Erstes Kapitel In einer der Querstraßen , die vom » Graben « her auf den Josephsplatz und die Augustinerstraße zuführen , stand das in den Prinz-Eugen-Tagen erbaute Stadthaus der Grafen von Petöfy mit seinem Doppeldach und seinen zwei vorspringenden Flügeln . Ein altmodisches Hochparterre , dazwischen ein Hof und ein etwas vernachlässigtes , den ganzen Bau nach vornhin abschließendes Eisengitter . Ging man an einem dunklen Tage hart an diesem Eisengitter vorüber und sah durch seine rostigen Stäbe hin auf den mit Kies bestreuten Vorhof , so gewann man den Eindruck , daß hier alles längst tot und ausgestorben sei ; trat man aber umgekehrt auf das Trottoir der andern Straßenseite hinüber , so bemerkte man an allerlei kleinen Zeichen und nicht zum wenigsten an einem gedämpften Lichtschimmer , der abends durch die nicht ganz zugezogenen Gardinen fiel , daß , wenn nicht der ganze Bau , so doch die zwei vorspringenden Flügel desselben bewohnt sein mußten . Und so war es auch . Die beiden letzten Petöfys , Graf Adam und seine Schwester Judith , eine seit vielen Jahren verwitwete Gräfin von Gundolskirchen , bewohnten das Palais in getrennter Wirtschaftsführung und benutzten in Gemeinschaftlichkeit nur die dem Corps de logis angehörigen Repräsentationsräume . Die » Gesellschaft « , die sich in diesen Räumen zu versammeln pflegte , war , je nachdem der Bruder oder die Schwester » invitiert « hatte , von sehr verschiedenem Gepräge . Beide Geschwister gefielen sich nämlich in einem ausgesprochenen Protegieren , aber während die Protektion des Grafen der Kunst galt , galt die der Gräfin der Kirche , weshalb es weder ausbleiben noch überraschen konnte , daß sich in denselben Empfangsräumen eine sehr verschiedene Gesellschaftselite : die Wolter und der Kardinal von Schwarzenberg , abwechselnd bewegte . Nur selten , daß man eine Vereinigung beider Elemente wagte . Graf und Gräfin waren jeder zu seinem Teil ebenso voll Hingebung wie voll Wohlwollen , und doch hätt es keiner allzu scharfen Beobachtung bedurft , um wahrzunehmen , daß die Protektion , in der sie sich ergingen , etwas von einer noblen Passion an sich trug . Sie fühlten eine gewisse Leere , wollten sie standesmäßig ausfüllen und trafen darnach unter dem , was ihnen zur Hand war , ihre Wahl . Aber dieser Entstehung ihrer Passion waren sich beide seit lange nicht mehr bewußt und standen vielmehr in Aufrichtigkeit und gutem Glauben jeder an seinem Platz . Zweites Kapitel Es war Ende Januar , einer jener unfreundlichen Tage , wo der Himmel nicht weiß , ob er nebeln oder nieseln soll . Grau zogen die Wolken über die Dächer hin , und die stille Straße , darin das Petöfysche Palais gelegen war , war noch stiller als gewöhnlich . Aber vor dem Palais selber herrschte Leben , und nicht nur Azaleen , Rhododendren und andere hohe Topfgewächse , sondern auch allerlei Kästen und Futterale mit Musikinstrumenten und endlich Körbe , darin kunstvoll aufgetürmtes Gebäck die schrägstehenden Deckel wie zur Seite geschoben hatte , wurden abgeladen . Kein Zweifel , der alte Graf gab heute sein Winterfest . Inzwischen war die zwölfte Stunde herangekommen , das Gewölk zog ab , der Himmel begann zu blauen , und als angesichts dieser erfreulichen Zeichen ein in der Nähe wohnender Taubenzüchter ein Volk Tauben in die Luft steigen ließ , um den bevorstehenden Wetterumschlag aller Welt zu verkünden , fuhr vor dem Petöfyschen Palais ein elegantes Cabriolet vor . In dem Hause gegenüber aber , in dessen erstem Stock ein großes Putz- und Konfektionsgeschäft war , erschienen sofort drei , vier Mädchenköpfe , junge Demoiselles , am Fenster und sahen neugierig auf den jungen Offizier , der eben die Zügel in die Hand seines Dieners legte . » Ah , der Herr Neffe , Graf Egon ! « rief eines der jungen Mädchen . » Und wie ihm der Attila sitzt ! Ein Husar ist doch das Schönste . « Niemand widersprach , entweder , weil man derselben Ansicht war , oder vielleicht auch , weil die Sprecherin ein für allemal als Autorität in derlei Dingen einschließlich aller Angelegenheiten des Hauses Petöfy galt ; der junge Kavalier aber , der zu dieser Bemerkung über die Vorzüge von Husarentum und Attila Veranlassung gegeben hatte , wandte sich seinerseits vom Gitter her rasch auf das Portal zu , vor dessen Eingang ein pechschwarzer Walache stand , ein Ideal von einem Türhüter , groß und dick und mit zwei Schnurrbärten , von denen der eine , der kleinere , wie ein Dachreiter auf dem andern saß . » Noch zu Haus ? « fragte der als Graf Egon und Neffe des Hauses bezeichnete junge Offizier und stieg , als der Walache gravitätisch sein » Ja « genickt hatte , die breite , nur wenig Stufen zählende Marmortreppe hinauf . Ein langer Korridor lief auf das Frontzimmer zu , das von Graf Adam bewohnt wurde . Niemand erschien , um zu melden , auch Andras nicht , der erst sechzehnjährige Groom und Liebling , der seit kurzem an des erkrankten Kammerdieners Stelle den persönlichen Dienst beim Grafen hatte . So trat der Neffe denn unangemeldet ein , streckte sich ohne weiteres , den Oheim bei der Toilette vermutend , in einen Schaukelstuhl und musterte das Zimmer , das er von langher kannte , doch so genau zu betrachten nie zuvor Gelegenheit gehabt hatte . Der Charakter seines Bewohners sprach sich in allem aus und verriet gleichmäßig den Militär wie den Junggesellen und Theaterhabitué . Vor dem Fenster stand ein beinahe mannshohes Bauer mit einem Kakadu darin , während im übrigen alle Wände mit einer ganzen Galerie von Bühnengrößen , unter denen die Rachel den Ehrenplatz einnahm , überdeckt waren . Ebenso lagen Albums umher , auf deren einem in großer Golddruckaufschrift » Collection of beauties « zu lesen war . Egon begann eben darin zu blättern , als er den kleinen , staffeleiartigen , immer das Neueste tragenden Ständer eines aquarellierten Blattes gewahr wurde . Neugierig trat er heran und sah nun , daß es die Wolter als Messaline war in jenem verführerischen Moment , wo sie den Sohn des Paetus auf einem Blumenlager empfängt . Egon war noch in Bewunderung vertieft , als der alte Graf eintrat und den Neffen in einem eleganten Visitenanzuge , den er augenscheinlich eben erst angelegt hatte , begrüßte . » Nun , Egon , zufrieden mit dem Bilde ? « » Süperb ! « » Mein ich auch . Makart hat sich hier selbst übertroffen . Ich ziehe diese Skizze seinen größeren Bildern vor . Überhaupt in dem , was Künstler Ausführung nennen , geht soviel von der Hauptsache verloren . Was der Moment schafft , ist immer das Beste . Byron hatte ganz recht , sich mit einem Tiger zu vergleichen , der alles gleich im ersten Sprunge packen müsse . Gleich oder gar nicht . So liegt es . « » Die Fachleute denken meist anders darüber « , entgegnete der Neffe , der die Vorliebe des Oheims für Kunstgespräche kannte . » Hört man sie , so sollte man glauben , skizzieren könne jeder und Ideen haben sei so ziemlich das Trivialste von der Welt . Aber lassen wir das . Ich komme , nach deinen Befehlen zu fragen . Es wird heute getanzt werden . Für den Fall , daß du noch Aufträge hast , steh ich mit meiner ganzen Zeit zu Diensten . Ich habe mich beurlaubt und bitte dich , über mich zu verfügen . « » Obligiert , Egon . Aber es ist alles im Gange , die Cotillonüberraschungen mit eingeschlossen , und das eine , was noch fehlt , muß ich selber beschaffen , oder sag ich lieber , in Ordnung bringen . Eben deshalb siehst du mich bereits gestiefelt und gespornt . Es handelt sich um die reizende Franz , die heute , Pardon , wenn ich etwas übertreibe , die Königin unseres Festes sein soll . « » Sagen wir die Nouveauté . « » Gut , auch das . › Nouveauté ‹ : nicht übel . Und um diese Nouveauté soll ich kommen , weil es der unbedeutenden kleinen Stiglmayr , die geradeso hausbacken ist wie ihr Name , beliebt hat , sich einen Katarrh anzuschaffen oder eine Migräne . Nun soll die Franz statt ihrer spielen . Lies . Es ist zum Rasendwerden . Du siehst mich auf dem Wege zu ihr . Es wird sich doch unter den zwanzig jungen und alten Damen irgendeine Vertretung finden lassen , ohne gerade die Franz für diese Rolle heranzuziehen . Wirklich , so mal à propos wie möglich ! Denn gerade heute hatt ich vor , sie deiner Tante Judith vorzustellen , woran mir , offen gestanden , liegt . Den Rest überlaß ich schließlich der Franz selbst , ihrer Klugheit und ihrer Anmut . « » Anmut ? « » Ja ; so sagt ich . Überrascht dich das Wort ? « » Einigermaßen . Um anmutig zu sein , ist sie nicht mehr jung genug . Es gibt eine Frauenanmut von vierzig , aber keine Mädchenanmut von sechsundzwanzig . « » Du gehst höher hinauf , als die Galanterie gestattet , oder meinetwegen auch weiter zurück . « » Und ich meinerseits fürchte nur , daß das Kirchenbuch noch weiter zurückgeht . « » Oh , nichts davon . Es gibt nichts Gröblicheres als Kirchenbücher . Aber alt oder jung , ich habe sie gern und mag sie für mein Fest nicht entbehren , am wenigsten heut . Scheitert alles , so muß sie noch nach der Vorstellung erscheinen . Das dumme Ding von Lustspiel , das gegeben wird , kann doch höchstens vier Akte haben , vielleicht nur drei : gegen neun ist alles aus , und das Fräulein hat noch vollauf Zeit zur Toilette . « » Wird aber angegriffen sein . « » Um desto besser . Ich habe das beobachtet . Unsere Theaterdamen sind nie reizender als unmittelbar nach dem Spiel . Sie haben dann noch etwas von dem künstlerischen Hochflug und sind doch zugleich leise fatigiert von der Anstrengung . Dieser Kampf ist entzückend . Un peu languissant . Aber wem sag ich das ? « Egon wollte sich mit Rücksicht auf die Visite , die der Oheim noch vorhatte , von seinem Platz erheben , der alte Graf aber hielt ihn zurück und sagte : » Noch ein Wort , ehe ich dich fortlasse . Du kennst Tante Judith besser als ich – Geschwister kennen sich eigentlich überhaupt nicht – , wogegen du des Vorzugs genießest , nur ihr Neffe zu sein , und so sage mir denn , glaubst du , daß wir der Tante die Franz plausibel machen , oder mit anderen Worten , daß ich ihr zumuten darf , sie bei nächster Gelegenheit in ihren petit cercle zu ziehen ? Haben wir Chancen oder nicht ? Judith ist im