leiseste Bewegung war an dem leicht wallenden Gewande zu bemerken – sie stand dort wie ein Steinbild ... Das letzte Kommando schallte durch den totenstillen Saal ; die sechs Schüsse krachten wie aus einem Rohre – sausend durchschnitt das Schwert die Luft , und zwölf halbe Kugeln rasselten auf den Boden . Einen Augenblick noch sah man die hohe Gestalt der Schildjungfrau unbeweglich stehen – der Pulverdampf verwischte ihre Züge , und nur matt schimmerte die Rüstung durch die Wolke ... dann schwankte sie plötzlich , Schild und Schwert sanken klirrend zu Boden , mit der Rechten griff sie , wie nach einem Halt suchend , krampfhaft zuckend in die Luft und taumelte mit dem herzzerreißenden Schrei : » O Gott , ich bin getroffen ! « in die Arme ihres herbeieilenden Mannes ... Er trug sie hinter den Schirm und stürzte gleich darauf wie ein Rasender auf die Soldaten zu . Sie hatten sämtlich die Weisung erhalten , beim Laden der Gewehre die Kugeln abzubeißen und im Munde zu behalten , das war das ganze Wunder . Einer derselben jedoch , ein ungelenkes Bauernkind , hatte , völlig verwirrt durch den Anblick der versammelten Menschenmenge , in jenem verhängnisvollen Momente den Kopf verloren – als die fünf anderen auf den leidenschaftlich herausgestoßenen Befehl des Taschenspielers die Kugeln sofort aus dem Munde holten , da brachte er zu seinem eigenen Entsetzen ein wenig Pulver zum Vorschein – seine Kugel hatte die unglückliche Frau durchbohrt . Die Züge des Polen verzerrten sich bei diesem Ergebnis in Schmerz und Verzweiflung , und er schlug , ganz außer sich , den unfreiwilligen Verbrecher ins Gesicht . Augenblicklich entstand eine unglaubliche Verwirrung im Saale . Mehrere Damen wurden ohnmächtig , und zahllose Stimmen schrieen nach einem Arzte . Doktor Böhm aber , der den Vorfall schneller begriffen hatte , als alle anderen , war schon längst hinter dem Schirme bei der Verwundeten . Als er endlich mit erblaßtem Gesichte wieder hervortrat , sagte er leise zu Hellwig : » Muß ohne Gnade sterben , das arme , prächtige Weib ! « Eine Stunde später lag die Frau des Taschenspielers auf einem Bette im Gasthofe » zum Löwen « . Man hatte sie auf einem Sofa aus dem Saale getragen ; Heinrich war einer der Träger gewesen . » Na , Herr Hellwig , habe ich recht oder unrecht mit dem Unglücksvieh , dem Rappen ? « hatte er seinen Herrn im Vorübergehen gefragt , und dabei waren ihm dicke Thränen über die Backen gelaufen . Die Frau lag still , mit geschlossenen Augen da . Ihre entfesselten Haare fielen in einzelnen Strähnen über die weißen Kissen und den Bettrand hinab , und die goldigen Spitzen ringelten sich auf dem dunklen Fußteppich ... Vor dem Bette kniete der Taschenspieler ; die Hand der Verwundeten ruhte auf seinem Kopfe , den er tief eingewühlt hatte in die Bettdecke . » Schläft Fee ? « flüsterte die Frau fast unhörbar , während sie mühsam die Lider öffnete . Der Taschenspieler hob den Kopf und nahm die bleiche Hand zwischen die seinigen . » Ja , « murmelte er mit schmerzverzogenen Lippen . » Die Tochter des Hauses hat sie mitgenommen in ihr Schlafzimmer ; sie liegt dort in einem weißen Bettchen – unser Kind ist gut aufgehoben , Meta , mein süßes Leben ! « Die Frau blickte mit einem unaussprechlichen Ausdrucke innerer Leiden auf ihren Mann , dem die Verzweiflung aus den Augen glühte . » Jasko – ich sterbe ! « seufzte sie . Der Taschenspieler sank auf den Teppich zurück und wand sich wie in den heftigsten körperlichen Schmerzen . » Meta , Meta , gehe nicht von mir ! « rief er außer sich . » Du bist das Licht auf meinem dunklen Wege ! Du bist der Engel , der die Dornen meines verfemten Berufes sich ins Herz gestoßen hat , damit sie mich nicht berühren sollten ! ... Meta , wie soll ich leben , wenn du nicht mehr neben mir stehst mit dem behütenden Auge und dem Herzen voll unsäglicher Liebe ? Wie soll ich leben , wenn ich deine berauschende Stimme nicht mehr höre , dein himmlisches Lächeln nicht mehr sehe ? Wie soll ich leben mit dem marternden Bewußtsein , daß ich dich an mich gerissen habe , um dich namenlos elend zu machen ? ... Gott , Gott , da droben , du kannst mich nicht in diese Hölle stoßen ! ... « Er weinte leise . » Ich will erst sühnen , was ich an dir gefrevelt habe , Meta . Ich will für dich arbeiten , ehrlich arbeiten , bis mir das Blut unter den Nägeln hervorspringt – ich will arbeiten mit Hacke und Spaten . Wir wollen uns still und zufrieden in einen Winkel der Erde zurückziehen « – er riß das schwarze , mit Goldflitter besäte Samtwamms von den Schultern – » fort mit dem Plunder ! Er soll mich nie mehr berühren ... Meta , bleibe bei mir , wir wollen ein neues Leben anfangen ! « Ein schmerzliches Lächeln flog um die Lippen der Sterbenden . Mühsam erhob sie den Kopf ; er schob seinen Arm unter und preßte mit der linken Hand ihr Gesicht wie wahnsinnig an seine Brust . » Jasko , fasse dich – sei ein Mann ! « stöhnte sie ; ihr Haupt sank wie leblos zurück , aber sie öffnete die halb gebrochenen Augen wieder , und es schien , als klammere sich die scheidende Seele noch einmal verzweiflungsvoll an die zusammenbrechende Hülle – diese Lippen , die in Staub zerfallen sollten , mußten noch einmal sprechen ; das Herz durfte nicht stillstehen und die Qualen unausgesprochener Mutterangst mit unter die Erde nehmen . » Du bist ungerecht gegen dich selbst , Jasko , « sagte sie nach einer Pause , während welcher sie noch einmal den Rest ihrer Kräfte zusammengerafft hatte ; » ich bin nicht elend geworden durch dich ... ich bin geliebt worden , wie selten ein Weib , und diese Jahre des Liebesglückes wiegen wohl ein ganzes , langes Menschenleben auf ... Ich habe gewußt , daß ich dem Taschenspieler meine Hand reiche – ich bin aus dem Vaterhause , das mich um meiner Liebe willen verstieß , hellen Blickes gegangen , um an deiner Seite zu leben ... Wenn Schatten mein Glück getrübt haben , so trifft mich , mich allein die Schuld , die ich meine Kraft überschätzt hatte , und die kleinmütig zusammenbrach unter der Misere deiner Stellung ... Jasko , « fuhr sie leiser fort , » den Mann erhebt der Gedanke , daß seine Kunst , gleichviel welche , ihn adle , über die engherzigen Ansichten der Menschen – das Weib aber zuckt unter den Nadelstichen einer geringschätzenden Behandlung ... O Jasko , die Sorge um Fee macht meine Sterbestunde zu einer qualvollen , schrecklichen ! Ich beschwöre dich , halte das Kind fern von deinem Berufe ! « Sie faßte nach seiner Hand und zog sie an sich . Ihre ganze Seele drängte sich noch einmal in diese schönen Augen , die sich binnen kurzem verdunkeln sollten im Todeskampfe . Ich fordre unsäglich Schweres von dir , Jasko ! « fuhr sie flehentlich fort . » Trenne dich von Fee – gib sie unter die Obhut einfacher , braver Menschen , lasse sie inmitten eines ruhigen , stillen Familienlebens aufwachsen – versprich mir das , mein einzig geliebter Mann . « Mit von Thränen erstickter Stimme gelobte es ihr der Mann . Es folgte eine schreckliche Nacht , der Todeskampf wollte nicht enden . Als aber das Frührot durch die Fenster brach , da warf es seine Rosen auf eine schöne Frauenleiche , deren verklärte Züge die Kämpfe der letzten Stunden nicht mehr ahnen ließen . Orlowsky hatte sich über die erkaltende Hülle geworfen , und nur der Anstrengung mehrerer Männer gelang es , ihn hinwegzureißen und in ein anderes Zimmer zu bringen . Am dritten Tage gegen Abend wurde die » Spielersfrau « unter großem Zudrange zur Erde bestattet . Mitleidige Herzen hatten den Totenschrein mit Blumen bedeckt , und unter den angesehenen Männern der Stadt , die im Leichenzuge schritten , war auch Hellwig ... Der Taschenspieler brach zusammen , als die ersten Schollen auf den Sarg fielen ; aber Hellwig , der neben ihm stand , stützte ihn und führte ihn in die Stadt zurück . Er blieb mehrere Stunden allein bei dem Tiefgebeugten , der bis dahin jeden Zuspruch zurückgewiesen und sogar versucht hatte , Hand an sich zu legen ... Die an der Thür des Sterbezimmers vorübergingen , hörten bisweilen ein heftiges Aufschluchzen des unglücklichen Mannes oder Ausbrüche leidenschaftlicher Zärtlichkeit , auf die süßes Kindergeschwätz antwortete – sie klangen herzzerreißend zusammen , jene thränenerstickte Stimme und die lachenden Silbertöne des Kindes . 3 Der Abend war weit vorgerückt . Ein scharfer Novemberwind fegte durch die Straßen , und die ersten Schneeflocken taumelten auf Dächer und Straßenpflaster und auf die dunkle , frisch aufgeworfene Erde des Grabhügels , der sich über der jungen Frau des Polen wölbte . Inmitten des Hellwigschen Wohnzimmers stand ein gedeckter Tisch . Es waren massive silberne Bestecke , die neben den Tellern lagen , und das weiße Damasttischtuch hatte Atlasglanz und zeigte ein prachtvolles Muster . Die Lampe stand auf dem kleinen , runden Sofatische , hinter welchem die Frau Hellwig saß und an einem langen , wollenen Strumpfe strickte . Sie war eine große , breitschultrige Frau , im Anfange der vierziger Jahre . Vielleicht war dies Gesicht im Schimmer der Jugend schön gewesen , wenigstens hatte das Profil jene klassische Linie , welche die Gesetze der regelmäßigen Schönheit verlangen ; aber hinreißenden Zauber hatte die Frau wohl nie besessen . Und mochte ihr großes Auge auch noch so schön geschnitten und glänzend , ihr Teint noch so strahlend gewesen sein , sie hatten sicher nicht jenen Schmelz zu ersetzen vermocht , den ein reiches Seelenleben über die Züge haucht – wie hätte sich dies Gesicht so versteinern können bei innerer Wärme ? Wie wäre es möglich gewesen , nach einer Jugend voll seligen Gebens und Nehmens , nach den zahllosen Anregungen und Empfindungen , die das Leben in der empfänglichen Seele weckt , noch so eisig zu blicken , wie diese starren , grauen Augen blickten ? ... Ein dunkler Scheitel legte sich in einer strengen , festen Linie um die noch immer weiße Stirn . Das übrige Haar dagegen verschwand unter einem Mullhäubchen von tadelloser Frische . Diese Kopfbedeckung und ein schwarzes Kleid von gesucht einfachem Schnitt mit eng anliegenden Aermeln und schmalen , weißen Manschettenstreifen am Handgelenke gaben der gesamten Erscheinung etwas Puritanerhaftes . Dann und wann wurde eine Seitenthür geöffnet , und das runzelvolle Gesicht einer alten Köchin erschien forschend in der Spalte . » Noch nicht , Friederike ! « sagte Frau Hellwig jedesmal mit eintöniger Stimme , ohne aufzublicken ; aber die Nadeln flogen immer rascher durch die Finger , und ein eigentümlicher Zug von Verbissenheit lagerte um die schmalen Lippen . Die alte Köchin wußte genau , daß » die Madame « ungeduldig sei ; sie liebte es , zu schüren , und rief endlich in weinerlichem Tone in das Zimmer : » Du lieber Gott , wo aber auch nur der Herr bleibt ! Der Braten wird schlecht , und wann soll ich denn heute fertig werden ? « Diese Bemerkung trug ihr zwar eine Rüge ein , denn Frau Hellwig litt es nicht , daß ihre Leute unaufgefordert ihre Meinung äußerten ; aber sie zog sich vergnüglich samt ihrem Verweise in die Küche zurück , hatte sie doch gesehen , daß die Madame nun auch eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen hatte . Endlich wurde die Hausthür aufgemacht . Der volle , tiefe Klang der Thürglocke scholl durch die Hausflur . » Ach , das hübsche Klingkling da oben ! « rief draußen eine klare Kinderstimme . Frau Hellwig legte den Strickstrumpf in ein vor ihr stehendes Körbchen und erhob sich . Befremden und Erstaunen hatten den Ausdruck der Ungeduld verdrängt – sie sah gespannt über die Lampe hinweg nach der Thür . Draußen kratzte jemand unzählige Male mit den Füßen über die Strohmatte , das war ihr Mann . Gleich darauf trat er in das Zimmer und ging mit etwas unsicheren Schritten auf seine Frau zu . Er trug ein kleines Mädchen , das ungefähr vier Jahre alt sein mochte , auf dem Arme . » Ich bringe dir hier etwas mit nach Hause , Brigittchen , « sagte er bittend , aber er verstummte sogleich wieder , als sein Auge das seiner Frau traf . Nun ? « fragte sie , ohne sich zu bewegen . » Ich bringe dir ein armes Kind – « » Wem gehört es ? « unterbrach sie ihn kalt . » Dem unglücklichen Polen , der seine junge Frau auf eine so schreckliche Weise verloren hat ... Liebes Brigittchen , nimm die Kleine gütig auf ! « » Doch wohl nur für diese Nacht ? « » Nein – ich habe dem Manne heilig versprochen , daß das Kind in meinem Hause aufwachsen soll . « Er sprach diese Worte rasch und fest ; denn es mußte ja doch einmal gesagt werden . Das weiße Gesicht der Frau war plötzlich mit einer hellen Röte übergossen , und ein schneidender Zug flog um ihre Lippen . Sie verließ ihren bisherigen Platz um einen Schritt und tippte mit einer unbeschreiblich maliziösen Bewegung den Zeigefinger gegen die Stirn . » Ich fürchte , es ist nicht richtig bei dir , Hellwig , « sagte sie . Ihre Stimme hatte noch immer die kalte Ruhe , was in diesem Augenblicke um so verletzender klang . » Mir , mir eine solche Zumutung ? ... Mir , die ich mein Haus zu einem Tempel des Herrn zu machen suche , Komödiantenbrut unter das Dach zu bringen , dazu gehört mehr noch , als – Einfalt . « Hellwig fuhr zurück , und ein Blitz zuckte aus seinen sonst so gutmütigen Augen . » Du hast dich gewaltig geirrt , Hellwig ! « fuhr sie fort . » Ich nehme dies Kind der Sünde nicht in mein Haus – das Kind eines verlorenen Weibes , das so sichtbar vom Strafgerichte des Herrn ereilt worden ist . « » So – ist das deine Meinung , Brigitte ? Nun , so frage ich dich , welcher Sünden hat sich dein Bruder schuldig gemacht , als er auf der Jagd von einem unvorsichtigen Schützen erschossen wurde ? Er war seinem Vergnügen nachgegangen – das arme Weib aber starb in Erfüllung einer schweren Pflicht . « Das Blut wich der Frau aus dem Gesicht , sie wurde plötzlich kreideweiß . Einen Moment schwieg sie und richtete das Auge erstaunt und lauernd zugleich auf ihren Mann , der plötzlich eine solche Energie ihr gegenüber entwickelte . Währenddem zog das kleine Mädchen , das Hellwig auf den Boden gestellt hatte , die rosenfarbene Kapuze herunter , und ein reizendes Köpfchen voll kastanienbrauner Locken kam zum Vorschein ; auch das Mäntelchen flog zur Erde ... Wie verhärtet mußte das Herz der Frau sein , daß sie nicht sofort beide Arme ausbreitete und das Kind kosend an die Brust drückte ! War sie völlig blind gegen den unsäglichen Liebreiz der kleinen Gestalt , die auf den zierlichsten Füßchen , die je in einem Kinderschuhe gesteckt , durch das Zimmer trippelte und mit großen Augen die neue Umgebung betrachtete ? .. . Das rosige Fleisch der runden Schultern quoll aus einem hellblauen Wollkleidchen , dessen Bändchen und Säume zierliche Stickerei zeigten – vielleicht war dieser Schmuck des Lieblings die letzte Arbeit der Hände gewesen , die nun im Tode erstarrt waren . Aber gerade der elegante Anzug , der ungezwungene , geniale Fall der Locken auf Stirn und Hals , die graziösen Bewegungen des Kindes empörten die Frau . » Nicht zwei Stunden möchte ich diesen Irrwisch um mich leiden , « sagte sie plötzlich , ohne auf die eklatante Zurechtweisung ihres Mannes auch nur eine Silbe zu erwidern . » Das zudringliche kleine Ding mit den wilden Haaren und der entblößten Brust paßt nicht in unseren ernsthaften , strengen Haushalt – das hieße geradezu der Leichtfertigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen . Hellwig , du wirst diesen Zankapfel nicht zwischen uns werfen , sondern dafür sorgen , daß die Kleine wieder dahin zurückgebracht wird , wohin sie gehört . « Sie öffnete die Thür , die nach der Küche führte , und rief die Köchin herein . » Friederike , ziehe dem Kinde die Sachen wieder an , « befahl sie , auf Kapuze und Mantel der Kleinen deutend , die noch am Boden lagen . » Du gehst augenblicklich in die Küche zurück ! « gebot Hellwig mit lauter , zorniger Stimme und zeigte nach der Thür . Die verblüffte Magd verschwand . » Du treibst mich zum Aeußersten durch deine Härte und Grausamkeit , Brigitte ! « rief der erbitterte Mann . » Schreibe es daher dir und deinen Vorurteilen zu , wenn ich dir jetzt Dinge sage , die sonst nie über meine Lippen gekommen wären ... Wem gehört das Haus , das du , wie du sehr irrigerweise behauptest , zu einem Tempel des Herrn gemacht haben willst ? – Mir ... Brigitte , du bist auch als arme Waise in dies Haus gekommen – im Laufe der Jahre hast du das vergessen , und , Gott sei es geklagt , je eifriger du an diesem sogenannten Tempel gebaut , je mehr du dich befleißigt hast , den Herrn und die christliche Liebe und Demut auf den Lippen zu führen , um so hochmütiger und hartherziger bist du geworden ... Dies Haus ist mein Haus , und das Brot , welches wir essen , bezahle ich , und so erkläre ich dir entschieden , daß das Kind bleibt , wo es ist ... Und ist dein Herz zu eng und liebeleer , um mütterlich für die arme Waise zu fühlen , so verlange ich wenigstens von meiner Frau , daß sie in Rücksicht auf meinen Willen dem Kinde den nötigen weiblichen Schutz zu teil werden läßt ... Wenn du nicht dein Ansehen bei unseren Leuten verlieren willst , so triff jetzt die nötigen Anordnungen zur Aufnahme des Kindes – außerdem werde ich die Befehle geben . « Nicht ein Wort mehr kam über die weißgewordenen Lippen der Frau . Jede andere würde wohl in einem solchen Augenblicke der völligen Ohnmacht zu der letzten Waffe , den Thränen , gegriffen haben ; aber diese kalten Augen schienen den süßen , erleichternden Quell nicht zu kennen . Dieses völlige Verstummen , diese eisige Kälte , mit der sich die ganze Frauengestalt förmlich panzerte , hatte etwas Beängstigendes und mußte jedem anderen die Brust zuschnüren ... Sie griff schweigend nach einem Schlüsselbunde und ging hinaus . Mit einem tiefen Seufzer nahm Hellwig die Kleine bei der Hand und ging mit ihr im Zimmer auf und ab . Er hatte einen furchtbaren Kampf gekämpft , um diesem verlassenen Wesen eine Heimat in seinem Hause zu sichern , er hatte seine Frau tödlich beleidigt ; nie , nie – das wußte er – vergab sie ihm die bitteren Wahrheiten , die er ihr eben gesagt hatte , denn sie war unversöhnlich . 