ganzen genommen ohne Standesvorurteile , was ich gerecht genug bin ihr als eine der wenigen Segnungen ihrer strengen Kirchlichkeit in Rechnung zu stellen . Jedenfalls bin ich mitunter überrascht , sie so zu sehen , wie sie ist . Aber eine Schauspielerin ! Und nun gar noch eine solche ! Ja , wenn es eine Tragödin wäre , Volumnia oder Arria oder mindestens die alte Galotti . Das Fach der Heldenmütter ist , wenn nicht geradezu sakrosankt , so doch immer mehr oder weniger zulässig , eine Respektabilitätsflagge , die das Fahrzeug deckt . Aber Liebhaberin , Soubrette ! Soubrette , die reine Piratenflagge ! « » Doch wen soll sie rauben ? « » Vielleicht mich « , lachte der Oheim und fuhr dann fort : » Es gibt keine Torheit , deren sie mich nicht für fähig hält . Sie würde schließlich jede verzeihen , aber die tollste hält sie für möglich . Sie sieht in mir einen ewigen Jüngling und beweist mir , daß mein Leben eine Kette von Jugendtorheiten sei , ja , sie hat sich , glaub ich , in den Kopf gesetzt , eine Jugendtorheit werde auch mein Leben beschließen . Zuletzt wär es nicht das schlimmste . Jedenfalls gut ungarisch , und am Ende stirbt sich 's besser jugendlich als ältlich . « In diesem Augenblick hörte man Militärmusik , und der alte Graf erhob sich . » Ein Uhr . Es ist die höchste Zeit . Und nun mache der Tante drüben deinen Besuch und sondiere . Du mußt sehen , aus des Fräuleins Namen einigen Nutzen zu ziehen . › Franziska Franz ‹ – man kann kaum österreichischer aus der Taufe gehoben sein . Ist es nicht , als flattere der Doppeladler direkt über einem ? Ich vertraue ganz deiner Klugheit . Und erzähl ihr auch , vielleicht käme Liszt ; das macht sie guter Laune . Alles , was Pio Nono mit der Hand gestreift hat , ist gesegnet ein für allemal . Ich persönlich ziehe die Wolter vor . « Und so sprechend , gingen sie den Korridor hinunter bis an die Marmortreppe , wo man sich rasch trennte , der alte Graf , um dem Fräulein , Graf Egon aber , um der Tante seinen Besuch zu machen . Alles , was er eben gehört hatte , ging ihm durch den Kopf , ohne daß es ihn geradezu verstimmt hätte , denn er liebte den Oheim wirklich und verzieh ihm gern und leicht seinen dann und wann etwas exzentrisch auftretenden Theaterenthusiasmus . Aber wenn dieser Enthusiasmus auch noch größer und seine Liebe zum Oheim geringer gewesen wäre – der Onkel war eben ein » Erbonkel « und mußte daraufhin um so vorsichtiger behandelt werden , als das durch die Tante repräsentierte Gundolskirchensche Vermögen ohnehin in einer steten Gefahr war , von der Familie fort – und irgendeinem kirchlichen Orden , sehr wahrscheinlich dem der Liguorianer , zuzufallen . Drittes Kapitel So verging der Vormittag . Am Abend war das Fest , die junge Schauspielerin erschien und wurde der Gräfin Judith vorgestellt . Aber ehe diese Vorstellung stattfinden konnte , hatte sich ein Zwischenfall ereignet , der , wenn nicht das Fest selbst , so doch die Stimmung desselben ernsthaft in Frage gestellt hatte . Zu neun Uhr war geladen worden , und der alte Graf wartete schon der ersten Gäste , namentlich aber Judiths , als Egon in Begleitung zweier Freunde , der Grafen Pejevics und Coronini , erzherzogliche Adjutanten wie er , im Festsaal erschien und in sichtlicher Erregung auf den Oheim zuschritt . Dieser begrüßte die Herren mit der ihm eigenen Artigkeit , nahm aber an ihrer Haltung sehr bald wahr , daß etwas geschehen sein müsse . » Was gibt es , Egon ? « » Gablenz ... « Er stockte . » Nur heraus . Ich ahne . « » Hat sich erschossen . Eben hatten wir das Telegramm . Ich wollte nicht , daß dir unvorbereitet und inmitten deiner Gäste die Nachricht käme . « Die beiden jungen Grafen bestätigten die Mitteilung . Es war in einer kleinen , aus Lorbeer und Palmen arrangierten Nische , wo man das kurze Gespräch geführt hatte . Der alte Graf antwortete nicht , stützte sich nur auf einen Marmortisch , der hier samt ein paar Stühlen stand , und machte dann eine Handbewegung , in der er die Herren aufforderte , sich zu setzen . Gleich darnach aber nahm er selber Platz und sah , während er an seinem weißen Bart drehte , stumm vor sich hin . Es war augenscheinlich , daß er mit seinen Gedanken abwesend war und momentan seiner Besucher vergaß . » Er war dir lieb und wert « , nahm Egon , dem die Situation peinlich zu werden anfing , endlich das Wort . Aber der Graf verharrte noch immer in seinem Schweigen . Erst nach einer Weile war es , als ob er erwache . » Lieb und wert , sagtest du , wohl , aber das sagt nicht genug . Er war mein Freund , das sagt mehr . « Und dabei flogen ihm die Lippen . » Ich weiß , es wird viel gegen ihn gesagt werden , und es ist viel gegen ihn zu sagen , oder doch manches . Aber gegen wen nicht ? Er war ein vollkommener Kavalier und hielt es mit dem Wort : › Ich marchandiere nicht . ‹ Und an dem Festhalten an diesem Wort ist er zugrunde gegangen . Hätt er mit dem Ehrenpunkte marchandieren können , er lebe noch . « » Unter allen Umständen ein beklagenswerter Aus gang « , antwortete Graf Coronini , dem die Verteidigung in ihrem Überschwang und zum Teil auch in einer Verkennung des Tatsächlichen offenbar mißfiel . » Ein beklagenswerter Ausgang , und um so beklagenswerter , als der Zweck , um dessentwillen so gehandelt wurde , nicht erreicht wird . In gewollter Wahrung seiner Ehre hat er sie nur aufs neue bloßgestellt . « Ein scharfer Blick , der den jungen Grafen traf und in nicht geringe Verlegenheit brachte , schoß in diesem Augenblick aus dem von Natur schon etwas geröteten Auge des alten Petöfy . Zugleich aber nahm dieser wieder das Wort und sagte : » Graf Coronini , Pardon , aber dem Ernste solcher Fragen ist mit Alltagsbetrachtungen und einer landläufigen Moral nicht beizukommen . Ich bin mit Ihrem Vater , dem Grafen , jung gewesen , ein halb Jahrhundert liegt dazwischen , und so müssen Sie mir , einem alten Grognard , diese Sprache zugute halten . Es ist ein tiefes und schönes Wort , das Wort von der süßen Gewohnheit des Daseins ; alles , was lebt , hängt auch am Leben , und nur der geht , der gehen muß . Unter den vielen Bücherweisheitssätzen , die mir von Grund aus zuwider sind , steht der von der besonderen Feiglingschaft derer , die das Pistol in die Hand nehmen , obenan . Nach dem bißchen Lebensweisheit , das ich mir anzueignen in der Lage war , hört das Pistol auf , wo die Feigheit anfängt , und hört die Feigheit auf , wo das Pistol an fängt . Wer es in die Hand nimmt , ist durch schwere Kämpfe gegangen . Achtung vor dem Unglück ! Und nun gar der Ehrenpunkt ; die Ehre ! Jeder , der überhaupt davon hat , weiß allein , wo sie für ihn liegt oder nicht liegt . Bitten wir Gott insgesamt , daß der Kelch der Erniedrigung , welchen Inhalts er auch sein möge , gnädiglich an uns vorübergehe ; wenn er aber doch kommt und der , der ihn trinken soll , ihn nicht trinken mag und gewaltsam und für immer seine Lippen dagegen schließt , so denk ich , wir respektieren den Toten und sein Tun . « Graf Coronini , den eine glückliche Leichtlebigkeit auszeichnete , sprach in gewinnendster Weise sein Bedauern über das ihm entschlüpfte Wort aus , und als wenige Minuten später unter einem raschen Zustrome der Saal sich zu füllen begann , zeigte sich's , daß der kleine Disput ein Glück für den Verlauf des Festes gewesen war . Der alte Graf , eine durchaus nervöse Natur , hatte sich in seiner Philippika gegen Graf Coronini nicht nur den aufsteigenden Groll , sondern vor allem auch die voraufgegangene schmerzliche Bewegung von der Seele heruntergeredet und ließ nun als Wirt bis zum letzten Geigenstriche nichts von seiner gewöhnlichen Liebenswürdigkeit vermissen . Seit jener Soiree war eine volle Woche vergangen , und selbst die jungen Demoiselles in dem gegenüber gelegenen Konfektionsgeschäfte hatten den anfänglich unerschöpflich scheinenden Gesprächsgegenstand als erledigt außer Kurs gesetzt , um sich in ihrer Eigenschaft als Chorus des Hauses Petöfy neuen intrikaten Fragen zuzuwenden . Es war Abend , nicht mehr ganz früh , und der Gaskronleuchter , der mit seinen Milchglasglocken über dem Arbeitstische hing , brannte schon seit Stunden . » Ich weiß etwas « , sagte Resi , die heute wie gewöhnlich den Chorführer machte . » Was ? « » Die Franz ist heute bei der alten Gräfin drüben . Ganz intim . Kleiner Zirkel . Bei dem Grafen in der Soiree neulich , nun , das war nicht viel . Aber bei der Gräfin , die so fromm ist , das bedeutet etwas . Was wohl Pater Feßler dazu sagen mag ? « » Ja , der « , unterbrach eine Kleine , nach innenhin Verwachsene , von der Resi mit Vorliebe zu sagen pflegte , der liebe Gott hab ihr eine Stufe ins Kleid genäht . » Ja , der , der Feßler ! Ein schöner Mann , dem könnt ich alles beichten . Und es übergruselt mich ordentlich , wenn ich bloß daran denke . « » Du ? « lachten alle . » Du ? Was beichtest du denn ? « Als aber die Heiterkeit sich wieder gelegt hatte , sagte eine dritte : » Ja , der Feßler ! Sage , Resi , du hörst ja das Gras drüben wachsen , wie kommt der nur ins Petöfysche Haus ? Er ist ja doch ein Steirer , und drüben ist alles ungarisch . « » Oh , nicht doch « , antwortete die Gefragte . » Nicht alles ; nur halb . Auf der linken Seite , wo der Graf wohnt , da freilich ist alles ungarisch , aber auf der rechten , wo die Gräfin wohnt , ist alles deutsch . Und der Graf und die Gräfin sind auch immer im Krieg . « Aber sie sind doch Geschwister , oder sind sie nicht ? « » Gewiß sind sie . Graf Adam und Gräfin Judith und die Gräfin Eveline , die die schönste war und nun tot ist , die waren Geschwister . Und waren alle drei rabiat ungarisch und die beiden jungen Gräfinnen am meisten . Ich weiß es von dem alten Koloman Czagy , des Grafen Kammerdiener , der jetzt krank auf Schloß Arpa liegt , weil er die Gelbsucht hat , er soll ganz abgemagert sein und aussehen wie eine Zitrone . Ja , von dem weiß ich es . Als dann aber die Gräfin Judith den alten Gundolskirchen und die Gräfin Eveline den schönen Asperg heiratete , den Vater von dem jungen Grafen , da war es mit dem Rabiatischen und dem Ungrischen vorbei . › Nix mehr Magyar . ‹ Und beide wurden gut steirisch . Und von daher schreibt sich auch der Feßler . « Pater Feßler , als dies Gespräch geführt wurde , saß bereits drüben in dem kleinen Salon der Gräfin , in dem mehrere Lampen brannten , aber alle mit einem durch Bilderschirme gedämpften Licht . Diese Lichtschirme waren eine Spezialität des Salons und spielten eine Rolle darin , insonderheit einer , der auf der einen Seite die Correggiosche Nacht und auf der andern die büßende Magdalena von Carlo Dolci zeigte . Alles machte den Eindruck von Behagen und Stille . Dicke Teppiche lagen ausgebreitet , und ein feiner Parfüm wie von Ambra war in der Luft . Er schien von einem Lämpchen zu kommen , das auf einem Ecktisch stand und mit einer kleinen blauen Flamme brannte . Darüber hing der Gundolskirchensche Lieblingsheilige , der heilige Florian . Es schien , daß der Pater eben aufbrechen wollte . Die Gräfin hielt ihn aber zurück und sagte : » Nein , lieber Freund , Sie müssen noch bleiben und den Tee mit uns nehmen . Es liegt mir daran . Und doch andererseits ... « Er verbeugte sich , um seine Zustimmung auszudrücken . » Und doch andererseits « , wiederholte die Gräfin , » bin ich in einiger Sorge vor Ihrer Kritik . Es entgeht Ihnen nichts , und ich fürchte , Sie werden allerlei sehen und hören müssen , was Sie , das mindeste zu sagen , nur wenig angenehm berühren kann . Denn um was wird es sich handeln ? Um Rivalitäten und Theaterintrigen . Aber ich konnt es meinem Bruder , dem Grafen , nicht abschlagen und mocht auch nicht . « Feßler schien hier unterbrechen zu wollen , aber die Gräfin fuhr fort : » Und dann ist sie Lutheranerin oder Kalvinistin , oder was weiß ich , und wird also sehr wahrscheinlich an der ewig wiederkehrenden protestantischen Ungezogenheit kranken , ihre ketzerischen Naivitäten in einem Tone vorzutragen , als ob ein Appell unmöglich sei . « » Lassen wir sie , meine Gnädigste « , sagte der Pater . » Ich für meine Person habe nichts lieber als diesen Ton und vergnüge mich immer wieder , die verlorengegangenen oder doch in Abfall geratenen Kinder unserer Kirche von kirchlichen Dingen reden zu hören , von Dingen also , die sie nicht verstehen und doch auch wieder sehr gut verstehen . Es ist immer unterhaltlich und lehrreich . Und am unterhaltlichsten und lehrreichsten erscheinen mir allemal diese Preußen in ihrer rechthaberischen Ausgesprochenheit und ihrem ehrlichen Glauben an eine preußische Verheißung mit dem Alten Fritzen als Gott oder wenigstens als Nationalheiligen . Ich habe viel gegen sie zu sagen und nehme sie , wie sich von selbst versteht , als unsere geschworenen und allerechtesten Feinde , zugleich aber doch als solche , denen gegenüber mir das sonst so schwierige › Liebet eure Feinde ‹ nie sonderlich schwer geworden ist . Sie haben etwas Anregendes und überhaupt manches vor uns voraus . Und darunter sogar Großes . « » Und das wäre ? « » Beispielsweise die Freiheit . Nicht die politische , die nicht viel , und auch nicht die soziale , die noch weniger bedeutet , aber die innerliche . Sie prüfen die Dinge , sind kritisch und leben selbständig aus sich heraus . Und das ist ein Heilsweg ; ja , lassen Sie mich hinzusetzen : unter richtiger Voraussetzung der einzige Weg , der zum Heile führt . « Die Gräfin sah ihn verwundert an , Feßler aber fuhr fort : » Sie sind überrascht , gnädigste Gräfin , und doch bin ich Ihrer schließlichen Zustimmung sicher . Es gibt eine höchste Lebensform , und diese höchste Lebensform heißt : › in Freiheit zu dienen ‹ . Das Dienen aus bloßem Zwang heraus ist tot , und erst aus einem selbstgewollten , weil als unerläßlich erkannten Verzicht auf die Freiheit erblüht uns der echte , welterlösende Glauben . Aber um auf die Freiheit verzichten zu können , dazu muß man sie vorher haben . Sie haben ist das Erste , sich ihrer begeben das Zweite . Den ersten Schritt hat der Protestantismus getan . Vermag er auch den zweiten Schritt zu tun , den Schritt zu Rückkehr und freiwilliger Unterordnung unter das Gesetz , so haben wir in ihm das Ideal . In hoc signo vinces . Da liegt die Zukunft , das Geheimnis einer höher potenzierten Welt . « Als die Gräfin eben antworten wollte , wurde der als Portière dienende Teppich zurückgeschlagen , und die junge Dame , die zu diesem Gespräche wenigstens mittelbar die Veranlassung gegeben hatte , trat ein und schritt rasch und mit einem leisen Anfluge von Verlegenheit auf die Gräfin zu . Diese hatte sich erhoben und bot ihr die Hand , die die junge Schauspielerin mit Devotion küßte . Dann verneigte sie sich gegen den Geistlichen , der sich mit erhoben hatte , während die Gräfin vorstellte : » Pater Feßler – Fräulein Franziska Franz . Ich erwarte seit einer halben Stunde schon meinen Bruder , den Grafen « , fuhr die Gräfin fort , während sie die junge Dame neben sich einlud . » Er ist sonst die Pünktlichkeit selbst . Bis zu seinem Erscheinen , liebes Fräulein , werden wir uns also mit Pater Feßler einzurichten haben . Glücklicherweise sind Sie lange genug in Wien , um zu wissen , daß die Jesuiten , um das Schrecklichste vorwegzunehmen , aller Schrecklichkeit unerachtet , doch sehr umgängliche Leute sind . Und die Liguorianer eifern ihnen wenigstens nach . Nicht wahr , Pater Feßler ? « Dieser lächelte , während Franziska nicht zögerte , das Wort » umgänglich « , das ihr sehr apropos ausgesprochen worden war , geschickt aufzugreifen , um nun ihrerseits daran anknüpfend die » Tugend der Umgänglichkeit « als eine spezifisch wienerische zu preisen . Ich hör es gern « , erwiderte die Gräfin , » daß Ihnen unser Wien gefällt . Es ist nicht immer so . Das norddeutsche Wesen ist doch sehr anders . « » Sehr anders « , wiederholte die junge Schauspielerin . » Gewiß . Aber vielleicht liegt gerade hierin der Grund , daß sich das Norddeutsche zu dem Wienerischen hingezogen fühlt , denn das Wienerische hat neben dem Vorzuge der Umgänglichkeit auch noch andere Vorzüge , die das in den Schatten stellen , was gelegentlich mit zu viel Güte gegen uns als unsere besondere Tugend betrachtet wird . Wir empfinden tief das Unausreichende des bloß Angelernten . Eine Sehnsucht nach dem Einfacheren , Natürlicheren regt sich beständig in uns , und diese Sehnsucht ist vielleicht unser Bestes . « Ein freundlicher Blick Feßlers , der mit feinem Ohre heraushörte , daß all das , wenn nicht selbständig gedacht und gefühlt , so doch wenigstens aufrichtig nachempfunden war , streifte die Künstlerin , die , nunmehr ihrerseits durch diesen Blick ermutigt , in ihrem Thema fortfuhr : » Und diese sich in gefällige Formen kleidende Natürlichkeit , die Wien so zweifellos vor uns voraushat , woher kommt sie ? Wenn mich nicht alles täuscht , so spricht die Kirche dabei mit , die ja von alten Zeiten her die Formen des Lebens bestimmte , die Kirche samt den Dienern der Kirche . Pater Feßler wolle mir nach einer nur nach Minuten zählenden Bekanntschaft eine solche Liebeserklärung in Überfallsform freundlichst zugute halten . Aber dabei muß es auf jede Gefahr hin bleiben , außer Ihrer schönen Kaiserin hat Wien nichts , das mich so sympathisch berührte wie seine Geistlichkeit , Jesuiten und Liguorianer mit eingeschlossen . « Viertes Kapitel Das Erscheinen des alten Grafen , der sich lebhaft und beinahe hastig entschuldigte , die Stunde so schlecht gehalten zu haben , unterbrach das Gespräch . Graf Egon war mit ihm . Eine Vorstellung fand nicht statt ; man kannte sich bereits von der Soiree her . » Oh , nichts von Entschuldigungen ! « sagte die Gräfin , als beide Herren ihre Plätze genommen hatten . » Wir haben dich , um die Wahrheit zu gestehen , nicht vermißt , auch Egon nicht , am wenigsten in dieser letzten Minute , wo wir in der bevorzugten Lage waren , Confessions entgegennehmen zu können . Und du weißt ja , Bruder , wieviel uns Confessions bedeuten ! Unser lieber Gast sprach nämlich mit Vorliebe von Wien und nicht bloß von Wien , sondern auch von Liguorianerpatres , was dich vielleicht am meisten überraschen wird . Ob auch erfreuen ? « » Mich erfreut alles , was unsere liebe Freundin sagt oder tut , und selbst Feßler wird mir in diesem Falle zustimmen . « Dieser nickte . Die junge Schauspielerin aber warf einen Blick auf Egon , dessen Gegenwart sie befangen zu machen schien , und sagte dann , während sie den leichten Ton ihres voraufgegangenen Geplauders wiederzugewinnen trachtete : » Fast muß ich fürchten , mich mit meinen Confessions ins Komische gestellt zu haben . Aber mein Rollenfach , das das Naive wenigstens streift , mag mich entschuldigen . Unser Beruf gibt uns schließlich unsern Ton und unsere Haltung . « » Und wenn nun das Naive vielleicht Ihre Naturanlage wäre ? « scherzte der alte Graf . » Das ist es leider nicht . Ich bilde mir wenigstens ein , überlegend und beinahe berechnend zu sein , eine nüchterne norddeutsche Natur . Und wenn sich mir meine Wünsche erfüllen , so werd ich eine Kaufmannsfrau . « » Das werden Sie nie « , warf Egon kurz und mit großer Bestimmtheit ein . » Angenommen selbst , meine Gnädigste , daß Sie 's in Ihrer Charakteraufrechnung in jedem Einzelpunkte getroffen hätten , in der Summa : › Kaufmannsfrau ‹ , sicherlich nicht . « » In der Summa sicherlich nicht « , wiederholte der alte Graf . » Egon spricht , als ob er einen Zahlkellner reprimandieren wollte . Summa , Fazit , Addition . Ich bitte dich , von welcher Welt ziehst du den Vorhang ! O diese moderne Jugend ! Etwas unselig Geschäftliches ist in Sprache , Bilder und Anschauungen eingedrungen . Ein Unglück , daß sich unsere Jugend dem Theater so sehr entfremdet . « Feßler lächelte . » Sie lächeln , Feßler , und wollen andeuten , alles moderne Weltenunglück , das in Ihren Augen natürlich sehr anders aussieht als in den meinigen , komme von etwas ganz anderem her . Aber glauben Sie mir , die Kirche tut es nicht , und unter allen Umständen läßt sich auf dem ihrem Zepter unterstellten Gebiete jede Stunde gründlich und erfolgreich nachexerzieren . Nur bei der Kunst heißt es : › Was Hänschen nicht lernte , lernt Hans nimmermehr ‹ , während es doch zum Fromm- und Christlichwerden eigentlich nie zu spät ist . « » Und doch empfiehlt es sich , vor Toresschluß damit anzufangen . « Alles lachte , nicht zum wenigsten der alte Graf , der in übermütiger Laune fortfuhr : » Vor Toresschluß sagen Sie , Feßler . Bah , in diesen heiligen Hallen , in denen man die Rache nicht kennt und kaum die Sünde , kann von › vor Toresschluß ‹ überhaupt nie die Rede sein . Ja , Judith . Ein Gefühl , als ob in deinem Salon tagaus , tagein zelebriert werde , kann ich nie loswerden , und daran ist neben anderem die kleine Ambralampe schuld , der ich mich beständig versucht fühle das Lebenslicht auszublasen . Aber sie steht ja direkt unterm Schutz des Gundolskirchenschen Spezialheiligen , und so bin ich mir nie sicher , ob ich sie nicht allen Ernstes als eine halbe Ewige Lampe anzusehen habe . « Das Eintreten eines Dieners unterbrach ihn ; Couverts wurden gelegt und Gläser gestellt , ohne daß im übrigen die Plätze gewechselt worden wären . Auch eine Zeitung kam , und während Franziska mit dem Pater , Egon aber mit der Tante sprach , tat der alte Graf einen Blick in das Wochenrepertoire . » Seh ich recht , man hat den › Zriny ‹ wieder hervorgesucht , beiläufig nicht die schlechteste Wahl. Et voilà mes amis , die Helene Zriny . Aber wissen Sie , meine Gnädigste , daß ich Ihnen ernstlich zürne , mir gerade das verschwiegen zu haben , mir , Ihrem Verehrer und Freunde ! « » Vielleicht aus Sorge . « » Wie das ? « » Ich bange mich vor der Rolle . « » Dann freilich sind Sie verloren . Denn Sie werden dann das nicht treffen , was in dieser Rolle das meiste bedeutet : das Nationale . Sich fürchten ist das Unungrischste von der Welt . Aber Sie werden sich nicht fürchten , und wenn Ihnen doch vielleicht ein paar Anwandlungen kommen , so wird der Elan Ihres Talents groß genug sein , Ihr Temperament zu zwingen und siegreich mit fortzureißen . Oh , daß Sie Magyarin wären ! « » Ungefähr das Schmeichelhafteste , mein liebes Fräulein « , unterbrach hier lächelnd die Gräfin , » das Ihnen im Hause Petöfy gesagt werden kann . Denn mein Bruder erklärt Sie damit auf halbem Wege für würdig , eine Magyarin zu sein , er würde sonst die Tatsache , daß Sie 's nicht sind , nicht so lebhaft beklagen . Und dabei sind Sie mutmaßlich ohne jede Vorstellung von dem Vollgewicht einer solchen Ehrenbezeugung und kennen überhaupt nichts von Ungarn als den Attila unserer Husaren . « » O doch , doch ; das Fräulein kennt und weiß mehr , viel mehr , und sie soll uns selber sagen , was sie von Ungarn weiß . « » Es ist nicht viel und wohl eigentlich zuwenig , wenn ich bedenke , daß ich nun schon ins dritte Jahr eine Wienerin bin , und außerdem hinzurechne , daß Wien , ich möchte sagen , die Vorhalle von Ungarn ist , die Tempelstufe . « Der Liguorianer , ein ausgesprochener Steirer , freute sich des kleinen Spottes und Egon kaum minder . Der alte Graf aber gab sich das Ansehen , als nähme er 's ernsthaft , und sagte : » Vorhalle , Tempelstufe ; davon dürfen unsere Wiener nichts hören , die sich das Herz der Welt bedünken . Im übrigen schuldet uns das Fräulein immer noch ihren Bericht über Ungarn , und ich kann ihr ein Examen rigorosum auf diesen Punkt hin nicht ersparen , schon weil ich recht behalten möchte . « Nun , ich gebe gern , was ich weiß « , entgegnete das Fräulein , » und ich unterscheide deutlich zwei Grade der Erkenntnis : einen romantischen und einen lyrischen . Das sind freilich keine rechten Unterscheidungen , denn die Romantik kann lyrisch und die Lyrik kann romantisch sein ; aber ich bitte nichtsdestoweniger , es gelten zu lassen . « » O gewiß « , sagte die Gräfin . » Also das Romantische . « » Ja , damit fing es an . Es war , als ich noch ein Kind war und auf unserem Kirchplatze , gerade vor unserer Tür , alljährlich zweimal die Jahrmarktsbuden standen : Buden mit Naschwerk und Pfefferkuchen und dazwischen allerlei Bänkelsänger und Leiermänner . Und immer wo solch ein Leiermann stand , stand auch eine buntbemalte Leinewand , auf der eine Geschichte , meist in zwölf Bilderfeldern , abgebildet war . Auf dem ersten Bilde lag die Welt allemal in bürgerlichem Frieden , und eine junge Mutter beugte sich über ein Wiegenkind ; auf einem der Mittelbilder trat dann in gebotener dramatischer Steigerung ein schwarzer , bärtiger Mann aus einem Waldesdunkel hervor und an die junge , zufällig des Weges kommende Mutter heran , während auf dem zwölften und letzten Bilde Mal für Mal ein Gerüst aufgeschlagen war mit einem niedrigen Stuhl darauf , und auf eben diesem Stuhle saß der bärtige Mann aus dem Waldesdunkel . Aber jetzt mit verbundenen Augen und einem Rotmantel mit dem Schwerte hinter sich . Und wenn ich dann dem Liede , das dazu gesungen wurde , begierig und angstvoll zuhörte , so vernahm ich jedesmal , das sei geschehen im schönen Ungarlande zwischen Stuhlweißenburg und Debreczin , und ich darf wohl sagen , ich kenne bis diese Stunde keine Stadt und keinen Namen , die mir so mit Schreck und Grusel imprägniert erschienen wie diese beiden . « » Ei , das beklag ich , meine Gnädigste « , sagte der Graf . » Da wird unser altes Schloß Arpa darauf verzichten müssen , Sie je in seinen Mauern zu sehen , denn Stuhlweißenburg ist unsere nächste große Stadt . « » Oh , ich hab es auch überwunden . Und Ungarn selbst hat es mich überwinden gelehrt . « Mit Hülfe der zweiten Epoche ? « » Ja , die gnädigste Gräfin erraten es ; mit Hülfe der zweiten Epoche . Da war ich in einer Pension . Aber ich war schon fast erwachsen und in Vorbereitung auf das , was aus mir werden sollte . Da hatten wir von Zeit zu Zeit auch Deklamierübungen , und bei solcher Gelegenheit war es , daß eine Mitschülerin von mir ein Lied von Lenau vortrug . « » Ah , von Niembsch ! « » Ich kannte Lenau schon . Er ist überhaupt sehr beliebt in Norddeutschland , und den › Teich , den regungslosen ‹ , in den der Mond seine › bleichen Rosen ‹ flicht , kennt jedes dreizehnjährige Mädchen und jubelt in ihrem kleinen Herzen , wenn die berühmte Stelle von dem › süßen Deingedenken ‹ kommt , am meisten aber , wenn sie zum Schluß erfährt , daß dies süße Deingedenken auch ein › stilles Nachtgebet ‹ gewesen sei . « Feßler lächelte vor sich hin , und auch die Gräfin , die nach Art aller vornehmen alten Damen eine Vorliebe für kleine Gewagtheiten hatte , war ganz enchantiert und nickte dem Bruder zu . » Wohl , ich kannt ihn also « , nahm Franziska wieder das Wort . » Aber speziell das Gedicht , das an jenem Tage deklamiert wurde , das kannt ich nicht , und als es zu Ende war , war ich so hingerissen , daß ich auf die Mitschülerin zustürzte und sie umarmte und küßte , was mir beiläufig einen nachträglichen Verweis zuzog . « » Und wie hieß es ? « » Ich weiß es nicht mehr sicher , aber ich glaube fast , es hieß › Nach Süden ‹ . Und vielleicht erkennen Sie 's , wenn ich Ihnen den Inhalt in aller Kürze skizziere . « » Wir bitten darum . « » Es leitet sich mit einer Gewitterschilderung ein , und die halb schon wieder von Licht durchglühten Wolken ziehen südwärts auf Ungarn zu . Der Dichter selbst aber folgt dem Zuge dieser Wolken und begleitet ihr Südwärtsziehen mit dem sehnsuchtsvollen Ausrufe : › Ja , nach Süden steht mein Herz ! ‹ « » Und nun ? « Und nun , auf dem dunklen Hintergrunde der Wolken , erwächst ihm fatamorganaartig ein Heimatsbild : ein Waldtal und ein Mühlbach , und an dem rauschenden Mühlbach erblickt er die Geliebte , die , sein eigenes Sehnsuchtsgefühl erwidernd , in Verlangen nach ihm aussieht und Wind und Wellen um ihn befragt . Aber Wind und Wellen ziehen weiter und weigern ihr die Antwort , und das Lied selbst verklingt in der wunderbaren Strophe : Dunkler wird der Tag und trüber , Lauter wird der Lüfte Streit – Hörbar rauscht die Zeit vorüber An des Mädchens Einsamkeit . « » Ah , das ist schön « , sagte der alte Graf , » und ich klage mich an , es nicht gekannt zu haben . Er war ein Freund unseres Hauses und speziell das enfant gâté meiner Mutter , die sich , wenn das Gespräch auf ihn kam , jedesmal ihres ganzen Albionstolzes entschlug , womit sie sonst stärker , allerdings auch berechtigter als Lady Milford umgürtet war , und nicht müde wurde , zu versichern , › daß sie die ganze großbritannische Lyrik um eines einzigen Lenauschen Gedichtes willen hingebe ‹ . Ja , Feßler , das war unser altes Wien , an das ich doch oft mit herzlicher Freude zurückdenke . Da wurde noch vieles verziehen , was jetzt unverzeihlich dünkt , und beispielsweise mit dem lieben Gott auf dem Kriegsfuß zu stehen galt noch einfach für interessant . Auch unser guter Lenau verstand sich darauf , aber es war au fond nicht böse gemeint , und aller atheistischen Rodomontaden unerachtet , spukte doch eigentlich das Kirchliche darin vor . Er kam nur nicht voll damit zurecht und starb zu früh . Und zudem der verdammte Poetenehrgeiz ! Unter allen Umständen aber sind wir ihm zu Dank verpflichtet , uns das auf dem Wege zwischen Stuhlweißenburg und Debreczin fast schon verlorengegangene Herz unserer lieben Freundin in einer zweiten ungrischen Epoche zurückerobert zu haben . In einer zweiten ungrischen Epoche , nach der wir hoffentlich sehr bald eine noch schönere dritte zu verzeichnen haben werden . « » Ich glaube , daß sie für mich bereits begonnen hat . « Eine kleine Stutzuhr schlug eben zehn , und die junge Schauspielerin erhob sich . Egon bat , sie begleiten zu dürfen . Sie nahm das Anerbieten an ganz nach Art einer Dame , die solcher Huldigungen und Dienste gewöhnt ist , und verabschiedete sich , wie sie gekommen , mit einem Handkuß bei der Gräfin , während sie sich gegen Feßler verneigte . Der alte Graf aber geleitete sie bis in das Vorzimmer und half ihr hier sich in ein Spitzentuch hüllen , das sie kleidsam um Kopf und Hals trug . Dann in den Salon der Schwester zurückkehrend , ließ er sich in einen Fauteuil in aller Bequemlichkeit nieder und sagte : » Nun , Judith , wie findest du sie ? « » Charmant . « » Und ? « » Und pointiert . « » Und ? « » Ich weiß nicht weiter zu sagen . Aber fragen wir Feßler . « » Und klug « , fügte dieser hinzu , während er wie zerstreut mit einer an der Tischdecke herabhängenden Seidenpuschel spielte . » Wir werden allerhand von ihr lernen können . « » Lernen ! Ein