4 Unterdes stellte Friederike einen kleinen Zinnteller mit einem Kinder-Eßbesteck und einer frischen Serviette auf den Tisch . Zugleich klingelte es draußen , und gleich darauf öffnete Heinrich die Zimmerthür und ließ einen kleinen , ungefähr siebenjährigen Knaben eintreten . » Guten Abend , Papa ! « rief der Kleine und schleuderte die Schneeflocken von seiner Pelzmütze . Hellwig nahm den blonden Kopf seines Kindes zärtlich zwischen seine Hände und küßte es auf die Stirn . » Guten Abend , mein Junge , « sagte er ; » nun , war es hübsch bei deinem kleinen Freunde ? « » Ja ; aber der dumme Heinrich hat mich viel zu früh geholt . « » Das hat die Mama so gewünscht , mein Kind ... Komm her , Nathanael , sieh dir einmal dies kleine Mädchen an – es heißt Fee – « » Dummheit ! ... wie kann sie denn › Fee ‹ heißen – das ist ja gar kein Name ! « Hellwigs Auge streifte gerührt über das kleine Geschöpfchen , das Elternzärtlichkeit selbst mittels des Rufnamens poetisch zu verklären gesucht hatte . » Ihr Mütterchen hat sie so genannt , Nathanael , « sagte er weich ; » sie heißt eigentlich Felicitas ... Ist sie nicht ein armes , armes Ding ? Ihre Mama ist heute begraben worden ; sie wird nun bei uns wohnen , und du wirst sie lieb haben , wie ein Schwesterchen , gelt ? « Nein , Papa , ich will kein Schwesterchen haben . « Der Knabe war das treue Abbild seiner Mutter . Er hatte schöne Züge und einen merkwürdig klaren rosigen Teint ; aber er hatte auch die häßliche Gewohnheit , das Kinn auf die Brust zu drücken und mit seinen großen Augen unter der gewölbten Stirn hervor nach oben zu schielen , was ihm einen Ausdruck von Heimtücke und Verschlagenheit gab . In diesem Augenblicke bog er den Kopf noch tiefer als sonst gegen die Brust , hob den rechten Ellbogen wie zu trotziger Abwehr in die Höhe und sah unter demselben mit einem bösartigen Ausdrucke nach dem Kinde hinüber . Die Kleine stand dort und zog und zerrte verlegen an ihrem Röckchen ; der bedeutend größere Junge imponierte ihr offenbar , aber allmählich kam sie näher , und ohne sich durch seine gehässige Stellung abschrecken zu lassen , griff sie mit leuchtenden Augen nach dem Kindersäbel , der an seinem Gürtel hing . Er stieß sie zornig zurück und lief seiner Mutter entgegen , die eben wieder eintrat . » Ich will aber kein Schwesterchen haben ! « wiederholte er weinerlich . » Mama , schicke das ungezogene Mädchen fort ; ich will allein sein bei dir und dem Papa ! « Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und trat hinter ihren Stuhl am Eßtische . » Bete , Nathanael ! « gebot sie eintönig und faltete die Hände . Sofort fuhren die zehn Finger des Knaben ineinander ; er senkte demütig den Kopf und sprach ein langes Tischgebet ... Unter den obwaltenden Umständen war dies Gebet die abscheulichste Profanation einer schönen christlichen Sitte . Der Hausherr rührte das Essen nicht an . Auf seiner sonst so blassen Stirn lag die Röte innerer Aufregung , und während er mechanisch mit der Gabel spielte , flog sein getrübter Blick unruhig über die mürrischen Gesichter der Seinen . Das kleine Mädchen ließ es sich dagegen vortrefflich schmecken . Sie steckte einige Bonbons , die er neben ihren Teller gelegt hatte , gewissenhaft in ihr Täschchen . » Das ist für Mama , « sagte sie zutraulich ; » die ißt Bonbons zu gern ; Papa bringt ihr immer ganze große Düten voll mit . « » Du hast gar keine Mama ! « rief Nathanael feindselig herüber . » O , das weißt du ja gar nicht ! « entgegnete die Kleine sehr aufgeregt . » Ich habe eine viel schönere Mama , als du ! « Hellwig sah tieferschrocken und scheu nach seiner Frau , und seine Hand hob sich unwillkürlich , als wollte sie sich auf den kleinen rosigen Mund legen , der das eigene Interesse so schlecht zu wahren verstand . » Hast du für ein Bettchen gesorgt , Brigittchen ? « fragte er hastig , aber mit sanfter , bittender Stimme . » Ja . « » Und wo wird sie schlafen ? « » Bei Friederike . « » Wäre nicht so viel Platz – wenigstens für die erste Zeit – in unserem Schlafzimmer ? « » Wenn du Nathanaels Bett hinausschaffen willst , ja . « Er wandte sich empört ab und rief das Dienstmädchen herein . » Friederike , « sagte er , » du wirst des Nachts dies Kind unter deiner Obhut haben – sei gut und freundlich mit ihm ; es ist eine arme Waise und an die Zärtlichkeit einer guten , sanften Mutter gewöhnt . « » Ich werde dem Mädchen nichts in den Weg legen , Herr Hellwig , « entgegnete die Alte , die offenbar gehorcht hatte ; » aber ich bin ehrlicher Leute Kind und hab' in meinem ganzen Leben nichts mit Spielersleuten zu schaffen gehabt – wenn man nur wenigstens wüßte , ob die Menschen getraut gewesen sind . « Sie schielte hinüber nach Frau Hellwig und erwartete ohne Zweifel einen belobenden Blick für ihre » herzhafte « Antwort , allein die Madame band eben Nathanael die Serviette ab und sah überhaupt drein , als sehe und höre sie von dem ganzen Handel nichts . » Das ist stark ! « rief Hellwig entrüstet . » Muß ich denn erst heute erfahren , daß in meinem ganzen Hause weder Mitleiden noch Erbarmen zu finden ist ? Und Du meinst , du dürftest unbarmherzig sein , weil du ehrlicher Leute Kind bist , Friederike ? .. . Nun , zu deiner Beruhigung sollst du wissen , daß die Leute in rechtlicher Ehe gelebt haben ; aber ich sage dir auch hiermit , daß ich von nun an sehr streng mit dir verfahren werde , sobald ich merke , daß du dem Kinde irgendwie zu nahe trittst . « Es schien , als sei er des Kampfes müde . Er stand auf und trug die Kleine in die Kammer der Köchin . Sie ließ sich gutwillig zu Bett bringen und schlief bald ein , nachdem sie mit süßer Stimme für Papa und Mama , für den guten Onkel , der sie morgen wieder zu Mama tragen werde , und – für » die große Frau mit dem bösen Gesichte « gebetet hatte . Spät in der Nacht ging Friederike zu Bett . Sie war zornig , daß sie so lange hatte aufbleiben müssen , und rumorte rücksichtslos in der Kammer . Die kleine Felicitas fuhr jäh aus dem Schlafe empor ; sie setzte sich im Bette auf , strich die wirren Locken aus der Stirn , und ihre Augen glitten angstvoll suchend über die räucherigen Wände und dürftigen Möbel der engen , schwach beleuchteten Kammer . » Mama , Mama ! « rief sie mit lauter Stimme . » Sei still , Kind , deine Mutter ist nicht da ; schlafe wieder ein , « sagte die Köchin mürrisch , während sie sich entkleidete . Die Kleine sah erschreckt zu ihr hinüber ; dann fing sie an , leise zu weinen – sie fürchtete sich offenbar in der fremden Umgebung . » Na , jetzt heult die Range auch noch , das könnte mir fehlen – gleich bist du still , du Komödiantenbalg ! « Sie hob drohend die Hand . Die Kleine steckte erschrocken das Köpfchen unter die Decke . » Ach , Mama , liebe Mama , « flüsterte sie , » wo bist du nur ? Nimm mich doch in dein Bett – ich fürchte mich so ... ich will auch ganz artig sein und gleich einschlafen ... Ich habe dir auch etwas aufgehoben , ich habe nicht alles gegessen – Fee bringt dir etwas mit , liebe Mama ... Oder gib mir nur deine Hand , dann will ich in meinem Bettchen bleiben und – « » Bist du wohl still ! « rief Friederike und rannte wie wütend nach dem Bette des Kindes ... Es rührte sich nicht mehr – nur dann und wann drang ein unterdrücktes Schluchzen unter der Decke hervor . Die alte Köchin schlief längst den Schlaf des Gerechten , als das arme Kind , die aufgeschreckte Sehnsucht im kleinen Herzen , noch leise nach der toten Mutter jammerte . 5 Hellwig war Kaufmann . Erbe eines bedeutenden Vermögens , hatte er dasselbe durch verschiedene industrielle Unternehmungen noch vermehrt . Er zog sich jedoch , weil er kränkelte , ziemlich früh aus der Geschäftswelt zurück und privatisierte in seiner kleinen Vaterstadt . Der Name Hellwig hatte da einen gewichtigen Klang . Die Familie war seit undenklichen Zeiten eine der angesehensten , und durch viele Generationen hindurch hatte immer einer der Träger des geachteten Namens irgend ein Ehrenamt der Stadt bekleidet . Der schönste Garten vor den Thoren des Städtchens und das Haus am Markte waren seit Menschengedenken im Besitze der Familie . Das Haus bildete die Ecke des Marktplatzes und einer steil bergaufsteigenden Straße , und an dieser Ecke lief die stattliche Fronte des Gebäudes in einen weit hervorspringenden Erker aus . In den zwei oberen Stockwerken hingen jahraus , jahrein schneeweiße Rouleaus hinter den Scheiben ; nur dreimal im Jahre und dann stets einige Tage vor den hohen Festen verschwanden die Hüllen – es wurde gelüftet und gescheuert . Die mächtigen , erzenen Drachenköpfe hoch oben am Dache , die das Regenwasser aus der Dachrinne hinunter auf das Pflaster spieen , die Vögel , welche vorüberflatterten , sahen dann die aufgespeicherten Schätze des alten Kaufmannshauses , sahen die altmodische Pracht der Zimmer – jene hohen Schränke von kostbarer eingelegter Arbeit mit den blitzenden Schlössern und Handhaben , die reichen seidendamastenen Ueberzüge auf den strotzenden Daunenkissen der Kanapees und den hochgepolsterten Stühlen , die deckenhohen , in die Wand eingefügten , venezianischen Spiegel und in den Kammern die hochaufgestapelten Gastbetten , deren Leinenüberzügen ein starker Lavendelduft entquoll . Diese Räume wurden nicht bewohnt . Es war niemals Sitte in der Familie Hellwig gewesen , einen Teil des geräumigen Hauses zu vermieten . Durch alle Zeiten hatte da droben vornehmes , feierliches Schweigen geherrscht , das nur unterbrochen wurde durch eine glänzende Hochzeit oder Kindtaufe und im Laufe des Jahres dann und wann durch den hallenden Schritt der Hausfrau , die dort ihre Leinenschätze , ihr Silber- und Porzellangeschirr verwahrt hielt . Frau Hellwig war als zwölfjähriges Kind in dies Haus gekommen . Die Hellwigs waren ihr verwandt und nahmen sie auf , als ihre Eltern rasch hintereinander starben und sie und ihre Geschwister mittellos hinterließen . Das junge Mädchen hatte einen schweren Stand der alten Tante gegenüber , die eine strenge und stolze Frau war . Hellwig , der einzige Sohn des Hauses , empfand anfänglich Mitleiden für sie , später aber verwandelte sich die Teilnahme in Liebe . Seine Mutter war entschieden gegen seine Wahl , und es kam deshalb zu schlimmen Auftritten , allein der Liebende setzte schließlich seinen Willen durch und führte das Mädchen heim . Er hatte die mürrische Schweigsamkeit der Geliebten für mädchenhafte Schüchternheit , ihre Herzenskälte für sittliche Strenge , ihren starren Sinn für Charakter gehalten und stürzte mit dem Eintritt in die Ehe aus all seinen Himmeln . Binnen kurzem fühlte der gutmütige Mann die eiserne Faust einer despotischen Seele im Genicke , und da , wo er dankbare Hingebung gehofft hatte , trat ihm plötzlich der krasseste Egoismus entgegen . Seine Frau schenkte ihm zwei Kinder , den kleinen Nathanael und seinen um acht Jahre älteren Bruder Johannes . Den letzteren hatte Hellwig schon als elfjähriges Kind zu einem Verwandten , einem Gelehrten , gebracht , der am Rhein lebte und Vorstand eines großen Knabeninstituts war . Das waren Hellwigs Familienverhältnisse zu der Zeit , wo er das Kind des Taschenspielers in sein Haus nahm . Das schreckliche Ereignis , dessen Zeuge er gewesen war , hatte ihn tief erschüttert . Er konnte den flehenden , unsäglich schmerzlichen Blick der Unglücklichen nicht vergessen , als sie gedemütigt in seiner Hausflur gestanden und seinen Thaler in Empfang genommen hatte . Sein weiches Herz litt unter dem Gedanken , daß es vielleicht sein Haus gewesen war , wo das arme Weib den letzten verwundenden Stachel ihrer unglückseligen Lebensstellung hatte empfinden müssen . Als daher der Pole ihm die letzte Bitte der Verstorbenen mitteilte , da erbot er sich rasch , das Kind erziehen zu wollen . Erst als er auf die dunkle Straße hinaustrat , wohin ihm der letzte , herzzerreißende Abschiedsruf des unglücklichen Mannes nachscholl , und wo die Kleine , ihre Aermchen fester um seinen Hals schlingend , nach der Mama frug , erst da dachte er an den Widerspruch , der ihn voraussichtlich daheim erwartete ; allein er rechnete auf den Liebreiz des Kindes und auf den Umstand , daß seiner eigenen Ehe ja ein Töchterchen versagt sei – er hatte trotz aller schlimmen Erfahrungen noch immer keinen vollkommenen Begriff von dem Charakter seines Weibes , sonst hätte er sofort umkehren und das Kind in die Arme des Vaters zurückbringen müssen . War bis dahin das Verhältnis zwischen Hellwig und seiner Frau ein frostiges gewesen , so hatte es jetzt nach der Aufnahme der kleinen Waise den Anschein , als seien granitene Mauern zwischen dem Ehepaar aufgestiegen . Im Hause ging zwar alles seinen Gang unbeirrt fort . Frau Hellwig wanderte täglich mehrere Male durch die Haus- und Wirtschaftsräume – sie hatte durchaus keinen schwebenden Gang , und für ein feines oder gar ein ängstliches Ohr hatten diese harten , festen Schritte etwas Nervenaufregendes . Fortwährend glitt dabei ihre rechte Hand über Möbel , Fenstersimse und Treppengeländer – es war ein unbezwinglicher Hang , eine Manie dieser Frau , die große , weiße Hand mit den kolbigen Fingerspitzen und den breiten Nägeln über alles hinstreifen zu lassen und dann die innere Fläche sorgsam zu prüfen , ob nicht Staubatome oder das verpönte Fädchen eines Spinnewebenversuchs daran hänge ... Es wurde gebetet nach wie vor , und die Stimmen , die Gottes ewige Liebe und Barmherzigkeit priesen , die sein Gebot wiederholten , nach welchem wir selbst unsere Feinde lieben sollen , sie klangen genau so eintönig und unbewegt , wie vorher auch . Man nahm die Mahlzeiten gemeinschaftlich ein , und Sonntags schritt das Ehepaar einträchtig nebeneinander zur Kirche . Aber Frau Hellwig vermied es mit eiserner Konsequenz , ihren Mann anzureden . Sie fertigte seine Annäherungsversuche mit der knappesten Kürze ab und machte es möglich , stets neben oder über der kleinen Gestalt des Hausherrn hinwegzusehen . Ebensowenig existierte der kleine Eindringling für sie . Sie hatte an jenem stürmischen Abende der Köchin ein für allemal befohlen , täglich eine Portion Essen mehr anzurichten , und in die Kammer derselben einige Bettstücke nebst Leinzeug geworfen . Den kleinen Koffer mit Felicitas' Habseligkeiten , den unterdes der Hausknecht aus dem » Löwen « gebracht , mußte Friederike vor den Augen der Hausfrau öffnen , und die äußerst sauber gehaltene , kleine Garderobe , welcher der Hauch eines sehr feinen Odeurs entquoll , sofort auf einen offenen Gang zum Auslüften hängen ... Hiermit begann und beschloß sie die ihr aufgedrungene Fürsorge für das » Spielerskind « , und als sie danach wieder in das Zimmer trat , war sie mit diesem Kapitel innerlich fertig für alle Zeiten . Nur ein einziges Mal schien es , als ob ein Funke Teilnahme in ihr aufglimme . Eines Tages nämlich saß eine Nähterin im Wohnzimmer und fertigte aus einem dunklen Stoffe zwei Kleider für Felicitas , genau nach dem strengen Schnitte , wie die Frau des Hauses sich trug . Zu gleicher Zeit preßte Frau Hellwig die widerstrebende Kleine zwischen ihre Kniee und bearbeitete deren Kopf so lange mit Bürste , Kamm und Pomade , bis das wundervolle Lockengeringel die erwünschte Glätte und Nachgiebigkeit erhielt und sich in zwei häßliche , steife Zöpfe am Hinterkopfe zwängen ließ ... Die Abneigung dieses Weibes gegen Grazie und Anmut , gegen alles , was wider die Gebote ihrer verknöcherten Ansichten stritt , und was seine Linien und Formen aus dem Gebiete des Idealen entnahm – jener Widerwille war stärker noch als ihr Starrsinn , als der Vorsatz , die Anwesenheit des Kindes im Hause völlig zu ignorieren ... Hellwig hätte weinen mögen , als ihm sein kleiner Liebling so entstellt entgegentrat , während seine Frau nach der Sühne , die ihr schönheitsfeindlicher Sinn gebieterisch verlangt hatte , womöglich noch zurückweisender gegen das Kind war als vorher . Noch war indes die Kleine nicht zu beklagen ; noch konnte sie aus dem Bereiche jener Medusenaugen an ein warmes Herz flüchten – Hellwig liebte sie wie seine eigenen Kinder . Freilich fand er nicht den Mut , dies offen auszusprechen , – seinen Fonds von Energie hatte er an jenem ereignisvollen Abende seiner Frau gegenüber völlig erschöpft – aber sein Auge wachte unablässig über Felicitas . Gleich Nathanael hatte sie ihr Spielwinkelchen in ihres Pflegevaters Zimmer ; dort durfte sie ungestört ihre Puppen herzen und sie einwiegen mit den Melodien , die sie noch gelernt hatte auf den Knieen der Mutter . Nathanael ging nicht in die öffentliche Schule ; er erhielt seinen Unterricht von Privatlehrern unter den Augen des Vaters , und als Felicitas ihr sechstes Jahr erreicht hatte , begann dieser Unterricht auch für sie . Sobald aber der Schnee schmolz und Krokus und Schneeglöckchen die noch leeren , schwarzen Rabatten besäumten , wanderte Hellwig täglich mit den Kindern hinaus in seinen großen Garten ; da draußen wurde gelernt und gespielt , während man nur zur Essenszeit das Haus am Marktplatze aufsuchte . Frau Hellwig betrat sehr selten den Garten ; sie zog es vor , mit dem Strickstrumpfe in ihrer großen , stillen Stube , hinter dem makellos weißen , in regelrechte Fältchen gebrochenen Fenstervorhange zu sitzen , und zu diesem Vorzuge hatte sie einen ganz besonderen Grund . Ein Vorfahr Hellwigs hatte den Garten in altfranzösischem Stile angelegt . Es war sicher eine Meisterhand gewesen , von welcher die rings verteilten , lebensgroßen mythologischen Figuren und Gruppen aus Sandstein herrührten . Freilich hoben sich die hellen Gestalten scharf ab von den düsteren , steifen Taxuswänden . Die reizenden , aber ziemlich unverhüllten Formen einer Flora , die entblößten zarten Schultern und Arme der sich sträubenden Proserpina und die muskulöse Nacktheit ihres gewaltigen Entführers mußten den Blick des Eintretenden sogleich auf sich ziehen – und das waren in der That Steine des Anstoßes für Frau Hellwig . Sie hatte anfänglich die Hinwegschaffung dieser » sündhaften Darstellung des menschlichen Leibes « gebieterisch verlangt , allein Hellwig rettete seine Lieblinge durch Vorzeigung des väterlichen Testaments , in welchem ausdrücklich die Entfernung der Statuen untersagt wurde . Hierauf hatte Frau Hellwig nichts Eiligeres zu thun , als zu Füßen der mythologischen Zankäpfel eine Wildnis von Schlingpflanzen anlegen zu lassen , und nicht lange dauerte es , so erschien Herrn Plutos grimmiges Gesicht unter einer ehrwürdigen , grünen Allongeperücke . Eines schönen Morgens aber riß Heinrich auf Befehl seines Herrn mit einem wahren Wonnegefühl die grünen Schmarotzer bis auf das kleinste Wurzelfäserchen aus der Erde , und seit der Zeit vermied es Frau Hellwig im Interesse ihres Seelenheils , noch mehr aber darum , weil die Statuen hohnlächelnde Zeugen ihrer Niederlage waren , den Garten zu betreten . Gerade deshalb wurde er aber auch die eigentliche Heimat der kleinen Felicitas . Hinter den großen Taxuswänden dehnte sich ein großer , prächtiger Rasenfleck . Riesige Nußbäume senkten die Stämme tief ein in das blumengesprenkelte Gras , und ein rauschender Mühlbach durchschnitt zum Teil die grüne Fläche ; seine Borde umsäumte dichtes Haselgesträuch , und der kleine beraste Damm , den man zum Schutze gegen das im Frühling reißende Gewässer aufgeworfen hatte , schimmerte im Mai gelb von Schlüsselblumen , und später lugten die rosenroten Aeuglein der Feldnelken zwischen den wehenden Halmen . Felicitas lernte unermüdlich und saß mit merkwürdig beherrschter Haltung in den Lehrstunden . Wenn aber Hellwig am späten Nachmittage den Unterricht für beendet erklärte , dann erschien sie plötzlich völlig umgewandelt . Noch hochrot vom Lerneifer , war sie doch wie toll , wie berauscht von der Freiheit : sie konnte immer und immer wieder mit hochgehobenen Armen , wie ohne Zweck und Ziel , über den Rasenplatz jagen , ungebändigt , in wilder Grazie , wie das junge Roß der Steppe . Dann glitt sie blitzschnell am Stamme eines Nußbaumes empor , tauchte den Kopf , umwogt von aufgelösten Haarmassen , jauchzend aus der höchsten Spitze des Wipfels und lag dann plötzlich wieder drunten am Mühlbache ; die gefalteten Hände unter den Kopf gelegt und in das grüne Düster der droben leise auf und ab wehenden gefiederten Nußblätter schauend , träumte sie , träumte jene hellen , trügerischen Gebilde von Welt und Zukunft , die sich wohl hinter jeder lebhaft denkenden Kinderstirne aus gehörten goldenen Märchen und der eigenen Einbildungskraft zusammenweben ... Drunten rauschte das Wasser eintönig vorüber ; die Sonnenstrahlen taumelten auf den Wellen und drangen gedämpft durch die dunklen Haselbüsche wie halbverschleierte , geheimnisvolle Glutaugen ; Bienen und Hummeln summten vorüber , und die Schmetterlinge , die , im Vordergarten gelangweilt , die sorgfältig gepflegten exotischen Gewächse umflattert hatten , fanden hier das gelobte Land und hingen sich furchtlos an die Blumenkelche dicht neben der Wange des kleinen Mädchens ... Es zogen wohl auch phantastisch geformte , weiße leuchtende Wölkchen droben über den Baumwipfel – dann stand plötzlich eine rätselhafte Vergangenheit vor den Augen des tief sinnenden Kindes . Weiß und leuchtend war ja auch das Gewand der Mutter gewesen ; das Kerzenlicht hatte sich förmlich in dem milchweißen Glanze des Stoffes gespiegelt , der lang und mit Blumen bestreut über das vermeintliche schmale Bett herabgeflossen war . Felicitas wunderte sich noch immer , daß die Mutter Blumen in den Händen gehabt und ihr keine einzige geschenkt hatte ; sie grübelte und sann , weshalb man ihr damals nicht erlauben wollte , die Mama wach zu küssen , was doch sonst jeden Morgen unter gegenseitiger Schelmerei , zum großen Jubel des Kindes , hatte geschehen dürfen – sie wußte nicht , daß das bezaubernde Mutterantlitz , welches sich stets in leidenschaftlicher Zärtlichkeit über sie herabgeneigt , längst unter der Erde moderte . Hellwig hatte nie gewagt , ihr die Wahrheit zu sagen ; denn wenn sie auch nach einem Zeitraume von fünf Jahren nicht mehr so bitterlich weinend und mit stürmischer Heftigkeit nach den Eltern verlangte , so sprach sie doch stets mit rührender Zärtlichkeit von ihnen und hielt ihres Pflegevaters doppelsinniges Versprechen , daß sie die Ihrigen dereinst wiedersehen werde , mit unzerstörbarer Ueberzeugung fest . Ebensowenig kannte sie den Beruf ihres Vaters ; er selbst hatte es so gewünscht , und deshalb sah Hellwig streng darauf , daß niemand im Hause mit der Kleinen von der Vergangenheit spreche . Es fiel ihm nicht ein , daß der wohlthätige Schleier , den er vor ihren Augen festhielt , vor der Zeit seiner Hand entfallen könne – er dachte nicht an seinen eigenen Tod ; und doch schritt dies furchtbare Gespenst längst unhörbar , aber sicher neben ihm . Er war unheilbar brustleidend , allein , wie alle derartigen Kranken , hatte er die unerschütterlichsten Lebenshoffnungen . Er mußte bereits auf dem Rollstuhle in seinen geliebten Garten gefahren werden – das nannte er vorübergehende Schwäche , die ihn durchaus nicht hinderte , großartige Bau- und Reisepläne zu entwerfen . Eines Nachmittags trat Doktor Böhm in Hellwigs Zimmer . Der Kranke saß an seinem Schreibtische und schrieb emsig ; verschiedene Kissen , die man hinter seinem Rücken und zu beiden Seiten in den Lehnstuhl gesteckt hatte , hielten die abgezehrte gebrochene Gestalt aufrecht . » Heda ! « rief der Doktor , indem er mit dem Stocke drohte . » Was sind denn das für Extravaganzen ? .. Wer , ins Henkers Namen , hat dir denn das Schreiben erlaubt ? Willst du wohl gleich die Feder hinlegen ! « Hellwig drehte sich um – ein heiteres Lächeln spielte um seine Lippen . » Da hast du wieder einmal das Exempel ! « erwiderte er sarkastisch . » Doktor und Tod gehören zusammen ... Ich schreibe da an den Jungen , den Johannes , über die kleine Fee , und da fällt mir , der ich in meinem ganzen Leben nie weniger ans Sterben gedacht hatte , als gerade jetzt , in dem Augenblicke , wo du ins Haus trittst , der Satz da aus der Feder . « Der Doktor bog sich nieder und las laut : » Ich halte viel von Deinem Charakter , Johannes , und würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in Deine Hände legen , falls ich früher aus der Welt gehen sollte , als – « » Basta , und nun für heute kein Wort weiter ! « sagte der Lesende , während er einen Kasten aufzog und den halbvollendeten Brief hineinlegte . Dann griff er rasch nach dem Pulse des Kranken , und sein Blick glitt verstohlen über die zwei zirkelrunden roten Flecken , die auf den scharf hervortretenden Backenknochen glühten . » Du bist wie ein Kind , Hellwig ! « schalt er . » Ich darf nur den Rücken wenden , so machst du sicher dumme Streiche . « » Und du tyrannisierst mich himmelschreiend . Aber warte nur , mit nächstem Mai brenne ich dir durch , und dann magst du mir meinetwegen bis in die Schweiz nachlaufen . « Tags darauf standen die Fenster des Krankenzimmers im Hellwig'schen Hause weit offen . Ein durchdringender Moschusduft quoll hinaus in die Straße , und ein Mann in Trauerkleidung schritt durch die Stadt , um den Honoratioren im Auftrage der trauernden Witwe anzuzeigen , daß Herr Hellwig vor einer Stunde das Zeitliche gesegnet habe . 6 Unter dem grünverhangenen , nach der Hausflur mündenden Fenster , da , wo vor fünf Jahren die schöne unglückliche Frau des Taschenspielers die Pein tiefer Demütigung erlitten hatte , stand der Sarg mit Hellwigs sterblichen Ueberresten . Man hatte die Hülle des ehemaligen Kauf- und Handelsherrn noch einmal mit allem Glanze des Reichtums umgeben . Massiv silberne Handhaben schimmerten am Totenschreine , und das Haupt des Heimgegangenen ruhte auf einem weißen Atlaskissen . – Schrecklicher Kontrast ! Neben dem eingefallenen Totengesichte dufteten frisch abgeschnittene Blumen , junges , unschuldiges Leben , bestimmt , vor der Zeit zu sterben , zur Ehre des Toten ! Viele Leute kamen und gingen , flüsternd und geräuschlos . Der da lag , war ein reicher , angesehener und sehr freigebiger Mann gewesen , aber nun war er ja tot . Fast aller Augen huschten scheu und rasch über die bleichen , zerstörten Züge und konnten sich nicht satt sehen an dem Prunke , dem letzten Aufflackern irdischer Herrlichkeit . Felicitas kauerte in einer dunklen Ecke , hinter den Kübeln mehrerer Oleander und Orangenbäume . Zwei Tage hatte sie den Onkel nicht sehen dürfen , das Sterbezimmer war fest verschlossen gewesen , und nun kniete sie da auf den kalten Steinfliesen und starrte hinüber auf dies völlig fremde Haupt , dem der Tod selbst das Gepräge unbegrenzter Gutmütigkeit weggewischt hatte ... Was hatte das Kind vom Sterben gewußt ! Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm gewesen und hatte doch nicht verstanden , daß mit dem Blutstrome , der über seine Lippen geflossen , plötzlich alles enden müsse . Er hatte die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke auf sie geheftet , als sie aus dem Zimmer geschickt worden . Draußen in der Straße war sie tief besorgt und zornig vor den weit offenen Fenstern des Krankenzimmers auf und ab gelaufen – sie wußte ja , er hütete sich ängstlich vor jedem Zuglüftchen , und nun waren sie so rücksichtslos da drinnen . Sie hatte sich gewundert , daß abends kein Feuer im Kamin gemacht werde , und auf ihre endliche Bitte , dem Onkel die Lampe und den Thee hineintragen zu dürfen , hatte Friederike ärgerlich gerufen : » Ja , Kind , ist 's denn nicht richtig bei dir , oder verstehst du kein Deutsch ? Er ist ja tot , tot ! « Nun sah sie ihn wieder , bis zur Unkenntlichkeit entstellt , und jetzt fing das Kind an , zu begreifen , was Tod sei . Sobald ein frischer Strom Neugieriger die Hausflur füllte , kam Friederike aus der Küche , hielt den Schürzenzipfel vor die Augen und pries die Tugenden des Mannes , den sie zu ärgern gesucht hatte , wo sie konnte . » Da seh' einer das Mädchen an ! « unterbrach sie sich zornig , als sie Felicitas ' blasses Gesichtchen mit den heißen , trockenen Augen zwischen den Orangenbäumen entdeckte . » Ob sie auch nur eine einzige Thräne vergießt ! ... Undankbares Ding ! Sie muß doch auch keinen Funken von Liebe in sich haben ! « » Du hast ihn nie lieb gehabt und weinst , Friederike ! « entgegnete die Kleine schlagend , aber mit völlig tonloser Stimme , und zog sich tiefer in ihre Ecke zurück . Die Hausflur leerte sich allmählich . Statt der Schaulustigen aus den niederen Ständen , die sich jetzt draußen auf dem Markte postierten , um den Leichenzug mit anzusehen , erschienen vornehme , schwarzbefrackte Herren ; sie gingen , nach kurzem Aufenthalte am Sarge , in das Wohnzimmer , um der Witwe ihr Beileid auszusprechen . In der großen , hochgewölbten Flur herrschte augenblickliche Stille , sie hätte eine feierliche genannt werden können , wäre sie nicht hier und da durch das Stimmengesurr drin im Zimmer unterbrochen worden . Da fuhr die kleine Felicitas jäh aus ihrem tiefen Sinnen auf und starrte erschrocken nach der Glasthür , die in den Hofraum führte . Dort hinter den Scheiben erschien ein merkwürdiges Gesicht – er lag doch hier mit den tief eingesunkenen Augen und den unbekannten Zügen um den festgeschlossenen Mund , und dort blickte er forschend in die menschenleere Flur , wiedererstanden mit dem gütevollen Ausdruck des Gesichts , wenn auch der Kopf in fremdartiger Weise umhüllt erschien ... War es doch fast gespenstig , als das Thürschloß sich leise bewegte , und gleich darauf die Thür geräuschlos aufging ... Die seltsame Erscheinung trat auf die Schwelle . Ja , es waren Hellwigs Züge in frappanter Aehnlichkeit , aber sie gehörten einem weiblichen Wesen , einer kleinen alten Dame , die in wunderlicher , dem Reiche der Mode längst entrückter Tracht langsam auf den Sarg zuschritt . Ein sogenanntes Zwickelkleid von schwerem schwarzen Seidenstoffe , vollkommen faltenlos , spannte sich förmlich über sehr eckige , magere Formen ; es war kurz und ließ ein Paar wunderkleiner Füßchen sehen , die jedoch ziemlich unsicher auftraten . Ueber der Stirn kräuselte sich eine Fülle schöngeordneter , schneeweißer Locken , und darüber lag ein klar durchsichtiges , schwarzes Spitzentuch , das unter dem Kinne gebunden war . Die alte Dame bemerkte das Kind nicht , das unbeweglich und atemlos zu ihre aufsah , und trat an den Sarg heran . Sie fuhr bei Erblicken des Totenantlitzes sichtlich entsetzt zurück , und ihre linke Hand ließ wie unbewußt ein Bouquet köstlicher Blumen auf die Brust der Leiche fallen . Einen Augenblick verbarg sie ihre Augen im Taschentuche , dann aber legte sie die Rechte , tief erschüttert , in feierlich beschwörender Weise auf die kalte Stirn des Toten . » Weißt du nun , wie alles zusammenhing , Fritz ? « flüsterte sie . » Ja , du weißt es – du weißt es , wie ja auch längst dein Vater und deine Mutter es wissen ! ... Ich habe dir verziehen , Fritz – du wußtest ja nicht , daß du unrecht thatest ! ... Schlaf wohl – schlaf wohl ! « Sie nahm die wachsbleiche Hand des Verstorbenen noch einmal zärtlich zwischen ihre beiden Hände ; dann trat sie vom Sarge zurück und wollte sich ebenso geräuschlos entfernen , wie sie gekommen war . In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür des Wohnzimmers , und Frau Hellwig trat heraus . Ihr Gesicht erschien unter der schwarzen Krepphaube weißer als Marmor , aber die Unbeweglichkeit ihrer Züge trat auch schärfer hervor denn je – man suchte vergebens nach der leisesten Spur vergossener Thränen an diesen Augen . Sie hielt einen plumpen Kranz von Dahlien in den Händen , offenbar , um ihn als letzte » Liebesgabe « auf den Sarg zu legen . Ihr überraschter Blick begegnete dem der alten Dame . Beide blieben einen Moment wie angewurzelt stehen , aber in den Augen der Witwe begann es unheimlich zu glühen , ihre Oberlippe hob sich ein wenig und ließ einen der weißen Vorderzähne sehen – es lag etwas wie von unauslöschlicher Rachsucht in diesem Ausdrucke ... Auch die Züge der alten Dame verrieten eine tiefe Erregung , sie schien mit einem unsäglichen Widerwillen zu kämpfen , aber sie überwand ihn , und mit einem sanften , feuchten Blicke auf den Verstorbenen hielt sie Frau Hellwig die Rechte hin . » Was wollen Sie hier , Tante ? « fragte die Witwe kurz , indem sie die Bewegung der kleinen Dame völlig ignorierte . » Ihn segnen ! « lautete die milde Antwort . » Der Segen einer Ungläubigen hat keine Macht . « » Gott hört ihn – Seine ewige Weisheit und Liebe wägt nicht zwischen der armseligen Form – wenn er aus treuem Herzen kommt – « » Und aus schuldbeladener Seele ! « ergänzte Frau Hellwig in beißendem Hohne . Die alte Dame richtete sich hoch auf . » Richtet nicht , « begann sie und hob feierlich drohend den Zeigefinger – » doch nein , « unterbrach sie sich mit unbeschreiblicher Milde und blickte auf den Toten , » auch nicht ein Wort mehr soll deinen heiligen Frieden stören ... Leb wohl , Fritz ! « Sie ging langsamen Schrittes zurück in den Hofraum und verschwand hinter einer Thür , die Felicitas bis dahin stets verschlossen gefunden hatte . » Nun , das war doch stark von der alten Mamsell ! « zischelte Friederike , die von der Küchenthür aus den Vorgang beobachtet hatte . Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und legte den Kranz zu Füßen der Leiche . Noch war sie nicht Herr ihrer inneren Erregung . So ungeübt die Züge dieser Frau im Ausdrucke weiblicher Milde und Sanftmut waren , so unbeweglich und wandellos sie auch in ihrer eisernen Strenge erschienen , in Haß und Verachtung wurden sie unheimlich lebendig – wer einmal das schlimme Lächeln gesehen hatte , das in solchen Momenten ihre Mundwinkel tief herabzog , der traute der Ruhe dieses Gesichts nicht mehr . Sie bog sich über den Verstorbenen , anscheinend , um etwas an dem Arrangement zu ändern ; ihre Hand stieß dabei an das Bouquet der alten Dame – es rollte über den Rand des Sarges und fiel zu Felicitas ' Füßen nieder . Draußen schlug es drei . Mehrere Geistliche im Ornate traten in die Hausflur ; auch die Herren kamen aus dem Wohnzimmer , und ihnen folgte Nathanael neben einer hochaufgeschossenen , schmächtigen Jünglingsgestalt . Die Witwe hatte ihrem Sohne Johannes die Todesnachricht telegraphisch mitgeteilt , und heute morgen war er gekommen , um der Begräbnisfeierlichkeit beizuwohnen . Die kleine Felicitas vergaß für einen Augenblick ihre Leid und sah mit der ganzen Neugier des neunjährigen Kindes zu ihm empor , welcher der Liebling des Vaters gewesen war ... Weinte er wohl hinter der schmalen , mageren aber wohlgepflegten Hand , die er beim Anblicke des Dahingeschiedenen über seine Augen gelegt hatte ? ... Nein , es rollte keine Thräne herab , und ein ungeübtes Auge , wie das des Kindes , konnte außer einer ungewöhnlichen Blässe auch sonst kein Merkmal der Erschütterung an dem ernsten Gesichte bemerken . Nathanael stand neben ihm . Er vergoß viele Thränen , aber sein Kummer hinderte ihn nicht , den Bruder leise flüsternd anzustoßen , als er Felicitas in ihrem Schlupfwinkel entdeckte . Johannes ' Blick folgte der Richtung des brüderlichen Zeigefingers . Zum ersten Male hefteten sich diese Augen auf das Gesicht des Kindes – es waren schreckliche Augen , ernst , finster , ohne das Licht des Wohlwollens und der inneren Wärme . In der Bibel war ein Bild des Evangelisten , des Lieblingsschülers Jesu , ein sanftes , schönes Gesicht mit fast weiblich weichen Linien – » das ist der Johannes am Rhein « , hatte sie stets behauptet , und der Onkel hatte lächelnd dazu genickt ... Sie hatten nichts miteinander gemein , jene lieblichen , von hellem Gelock umrahmten Züge und dieser Kopf mit den schlichten , kurzgeschnittenen Haaren und dem tiefernsten , blassen , unregelmäßigen Profil . » Geh fort , Kind , du bist hier im Wege ! « gebot er streng , als er sah , daß man Anstalten machte , den Sarg zu schließen . Felicitas verließ beschämt und erschrocken , als habe sie Strafe verdient , den Winkel und schlich , ungesehen von den anderen , in ihres Pflegevaters ehemaliges Zimmer . Jetzt weinte sie bitterlich ... Ihm war sie nicht im Wege gewesen ! Sie fühlte seine fieberhafte Hand wieder auf ihrem Scheitel und hörte seine gute , schwache Stimme , wie in den letzten Tagen , heiser flüstern : » Komm , Fee , mein Kind , ich hab' es so gern , wenn du bei mir bist ... ! « Horch , was war das für ein Hämmern draußen ? Es scholl mißtönig durch den hochgewölbten Raum , wo doch die vielen Menschen kaum zu flüstern wagten . Felicitas hob verstohlen den grünen Vorhang und sah hinaus in die Flur ... Schrecklich ! die Gestalt des Onkels war verschwunden ; dort der schwarze Deckel lag auf seinem lieben Gesichte und hielt ihn für immer unerbittlich fest in der ausgestreckten Stellung . Wenn er nur ein wenig die Hand hob , stieß sie überall an harte , fest zusammengefügte Bretter ... und dort klopfte der Mann abermals und rüttelte an dem Deckel , ob er auch fest säße , ob ihn nicht die Hand da drin zurückstoßen könne , – da drin in der tiefen Dunkelheit des engen Kastens , da drin , wo man nicht atmen konnte , wo man so furchtbar allein war ... Die Kleine schrie laut auf vor Entsetzen . Aller Augen richteten sich verwundert auf das Fenster , aber Felicitas sah nur die großen , grauen , deren Blick sie vorhin so tief erschreckt hatte . Er blickte strafend herüber ; sie verließ das Fenster und flüchtete sich hinter den großen , dunklen Vorhang , der das Zimmer in zwei Hälften teilte . Dort kauerte sie sich nieder und blickte furchtsam nach der Thür , wo er gewiß eintreten und sie scheltend hinausführen würde . In ihrem Verstecke sah sie nicht , wie draußen die Träger den Sarg auf die Schultern nahmen , wie der Onkel sein Haus verließ für immer . Sie sah nicht den langen , schwarzen , unheimlichen Zug , der dem Verstorbenen folgte , wie der letzte Schatten auf dem nun vollendeten Lebenswege ... Dort an der Ecke hob ein Luftzug alle die prächtigen weißen Atlasbänder , die am Sarge niederhingen – sie flatterten hoch auf ; war es der letzte Gruß des Geschiedenen für das verlassene Kind , das eine zärtlich besorgte Mutter dem trüben Sumpfe der väterlichen Laufbahn entrissen hatte , um es unwissentlich an einen öden , unwirtbaren Strand zu werfen ? 7 Das Stimmengemurmel in der Flur war plötzlich verstummt – und es folgte tiefe Stille . Felicitas hörte , wie die Hausthür geschlossen wurde ; aber sie wußte nicht , daß damit das Drama in der Hausflur zu Ende sei . Noch wagte sie sich nicht aus ihrem Winkel hervor . Sie saß auf dem kleinen , gepolsterten Lehnstuhle , den der Onkel ihr am letzten Weihnachtsabend geschenkt , und das Köpfchen ruhte auf ihren beiden Händen , die sich auf dem Tische kreuzten . Ihr Herz klopfte nicht mehr so ängstlich , aber hinter der kleinen , gesenkten Stirn hämmerte es , und die Gedanken reihten sich in fieberhafter Schnelligkeit aneinander . Sie dachte auch an die kleine , alte Dame , deren Bouquet draußen auf den Steinfliesen lag und wahrscheinlich von den unachtsamen Leuten zertreten wurde ... Das war also die » alte Mamsell « gewesen , jene Einsame hoch droben unter dem Dache des Hinterhauses , der stete Zankapfel zwischen der Köchin und Heinrich ! Nach Friederikes Aussage hatte die alte Mamsell Furchtbares auf dem Gewissen – sie sollte schuld sein an ihres Vaters Tode . Die haarsträubende Geschichte hatte der kleinen Felicitas stets Furcht und Entsetzen eingeflößt ; aber jetzt war das vorbei ... Die kleine Dame mit dem guten Gesichte und den Augen voll sanfter Thränen eine Vatermörderin ! Da hatte Heinrich sicher recht , wenn er beharrlich den dicken Kopf schüttelte und ebenso konsequent den geistreichen Satz aufstellte , das müsse anders zusammenhängen ! Vor Jahren hatte die alte Mamsell auch hier unten im Vorderhause gewohnt , aber , wie sich die alte Köchin mit immer neu aufloderndem Zorne ausdrückte – sie war nicht davon abzubringen gewesen , Sonntagnachmittags unheilige Lieder und lustige Weisen zu spielen . Die » Madame « hatte ihr Himmel und Hölle vorgestellt , aber das war alles umsonst gewesen , bis kein Mensch im Hause den Greuel mehr mit anhören konnte – da hatte Herr Hellwig seiner Frau den Willen gethan , und die alte Mamsell hatte hinauf gemußt unters Dach ... Dort wäre sie unschädlich , meinte Friederike stets , und man mußte ihr recht geben , denn man hörte nie auch nur einen Laut des verpönten Klavierspiels im Hause ... Der Onkel mußte jedenfalls sehr böse auf die alte Mamsell gewesen sein , denn er hatte nie von ihr gesprochen ; und doch war sie seines Vaters Schwester und sah ihm so ähnlich ... Eine heiße Sehnsucht erfaßte die kleine Felicitas bei dem Gedanken an diese Aehnlichkeit – sie wollte hinauf in die Dachwohnung , aber da stand ja der finstere Johannes – das Kind schüttelte sich vor Angst – und die alte Mamsell steckte jahraus , jahrein hinter Riegeln und Schlössern . Am Ende eines langen abgelegenen Korridors , dicht an der Treppe , die aus den unteren Stockwerken herauf führte , war eine Thür . Nathanael hatte einmal , als sie da droben spielten , leise zu ihr gesagt : » Du , da droben wohnt sie ! « dann hatte er , mit beiden Fäusten auf die Thür schlagend , laut geschrieen : » Alte Dachhexe , komm herunter ! « und war in schleuniger Flucht die Treppe hinabgelaufen . Wie hatte da das Herz der kleinen Felicitas vor Angst und Schrecken geklopft ! denn sie war keinen Augenblick im Zweifel gewesen , es müsse ein schreckliches Weib mit einem großen Messer in der Hand hervorstürzen und sie bei den Haaren fassen ... Es fing an , leise zu dämmern . Drüben am Rathause huschte der letzte goldene Schein der Herbstsonne um das Giebelkreuz , und auf der großen Wanduhr drin im Zimmer schlug es langsam und rasselnd fünf – sie hatte genau so eintönig und langsam jene drei Schläge herabgerasselt , nach welchen ihr ehemaliger Besitzer , der sie lange Jahre hindurch pünktlich und mit liebevoller Vorsicht bedient , hinausgetragen worden war . Bis dahin war es ziemlich still im ganzen Hause geblieben ; aber jetzt wurde die Thür des Wohnzimmers plötzlich geöffnet , und harte , feste Schritte schollen durch die Flur . Felicitas zog ängstlich den Vorhang an sich heran , denn Frau Hellwig näherte sich dem Zimmer des Onkels . Das erschien dem Kinde wunderbar neu ; es war nie vorgekommen , daß die große Frau bei Lebzeiten ihres Mannes je diese Schwelle betreten hatte ... Sie kam ungewöhnlich rasch herein , schob leise den Nachtriegel vor und blieb dann einen Augenblick mitten im Zimmer stehen . Es war ein Ausdruck unsäglichen Triumphes , mit welchem diese Frau ihre Blicke langsam durch den so lange streng gemiedenen Raum gleiten ließ . Ueber Hellwigs Schreibtisch hingen zwei schöngemalte Oelbilder , ein Herr und eine Dame . Die letztere , ein stolzes Gesicht , aus dessen Augen aber Geist und Lebenslust sprühte , war in jener Tracht , welche so unschön die altgriechische nachzuahmen sucht . Die kurze Taille , die ein weißer leuchtender Seidenstoff umschloß , wurde noch verkürzt durch einen roten , golddurchwirkten Gürtel ; Brust und Oberarme , fast zu üppig geformt und nur sehr wenig bedeckt , harmonierten in ihrer herausfordernden Schönheit durchaus nicht mit dem anspruchslosen , züchtigen Veilchenstrauße , der im Gürtel steckte ... Es war Hellwigs Mutter . Vor dieses Bild trat die Witwe jetzt ; sie schien sich einen Moment daran zu weiden . Dann stieg sie auf einen Stuhl , hob es von seiner gewohnten , langjährigen Stell und schlug vorsichtig , ohne großes Geräusch einen neuen Nagel inmitten der zwei alten , an welchen sie das männliche Brustbild , Hellwigs Vater , hing . Es blickte jetzt einsam hernieder , während die Witwe den Stuhl verließ und , das weibliche Porträt in der Hand , aus dem Zimmer ging ... Felicitas' gespanntes Ohr folgte ihren Schritten durch die Hausflur , über die erste Treppe – sie stieg immer höher in dem widerhallenden Treppenhause – wahrscheinlich bis in den Bodenraum . Sie hatte die Thür nicht völlig hinter sich geschlossen , und als ihr letzter Schritt droben verhallt war , da erschien Heinrichs scheues Gesicht in der Spalte . » Na , da haben wir's , Friederike ! « rief er mit gedämpfter Stimme , der man aber den Schrecken anhörte , in die Flur zurück . » Es war richtig der sel'gen Frau Kommerzienrätin ihr Bild ! « Die alte Köchin riß die Thür weit auf und sah herein . » Ach , du meine Güte , wirklich ! « rief sie , die Hände zusammenschlagend . » Herr Je , wenn das die stolze Frau wüßte , die drehte sich in der Erde um – und der sel'ge Herr erst ! ... Na , sie war aber auch zu schrecklich angezogen – so bloß auf der Brust – ein Christenmensch mußte sich schämen ! « » Meinst du ? « entgegnete Heinrich , schlau mit den Augen blinzelnd . » Ich will dir was sagen , Friederike , « fuhr er fort und legte abzählend den Zeigefinger der Rechten gegen den linken Daumen . » Die alte Frau Kommerzienrätin hat's durchaus nicht leiden wollen , daß unser Herr die › Madame ‹ genommen hat – das kann ihr die Madame zum ersten nicht vergessen . Zum zweiten war sie eine fidele Frau , die gern was mitmachte und am liebsten da war , wo lustig aufgespielt wurde , und zum dritten – hat sie unsere Madame einmal eine herzlose Betschwester geschimpft ... Merkst du was ? « Während Heinrichs Beweisführung war Felicitas aus ihrem Verstecke hervorgekommen . Das Kind fühlte instinktmäßig , daß es an dem rauhen , aber grundgutmütigen alten Burschen von nun an die einzige Stütze im Hause haben werde . Er hatte sie sehr lieb , und seinen stets wachsamen Augen dankte es die Kleine hauptsächlich , daß sie bis dahin in glücklicher Unwissenheit über ihre Vergangenheit geblieben war . » Na , Feechen , da bist du ja ! « sagte er freundlich und nahm ihre kleine Hand fest in seine schwielige Rechte . » Ich hab' dich schon in allen Ecken gesucht ... Komm mit ' nüber in die Gesindestube ; denn hier wirst du ja doch nicht mehr gelitten , armes Ding ! ... wenn gar die alten Bilder fort müssen , nachher – « Er seufzte und drückte die Thür zu ; Friederike war bereits eilig in die Küche zurückgekehrt , denn man hörte die Schritte der herabsteigenden Frau Hellwig . Felicitas sah sich scheu um in der Hausflur – sie war leer ; da , wo der Sarg gestanden hatte , lagen zertretene Blumen und Blätter am Boden . » Wo ist der Onkel ? « fragte sie flüsternd , indem sie sich widerstandslos von Heinrich nach der Gesindestube führen ließ . » Nu , sie haben ihn fortgetragen ; aber du weißt ja doch , Kindchen , er ist nun im Himmel – da hat er 's gut , besser als auf der Erde , « antwortete Heinrich wehmütig . Er nahm seine Mütze vom Nagel und ging fort , um einen Auftrag in der Stadt zu besorgen . In der Gesindestube herrschte bereits starke Dämmerung . Seit Heinrichs Weggange kniete Felicitas auf der Holzbank , die unter den eng vergitterten Fenstern weglief , und blickte unablässig in das Stückchen dunkelnden Himmels droben über den Giebelhäusern der schmalen , steilen Gasse , wo ja der Onkel nun sein sollte ... Sie fuhr erschrocken zusammen , als Friederike mit der Küchenlampe eintrat . Die alte Köchin stellte einen Teller mit Butterbrot auf den Tisch . » Komm her , Kind , und iß – da ist dein Abendbrot ! « sagte sie . Die Kleine kam näher , aber sie rührte das Essen nicht an ; sie griff nach ihrer Schiefertafel , die Heinrich aus des Onkels Zimmer herübergebracht , und fing an zu schreiben . Da kamen hastige Schritte durch die anstoßende Küche , und gleich darauf steckte Nathanael seinen blonden Kopf durch die offenen Thür . Felicitas zitterte , denn er war stets sehr ungezogen , wenn er sich mit ihr allein sah . » Ah , da sitzt ja Jungfer Fee ! « rief er in einem Tone , den Felicitas so sehr an ihm fürchtete . » Hör mal , du ungezogenes Ding , wo hast du denn die ganze Zeit über gesteckt ? « » In der grünen Stube , « antwortete sie , ohne aufzublicken . » Du , das probiere nicht noch einmal ! « sagte er drohend . » Da hinein gehörst du jetzt nicht mehr , hat die Mama gesagt ... Was schreibst du denn da ? « » Meine Arbeit für Herrn Richter . « So – für Herrn Richter , « wiederholte er und wischte dabei mit einer raschen Bewegung das Geschriebene von der Tafel . » Also du bildest dir ein , Mama wäre so dumm , die teuren Privatstunden noch für dich zu bezahlen ? ... Sie wird sich hüten . Das ist alles vorbei , hat sie gesagt ... Du kannst nun wieder dahin gehen , wo du hergekommen bist – nachher wirst du das , was deine Mutter war , und dann machen sie es mit dir auch so « – er legte die Hände gegen die Wange , machte die Pantomime des Schießens und schrie : » Puff ! « Die Kleine sah ihn mit weitgeöffneten Augen an . Er sprach von ihrem Mütterchen – das war ja noch nicht geschehen , aber was er sagte , klang so unverständlich . » Du kennst doch meine Mama gar nicht ! « sagte sie halb fragend und ungewiß ; es schien , als ob sie den Atem anhielt . » O , ich weiß viel mehr von ihr , als du ! « erwiderte er und setzte nach einer Pause hinzu , während sein Blick heimtückisch unter der gesenkten Stirn hervorschielte : » Gelt , du weißt noch nicht einmal , was deine Eltern waren ? « Die Kleine schüttelte das Köpfchen mit einer lieblich unschuldigen Bewegung , aber zugleich hefteten sich ihre Augen wie ängstlich flehend an seine Lippen – sie kannte die Art und Weise des Knaben viel zu gut , um nicht zu wissen , daß jetzt etwas kommen müsse , was ihr wehe thun sollte . » Spielersleute waren sie ! « schrie er mit hämischer Betonung . » Weißt du , solche Leute , wie wir sie auf dem Vogelschießen gesehen haben – sie machen Kunststücke , Purzelbäume und solches Zeug und gehen nachher mit dem Teller herum und betteln . « Die Schiefertafel fiel auf den Boden und zerbrach in kleine Stücke . Felicitas war aufgesprungen und stürzte wie toll an dem verblüfften Knaben vorüber hinaus in die Küche . » Er lügt , gelt , er lügt , Friederike ? « rief sie in schneidenden Tönen und faßte den Arm der Köchin . » Das kann ich gerade nicht sagen , aber übertrieben hat er , « entgegnete Friederike , deren hartes Herz beim Anblick des furchtbar aufgeregten Kindes ein menschliches Rühren empfand . » Gebettelt haben sie nicht ; freilich – das ist wahr – Spielersleute sind sie gewesen – « » Und sehr schlechte Kunststücke haben sie gemacht ! « ergänzte Nathanael , indem er an den Herd trat und forschend in Felicitas ' Gesicht sah – sie weinte ja noch nicht ; ja , sie sah ihn so » unverschämt wild « an mit ihren heißen , funkelnden Augen , daß er in eine förmliche Wut geriet . » Greuliche Kunststücke haben sie gemacht ! « wiederholte er . » Deine Mutter hat Gott , den Herrn , versucht , und deshalb kommt sie auch nie in den Himmel , sagte die Mama . « » Sie ist ja gar nicht gestorben ! « stieß Felicitas hervor . Ihr kleiner , blasser Mund zuckte fieberisch , und ihre Hand umschloß krampfhaft die Rockfalten der Köchin . » O , freilich , du dummes Ding , längst , längst – der sel'ge Papa hat dir's nur nicht gesagt ... Drüben im Rathaussaale ist sie bei einem Kunststücke von den Soldaten erschossen worden . « Das gequälte Kind stieß ein herzzerreißendes Jammergeschrei aus ; Friederike hatte bei Nathanaels letzten Worten bestätigend mit dem Kopfe genickt – er hatte also nicht gelogen . In diesem Augenblicke kehrte Heinrich von seinem Ausgange zurück . Nathanael machte sich aus dem Staube , als die breitschultrige Gestalt des Hausknechts auf der Schwelle erschien ... Heimtückische Naturen haben stets eine unüberwindliche Scheu vor einem geraden , ehrlichen Gesichte . Auch der Köchin schlug das Gewissen – sie hantierte emsig bei ihrem Herde . Felicitas schrie nicht mehr . Sie hatte die hochgehobenen , verschränkten Arme gegen die Wand geworfen und ihre Stirn darauf gepreßt , aber man hörte , wie sie gegen ein heftiges Schluchzen ankämpfte . Der durchdringende Schrei des Kindes war bis in die Hausflur gedrungen , Heinrich hatte ihn gehört ; er sah noch , wie Nathanael hinter der Zimmerthür verschwand , und wußte sogleich , daß hier irgend eine Bosheit verübt worden war . Ohne ein Wort zu sagen , drehte er die Kleine von der Wand weg und hob das Gesichtchen empor – es war furchtbar entstellt . Bei seinem Anblicke brach das Kind abermals in ein lautes Weinen aus und stieß schluchzend die Worte hervor : » Sie haben mein armes Mütterchen totgeschossen – meine liebe , gute Mama ! « Heinrichs breites , gutmütiges Gesicht wurde ganz blaß vor innerem Grimme – er schien einen Fluch zu unterdrücken . » Wer hat dir denn das gesagt ? « fragte er und sah drohend nach Friederike hinüber . Das Kind schwieg ; aber die Köchin begann den Hergang zu erzählen , wobei sie das Feuer schürte den eben begossenen Braten noch einmal begoß und allerlei unnötige Dinge verrichtete , um nicht in Heinrichs Gesicht blicken zu müssen . » Na , ich meine auch , Nathanael hätte es ihr just heute noch nicht zu sagen gebraucht , « schloß sie endlich , » aber morgen oder übermorgen nimmt sie die Madame doch ins Gebet , und da wird sie ganz gewiß nicht mit Handschuhen angefaßt – darauf kannst du dich verlassen ! « Heinrich führte Felicitas in die Gesindestube , setzte sich neben sie auf die Holzbank und suchte sie zu beruhigen soweit er es in seiner ungelenken Redeweise vermochte . Er erzählte ihr schonend den schrecklichen Vorfall im Rathaussaale und sagte schließlich , daß ja die Mama , von der die Leute schon damals gesagt hätten , sie sähe aus wie ein Engel , nun auch droben im Himmel sei und jeden Augenblick ihre kleine Fee sehen könne . Dann streichelte er zärtlich das Köpfchen des Kindes , das aufs neue in krampfhaftes Weinen ausbrach . 8 Am anderen Morgen hallte das Ausläuten der Glocken feierlich über die Stadt . Die schmale , steile Gasse hinauf strömten die Andächtigen nach der hochgelegenen Barfüßerkirche . Samt und Seide und auch minder kostbare , aber doch sonntägige Stoffe wurden in die Kirche getragen , nicht allein zur Ehre Gottes , sondern auch um der Augen des lieben Nächsten willen . Aus dem stattlichen Eckhause am Marktplatze schlüpfte eine kleine , schwarz umhüllte Gestalt . Niemand hätte unter dem großen , plumpen Umhängetuche , das eine Nadel unter dem Kinne zusammenhielt , die feinen , graziösen Formen der kleinen Felicitas zu entdecken vermocht . Friederike hatte der Kleinen das häßliche , grobe Gewebe mit den wichtig betonten Worten umgelegt , daß die Madame ihr das schöne Tuch zur Trauer schenke ; dann hatte sie die Hausthür geöffnet und dem hinauseilenden Kinde streng anbefohlen , ja nicht etwa , wie sonst , in den Familienkirchenstuhl zu gehen – es sei Platz für sie auf den Bänkchen der Schulkinder . Felicitas drückte das Gesangbuch unter den Arm und schritt hastig um die Ecke . Es war unverkennbar , sie strebte ungeduldig vorwärts zu kommen ; aber da drüben schritten feierlich gemessenen Ganges drei schwarzgekleidete Gestalten , deren Anblick sofort ihre Schritte verlangsamte ... Ja , dort ging sie , die große Frau inmitten ihrer zwei Söhne , und alle Menschen , die vorüberkamen , neigten sich tief und respektvoll . Sie hatte zwar das ganze Jahr über fast für niemand einen guten Blick , und der Mund sprach oft unbarmherzig zu denen , die Hilfe suchten ; und dort der kleinere Knabe an ihrer Linken schlug die Bettelkinder , die sich ins Haus wagten , und trat mit Füßen nach ihnen . Er log auch abscheulich und schwur dann heilig und teuer , daß er nicht gelogen habe – aber das schadete alles nicht . Sie gingen jetzt in die Kirche , setzten sich in den streng abgeschlossenen Kirchenstuhl , hinter vornehme Glasscheiben , und beteten zum lieben Gott , und er hatte sie lieb , und sie kamen in seinen Himmel : denn – sie waren ja keine Spielersleute . Die drei Gestalten verschwanden in der Kirchenthür . Das Kind folgte ihnen mit den ängstlichen Augen , dann huschte es vorüber , vorüber an all den offenen Thüren , aus denen bereits der Orgelklang scholl , und die einen Blick gewährten in das magische Düster der Kirchenhalle , über die dichtgedrängten Reihen der Andächtigen . An das trotzig empörte , heftig pochende Kinderherz aber , das da draußen vorübereilte , schlug der Orgelton vergeblich . Es konnte heute nicht zum lieben Gott beten ; er wollte ja nichts wissen von dem armen , erschossenen Mütterchen , er litt es nicht in seinem großen , blauen Himmel – es lag einsam draußen auf dem Gottesacker , und da mußte das Kind hin und mußte es besuchen . Felicitas bog ein in eine zweite Gasse , die noch steiler den Berg hinauflief , als die drunten neben dem Hause . Dann kam das häßliche Stadtthor mit dem noch viel häßlicheren Turme , der auf seinem Rücken dräute , aber durch die Thorwölbung leuchtete es grün . Da schlangen sich die prächtigen , wohlgepflegten Lindenalleen in wunderlichem Kontraste um alte , geschwärzte Stadtmauern , wie ein frischer Myrtenkranz um einen ergrauten Scheitel ... Wie war es so feierlich still hier oben ! Das Kind erschrak vor seinen eigenen Schritten , unter denen der Kies knirschte – es ging ja auf verbotenem Wege . Aber es lief immer rascher und stand endlich , tief Atem schöpfend , vor dem Eingangsthore des Gottesackers . Noch nie hatte Felicitas diesen stillen Ort betreten – sie kannte jene kleinen , gleichförmig nebeneinander liegenden Felder noch nicht , jene Schlußsteine , unter denen das vielgestaltige Leben urplötzlich verbraust und verklingt . Neben dem schwarzen Eisengitter der Thür streckten zwei große Holunderbüsche die Zweige hervor , gebeugt von der Last ihrer schwarzen , glänzenden Beerendolden , und da seitwärts erhob sich das graue Gemäuer einer alten Kirche – das sah düster aus : aber dort hinüber dehnte sich ein weiter Plan , bunt besät mit Blumen und Büschen , auf denen das Gold der milden Herbstsonne lag . » Wenn willst du denn besuchen , Kleine ? « fragte ein Mann , der in Hemdärmeln an der Thür des Leichenhauses lehnte und blaue Wolken aus seiner Tabakspfeife in die klare Luft blies . » Meine Mama , « entgegnete Felicitas hastig und ließ ihre Augen suchend über das große Blumenfeld gleiten . » So – ist die schon hier ? – Wer war sie denn ? « » Sie war eine Spielersfrau . « » Ah , die vor fünf Jahren auf dem Rathause umgekommen ist ? ... Die liegt da drüben , gleich neben der Kirchenecke . « Da stand nun das kleine , verlassene Wesen vor dem Fleckchen Erde , das den Gegenstand all seiner süßen , sehnsüchtigen Kindesträume deckte ! ... Ringsum lagen geschmückte Gräber ; die meisten waren mit buntfarbigen Astern so völlig bedeckt , als habe der liebe Gott alle seine Sterne vom Himmel schneien lassen . Nur der schmale Streifen zu des Kindes Füßen zeigte dürres , verbranntes Gras , gemischt mit üppig wuchernden Queckenranken . Unachtsame Füße hatten bereits einen Weg darüber gebahnt ; die anfangs lockere , von Regengüssen durchwühlte Erde war tief eingesunken , und mit ihr der weiße , schmucklose Stein zu Füßen des vernachlässigten Grabes – » Meta d' Orlowska « stand in großen , schwarzen Lettern dicht am Erdrande ... An diesem Steine kauerte sich Felicitas nieder , und ihre kleinen Hände wühlten in eienr von Gras entblößten Stelle ... Erde , nichts als Erde ! Diese schwere , fühllose Masse lag auf dem zärtlichen Gesichte , auf der lieben Gestalt im lichtglänzenden Atlasgewande , auf den Blumen in den lilienweißen , erstarrten Händen . Jetzt wußte das Kind , daß die Mutter damals nicht bloß geschlafen habe . » Liebe Mama , « flüsterte sie , » du kannst mich nicht sehen , aber ich bin da , bei dir ! Und wenn auch der liebe Gott nichts von dir wissen will – er hat dir ja nicht ein einziges Blümchen geschenkt – und kein Mensch kümmert sich um dich , ich hab' dich lieb und will immer zu dir kommen ! ... Ich will auch nur dich allein lieb haben , nicht einmal den lieben Gott , denn er ist so streng und schlimm gegen dich ! « Das war das erste Gebet des Kindes am Grabe der verfemten Mutter ... Ein leichtes Lüftchen strich vorüber , weich und kühlend , wie sich die beschwichtigende Mutterhand um die klopfenden Schläfe des fieberkranken Lieblings legt . Die Astern nickten herüber zu dem tieftraurigen Kinde , und auch durch die dürren Blütenrispen der Gräser zog es leise flüsternd ; und droben dehnte sich der Himmel in durchsichtiger Klarheit – der ewige , wandellose Himmel , den Menschenbegriffe zu einem Tummelplatze irdischer Leidenschaften machen . Als Felicitas später in das düstere Haus am Marktplatze zurückkehrte – das Kind wußte nicht , wie lange es träumend da draußen auf dem weiten , stillen Totenfelde gesessen hatte – fand sie die Hausthür nur angelehnt . Sie schlüpfte hinein , blieb aber sofort erschrocken in der nächsten Ecke stehen , denn die Thür zu des Onkels Zimmer stand ziemlich weit offen , Johannes' Stimme klang heraus , und Felicitas hörte , wie er mit festen , langsamen Schritten auf und ab ging . Ein so eigentümlich wilder Trotz auch seit gestern über die Kleine gekommen war , die Furcht vor jener unbewegten , grausam kalten Stimme und den unerbittlichen , grauen Augen war doch noch größer . Sie konnte unmöglich in das Bereich der halboffenen Thür treten – ihre kleinen Füße standen wie eingewurzelt auf den Steinplatten . » Ich gebe dir vollkommen recht , Mama , « sagte Johannes drinnen , indem er stehen blieb ; » das kleine , lästige Geschöpf wäre am besten in irgend einer braven Handwerkerfamilie aufgehoben . Aber dieser unvollendete Brief hier ist für mich so maßgebend , wie ein rechtskräftiges Testament ... Einmal sagt der Papa , daß er das Kind um keinen Preis aus dem Schutze seines Hauses entlassen werden – es sei denn , daß es der Vater selbst zurückfordere – und hier mit den Worten : ›- ich würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in deine Hände legen – ‹ macht er mich unwiderleglich zum Vollstrecker seines Willens ... Es kommt mir durchaus nicht zu , an der Handlungsweise meines Vaters irgendwie zu mäkeln , aber wenn er gewußt hätte , wie unsagbar zuwider mir die Menschenklasse ist , aus der das Kind stammt – er würde mich mit dieser Vormundschaft verschont haben . « » Du weißt nicht , was du von mir verlangst , Johannes ! « entgegnete die Witwe im Tone tiefsten Verdrusses . » Fünf lange Jahre habe ich diesen Auswürfling , dies gottverlassene Wesen stillschweigend neben mir dulden müssen – ich kann es nicht länger ! « » Nun , dann bleibt uns kein anderer Ausweg , als ein Aufruf an den Vater des Kindes . « » Ja , da kannst du rufen ! « erwiderte Frau Hellwig mit einem kurzen , höhnischen Auflachen . » Der dankt Gott , daß er den Brotesser los ist ! Doktor Böhm sagt mir , soviel er wisse , habe der Mann zu Anfang ein einziges Mal von Hamburg aus geschrieben – seit der Zeit nicht wieder . « » Als gute Christin wirst du übrigens auch nicht zugeben , liebe Mama , daß das Kind dahin zurückkehrt , wo seine Seele verloren geht – « » Sie ist so wie so verloren ! « Nein , Mama ! Wenn ich auch nicht leugnen will , daß der Leichtsinn in diesem Blute stecken muß , so glaube ich doch auch fest an den Segen einer guten Erziehung . « » Du meinst also , wir bezahlen das schwere Geld noch so und so viel Jahre länger für ein Geschöpf , das uns auf der Gotteswelt nichts angeht ? – Sie hat Unterricht im Französischen , im Zeichnen – « » Ei behüte , das fällt mir nicht ein ! « unterbrach Johannes die Aufzählung – zum erstenmal erhielt diese monotone Stimme eine etwas lebhaftere Klangfarbe . » Das fällt mir nicht ein , « wiederholte er . » Mir ist diese moderne weibliche Erziehung ohnehin ein Greuel ... Solche Frauen wie dich , die , echt christlichen Sinnes und in wahrhafter Weiblichkeit , nie die ihnen gesteckten Grenzen überschreiten , die wird man in kurzem suchen müssen ... Nein , das alles hat von jetzt ab ein Ende ! Erziehe das Mädchen häuslich , zu dem , was einst seine Bestimmung sein wird – zur Dienstbarkeit ... Ich lege die Angelegenheit völlig und unbesorgt in deine Hände . Mit deinem starken Willen , deinem Christentum – « Hier wurde die Thür plötzlich weiter aufgerissen , und Nathanael , der sich bei dem Zwiegespräche langweilen mochte , sprang heraus . Felicitas drückte sich gegen die Wand ; aber er sah sie doch und stürzte wie ein Stoßvogel auf die Zitternde zu . » Ja , verstecke dich nur , das hilft dir nichts ! « rief er und preßte ihr zartes Handgelenk beim Weiterzerren so heftig , daß sie aufschrie . » Jetzt kommst du mit und sagst der Mama gleich den Text der Predigt ! Gelt , das kannst du nicht ? Du warst nicht auf den Schulbänkchen , ich hab' genau