Liguorianerpater und lernen ! Und da spricht man noch von dem Hochmut der Kirche . « Es hatte mittlerweile geschneit , und ein paar Hausdiener fegten eben den Schnee beiseite . Egon reichte Franziska den Arm , war aber ersichtlich in Verlegenheit , wie das Gespräch beginnen , und so hatten sie denn schon den Vorhof und das Gitter passiert , als er endlich das Wort nahm . » Ein trübseliges Wetter « , begann er . » Nun wieder Schnee . Der Wind dreht sich in einem fort . Ich mache mir nichts aus dem Winter . « » Oh , da denk ich doch anders . Ich liebe den Winter , nur muß er wirklich ein Winter sein . Es ist damit wie mit den Menschen : auf Beständigkeit kommt es an . Mit einem launenhaften Winter , der heute so ist und morgen so , mit dem ist nichts anzufangen , aber ein echter und zuverlässiger Winter , der sich einrichtet , als woll er nie wieder gehen der ist schön wie der schönste Sommer . Doch das wissen sie hier nicht . Einen Schneesturm haben sie wohl , aber die stille , feste Kälte , die Brücken baut und trägt und hält , die fehlt ihnen . « Egon antwortete nicht ; es schien nur , daß er überlegte , was sie mit dem allem gemeint haben könne . Denn obwohl sie sich selbst für berechnend ausgegeben hatte , so hielt er sie doch für noch viel berechnender , als sie war . Erst als sie bei dem hell erleuchteten und noch vollbesetzten Café Daum vorüberkamen , wies er darauf hin und sagte : » Das Theater muß eben aus sein . Ich wette , daß in diesem Augenblicke Dutzende von Pfeilen gespitzt und abgeschossen werden . Ein Glück , daß sie vorbeifliegen . « » Ach , solche Pfeile fliegen nie vorbei , wenigstens nie ganz , und die spitzesten am wenigsten . « » Aber sie töten nicht , solange sie nicht vergiftet sind . « » Die ganz spitzen sind immer vergiftet . Das läßt sich an jedem Mückenstiche studieren . « » Aber Gott sei Dank auch die Ungefährlichkeit . « » Nur leider nicht die Schmerzlosigkeit , und wenn ihrer viele kommen , so hat man ein Fieber und eine schlaflose Nacht . « » Und so spricht ein Liebling des Publikums , ein Verzug , ein Glückskind ? « » Viel Feind , viel Ehr . Aber auch viel Ehre , viel Feind . Und ein Glückskind ! Nun ja ; vielleicht . Aber an jedes Glück hängt sich ein Unglück . « » Umgekehrt , ein Glück kommt nie allein . « Unter so zugespitzter Rede waren sie bis an den Kärntnerring und die Schwarzenbergbrücke gekommen und gingen nun auf die Salesinergasse zu , deren vorderstes Eckhaus Franziska bewohnte . Das eine Fenster war hell erleuchtet und schickte sein Licht ihnen entgegen über den Platz hin . » Und was , wenn die Frage nicht zudringlich ist , finden Sie nun daheim , meine Gnädigste ? « nahm Egon das Gespräch wieder auf . » Oh , das Beste , was man finden kann : ein Feuer im Kamin und ein Paar warme Schuhe . « Einigermaßen genügsam . « » Und dazu Lieb und Treue und ein Geplauder von der Heimat . « » Und wer gewährt Ihnen das ? « » Mein zweites und mein besseres Ich , meine Freundin und Dienerin zugleich . Und wenn sie nicht gleichen Alters mit mir und sehr streng und sehr tugendhaft wäre so würd ich sie Ihnen kurzweg als die Amme der italienischen Komödie vorstellen . Aber eins ist sie gewiß : in jeder Sorge mein Trost und in jeder unklaren Sache mein gutes Gewissen . « » Beneidenswert ! « » Ei , das mein ich auch . . . Aber hier sind wir am Ziel , Graf Egon . « Und die Glocke ziehend und ihm dankend , stieg sie rasch die Stufen hinauf . Auf der dritten Treppe wurde sie von ihrer Dienerin empfangen und trat gleich darnach in den Vorflur , wo sie die Schneestäubchen von ihrem Mantel abschüttelte . » War niemand da , Hannah ? Nein ? Nun , desto besser , und nun bringe mir den Tee . « » Ja , darauf ist heute nicht mehr gerechnet , Schatz . Ich habe keinen Tropfen Rahm im Hause . « » Tut nichts , dann nehmen wir einen Tropfen Kirschwasser . Irgendwas wird doch dasein . Aber eile dich . Ich hab es so kalt . « Und eine Viertelstunde später saß Franziska zurückgelehnt in einem Schaukelstuhl und sah in die Kaminflamme , während Hannah ihr den Tee bot und sich neben sie setzte . » Hier , noch ein Oblatenbrot « , sagte diese ; » glücklich gerettet . Und nun erzähle . « » Ja , das ist leicht gesagt , Hannah . Erzähle ! Aber was ? Eigentlich weiß ich selber nichts , und woher sollt es auch kommen ? Eine Gräfin kann einem doch nicht gleich ihre Lebensgeschichte zum besten geben . « » Ist auch nicht nötig und will ich auch nicht wissen . Nur ein bißchen von allem oder doch von der Hauptsache . Nimm also wenigstens einen Anlauf und sage mir , wer da war und wie sie hießen . « » Nun gut . Also da war zunächst die Gräfin selbst , von der die Karte kam , und dann ihr Bruder , der alte Graf . Nun , den kennst du . Du hast ihn ja neulich selber gesehen und gesprochen und könntest mir eigentlich sagen , ob er dir gefallen hat . Was denkst du von ihm ? Was sagst du ? « » Dreierlei . « » Gut ; nenn es . « » Er ist alt und möchte gern jung sein , er spielt den Weltmann und ist eigentlich bloß ein Wiener , und drittens und letztens : er glaubt , daß sich alle Weiber um ihn reißen , und wird doch eigentlich nur genasführt . « » Er gefällt dir also nicht ? « » O doch . Er gefällt mir schon . « » Ein Geck kann einem nicht gefallen . « » Er ist auch kein Geck . Mitunter streift er daran oder steht auch schon mittendrin . Denn er hat all die Narrheiten eines alten Junggesellen und Theaterenthusiasten . Aber ganz zuletzt ist er doch wieder anders . Ich glaube , daß er ein sehr gutes und braves und sogar ein edles Herz hat . Er ist vornehmer und besser als irgendeiner der jungen und namentlich der alten Herren , die dir einen Besuch gemacht haben . « » Sieh , das freut mich , daß du das sagst . Und in seinem eigenen Hotel oder in dem seiner Schwester ist er noch viel liebenswürdiger als hier . Denn hier fühlt er die Verpflichtung , mir nach Art alter Herren den Hof zu machen , in seinem Hause dagegen fühlt er nur die Verpflichtung , artig zu sein . Und das ist für unsereins schließlich mehr . Du weißt ja , wie man gewöhnlich mit uns spricht . Und nun will ich dir auch sagen , wer die beiden anderen in der Gesellschaft waren . Der eine war ein Liguorianerpater , ein Fünfziger , groß und stattlich , und der andere , nun , der andere , das war ein junger Graf , Graf Egon , ein Neffe des alten , ich glaube , sehr hübsch und Adjutant bei Erzherzog Rainer . « » Und hat dir natürlich am besten gefallen ? « Nein , nicht das . Er hat mir nur nicht mißfallen ; das ist alles , was ich sagen kann . Er hat etwas von dem mir unerträglichen › Von oben herab ‹ , und wenn ich mich entscheiden und jedem einzelnen einen Rang in meinem Herzen anweisen sollte , so würd ich die Gräfin obenan stellen und dann den Pater . Oh , sie waren beide charmant und dabei so klug und verbindlich , wie nur vornehme Katholiken sein können . Schon ihre Stimmen ... « » Ja , sie haben eine verführerische Stimme , Fränzl ! Ich weiß davon . Aber das darfst du mir nicht antun und deinem Pastor-Vater im Grabe nicht , so lau und flau er war , daß du zu viel auf diese Stimme hörst . . . Nur auf meine mußt du hören , wenigstens jetzt , in diesem Augenblick , und die mahnt dich , daß es auf Mitternacht geht und morgen um zehn Uhr Probe ist . Mach also , du mußt ausschlafen . « » Aber erst noch unsern Spaziergang , sonst schlaf ich überhaupt nicht . Und außerdem bin ich abergläubisch . « Hannah brachte Mantel und Kappe , wickelte Franziska darin ein , und nun stiegen Herrin und Dienerin eine nur wenige Stufen zählende Treppe hinauf , die vom dritten Stock aus direkt auf das Flachdach des Hauses führte . Hier standen den Sommer über allerhand Kübel und Topfgewächse , jetzt aber sah man nichts als ein paar Bretterlagen und einen Berg Schnee , den der Wind nach der einen Seite hin zusammengefegt hatte . Sie gingen ein paarmal auf und ab und sahen auf die Stadt , auf deren verschneite Dächer das Mondlicht fiel . Aus der Ferne her hörte man das Läuten einzelner Schlitten , aller eigentliche Lärm aber schien erstickt unter dem weißen Tuch . Und nun traten sie bis an die Brüstung , wo der zusammengewehte Schnee lag , und sahen in den Winterhimmel hinauf , der in wundervoller Pracht über ihnen glitzerte . » Sieh , das ist der Große Bär . Und da sind wir zu Haus , da liegt unsere Jugend , unsere Kindheit . Ach , Hannah , es war doch unsere schönste Zeit , als wir noch abends in den Turm gingen und die Betglocke läuteten und die Grabsteine der alten Pastoren anstarrten , die mit ihren Ringkragen an den Wänden umherstanden . Und wenn uns dann der Glockenstrick aus der Hand fuhr und mit einem Mal in die Höhe schnellte , sieh , da war mir 's immer , als hätte sich der Gottseibeiuns über unser Läuten gebost und den Strick uns weggezogen . « » Ach , rede nicht so , Fränzl ; wenn du so sprichst , dann überdenkst du jedesmal etwas Tolles oder Törichtes . « » Aber diesmal nicht . Ich überdenke gar nichts . Ich habe nur mit einem Mal eine schmerzliche Sehnsucht nach dem Kirchenplatz hin , wo wir spielten und uns auf die Holzstämme setzten und Geschichten erzählten . Und von fernher hörten wir dann das Meer , das draußen rauschte . Mir ist's , als hört ich 's noch . « » Willst du zurück ? « Franziska schüttelte den Kopf . » Nein , nicht zurück . Eine Sehnsucht ist etwas anderes als der Wunsch , es wiederhaben zu wollen . Was sollt ich auch da ? Mit einer Schauspielerin ist es ein eigen Ding . Im Petöfyschen Hause gilt sie viel oder vielleicht viel , aber im Hause von Bäckermeister Utpatel , auf dessen Bank wir immer saßen und Butterblumenstengel zusammensteckten , in dessen Hause gilt sie wenig oder nichts . Nein , Hannah , nicht zurück ! Aber zurück oder nicht , die Liebe bleibt , und einen Gruß wollen wir wenigstens in die Heimat hinüberschicken . « Und sie nahm eine Handvoll Schnee vom Boden und warf ihn nach Norden zu . Der Nachtwind aber , der ging , zerstäubte den Ball wieder und trug die Kristallchen blinkend durch die Luft . Fünftes Kapitel Einige Wochen lang setzte sich der Verkehr Franziskas mit dem Petöfyschen Hause fort , dann aber brach er etwas auffällig ab , und selbst