aufgepaßt ... Und wie siehst du denn aus ? ... Nein , Mama , sieh dir nur einmal dies Kleid an ! « Mit diesen Worten zog er die widerstrebende Kleine an die Thür . » Komm herein , Kind ! « gebot Johannes , der mitten im Zimmer stand und den Brief seines Vaters noch in der Hand hielt . Felicitas trat zögernd über die Schwelle . Sie sah einen Moment an der hohen , schmalen Gestalt empor , die vor ihr stand . Da lag kein Stäubchen auf dem ausgesucht feinen , schwarzen Anzuge ; das Weißzeug leuchtete in blendender Frische ; nicht ein Härchen auf der Stirn krümmte sich gegen die Hand , die unablässig , fast ängstlich darüber hinstrich – da war alles peinlich geordnet und sauber . Er blickte mit einer Art von Abscheu auf den Kleidersaum des Kindes . » Wo hast du dir das geholt ? « fragte er und zeigte nach der Stelle , die seinen Blick auf sich zog . Die Kleine sah scheu hinab – das sah freilich schlimm aus . Gras und Wege draußen waren noch taunaß gewesen ; sie hatte beim Niederwerfen am Grabe nicht daran gedacht , daß solche auffallende Spuren an dem schwarzen Kleide zurückbleiben könnten ... Sie stand schweigend mit gesenkten Augen da . » Nun , keine Antwort ? ... Du siehst aus wie das böse Gewissen selbst – du warst nicht in der Kirche , wie ? « » Nein , « sagte die Kleine aufrichtig . » Und wo warst du ? « Sie schwieg . Sie hätte sich lieber totschlagen lassen , ehe der Muttername vor diesen Ohren über ihre Lippen gekommen wäre . » Ich will dir 's sagen , Johannes , « entgegnete Nathanael an ihrer Stelle ; » sie war draußen in unserem Garten und hat Obst genascht – so macht sie 's immer . « Felicitas warf ihm einen funkelnden Blick zu , aber sie öffnete die Lippen nicht . » Antworte , « gebot Johannes , » hat Nathanael recht ? « » Nein ; er hat gelogen , wie er immer lügt ! « entgegnete das Kind fest . Johannes streckte in diesem Augenblicke ruhig den Arm aus , um Nathanael zurückzuhalten , der wütend auf seine Anklägerin losstürzen wollte . » Rühr sie nicht an , Nathanael ! « gebot auch Frau Hellwig dem Knaben . Sie hatte bis dahin schweigend im Lehnstuhle des Onkels am Fenster gesessen . Jetzt erhob sie sich – hu , was warf die große Frau für einen düstern Schatten in das Zimmer ! » Du wirst mir glauben , Johannes , « wendete sie sich an ihren Sohn , » wenn ich dir versichere , daß Nathanael niemals die Unwahrheit sagt . Er ist fromm und lebt in der Furcht des Herrn , wie selten ein Kind – ich habe ihn behütet und geleitet , das wird dir genügen ... Es hat noch gefehlt , daß sich dies erbärmliche Geschöpf zwischen die Geschwister stellt , wie es bereits zwischen den Eltern der Fall gewesen ist ... Ist es nicht an sich unverzeihlich , daß sie , statt in die Kirche zu gehen , sich an anderen Orten herumtreibt ? – mag sie nun gewesen sein , wo sie will ! « Ihre Augen glitten mit tödlicher Kälte über die kleine Gestalt . » Wo ist das neue Tuch , daß du heute Morgen bekommen hast ? « fragte sie plötzlich . Felicitas fuhr erschreckt mit den Händen nach den Schultern – o Himmel , es war verschwunden , es lag sicher draußen auf dem Gottesacker ! Sie fühlte recht gut , daß sie sich einer großen Unachtsamkeit schuldig gemacht habe – sie war tief beschämt ; ihre gesenkten Augen füllten sich mit Thränen , und die Bitte um Verzeihung drängte sich auf ihre Lippen . » Nun , was sagst du dazu , Johannes ? « fragte Frau Hellwig mit schneidender Stimme . » Ich schenke ihr das Tuch vor wenig Stunden , und an ihrem Gesicht wirst du sehen , daß es bereits verloren ist ... Ich möchte wissen , wieviel diese Garderobe deinem seligen Vater das Jahr über gekostet hat ... Gib sie auf , sag ich dir ! Da ist Hopfen und Malz verloren – du wirst nie ausrotten können , was von einer leichtfertigen , liederlichen Mutter aufgeerbt ist ! « In diesem Augenblicke ging eine schreckliche Veränderung in Felicitas ' Aeußerem vor . Eine tiefe Scharlachröte ergoß sich über das ganze Gesicht und den lilienweißen Hals bis unter den Ausschnitt des groben schwarzen Wollkleides . Ihre dunklen Augen , in denen noch die Thränen der Reue funkelten , blickten sprühend empor zu dem Gesichte der Frau Hellwig . Jene ängstliche Scheu vor der Frau , die fünf Jahre lang auf dem kleinen Herzen gelastet und ihr stets die Lippen verschlossen hatte , war verschwunden . Alles , was seit gestern ihre kindlichen Nerven in die furchtbarste Spannung versetzt hatte , es trat plötzlich überwältigend in den Vordergrund und nahm ihr den letzten Rest von Selbstbeherrschung – sie war außer sich . » Sagen Sie nichts über mein armes Mütterchen , ich leide es nicht ! « rief sie ; ihre sonst so weiche Stimme klang fast gellend . » Es hat Ihnen nichts zuleide gethan ! ... Wir sollen nie Böses von den Toten sprechen – hat der Onkel immer gesagt , denn sie können sich nicht verteidigen – Sie thun es aber doch , und das ist schlecht , ganz schlecht ! « Siehst du die kleine Furie , Johannes ? « rief Frau Hellwig höhnisch . » Das ist das Resultat der freisinnigen Erziehung deines Vaters ! Das ist › das feenhafte Geschöpfchen ‹ , wie er das Mädchen in dem Briefe da nennt ! « » Sie hat recht , wenn sie ihre Mutter verteidigt , « sagte Johannes halblaut mit ernstem Blicke ; » aber die Art und Weise , wie sie es thut , ist eine ungebärdige , abscheuliche ... Wie kannst du dich unterstehen , in so ungebührlicher Weise zu dieser Dame zu reden ? « wandte er sich zu Felicitas , und ein schwacher Schimmer von Rot flog über sein bleiches Gesicht . » Weißt du nicht , daß du verhungern mußt , wenn sie dir kein Brot gibt , und daß draußen das Straßenpflaster dein Kopfkissen sein wird , wenn sie dich aus dem Hause stößt ? « » Ich will ihr Brot nicht ! « preßte das Kind hervor . » Sie ist eine böse , böse Frau – sie hat so schreckliche Augen ... Ich will nicht hier bleiben in euerem Hause , wo gelogen wird , und wo man sich den ganzen Tag fürchten muß vor der schlechten Behandlung – lieber will ich gleich unter die dunkle Erde zu meiner Mutter , lieber will ich verhungern – « Sie konnte nicht weiter sprechen ; Johannes hatte ihren Arm gefaßt , seine mageren Finger drückten sich wie eiserne Klammern in das Fleisch – er schüttelte sie einige Male heftig . » Komm zu dir , komm zur Besinnung , abscheuliches Kind ! « rief er . » Pfui , ein Mädchen und so zügellos ! Bei dem unverzeihlichen Hange zu Leichtsinn und Liederlichkeit auch noch diese maßlose Heftigkeit ! ... Ich sehe ein , hier ist viel versehen worden , « wandte er sich an seine Mutter , » aber unter deiner Zucht , Mama , wird das anders werden . « Er ließ den Arm der Kleinen nicht los und führte sie unsanft aus dem Zimmer hinüber in die Gesindestube . » Von heute an habe ich über dich zu gebieten – merke dir das ! « sagte er rauh ; » und wenn ich auch fern bin , ich werde dich doch exemplarisch zu strafen wissen , sobald ich erfahre , daß du meiner Mutter nicht in allen Stücken ohne Widerrede gehorchst ... Für dein heutiges Benehmen hast du auf längere Zeit Hausarrest , um so mehr , als du von der Freiheit einen so schlechten Gebrauch machst . Du betrittst den Garten ohne ganz spezielle Erlaubnis meiner Mutter nicht wieder ; ebensowenig gehst du auf die Straße , die Wege nach der Bürgerschule ausgenommen , die du von nun an besuchen wirst ; und hier in der Gesindestube magst du essen und dich tagüber aufhalten , bis du bessere Sitten zeigst ... Hast du mich verstanden ? « Die Kleine wandte schweigend das Gesicht ab , und er verließ die Stube . 9 Nachmittags trank die Familie Hellwig den Kaffee draußen im Garten . Friederike hatte ihren kattunenen , flanellgefütterten Sonntagsmantel über die Schultern geworfen , die schwarzseidene , wattierte Staatsmütze aufgesetzt und war zuerst in die Kirche und dann zu einer » Frau Muhme « auf Besuch gegangen . Heinrich und Felicitas waren allein in dem großen , kirchenstillen Hause . Ersterer war längst heimlicherweise draußen auf dem Gottesacker gewesen und hatte das verhängnisvolle Tuch heimgeholt – es lag nun gesäubert und regelrecht zusammengelegt im Kasten . Der ehrliche Bursche hatte die vormittägige Szene von der Küche aus mit angehört und zum Teil auch gesehen ; er war sehr in Versuchung gewesen , hervorzuspringen und mit seinen derben Fäusten den Sohn des Hauses ebenso zu schütteln , wie die zarte Gestalt des aufrührerischen Kindes hin und her geschüttelt wurde . Jetzt saß er da in der Gesindestube und schnitzelte an seinem defekten Ausgehstock herum , wobei er leise und zwar sehr ungeschickt und unmelodisch pfiff . Er war ja aber auch gar nicht bei der Sache ; seine Blicke huschten rastlos und verstohlen hinüber nach dem schweigenden Kinde ... Das war gar nicht mehr das Gesicht der kleinen Felicitas ! Sie saß dort wie ein gefangener Vogel , aber wie ein Vogel , dem die Wildheit in der Brust brennt und der voll unversöhnlichen Grolles der Hände denkt , die ihn gefesselt haben ... Auf ihren Knieen lag der Robinson , den Heinrich auf eigene Gefahr hin von Nathanaels Bücherbrett geholt hatte , aber sie warf keinen Blick hinein . Der Einsame hatte es gut auf seiner Insel , da gab es doch keine bösen Menschen , die seine Mutter leichtsinnig und liederlich schalten ; da lag der funkelnde Sonnenschein auf den Palmenkronen , auf den grünen Wogen des fetten Wiesengrases – und hier brach das Gotteslicht gedämpft , als trübe Dämmerung durch die engvergitterten Fenster , und nirgends , weder draußen in der schmalen Gasse noch hier im ganzen Hause , erquickte ein grünes Blatt das Auge ... Ja , drin im Wohnzimmer , da stand freilich ein Asklepiasstock im Fenster – die einzige Blume , die Frau Hellwig pflegte , aber Felicitas konnte diese regelmäßigen , wie aus kaltem Porzellan geformten Blütenbüschel , die starren , harten Blätter nicht leiden , die stocksteif und ungerührt dahingen , mochte auch der Luftzug durchstreichen , soviel er wollte – was gab es denn Schöneres , als draußen die leichtbeweglichen , grünen Zungen an Büschen und Bäumen mit ihrem unaufhörlichen Rauschen und Flüstern ? Die Kleine sprang plötzlich auf . Droben auf dem Dachboden , da konnte man weit hinaus in die Gegend sehen , da war sonnige Luft – wie ein Schatten glitt sie die gewundene steinerne Haupttreppe hinauf . Das alte Kaufmannshaus war eigentlich nach gewissen Begriffen degradiert worden . Vor langen Zeiten war es ein Edelsitz gewesen . Es hatte auch noch etwas Ehrgeiziges in seiner Physiognomie – wenn auch nicht in dem Maße , wie die Türme , die alles unter sich lassen und , wenn es ginge , am liebsten auch den Himmel als alleiniges Eigentum auf ihre Spitze spießen möchten – aber es zeigte doch hier und da dies Emporstreben in dem Turmansatze des Erkers und vor allem in den mächtigen Schornsteinen , die sich in jenen Zeiten so nötig machten , wo noch die Wildbraten in ihrer natürlichen Größe und Urwüchsigkeit auf den Bratspießen adeliger Küchen steckten ... Das blaue Blut , das die Herzen der ehemaligen ritterlichen Bewohner klopfen gemacht , war längst versiegt , ja , in den letzten Stadien war es ihm ergangen , wie dem alten Hause auch – es war degradiert worden . Die vordere , nach dem Marktplatz gewendete Front des Hauses hatte sich allmählich in etwas modernisiert , die Hintergebäude dagegen , drei gewaltige Flügel , standen noch in keuscher Unberührtheit , wie sie aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen waren . Da gab es noch jene langen , hallenden Gänge mit schiefen Wänden und tief ausgetretenem Estrich , in denen selbst bei strahlendem Mittagssonnenscheine eine traumähnliche Dämmerung webt , und die es einer sagenhaften Ahnfrau so leicht machen , in grauer Schleppe , mit verblichenem Antlitz und schattenhaft gekreuzten Händen umherzuspuken . Da waren noch jene unvorhergesehenen , unter dem leisesten Tritte kreischenden Hintertreppchen , die plötzlich am Ende eines Korridors auftauchen , um drunten vor irgend einer unheimlichen , siebenfach verriegelten Thür zu münden – jene abgelegenen , scheinbar zwecklosen Ecken mit einem einsamen Fenster , durch dessen runde , bleigefaßte Scheiben fahle Lichtsäulen auf den zerbröckelnden Backsteinfußboden fallen . Der Staub , der hier auf die Köpfe der Vorüberwandelnden herabrieselte , war historisch ; er hatte als jugendliche Holzfaser irgend eines Balkens oder als neuer Mörtel die hochgehenden Wogen des blauen Blutes mit angesehen . Wo es irgend möglich gewesen , hatte der Steinmetz das Wappen des Erbauers des Hauses , eines Ritters von Hirschsprung , angebracht . Die steinernen Thür-und Fenstereinfassungen , ja selbst einzelne Quadern des Fußbodens zeigten den majestätischen Hirsch , wie er , die Vorderläufe hochhebend , zum grausigen Sprunge über einen Abgrund ansetzte . Auf den Thürpfosten einer der großen Staatsstuben im Vorderhause befanden sich auch die Bildnisse des Erbauers und seiner Ehegesponsin , langgestreckte Gestalten in Barett und Schneppenhaube . Der ehrenfeste Ritter blickte mit unvergänglich herausforderndem Stolze in die Welt , aus der längst sein Staub und seine » für ewig « besiegelten und verbrieften Ansprüche hinweggeweht waren . Felicitas stand droben an der Mündung der Treppe und sah mit großen , verwunderten Augen in eine halboffene Thür , die sie nicht anders als verschlossen kannte ... Wie sehr mußte die Ausführung ihres Racheaktes alles Denken der sonst so peinlich pünktlichen Hausfrau in Anspruch genommen haben , daß sie darüber Schloß und Riegel vergessen konnte ! ... Hinter der Thür lag ein scheinbar endloser Korridor , der über eines der Hintergebäude hinlief , und in welchen verschiedene Thüren mündeten . Eine derselben stand offen und ließ in eine Rumpelkammer mit einem sehr hochliegenden Mansardenfenster sehen . Sie war vollgepfropft mit altem Gerümpel , und da seitwärts an einem Rokokoarmsessel lehnte auch das Bild der Frau Kommerzienrätin . Es war nicht einmal gegen eine schützende Wand gekehrt ; Staub und Spinnen durften sich nun ungestört des Gesichts bemächtigen , das dem Maler in der stolzen Ueberzeugung gesessen hatte , es werde für Kind und Kindeskinder bis in die fernste Zeit ein Gegenstand hoher Verehrung sein . Die großen , hervortretenden , etwas lüsternen Augen hatten , so nahe gesehen , etwas Furchterregendes für das Kind – es wandte sich ängstlich ab , aber in dem Momente fuhr es wie ein Stich durch das kleine Herz und das Blut brauste nach dem Kopfe – den mit Seehundsfell überzogenen Koffer dort am Boden kannte ja die kleine Felicitas ganz genau ! ... Scheu , mit angehaltenem Atem – schlug sie den Deckel zurück – da lag obenauf ein hellblaues Wollkleidchen , dessen Säume und Bündchen zierliche Stickerei zeigten . Ach ja , das hatte ihr Friederike eines Abends ausgezogen , und dann war es verschwunden , und die kleine Felicitas mußte dafür ein abscheuliches , dunkles Kleid anlegen . Immer tiefer und heftiger wühlten die kleinen Hände , – was kam da alles zum Vorschein , und wie stürmte es in der Kinderseele bei diesem Wiedersehen ! ... All diese Gegenstände , so elegant , als sollten sie den vornehmen Körper einer kleinen Prinzessin umhüllen , hatte die tote Mutter in den Händen gehabt . Felicitas erinnerte sich mit peinlicher Schärfe des süßen Gefühls , wenn die Mama sie angekleidet und mit ihren samtweichen , zarten Fingern berührt hatte ... Ach , hier tauchte auch das buntscheckige Kätzchen auf , das einst der ganze Stolz des Kindes gewesen ! Es war auf eine kleine Tasche gestickt . – Halt , da steckte auch etwas drin , aber es war kein Spielzeug , wie das Kind anfänglich meinte , es war ein hübsches Petschaft von Achat , auf dessen silberner Platte derselbe majestätische Hirsch sich bäumte , den das Mauerwerk des Hellwigschen Hauses bis zum Ueberdruß zeigte . Unter dem Wappen stand in feinen , flüchtigen Zügen M. v. H... . Das hatte gewiß der Mama gehört , und das Kind hatte einst die räuberische kleine Hand danach ausgestreckt . – Höher und höher wuchs die Flut der Erinnerungen und auf manche fiel ein Strahl des gereiften Verständnisses . Jetzt begriff sie jene Momente , wo sie , aus dem ersten Schlafe aufschreckend , den Vater im goldblitzenden Wams und die Mutter mit den aufgelösten blonden Locken an ihrem Bettchen stehen sah – sie waren aus der Vorstellung heimgekommen ... und da war auch jedesmal auf die arme Mama geschossen worden , und das Kind hatte so ahnungslos in das totenbleiche Gesicht gesehen ; es wußte aber noch , daß es an solchen Abenden stets stürmisch , wie in atemloser Hast , an das Mutterherz emporgerissen worden war ... Stück um Stück der neuentdeckten Schätze wurde gestreichelt und geliebkost und dann sorgsam in den Koffer zurückgelegt , und als der Deckel alles wieder verschloß , da schlang das Kind seine Arme um den kleinen , vielgereisten Kasten und legte das Köpfchen darauf – sie waren ja alte Kameraden , zwei , die zusammengehörten in der weiten Welt , welche nicht so viel Heimatboden für das Spielerskind hatte , als auch nur sein kleiner Fuß bedeckte .. Jetzt sah das erst so wildtrotzige Gesichtchen mild und versöhnt aus , als es , die zarte Wange auf die von den Motten halbzerfressene Decke des Koffers gepreßt , mit geschlossenen Augen regungslos dalag . Durch das Fenster zog die laue Luft aus und ein und hauchte einen Strom balsamischer Düfte in den abgelegenen , stillen Bodenwinkel ... wie konnte sich dies berauschende Aroma , das ganzen Resedabeeten entquellen mußte , so hoch in die Lüfte versteigen ? Und was waren das für Töne , die jetzt von fern herüber mit ihm herein strömten ? ... Felicitas öffnete die Augen und setzte sich horchend auf . Das konnte nicht die Orgel der nahen Barfüßerkirche sein – der Gottesdienst war ja längst aus . Ein gebildeteres Ohr als das des harmlosen , unwissenden Kindes würde auch eher alles andere , als diese Harmonien mit der Orgel in Verbindung gebracht haben – die Ouvertüre zum Don Juan wurde meisterhaft auf dem Klavier gespielt . Felicitas schob einen wackeligen Tisch unter das Fenster und stieg hinauf . Ah , was war das ! ... Freilich , mit der geträumten Ausschau in die weite Gotteswelt war es hier nichts ; vier Dächer bildeten ein festgeschlossenes Quadrat , von denen das gegenüberliegende die anderen überragte und dem Blicke jede Fernsicht verwehrte ; aber gerade dies Dach-Vis-a-vis war für die zwei erstaunten , weitgeöffneten Kinderaugen ein Wunder , wie es die schönsten Märchenbücher nicht wunderbarer erzählen konnten . Dort auf der hohen , doch sanft geneigten Schrägseite gab es nicht etwa Ziegel , wie sie die anderen Dächer schwarzbraun , schmutzig und bemoost zeigten – nein , es war förmlich überschüttet mit Blumen , mit Astern und Dahlien , welche ihre bunten Häupter hoch droben in den Lüften mit derselben Sicherheit wiegten , wie drunten , dicht an der starken Muttererde . Soweit ein pflegender menschlicher Arm von der am unteren Rande des Daches hängenden Galerie aus reichen konnte , stiegen Blumenreihen empor , dann aber schloß sich ihnen ein in allen Nüancen des Rot spielendes Blättergewirr an , fast wie ein Mantel , der sich um die Schultern einer glänzenden Schönheit legt – die wilde Weinrebe reckte und streckte sich bis hinauf zum First ; selbst auf die Nachbardächer krochen die Ranken noch mit ihren leuchtenden , gefingerten Blättern und den schwarzblauen Trauben . Die Galerie hatte die ganze Länge des Daches und hing so luftig und leicht da , als sei sie hingeweht , und doch trug die Brüstung ihres Geländers schwere Kasten voll Erde , aus denen dicke Resedabüsche quollen und Hunderte von Monatsrosen ihre lachenden Köpfchen steckten . Ein weißer , ziemlich plumper Gartenstuhl neben einem runden Tischchen , auf welchem ein Porzellankaffeegeschirr stand , bewies unwiderleglich , daß Geschöpfe von Fleisch und Blut hier oben hausten ; gleichwohl behielt die ursprüngliche Vermutung des Kindes etwas für sich , nach welcher dort der kleine Vorbau , den eine Glasthür von der Galerie abschloß , das Hüttchen der Blumenfee sein mußte . Man sah weder Dach noch Mauern ; es war alles überwuchert von großblätterigem , schottischem Epheu ; die Kapuzinerkresse rankte sich hinauf , verstreute droben über die grüne Kuppel ihre gespornten Blütenkelche mit den feurig orangegelben Samtblättern und hing sie mutwillig schaukelnd über die Glasthür . Diese Thür klaffte ein wenig , und aus ihr quollen die Töne , die das Kind ans Fenster gelockt hatten . Ein Blick hinunter in den Raum , den die vier Hintergebäude umschlossen , ließ plötzlich eine Ahnung in der kleinen Felicitas aufdämmern . Da drunten krakeelte und krähte es um die Wette – es war der Geflügelhof . Felicitas hatte ihn noch nie gesehen ; denn aus Furcht , daß eines der schnarrenden Geschöpfe in den Vorderhof oder wohl gar in die Hausflur dringen könne , trug Friederike den Thürschlüssel stets in der Tasche . Wie oft aber war sie mit zornigem Gesichte in die Küche gekommen und hatte zu Heinrich hinübergescholten : » Die Alte da oben gießt wieder einmal ihr nichtsnutziges Gras , daß die Rinnen überlaufen ... ! « Ach , das nichtsnutzige Gras waren die Tausende süßer Blumengesichtchen da drüben , und das Wesen , das sie pflegte und behütete , war – die alte Mamsell , die ja auch in diesem Augenblicke wieder den Sonntagnachmittag » entheiligte durch unheilige und lustige Weisen « . Diese Gedanken waren kaum in dem Köpfchen aufgetaucht , als auch schon die kleinen Füße auf der Fensterbrüstung standen . Die ganze Elastizität der Kinderseele , die Leid und Kummer über etwas Neuem für einen Moment völlig vergessen kann , machte sich auch hier geltend ... Das Kind konnte ja klettern wie ein Eichhörnchen , und über die Dächer hinzulaufen , war eine Kleinigkeit . Da unten auf den zwei an den Dächern hängenden Rinnen ließ es sich jedenfalls prächtig marschieren ; sie sahen zwar etwas bemoost und wackelig aus , und dort in der Ecke , wo sie zusammenstießen , hingen beide schief , allein sie zerbrachen jedenfalls noch lange , lange nicht und ließen sich ja gar nicht vergleichen mit dem dünnen Seile , auf welchem Felicitas noch viel kleinere Mädchen , als sie selbst war , hatte tanzen sehen . Sie schlüpfte zum Fenster hinaus , und nach zwei Schritten über das abschüssige Dach stand sie in der Rinne . Es ächzte und knackte widerwillig unter den Füßchen , die tapfer vorwärts trippelten – rechts nicht der mindeste Halt , und links eine gähnende Tiefe von vier Stockwerken – wenn das die Mutteraugen gesehen hätten ! – aber es ging vortrefflich . Noch ein Hinaufklettern auf das bedeutend höhere Dach , dann ein Sprung über das Geländer und das Kind stand mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen mitten unter den Blumen und sah über die anderen Gebäude hinaus in die weite , weite Welt , auf die ein purpurglühender Abendhimmel niederstrahlte . Auf dem runden Tischchen lagen auch verschiedene Zeitungen , und auf einer derselben las das Kind im Vorüberschreiten lächelnd den Titel : » Die Gartenlaube « . Eine Gartenlaube , ja , die paßte freilich prächtig hierher , wo es hell und sonnig war , und wo eine so reine , frische Luft wehte ! Und nun stand das kleine Mädchen da und blickte schüchtern durch die Glasscheiben , die vielleicht noch nie ein Kindergesicht widergespiegelt hatten ... Wuchsen denn die Epheuzweige durch das Dach und rankten sich da drinnen in dem großen Zimmer weiter ? Von der Wandbekleidung konnte man nichts sehen , sie war völlig überstrickt von Gezweig , aber in kleinen Zwischenräumen traten Postamente aus der Wand hervor , auf denen große Gipsbüsten standen – eine merkwürdige Versammlung ernster , bewegungsloser Köpfe , die sich leuchtend und geisterhaft abhoben von dem kräftigen Grün der Blätterwand . Sie ließen es sich schweigend gefallen , daß die Epheuranken Allotria trieben und sich hier quer um die Brust des einen und dort als Kranz um eines anderen ernste Stirn schlangen . Die Mutwilligen machten es ja mit den Fenstern nicht besser ; sie hingen wie eine grüne Wolke verdunkelnd über den Vorhängen , und doch waren diese zwei Fenster zwei prächtige Landschaftsbilder , sie ließen draußen die Straßendächer weit unter sich und faßten da drüben den herbstlichen bunten Wald auf dem Bergrücken und die fahlen Streifen der Stoppelfelder in ihren Rahmen . Unter den Fenstern stand ein Flügel . Die alte Mamsell , genau so gekleidet wie gestern , saß davor , und ihre zarten Hände griffen mit gewaltiger Kraft in die Tasten . Das Gesicht sah etwas verändert aus ; sie trug eine Brille , und ihre gestern so schneebleichen Wangen waren gerötet . Die kleine Felicitas war leise eingetreten und stand in dem Bogen , welchen der Vorbau bildete ... Fühlte die alte Dame die Nähe eines menschlichen Wesens , oder hatte sie ein Geräusch gehört – sie brach plötzlich mitten in einem rauschenden Akkorde ab , und ihre großen Augen richteten sich sofort über die Brille hinweg auf das Kind . Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch die schwächliche Gestalt der Einsamen , ein leiser Schrei entfloh ihren Lippen ; sie nahm mit der zitternden Rechten die Brille ab und erhob sich , während sie sich auf das Instrument stützte . » Wie kommst du hierher , mein Kind ? « fragte sie endlich mit unsicherer Stimme , die jedoch trotz des Schreckens sanft und mild blieb . » Ueber die Dächer , « versetzte das ängstlich gewordene kleine Mädchen beklommen und zeigte mit der Hand zurück nach dem Hofe . » Ueber die Dächer ? – Das ist unmöglich ! Komm her , zeige mir , wie du gegangen bist . « Sie faßte die Hand des Kindes und trat mit ihm auf die Galerie . Felicitas deutete auf das Mansardenfenster und nach den Rinnen . Die alte Dame schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht . » Ach , erschrecken Sie ja nicht ! « sagte Felicitas mit ihrer lieblich unschuldigen Stimme . » Es ging wirklich ganz gut . Ich kann klettern wie ein Junge , und Doktor Böhm sagt immer , ich sei ein Flederwisch und hätte keine Knochen . « Die alte Mamsell ließ die Hände vom Gesicht fallen und lächelte – es lag noch so viel Anmut in diesem Lächeln , das zwei Reihen sehr schöner , weißer Zähne sehen ließ . Sie führte die Kleine in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl . » Du bist die kleine Fee , gelt ? « sagte sie , indem sie Felicitas an ihre Kniee heranzog . » Ich weiß es , wenn du auch nicht auf rosa Gazewolken zu mir hereingeflogen bist ... Dein alter Freund Heinrich hat mir heute mittag von dir erzählt . « Bei Heinrichs Namen kam die ganze Wucht des Leides wieder über das Kind . Wie heute morgen stieg eine glühende Röte in die Wangen , und Groll und Weh zogen jene herben Linien um den kleinen Mund , die über Nacht den Ausdruck des Kindergesichts zu einem völlig anderen gemacht hatten ... Den Augen der alten Mamsell entging diese plötzliche Veränderung nicht . Sie nahm schmeichelnd das Gesicht des kleinen Mädchens zwischen ihre Hände und bog es zu sich herab . » Siehst du , mein Töchterchen , « fuhr sie fort , » seit vielen Jahren kommt der Heinrich allsonntäglich herauf zu mir , um Verschiedenes für mich zu besorgen ... Er weiß , daß er nie gegen mich erwähnen darf , was sich drunten im Vorderhause ereignet , und bisher hat er auch nie das Gebot überschritten ... Wie lieb muß er die kleine Fee haben , daß er plötzlich gegen meinen so streng ausgesprochenen Wunsch handeln konnte ! « Die trotzigen Augen des Kindes schmolzen . » Ja , er hat mich lieb – sonst niemand , « sagte sie , und ihre Stimme brach . » Sonst niemand ? « wiederholte die alte Dame , während ihr unaussprechlich sanfter Blick ernst liebevoll auf dem Gesichte der Kleinen ruhte . » Weißt du denn nicht , daß einer da ist , der dich immer lieb haben wird , auch wenn sich alle Menschen von dir abwenden sollten ? ... Der liebe Gott – « » O , der will mich ja gar nicht , weil ich ein Spielerskind bin ! « unterbrach Felicitas die Sprecherin mit ausbrechender Heftigkeit . » Frau Hellwig hat heute morgen gesagt , meine Seele sei so wie so verloren , und alle drunten im Vorderhause sagen , er habe meine arme Mama verstoßen , sie sei nicht bei ihm ... Ich habe ihn aber auch nicht mehr lieb – ganz und gar nicht , und ich will auch nicht zu ihm , wenn ich gestorben bin – was soll ich denn dort , wo meine Mama nicht ist ? « » Gerechter Gott , was haben diese Grausamen mit ihrem sogenannten christlichen Glauben aus dir gemacht , armes Kind ! « Die alte Dame erhob sich hastig und öffnete eine Seitenthür . Es war dem Kinde , als umflatterten hier weiße Wölkchen des Himmels sein Haupt . Ueber das in einer Ecke stehende Bett , über Thüren und Fenster floßen weiße Mullvorhänge herab . Die blaßgrüne Wand des kleinen Gemachs tauchte nur in einzelnen schmalen Streifen zwischen dem wolkigen Gewebe auf ... Welch ein Kontrast zwischen diesem kleinen Raume , so frisch und makellos rein , wie der Gedanke , der aus einer gesunden , unbefleckten Seele kommt , und jenem düsteren Boudoir drunten im Vorderhause , in welchem Frau Hellwig während der frühen Morgenstunden auf dem Betstuhle kniete , auf jenem Betstuhle , dessen gestickte Polster wohl für die grausigen Marterwerkzeuge , nirgends aber für ein Symbol des Friedens und der Versöhnung Raum hatten . Auf dem Nachttische , neben dem Bette , lag eine große , vielgebrauchte Bibel . Die alte Dame schlug sie mit sicherer , kundiger Hand auf und las laut und tiefbewegt : » Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht , so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle . « Und sie las weiter und weiter und schloß mit dem Verse : » Die Liebe hört nimmer auf , so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntnis aufhören wird . « » Und diese Liebe kommt von ihm , ja , Gott ist diese Liebe selbst , « sagte sie und legte ihren Arm um die Schultern des Kindes . » Deine Mama ist sein Kind , wie wir alle , und sie ist eingegangen zu ihm , denn › die Liebe hört nimmer auf ‹ ... Suche sie getrost da droben , und wenn du nachts aufblickst zum Himmel mit seinen Millionen wundervoller Sterne , so denke du fest und sicher : › Neben einem solchen Himmel gibt es keine Hölle ! ‹ ... Und nun hast du ihn auch wieder lieb , gelt , recht von Herzen lieb , meine kleine Fee ? « Das Kind antwortete nicht , aber es schlug leidenschaftlich beide Arme um die milde Trösterin , und ein heißer Thränenstrom stürzte aus seinen Augen . – Zwei Tage darauf hielt ein Wagen vor dem Hellwigschen Hause . Die Witwe stieg ein mit ihren zwei Söhnen , um ihnen das Geleit bis zur nächsten Stadt zu geben . Johannes ging nach Bonn , um Medizin zu studieren , zuvor aber sollte er Nathanael demselben Institut übergeben , in welchem er erzogen worden war . Heinrich stand breitspurig und behaglich in der offenen Hausthür neben Friederike und sah dem Wagen nach , der langsam und schwerfällig über das holprige Pflaster des Marktplatzes hinschwankte . Es zog etwas wie ein leiser Pfiff über seine gespitzten Lippen – bei ihm stets das Anzeichen einer wohligen Stimmung – und beide Daumen steckten fest eingeklemmt in den gewaltigen Fäusten , was der Volksmund ungefähr in die Worte übersetzt : » Herr , behüte uns , daß das Unheil nicht wiederkehre ! « » Da können nun so ein halb Mandel Jährchen vergehen , bis wir den einen oder den anderen wieder ins Haus kriegen , « sagte er seelenvergnügt zu Friederike , die sich pflichtschuldigst mit dem Schürzenzipfel über die Augen fuhr . » Und das ist dir wohl ganz recht , du Dickkopf ? « fuhr sie ihn an . » Ein schöner Dank für das Trinkgeld , das du vom jungen Herrn gekriegt hast ! « » Geh in deine Küche – auf dem Herde liegt das Zeug noch ; ich rühr 's mit keinem Finger an ! Kannst dir meinetwegen einen roten Rock und gelbe Schuhe zum Vogelschießen dafür kaufen . « » Ach , du gottheilloser Mensch ! ... Einen roten Rock und gelbe Schuhe , wie eine , die auf dem Seile tanzt ! « rief die alte Köchin erbittert . » Na , es ist nur gut , daß man weiß , warum du so wütend bist – der junge Herr hat dir 's heute morgen gut gegeigt ! « I , was du nicht alles weißt ! « warf der Hausknecht gleichmütig ein . Er steckte die Hände in die Seitentaschen seines Rockes , zog die Schultern in die Höhe und pflanzte sich noch breiter auf die Schwelle als bisher . Diese Haltung empörte Friederikes Gemüt stets bis zur Leidenschaft , denn es lag die äußerste Verachtung dessen drin , was sie sagte . » Hat der Mensch da zwanzig Thaler Lohn und höchstens fünfzig Thaler in der Sparkasse , « fuhr sie giftig fort , » und stellt sich vor seine reiche Herrschaft hin wie der Großmogul und spricht : › Geben Sie mir das fremde Kind , ich bringe es bei meiner Schwester unter , es soll Ihnen keinen Heller kosten , ‹ und – « » Und da hat der junge Herr geantwortet , « ergänzte Heinrich , indem er das Gesicht langsam der Erzürnten zuwendete : » › Das Kind ist in den besten Händen , Heinrich ; es bleibt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre unter allen Umständen hier im Hause , und du wirst dich nicht unterstehen , es je zu bestärken , wenn es widerspenstig gegen meine Mutter ist , und – solltest du einmal wieder die alte Küchenhexe draußen beim Horchen ertappen , so nagle sie ohne Gnade am Ohrläppchen auf der Thür fest . ‹ Was meinst du denn , Friederike , wenn ich jetzt – « er hob den Arm , und die alte Köchin floh schimpfend in die Küche . 10 Neun Jahre waren an dem stattlichen Hause auf dem Marktplatze vorübergestrichen ; aber weder auf die eisenfesten Mauern , noch in das Frauenprofil am wohlbekannten Fenster des Erdgeschosses hatten sie einen Zug des Verfalles zu zeichnen vermocht ... Vielleicht sahen die Drachenköpfe hoch oben am Dache für den aufmerksamen Beschauer etwas mitgenommen aus – kein Wunder , wenn auch Drachenköpfe , weinten sie doch jahraus jahrein mit dem Himmel und gossen seine Thränenströme auf das Pflaster ; nachher kam wieder die Sonne und durchglühte sie , solcher Wechsel verändert die Physiognomie . Die Frau da drunten aber stand auf dem Boden der starren Ueberzeugung , auf dem hohen Piedestal der eigenen Unfehlbarkeit – in dieser wandellosen , eisigkalten Region gibt es keinen Zweifel , keine Kämpfe , kein inneres Ringen , daher die äußere Versteinerung , die man eine gute Konservation zu nennen pflegt . Eine auffallende Veränderung zeigte das alte Haus aber doch : die Rouleaux in der großen Erkerstube des ersten Stockes waren seit einigen Wochen stets aufgerollt und Blumentöpfe standen auf den Fenstersimsen . Der Blick der Vorübergehenden suchte pflichtschuldigst nach wie vor zuerst das Fenster mit dem Asklepiasstocke , und Frau Hellwig konnte der ehrerbietigen Grüße stets sicher sein , aber dann huschten die Augen verstohlen hinauf nach dem Erker . Dort , inmitten der steinernen Fenstereinfassung , erschien häufig ein reizendes Frauengesicht von förmlich blendender Frische , ein Kopf voll aschblonder Locken , mit blauen Taubenaugen , die fast kinderhaft groß und rund in die Welt schauten , und dieser Kopf saß auf einem blühenden Leibe vom schönsten Ebenmaße , den meist ein weißes Mullkleid umhüllte . Manchmal , freilich nicht oft , erhielt das liebliche Bild im Fensterrahmen aber auch eine entstellende Zugabe – eine Kindergestalt war dann auf einen Stuhl geklettert und sah neugierig über die Schultern der Dame hinunter auf den Marktplatz ; es war ein armes , durch die Skrofelkrankheit furchtbar entstelltes Köpfchen ; die Hand , welche das spärliche , weißblonde Haar so sorgfältig in zierliche Ringel kräuselte , machte sich vergebliche Mühe – unter dem künstlichen Lockenbau trat die Häßlichkeit des fahlen , aufgedunsenen Gesichtchens nur um so grotesker hervor , und der stets höchst elegante Anzug war auch selten geeignet , die unförmliche Taille und die aufgetriebenen Gelenke des Kindes zu verbergen . Allein bei allem Kontraste in der äußeren Erscheinung waren beide doch Mutter und Kind , und um des letzteren willen waren sie nach Thüringen gekommen . Innerhalb der letztverflossenen neun Jahre nämlich hatte ein Ingenieur seine Wünschelrute ziemlich nahe dem Weichbilde der Stadt X. spielen lassen ; der moderne Mosesstab hatte dem Boden einen bitteren Quell entlockt , der an der Luft , wenn auch nicht zu Gold und Silber , so doch zu sehr schätzenswerten Salzkrystallen erhärtete . Das war ein Fingerzeig für die Bewohner von X. Sie etablierten ein Soolbad , das im Vereine mit dem ausgezeichneten Renommee der Thüringer Luft sehr bald Hilfesuchende aus aller Herren Länder herbeizog . Die junge Dame war auch in die Stadt gekommen , um ihr Kind in der Salzflut zu baden , und zwar auf Anraten des Professors Johannes Hellwig in Bonn ... Ja , die Frau da drunten hinter dem Asklepiasstocke hatte viel für ihren Sohn gethan ! Sie hatte es durchgesetzt , daß er frühzeitig unter das Regiment des strenggläubigen Verwandten am Rhein gekommen war ; sie hatte es nie geduldet , daß er während seines siebenjährigen Fernseins auch nur ein einziges Mal auf Ferien nach Hause kommen durfte ; sie hatte jeden Morgen pünktlich und regelrecht seinen Namen auf dem Betstuhle genannt und war nie müde geworden , die Zahl und Beschaffenheit seiner Hemden von der Ferne aus streng zu kontrollieren – und da war er nun auch ein berühmter Mann geworden . Es würde übrigens dem jungen Professor bei all seiner Berühmtheit und Wohlerzogenheit schwerlich gelungen sein , einen seiner Patienten in der geschonten Erkerstube seiner Mutter unterzubringen , wären nicht seine beiden Schützlinge Tochter und Enkelin jenes strenggläubigen Verwandten am Rhein gewesen , auf welchen Frau Hellwig große Stücke hielt . Nebenbei hatte auch die schöne junge Frau den Vorzug eines hübschen Titels – sie war die Witwe eines Regierungsrates in Bonn . Es konnte der Welt gegenüber ganz und gar nichts schaden , wenigstens eine kleine Regierungsrätin in der Familie zu haben , da Herr Hellwig sich stets starrköpfig geweigert hatte , seine Gattin zu einer Frau Kommissionsrätin oder dergleichen zu machen . Frau Hellwig saß am Fenster auf der Estrade . Man hätte meinen können , die Zeit sei auch spurlos an dem feinen , schwarzen Wollkleide , an Kragen und Manschetten vorübergegangen ; bis auf die kleine Nadel , die den Kragen unter dem Kinne zusammenhielt , war der Anzug genau derselbe , wie wir ihn am ersten Abend an der großen Frau kennen gelernt haben . Nur erschien die Büste voller ; die engen Aermel umschloßen drall die starken Oberarme , und der Schneider hatte , vielleicht heimlicherweise , den Rock faltenreicher um die plumpe , sehr ungraziöse Taille gereiht ... Ihre großen weißen Hände lagen mit dem Strickzeuge feiernd im Schoße – sie hatte in diesem Augenblicke Wichtigeres zu thun . An der Thür , in sehr ehrerbietiger Entfernung stand ein Mann ; seine schmale Gestalt steckte in einem abgeschabten Rocke , und die Hand , die er öfter beim Sprechen hob , war voller Schwielen . Er sprach leise und stockend – war es doch so unheimlich still im Zimmer ; nur das Ticken der Wanduhr begleitete seinen Vortrag . Aus dem Munde der gestrengen Frau kam kein ermutigendes Wort , ja , es schien , als fehle dieser regungslosen Gestalt sogar der Atemzug , als könne der starre , unbewegliche Blick stets und immer nur das eine Ziel haben – das ängstliche , blasse Gesicht des Mannes , der endlich erschöpft schwieg und sich mit seinem kattunenen Taschentuche den Schweiß von der Stirn wischte . » Sie sind an die Unrechte gekommen , Meister Thienemann , « sagte Frau Hellwig nach einer abermaligen Pause kalt . » Ich zersplittere mein Geld nicht in so kleine Kapitalien . « Ach , Madame Hellwig , so ist 's ja auch gar nicht gemeint ; ich werde doch nicht so unbescheiden sein ! « entgegnete der Mann lebhaft und trat einen Schritt näher . » Aber Sie sind bekannt als eine wohlthätige Dame , denn Sie sammeln jahraus jahrein für die Armen und stehen so oft im Wochenblatte mit Lotterien und dergleichen , und da wollte ich nur bitten , mir für ein halbes Jahr gegen Zinsen das Kapitälchen von fünfundzwanzig Thalern aus dem Gesammelten vorzustrecken . « Frau Hellwig lächelte – der Mann wußte nicht , daß dies ein Todesurteil für seine Hoffnung war . » Ich könnte beinahe denken , es sei nicht ganz richtig bei Ihnen , Meister Thienemann – diese Zumutung ist wirklich neu ! sagte sie beißend . » Allein ich weiß ja , daß Sie sich um die Bestrebungen der Gläubigen für die heilige Kirche nicht kümmern , und deshalb will ich Ihnen sagen , daß von den dreihundert Thalern , die gegenwärtig disponibel in meinen Händen sind , nicht ein Heller hier in der Stadt bleibt . Ich habe es für die Mission gesammelt – es ist heiliges Geld , – bestimmt zu einem Gott wohlgefälligen Werke , nicht aber , um Leute zu unterstützen , die arbeiten können . « » Madame Hellwig , an Fleiß lass' ich 's nicht fehlen ! « rief der Mann mit halberstickter Stimme . » Aber die Krankheit hat mich ins Elend gebracht ... Du lieber Gott , wie noch bessere Zeiten für mich waren , da hab' ich über Feierabend Kleinigkeiten gearbeitet und hab' sie in Ihre Lotterien gegeben , weil ich dachte , sie kämen unseren Armen zu gute , und nun geht das Geld hinaus in die weite Welt , und bei uns gibt 's doch auch viele , die keinen Schuh an den Füßen und im Winter kein Scheit Holz auf dem Boden haben . « » Ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten ! ... Wir thun übrigens hier auch Gutes , aber mit Auswahl , Meister Thienemann ... Solche Männer , die im Handwerkervereine Vorträge voller Irrlehren mit anhören , bekommen natürlich nichts . Sie thäten auch besser , bei Ihrer Hobelbank zu stehen , als daß Sie in die Sterne und in die Steine gucken und behaupten , es sei da auch vieles anders , als die heilige Schrift aussage ... Ja , ja , dergleichen gotteslästerliche Reden kommen uns schon zu Ohren , und wir merken sie uns fleißig für vorkommende Fälle ... Sie kennen nun meine Ansicht und haben bei mir gar nichts zu hoffen . « Frau Hellwig wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus . » Lieber Gott , was muß man sich doch alles sagen lassen , wenn man in Not ist ! « seufzte der Mann . » Das verdanke ich meiner Frau ; sie hat nicht geruht , bis ich in dies Haus gegangen bin . « Er sah noch einmal nach dem zweiten Fenster des Zimmers , und als ihm auch von dort her weder Hilfe noch ein tröstendes Wort kam , ging er zur Thür hinaus . Der letzte Blick des armen Handwerkers hatte der Regierungsrätin gegolten , die Frau Hellwig gegenüber saß . War je eine weibliche Erscheinung geeignet , eine frohe Hoffnung in dem Herzen Hilfsbedürftiger zu erwecken , so war es jene rosige Gestalt im duftigen , fleckenlos weißen Kleide . Die weichen Linien des Profils , der Glorienschein der hellen Locken über der Stirne , die blauen Augen , – das alles machte den Gesamteindruck eines Engelkopfes – für den aufmerksamen Beobachter jedoch den eines gemeißelten ; denn während mehr als einmal das Rot der Entrüstung über Frau Hellwigs Stirne geflogen war , und der Bittende so beweglich in Stimme und Gebärden seine sorgenvolle Angst an den Tag gelegt hatte , war von jenem lieblichen Oval auch nicht einen Augenblick der Ausdruck lächelnder Ruhe gewichen . Der schöne Busen hob und senkte sich in gleichmäßigen Atemzügen ; die halbgestickte Rose unter ihren Fingern hatte sich während der kleinen Szene um ein Blatt vermehrt , und das strengste Auge würde an den sorgfältig abgezählten Kreuzstichen auch nicht den geringsten Makel entdeckt haben . » Du hast dich doch nicht geärgert , Tantchen ? « fragte sie aufblickend mit lieblich schmeichelnder Stimme , als der Meister das Zimmer verlassen hatte . » Mein seliger Mann stand auch mit diesen Fortschrittlern stets auf sehr gespanntem Fuße , und das Vereinswesen war ihm ein Greuel ... Ah , sieh da , Karoline ! « Bei diesem Ausrufe winkte sie nach der Küchenthür . Dort war schon längst , noch während der Anwesenheit des Tischlermeisters , ein junges Mädchen leise und geräuschlos eingetreten ... Wer vor vierzehn Jahren die schöne junge Frau des Taschenspielers vor den Gewehrläufen der Soldaten hatte stehen sehen , der mußte unwillkürlich erschrecken bei dieser wiedererstandenen Erscheinung . Es waren dieselben Körperformen , wenn auch zarter und mädchenhafter und hier in einen groben , dunklen Stoff gehüllt , während jenes unglückliche Weib der gleißende Schimmer theatralischen Pompes umgeben hatte . Es waren dieselben tadellosen Linien des Kopfes mit der perlmutterweißen , schmalen Stirne und den unmerklich herabgesenkten Mundwinkeln , die dem Gesicht einen hinreißenden Ausdruck leiser Schwermut verliehen . Bei jener Unglücklichen hatte der thränenvolle Blick aus dunkelgrauen Augensternen diesen Ausdruck vollendet ; das junge Mädchen dagegen hob in diesem Momente die schwarzbewimperten Lider , und ein Paar brauner leuchtender Augen wurden sichtbar . Sie zeugten von einer Seele , die sich nicht überwunden gab , die sich nicht hatte beugen lassen zu widerstandsloser Duldung ; es lag Kraft und Opposition in diesem Blicke – rollte doch auch polnisches Blut in den Adern dieses jungen Geschöpfes , ein versprengter Tropfen jenes edlen , heißen Stromes , der sich immer wieder erhebt zu erfolglosem Kampfe gegen die Uebermacht . Wir wissen jetzt , daß das an der Thür stehende junge Mädchen Felicitas ist , wenn sie auch notgedrungen auf den simplen Namen Karoline hört – den » Komödiantennamen « hatte Frau Hellwig sofort bei Beginn ihrer Selbstherrschaft zu dem » Theaterplun der « in die Dachkammer geworfen . Felicitas näherte sich der Herrin des Hauses und legte ein bewunderungswürdig gesticktes Batisttaschentuch auf den Nähtisch derselben . Die Regierungsrätin griff hastig danach . » Soll das auch verkauft werden zum Besten der Missionskasse , Tante ? « fragte sie , während sie das Tuch entfaltete und die Stickerei prüfte . » Je nun , freilich , « versetzte Frau Hellwig ; » Karoline hat es ja zu diesem Zwecke arbeiten müssen – sie hat lange genug damit getrödelt . Ich denke , drei Thaler wird es doch wohl wert sein . « » Vielleicht , « meinte die Regierungsrätin achselzuckend . » Woher haben Sie denn die Zeichnung zu den Ecken , liebes Kind ? « Ein leises Rot stieg in Felicitas ' Gesicht . » Ich habe sie selbst entworfen , « antwortete sie mit leiser Stimme . Die junge Witwe sah rasch auf . Ihr blaues Auge veränderte sich für einen Moment – es schillerte fast ins Grünliche . » So , selbst entworfen ? « wiederholte sie langsam . » Nehmen Sie mir 's nicht übel , Kindchen , aber das ist eine Kühnheit , die ich mit dem besten Willen nicht fasse . Wie kann man nur so etwas wagen ohne die erforderlichen Kenntnisse ! ... Das ist echter Batist , der Tante kostet dies Stück mindestens einen Thaler – es ist verdorben durch die stümperhafte Zeichnung . « Frau Hellwig fuhr heftig empor . » Ach , sei nicht böse auf Karoline , liebe Tante , sie hat es gewiß nur gut gemeint , « bat begütigend mit sanfter Stimme die junge Dame . » Vielleicht läßt es sich doch noch verwerten ... Sehen Sie , liebes Kind , ich habe mich grundsätzlich nie mit Zeichnen abgegeben , der Stift in der weiblichen Hand gefällt mir nicht , aber nichtsdestoweniger habe ich ein sehr , sehr scharfes Auge für eine fehlerhafte Zeichnung ... Gott im Himmel , was ist das für ein monströses Blatt hier ! « Sie zeigte auf ein längliches Blatt , dessen Spitze umgebogen war , und das sich in täuschenden Umrissen abhob von dem durchsichtigen Gewebe . Felicitas erwiderte kein Wort , doch sie preßte die zarten Lippen aufeinander und sah fest in das Gesicht der Tadlerin ... Die Regierungsrätin wandte sich hastig ab und legte die rechte Hand über die Augen . » Ach , liebes Kind , jetzt hatten Sie wieder einmal Ihren stechenden Blick ! « klagte sie . » Es schickt sich wirklich nicht für ein junges Mädchen in Ihren Verhältnissen , andere so herausfordernd anzusehen . Denken Sie nur an das , was Ihnen Ihr wahrer Freund , unser guter Sekretär Wellner , immer sagt : › Hübsch demütig , liebe Karoline ! ... Sehen Sie , da haben Sie nun gleich wieder einen verächtlichen Zug um den Mund – das könnte einen beinahe ärgern ! .. . Wollen Sie sich denn wirklich auf das Romantische spielen und das Anerbieten dieses Ehrenmannes hartnäckig zurückweisen , weil – Sie ihn nicht lieben ? ... Lächerlich ! Da wird schließlich mein Vetter Johannes doch einen Machtspruch thun müssen ! « Wie mußte sich das junge Mädchen in der Selbstbeherrschung geübt haben ! Bei den letzten Worten der Regierungsrätin fuhr sie empor ; man sah , wie ihr das rebellische Blut nach dem Kopfe stürmte ; das plötzlich hoch empor gerichtete Haupt erhielt einen Augenblick etwas Dämonisches durch den Ausdruck des Hasses und der Verachtung . Dennoch sagte sie gleich darauf ruhig und kalt : » Ich werde es darauf ankommen lassen . « » Wie oft soll ich denn noch bitten , Adele , diesen widerwärtigen Handel nicht mehr zu berühren ! « sagte Frau Hellwig erbittert . » Bildest du dir denn ein , in wenig Wochen diesen Starrkopf , dieses Stück Holz zu brechen , nachdem ich 's neun Jahre umsonst versucht habe ? Sobald Johannes kommt , wird die Sache ein Ende nehmen , und ich mache meine drei Kreuze ... Jetzt geh und hole mir Hut und Mantille , « herrschte sie Felicitas zu . » Ich hoffe zu Gott , daß diese Stümperei , « sie warf das Taschentuch verächtlich beiseite , » die letzte ist , die du dir in meinem Dienste hast zu schulden kommen lassen ! « Felicitas ging schweigend hinaus . Bald darauf schritten Frau Hellwig und ihr Gast über den Marktplatz .