die Besuche , die der Graf noch eine Zeitlang in dem Eckhause der Salesinergasse gemacht hatte , hörten auf . Es hieß , was auch zutraf , er sei verreist , und erst von Paris aus gab er wieder ein Lebenszeichen und entschuldigte sich in den verbindlichsten Worten seiner plötzlichen Abreise halber . Aber so verbindlich diese Worte waren , so waren sie doch kühler als gewöhnlich oder wenigstens befangener . Franziska fühlte das heraus , war indessen an derartig wechselnde Vorgänge zu sehr gewöhnt , um ein besonderes Gewicht darauf zu legen . Anders in dem engeren Zirkel , der sich nach wie vor an jedem dritten Abend im Salon der Gräfin versammelte . Hier wurde nicht bloß dem Ausbleiben des Fräuleins , sondern weit mehr noch der Abreise des Grafen eine gewisse Bedeutung beigelegt , bei welcher Gelegenheit man nicht unterließ , sich die seltsamsten Dinge zuzuflüstern . Der alte Graf sei regelrecht verliebt oder interessiere sich wenigstens bis zur Torheit für das junge Fräulein , und so sei denn die ganze Pariser Reise nichts weiter als eine Flucht . Die Gräfin habe mit Rücksicht auf den eigensinnigen Charakter des Grafen anfänglich seiner Reise widersprochen , natürlich nur in der Absicht , ihn durch solchen Widerspruch in seinem Plane desto fester zu machen . Andere dagegen wollten von dem allem nichts wissen und hoben ihrerseits hervor , daß die » jours de fête « für den alten Grafen vorüber seien ; sie begegneten aber nur dem Spott aller medisanten Klub- und Kasinohabitués , die nicht müde wurden , auf den siebenzigjährigen Goethe , ja zuletzt sogar auf König Sigurd Ring hinzuweisen , der noch mit neunzig Jahren in Leidenschaft verfallen und auf die Freite gezogen sei . Der Graf aber sei Vollblutungar und könne mehr . Ein Echo dieser Gespräche würde zweifellos auch bis zu Franziska hinauf gedrungen sein , wenn diese nicht durch ein nervöses Fieber , in das sie bald nach der Abreise des Grafen verfiel , vor allem derartigen Gerede bewahrt geblieben wäre . Sie lag wochenlang in jenem apathischen Dämmerzustande , der der Begleiter und fast auch der Freund dieser Krankheit ist , und als endlich dieser Zustand geschwunden und ihr ein wenigstens umschleiertes Interesse für die Dinge des Lebens zurückgekehrt war , da waren viele Wochen vergangen und beinahe heiße Sommertage da , trotzdem erst Frühling im Kalender stand . Am letzten Apriltage saß Franziska an ihrem Fenster und sah zum ersten Male wieder auf das bunte Treiben der Stadt unten , und siehe da , noch ehe die Mitte des Mai heran war , war sie schon in einem jener reizend gelegenen , in weitem Halbkreise die Hauptstadt nach Süden hin umziehenden Villendörfer einquartiert und genoß hier die Wonne der Rekonvaleszenz . Es hatte sich dabei so glücklich getroffen , daß eine befreundete Kollegin – und zwar um so befreundeter , als sie das Fach der hoben Tragödie kultivierte – mit ihr in die Sommerfrische gegangen war , einer Molkenkur halber , die sie sich unter Hinweis auf ihr » total erschöpftes Organ « vom Theaterarzt hatte verordnen lassen . Eine Verordnung , in die dieser lächelnd , aber doch zugleich auch mit der Bemerkung gewilligt hatte : » Wollte Gott , Fräulein Phemi , daß ich mich annähernd Ihres Organs erfreute . « Natürlich war auch Hannah mit draußen , und alle drei bewohnten ein halbes Parterre , das nach der Rückseite hin einen einfachen Garten mit Kaiserkronen und Feuerlilien , in Front aber eine durch Glasfenster und Leinwandwände geschützte Veranda hatte . Schräg gegenüber von ihnen befand sich ein großes , mit Oleanderbäumen umstelltes Hotel , und zwischen hüben und drüben lief ein chaussierter Straßendamm , auf dem , die heißen Mittagsstunden abgerechnet , ein beständiges Fahren war . Denn der Ort war nicht nur Eisenbahnstation , sondern von alter Zeit her auch Knotenpunkt vieler Straßen , die von hier aus strahlenförmig in die steirischen Vorberge hineinführten , ein entzückendes Hügelland , über das hinweg , sobald die Sonne zu sinken begann , das Hochgebirg in blauem Dämmer aufragte . Heute jedoch war der Abend noch fern , und beide Freundinnen saßen frühnachmittags in der Veranda , deren Glasfenster man ausgehoben hatte , weil es nach einer kurzen Regenzeit in den letzten Tagen wieder sehr warm geworden war . Auf einem hart an der Brüstung stehenden Tische lagen Muster , Decken und Wollknäuel umher , und die Tapisserienadel beider Damen , welche letzteren an einer großen Stickerei beschäftigt schienen , ging hurtig hin und her . Dabei war eine rechte Nachmittagsstille , nichts wach , und nur aus dem Garten kamen ein paar gelbe Schmetterlinge , haschten sich und flogen dann weiter die Straße hinunter . Franziska sah ihnen nach , bis sie schließlich über die Dächer hin verschwanden , und war noch in ihrem Sehen und Sinnen verloren , als vom Flur her ein reizender Blondkopf erschien , ein etwa zehnjähriges Mädchen , das an ihnen vorüber in Hast und Sturm auf die Straße zulief , einen Tonnenreifen vor sich , den es mit dem Handgriff eines allem Anscheine nach sehr eleganten Fächers schlug . An dem Reifen selbst waren kleine Blechstücke befestigt , und bei jedem Schlage gab es einen Klang , als ob ein Tambourin oder Kinderjanitschar geschüttelt würde . » Lysinka « , rief die Tragödin und lachte . » Sieh nur , Franziska , sie hat meinen besten Fächer genommen , ein Geschenk von Graf Pejevics von der letzten Redoute her . Ein wahres Prachtstück , ich meine den Fächer . Und nun hantiert der Unhold damit , als ob es ein Trommelstock wäre ... Lysinka ! « Aber die Kleine hörte nicht mehr , sondern jagte schon die chaussierte Straße weiter hinauf und auf das große , mit Oleanderbäumen umstellte Hotel zu , vor dem eben ein paar gelbe Reisewagen mit zurückgeschlagenem Verdeck hielten . Man sah ordentlich , wie das schwarze Leder in der Sonne brannte , während ein paar Hühner , die sich vom Hofe her eingefunden hatten , die Körner aufpickten , die zerstreut umherlagen . Hier machte Lysinka halt , sah sich inmitten der pickenden Hühner einen Augenblick um und jagte dann in geschickter Biegung , und die Veranda , wo Phemi und Franziska saßen , aufs neue passierend , nach der andern Seite hin die Straße hinunter . » Ein reizendes Kind ! « sagte Franziska . » Du mußt es sehr lieben . Tust du ? « » Gewiß tu ich's . Oder glaubst du , daß der hohe Stil der Tragödie dergleichen ausschließt ? Auch Medea ... « » Nichts von der . Ich will von Medea nichts wissen . Ich will nur wissen ... « » Ein Geheimnis . « » Unter Schauspielerinnen gibt es keine Geheimnisse . Das solltest du wissen , Phemi . Zudem hab ich dir alles aus meinem Leben erzählt , Abenteuer und Nichtabenteuer . « » Nun gut ; so rate . « » Gräflich ? Hocharistokratie ? « » Höher . « » Ah , ich seh schon , du willst dich auf einen Erzherzog hin ausspielen . Aber ehe ich dir das glaube ... « Hannahs Erscheinen machte hier dem Gespräch ein Ende . Sie kam mit einem großen Tablett , das sie vorläufig auf die rechtwinklige Brüstung der Veranda setzte , legte dann sorglich ein Tuch und arrangierte den Kaffeetisch . » Und nun , Hannah , Juwel unserer Krone « , hob Phemi wieder an , » schaff uns auch etwas Krausgebackenes oder einen Napfkuchen oder , um auch in Öslau gut wienerisch zu bleiben , einen Gugelhupf . Denn du mußt wissen , ich habe heute den Lammbraten vorübergehen lassen – er hat immer so etwas Ungeborenes – , und so klingt es denn in den Tiefen meiner Seele : › Was du vom Lamm zu Mittag ausgeschlagen , bringt nur der Gugelhupf zurück . ‹ Oh , ein himmlisches Wort , bei dem ich ordentlich fühle , wie 's hier mithupft . Und nun geh , Hanning , geh ; ich habe ein drittes Haus von hier etwas appetitlich Braunes im Schaufenster stehen sehen , heute früh , als wir von der Promenade kamen , und die leere Straße sieht mir nicht darnach aus , als ob sich Öslau mittlerweile daran vergriffen haben könnte ... Hier mein letzter Fünfguldenschein ! « » Ach , Fräulein Phemi , wenn Sie nur nicht immer vergessen wollten , daß wir Krachzeiten haben . « » Unsereins hat nie Krach , Hannah . Übrigens wecke keine traurigen Gedanken in mir , denn schließlich und auf einem Umwege bin ich doch daran beteiligt . Und nun geh , ehe es zu spät ist . Wir leben zwar in einer gedankenarmen Zeit , aber die Not einer Öslauer Kaffeestunde macht auch den Ärmsten erfinderisch . Also vite , vite . « Hannah ging . Als sie fort war , beugte sich Franziska vor und sagte : » Du kannst dir gratulieren und stolz sein , Phemi , bei Hannah in solcher Gunst zu stehen . Eigentlich hält sie nicht viel von uns . Ihr Vater war Totengräber , und davon ist ihr was geblieben . Und am meisten wundert es mich , daß sie mit dem Blondkopf so gut steht , mit der Lysinka . Sie hat ordentlich einen Narren an dem Kind und erklärt es rundheraus für einen Engel . Und das geht doch schlechterdings nicht , oder das ganze Kapitel von der Erbsünde ... « » Nichts davon ! Um darüber zu sprechen , muß man so studiert sein wie du . Das alles ist nicht mein Sach . Aber wenn du dich über die Hannah wunderst , weil sie trotz all ihrer Tugend an dem Kinde hängt und dem Kinde nicht die Mutter und der Mutter nicht das Kind anrechnet , so zeigst du nur , wie wenig du die Menschen kennst . Und bist doch an die Vierundzwanzig . « » Eben gewesen « , lachte Franziska . » Nun , siehst du ! Freilich , ich könnte deine Mutter sein oder wenn nicht geradezu deine Mutter , so doch deine Stiefmutter ... « » Dazu bist du wieder zu gut und verwöhnst mich zu sehr . « » Also deine Mutter . Und nun höre . Was ich dir hinsichtlich deiner Hannah und ganz speziell hinsichtlich ihrer Liebe zu dem Kinde zu sagen habe , das heißt einfach ... « » Nun ? « » Das heißt einfach : es lebt sich am besten mit der Tugend . « » Das hat einen Doppelsinn . « » Ich wollt ihm den Doppelsinn nicht geben , und stünde mir auch schlecht an . Es soll nur heißen : es lebt sich am leichtesten und am bequemsten mit guten und unschuldigen Leuten . An Tadel oder Vorwurf ihrerseits ist nie zu denken . Im Prinzipe sind sie streng und streng auch gegen sich selbst . Aber was von anders Geartetem an sie herantritt , dagegen sind sie mild , und es ist fast , als freuten sie sich , eine Bekanntschaft damit zu machen . Es soll sich ja , wie die Katholiken sagen , das Heilige durch Handauflegen fortpflanzen etwa nach Art eines elektrischen Stroms , und so strömt auch vielleicht ein kleiner , prickelnder Strom des Unheiligen von unsereinem aus . Jeder nach seinen Mitteln und Kräften . « » Ach , Phemi , wie du nur redest ! Du bist ja gar nicht so . « » Man kann sich nicht unheilig genug machen . Eine durchgängerische Demut ist das letzte Mittel , sich wenigstens einen Schimmer aus der ewigen Strahlenkrone zu retten . . . Aber ums Himmels willen , Fränzl , sieh dich um , da kommt ja Graf Egon . « Franziska hatte sich vorgebeugt und erkannte nun auch ihrerseits den Grafen , der eben drüben aus dem Hotel getreten war und noch einmal zurücksah , um nach einem Balkon hinauf zu grüßen , der am ganzen ersten Stock entlanglief und durch Holzpfeiler getragen wurde . Sein Gruß selbst aber galt einer alten Dame , der Gräfin . Egon war allein , nur von einer Ulmer Dogge begleitet , einem prächtigen Tier , das augenscheinlich ungeduldig seinem Herrn auf der chaussierten Straße bis an die Veranda hin vorauflief . Einen Augenblick später aber war auch der junge Graf heran und gewahrte die beiden Damen , die sich anscheinend in ihre Tapisserie vertieft hatten . Er fuhr ganz ersichtlich zusammen , als ob ihm die Begegnung mit ihnen mehr ein Schreck als eine Freude gewesen wäre , fand sich aber rasch wieder zurecht und trat an die Brüstung heran , um beide mit aller Courtoisie zu begrüßen . Phemi hatte sich zum Gegengruß erhoben und überstürzte den Grafen sofort mit einer Frageflut , die keine Dämme kennen zu wollen schien , am wenigsten aber den der Diskretion . Endlich schwieg sie . » Meine Gnädigste « , lächelte Graf Egon , » alles zu beantworten , müßt ich den letzten Zug abwarten können , was mir leider versagt ist . Aber ein Anfang ließe sich wenigstens machen , immer vorausgesetzt , daß Sie geneigt sind , mir einen Platz an Ihrem Kaffeetische zu gönnen . « Er voltigierte , während er dies sagte , leicht über die Brüstung hin und setzte sich in einen Gartenstuhl , den er selber aus einer Ecke herangeschoben . » Ehe ich aber beginne « , fuhr er fort , » denn Fragen sind einer Gegenfrage wert , bitte ich , mir sagen zu wollen , was Sie nach diesem Erdenwinkel geführt hat ? « » Ich war krank « , antwortete Franziska , » viele Wochen lang , und die stillen Tage hier sollen mich wieder gesund machen . « All dies war in einem durchaus ruhigen Tone gesprochen , und doch klang ungewollt und ungewußt etwas wie Vorwurf darin . Egon geriet denn auch in eine leise Verwirrung , an der die Sprecherin erst er kannte , welche Bedeutung er ihren Worten gegeben hatte . Sie fuhr daher rasch und mit soviel Unbefangenheit wie möglich fort : » Es ist erquicklich , die reine Luft hier zu genießen , am erquicklichsten aber ist doch die geistige , darin ich lebe . Wenn ich nicht irre , hat irgendein alter oder neuer Philosoph ausgesprochen , es mache nichts so gesund wie Heiterkeit , und die Wahrheit dieses Satzes hab ich hier an mir selbst erfahren . Denn Sie müssen wissen , Graf Egon , es gibt nichts Heitereres und Vergnügteres als eine Tragödin . Nicht wahr , Phemi ? « Diese patschelte die Hand , die Franziska , während sie so sprach , ihr gegeben hatte , zugleich aber nahm sie selber das Wort und sagte : » Was das für Anwandlungen sind ! Ich bitte dich , ich soll mich nicht auf das Archidukale hin ausspielen , und du spielst dich auf das Sentimentale hin aus . Und nun wirst du schließlich noch rot und scheinst als › Naive ‹ nicht einmal zu wissen , daß mit Hilfe solcher Anspielungen nie und nimmer das geringste verraten wird . Und wenn Graf Egon auch raten wollte bis an den Jüngsten Tag , er erriete doch nicht , um was es sich hier handelt . « » Ich fürchte wirklich , nein . « » Nun , siehst du . Zudem soll man an den kleinen Freuden des Lebens nicht ohne Not vorübergehen , das verübeln einem die Schicksalsmächte , von denen ich schon von Metier wegen zu reden weiß . Und zu diesen kleinen Freuden des Lebens gehört es auch , in Geheimnissen und Anspielungen zu sprechen . Einige sagen freilich , es sei ein schlechter Ton und nicht artig . Aber was ist artig ? Eine Beschäftigung für arme Leute . « » Gut , es mag so sein , aber du hast umgekehrt eine zu stark ausgeprägte Neigung , dich unter Ignorierung der armen Leute mit deinen Königinnen zu verwechseln . Ist es nicht so , Graf Egon ? « » Im Gegenteil , meine Gnädigste . Bedaure , widersprechen zu müssen . Ich meinerseits bin immer nur überrascht , unsere Freundin in so genialer Weise die Rollengebiete wechseln und aus der Sprache der Königinnen in die der echtesten Weiblichkeit übergehen zu sehen . « » Eine Genialität « , lachte Phemi , » die Sie mutmaßlich überschätzen . Immer , mit Ausnahme der Pastoren , ist es einem jeden ein liebes und leichtes , aus dem Aufgesteiften in das Natürliche zu verfallen . Erinnern Sie sich der mythologischen Gottheiten , und wie begierig dieselben allezeit waren , aus ihrer Göttlichkeit herauszutreten . Und nun gar erst die Götter und Göttinnen dieser Welt ! Als Hofmann sollten Sie wissen und wissen es auch , wie schwer arme junge Königinnen an ihrem Hermelin zu tragen haben . Da haben wir beispielsweise die Königin Anna von England , allerdings nur in einem historisch angekränkelten Stück . Aber gleichviel , die Figur soll echt sein . Und nun beobachten Sie , woran hängt sich dieser Königin Anna königliches Herz ? An einen Fähnrich . Dabei verwechselt sie die zwölf Millionen Staatsschulden mit den Toten bei Malplaquet . Zwölf Millionen Tote ! Viel , sehr viel ; aber am Ende warum nicht ? Ihr Fähnrich blieb ihr ja , und so rollt ihr die Zahl so gemütlich von der Lippe , wie wenn 's eine Bagatelle wäre . Da haben Sie Königinnen ! So sehen wirkliche Königinnen aus , und einer armen Sklavin gleich mir , die nur die Königinnen spielt , sollt es schwer werden , aus der Zepter-und-Kronen-Sprache herauszufallen ? Und noch dazu hier , hier in Öslau . Hier bin ich Mensch , hier will ich menschlich fühlen , ja , Graf , auch dann noch , wenn Sie samt Franziska superior über mich lächeln , weil ich mutmaßlich wieder einmal falsch zitiert habe , was aber Ihre gerechte Strafe dafür sein mag , daß wir immer noch nicht wissen , um was sich's handelt und um was Sie hier waren . Und nun dring ich allen Ernstes auf eine Generalbeichte . « Die wir sicherlich längst hätten , Phemi , wenn du dem Grafen nur einen Zollbreit Raum zum Niederknien gegönnt hättest . « Egon verneigte sich zustimmend und erzählte nun in Kürze , daß die Tante seit etwa acht Tagen hier in Öslau sei , drüben im Hotel . Er sei gekommen , ihr Briefe zu bringen , darunter auch Briefe von Graf Adam . » Und wie geht es dem Grafen ? « fragte Franziska . » Gut . So nehm ich wenigstens an . Es geht ihm überall gut , wo sich eine große Oper und eine Opéra comique verfindet . Freilich fehlt ihm das Napoleonische Regiment , und die Regierung im schwarzen Frack ist nicht gerade sein Ideal . Er liebt das Bunte , darin ganz Ungar , aber zuletzt bleibt doch Paris Paris und spottet jeder Kleiderfrage . Mit der Viardot hat er die Freundschaft erneuert und mit der Sarah Bernhardt diniert , ein Diner , von dem sich mindestens eine Woche lang in enthusiastischer Erinnerung zehren läßt . Mitte Juni will er nach Trouville , wenn nicht nach Biarritz , er ist aber unberechenbar und hält eigentlich jeden Tag für verloren , den er , etwa Schloß Arpa abgerechnet , außerhalb Wien zubringt . « In diesem Augenblick hörte man aus der Ferne her den Pfiff einer Lokomotive . » Das ist mein Zug , meine Damen , und ich muß eilen . « » Oh , Sie haben noch sieben Minuten . « Und er setzte sich wirklich wieder . Aber die Dogge , die sich all die Zeit über vor die kleine Verandatür gelagert und den Kopf zwischen die Pfoten gesteckt hatte , gab jetzt so sichtliche Zeichen von Ungeduld und schlechter Laune , daß ihr Herr unter scherzhaftem Hinweis auf den malkontenten Begleiter sich wieder erhob . » Ein schönes Tier ! « sagte Phemi . » Fast zu schade ... « » Für sein Coupé ? « ergänzte lachend der Graf . » Gewiß . Und würd es auch sehr übelnehmen , sich darin untergebracht zu sehen , denn er steckt ganz und gar in Standesvorurteilen . Ich muß es eben mit dem Schaffner versuchen . Mißglückt es , so macht er die vier Meilen zu Fuß . Apropos , ich darf doch der Tante von Ihrem Hiersein melden ? Au revoir . « Und er ging rasch die Straße hinunter , an deren nahem Ausgange das Bahnhofsgebäude gelegen war . Eben fuhr der Zug ein . Eine Minute darnach aber gab die Glocke schon wieder das Abfahrtszeichen , und beide Damen sahen nur noch die weiße Dampfwolke , die , sich verflüchtigend , über die letzten Häuser hinzog . Weder Phemi noch Franziska sprach . Jede hing ihren Gedanken nach . Sechstes Kapitel Graf Egon hielt Wort , und schon den zweiten Tag darnach , als beide Freundinnen von einem Mittagsspaziergang zurückkehrten , fanden sie zwei Karten vor , die von einem Lohndiener abgegeben waren , während die Gräfin selber in einem zurückgeschlagenen Wagen vor der Veranda gehalten hatte . Phemi drehte die für sie bestimmte Karte hin und her und las mit Betonung jeder einzelnen Silbe : » › Reichsgräfin Judith von Gundolskirchen , geborene Gräfin Petöfy . ‹ Wundervoll , und kommt in der Schale , wenn ich erst wieder in Wien bin , obenauf . An Grafen ist kein Mangel bei mir , aber Gräfinnen sind desto seltener . Glaube mir , Fränzl , dergleichen ist nicht nur hübsch , sondern auch nützlich , und man muß jede gute Brise benützen ... Und in einem Wagen , sagtest du , Hannah ? « » Ja , in einem Wagen « , bestätigte Hannah . » Und es war eigentlich nur der Hotelwagen von drüben , aber alles herrschaftlich zurechtgemacht und der Kutscher mit Handschuhen . Er sah so feierlich aus , daß mir das Lachen ankam . Und dazu der lange Sepp als Lohndiener und einen Frack an . Und alles bloß für uns , Fräulein Phemi , wirklich bloß für uns . Denn an der nächsten Ecke sah ich sie kehrtmachen , und ehe ich noch bis hundert zählen konnte , hielten sie schon wieder vor dem › König von Ungarn ‹ . « Franziska war mehr bestürzt als erfreut . Allerdings waren ihr die Winterabende bei der Gräfin in durchaus freundlicher Erinnerung , aber die Beziehungen von damals wieder aufgenommen zu sehen entsprach wenig ihren Wünschen . Am andern Tage gaben beide Damen in Abwesenheit der Gräfin ihre Gegenkarten ab , und Franziska lebte der Hoffnung , daß es dabei sein Bewenden haben werde . Darin irrte sie jedoch , und schon derselbe Tag war dazu bestimmt , eine persönliche Begegnung herbeizuführen . Es kam dies so : Zu den kleinen Zerstreuungen Franziskas und Phemis gehörte namentlich auch der Bahnhofsbesuch , wo sie zu promenieren und das bunte Treiben der ankommenden und abgehenden Züge zu beobachten pflegten . Auch heute hatten sie sich eingefunden und bogen eben aus den Anlagen in den parallel mit der Bahn laufenden Kiesweg ein , als Franziska der Gräfin ansichtig wurde , die , von ihrer Kammerjungfer gefolgt , auf dem Perron auf und ab ging und ebenfalls den von Wien kommenden Vieruhrzug abzuwarten schien . Es fehlten nur noch einige Minuten . Ein Sichvermeidenwollen wäre wenig schicklich , außerdem auch undurchführbar gewesen , und so trat denn Franziska an die Gräfin heran und bat nach den ersten Begrüßungsworten , ihr ihre Freundin Euphemia La Grange vorstellen zu dürfen . Die Gräfin reichte dem Fräulein die Hand und sprach ihr Bedauern aus , den ihr zugedachten Besuch der beiden Damen verfehlt zu haben , zugleich Franziska versichernd , wie sehr sie sich freue , die so plötzlich unterbrochene Winterbekanntschaft in diesen schönen Maitagen erneuern zu können . » Ich habe von Ihrer andauernden Krankheit gehört « , fuhr sie fort , » und muß mich anklagen , mich dabei so säumig und anscheinend teilnahmlos gezeigt zu haben . Aber ich war gut unterrichtet , erst durch meinen Bruder und später durch meinen Neffen , Grafen Egon . Und nun bitt ich die Damen , einen Platz für mich suchen oder wenigstens die Promenade wieder aufnehmen zu wollen , denn meine Füße versagen mir im Stehen den Dienst und mahnen mich an die lange Reihe meiner Jahre . « Dabei schritt sie den Damen vorauf auf ein Tempelchen zu , das auf einem künstlich aufgeworfenen Hügel inmitten der Anlagen errichtet war . Ehe sie jedoch die Stufen desselben erreichen konnte , hörte sie schon das Herannahen des Zuges und entschuldigte sich nun , das eben erst begonnene Gespräch auch schon wieder abbrechen zu müssen , aber sie sei hier , um einen lieben Freund zu begrüßen , den sein Weg von Wien aus nach Wiener Neustadt führe . » Sie kennen ihn ja , mein liebes Fräulein « , setzte sie hinzu , » Pater Feßler , ein eifriger Verehrer von Ihnen und als solcher oft der Gegenstand unserer Neckereien . So Sie mir gestatten , bring ich ihm Grüße von Ihnen . « Und damit empfahl sie sich und ging , von ihrer Jungfer gefolgt , auf den Perron zurück . Euphemia sah ihr nach und sagte : » Charmante alte Dame , jeder Zoll eine Gräfin . Ich glaube zwar , trotz aller Liebenswürdigkeit , sehr stolz . Aber es ist mit dem Stolz wie mit der Tugend , worüber ich dir erst neulich einen kleinen Vortrag gehalten habe ; weißt du noch ? Und sieh , alles , was ich dir damals von der Tugend und den Tugendhaften sagte , das paßt auch auf die Stolzen . Ich leg ihre Karte noch mehr obenauf . . . Aber wer ist nur der Pater Feßler ? « » Überzeuge dich selbst ; eben ist er ausgestiegen und spricht mit der Gräfin . « » Ein schöner Mann . « » Und sehr angenehm im Umgang . « » Er wird dich am Ende noch bekehren . « » Zweifle . « » Wer weiß ? Eine geborene Predigerstochter und gewordene Liebhaberin und Soubrette , nimm mir 's nicht übel , Fränzl , aus solchen Zutaten kann alles werden . « Seit dieser Begegnung hatte sich ein Verkehr zwischen hüben und drüben entwickelt , der sich indessen auf bloße Begrüßungen beschränken zu wollen schien . Jeden Morgen , wenn beide jungen Damen auf ihrer Veranda saßen und Phemi die Zeitung studierte – denn sie war eine Politikerin , ungemein für Freiheit und noch mehr für Aristokratie – , erschien die Gräfin auf ihrem Balkon , anscheinend um nach dem Wetter , in Wahrheit aber , um nach den jungen Damen zu suchen , und wenn dann diese sich erhoben , um ihren Respekt zu bezeugen , so nickte sie beiden ihren Morgengruß zu , bevor sie sich wieder in ihre Zimmer oder am liebsten auf einen nach hinten zu gelegenen Gartenbalkon zurückzog . Aber dabei blieb es . » Es wird nicht viel « , sagte Phemi , die sich über dies Halbverhältnis ärgerte . » Wir kommen nicht von der Stelle mit ihr , und am Ende wär es besser gewesen , wenigstens für mich , Graf Egon hätte mir dies Öslauer Idyll und die Ruhe meiner Seele nicht gestört . Ach , es war so still hier , Franziska , so konflikt- und tragödienlos , und wenn ich vielleicht doch noch Medea war , so war es Medea während der Freundschaftsschließung mit Kreusa , die Zeit vor der Eifersucht und den unliebsamen Gefühlen überhaupt . Wirklich , ich war wie Fridolin in der Ballade so sanft und rein und natürlich auch glücklich , aber seitdem dieser Maledetto von Egon hier war , ist eine totale Gemütsveränderung mit mir vorgegangen . Ich habe meine Fridolinrolle vertauscht und könnte mich jeden Augenblick ans Spinnrad setzen . Meine Ruh ist hin , mein Herz ist schwer . Wirklich , Schatz , ich werde täglich nervöser , und wenn nicht bald etwas geschieht , so reis ich ab . « » Ich weiß , du wirst bleiben , Phemi ; du hast ein Zeugnis auf Molkenkur und mußt nun aushalten . Alles straft sich und am meisten das Lügen . . . Aber da kommt ja der lange Sepp von drüben , und wenn ich sein Zwinkern und seine Wichtigkeit recht verstehe , so bringt er uns eine Botschaft . « Und wirklich , er kam von der Gräfin und übergab ein an Franziska gerichtetes Billet . Es lautete : » Vielleicht ist es den Damen genehm , an einer Partie teilzunehmen , die wir heute nachmittag in die Berge machen wollen . Mein Neffe Egon und mit ihm der junge Graf Pejevics , der Fräulein Phemi zu kennen vorgibt , sind mit dem letzten Bahnzuge hier angekommen und rechnen auf ein Ja der beiden Damen . Am meisten aber Ihre Judith v. G. « Eine kurze Nachschrift , in der es hieß : » Nicht später als drei « , war hinzugefügt , und der Bote brachte die Nachricht zurück , daß sich beide Damen zu festgesetzter Stunde die Ehre geben würden . Und wirklich um Punkt drei schritten sie dem » König von Ungarn « zu , vor dessen Freitreppe der heute jeder Galavorrichtung entkleidete Hotelwagen bereits hielt . Auch die Gräfin war schon da , stellte die Herren und Damen einander vor , trotzdem diese sich von kurz oder lang her bereits kannten , und bat , als sie dessen gewahr wurde , ihrer Zerstreutheit halber um Entschuldigung . Endlich aber wandte man sich der wichtigen Frage zu , wie hinsichtlich des Gehens und Fahrens die Rollen zu verteilen seien , und entschied sich nach längerer Debatte dahin , daß die Gräfin und Graf Egon in der Serpentine den Berg hinauffahren , die beiden Damen aber in Begleitung von Graf Pejevics einen näheren Fußweg einschlagen sollten . Oben auf dem Berge werde man sich dann ziemlich a tempo treffen . Und nun trennte man sich , und die wenigstens auf Augenblicke noch zurückbleibende Jugend sah dem mit Egon und der alten Gräfin langsam dahinfahrenden Wagen nach . » Ich sollte nun wohl Ihren Führer machen « , hob Graf Pejevics an , » aber obschon Generalstäbler , erkenn ich mich doch unfähig dazu . Sie müssen helfen , meine Damen , und mir die nötigen Direktiven geben . Ein ganz besonderes Vertrauen aber hab ich zu der Strategie von Fräulein Phemi La Grange . « Phemi war es zufrieden und schlug vor , einen etwas abseits gelegenen Zickzackweg zu benützen , einmal , weil es dabei was Tüchtiges zu steigen und zu klettern gebe , was doch immer die Hauptsache bleibe , vor allem aber , weil man vorher einen großen Wiesengrund , einen vollkommenen Wurstelprater , zu passieren habe , bei dessen Anblick man sich mal wieder wienerisch fühlen , ja vielleicht sogar ein paar Kolleginnen in ihren Geheimnissen der Kunst und des Lebens belauschen könne . Niemand widersprach , und so traten sie denn aus einem bloß aus Remisen und Stallgebäuden bestehenden Gäßchen , das sich dicht hinter dem Hotel hinzog , auf einen ansteigenden Ackerstreifen hinaus und wurden hier alsbald einer querlaufenden Senkung gewahr , in der sich ein Schützenplatz etabliert hatte . Die Schützen ihrerseits waren auch schon fleißig am Werk , aber das anderweite Fest- und Jahrmarkttreiben ruhte noch oder befand sich doch höchstens in einer verschwiegenen Vorbereitung für den Abend . Selbst der Mann in der Würfelbude nickte , denn niemand in der heißen Nachmittagsstunde war da , der sein Glück hätte versuchen mögen . So war das Budentreiben , das in diesem Augenblick eigentlich kein Treiben war . Aber der von Phemi beliebte Weg lief auch nur eine kurze Strecke lang in Front dieser Buden hin und bog vielmehr nach fünfzig Schritten schon an einem mehrstöckigen Carrousel vorbei , dessen Fahnen jetzt schlaff in der Luft herabhingen , in einen hinter der Budenreihe hinlaufenden Seitenweg ein . » Ah , hier fängt es an « , sagte Phemi , während sie sich voll augenscheinlicher Befriedigung umblickte . » Hier sind wir hinter den Kulissen . « Und wirklich , es war , wie sie sagte . Der den langen Degen verschluckende Spanier , der magere Feuerkönig , der Herkules , der sich den Amboß auf die Brust packen , und der Pyramidenmann , der sich seine drei Kinder auf die Schultern stellen läßt – alle traten einem hier in schöner Menschlichkeit entgegen , am menschlichsten aber , wie selbstverständlich , die Frauen , die sich , während sie wuschen und plätteten oder ein Kleidungsstück mit einem neuen Flitter besetzten , zu gleicher Zeit ihren zum Teil weitgehendsten Mutterpflichten unterzogen . Es war nichts Schlimmes , was dabei zutage trat ; da man indes nicht wissen konnte , was vielleicht noch komme , so waren beide Damen , und sogar Phemi , doch schließlich froh , als sie die » Wohnungswagen « hinter sich und statt ihrer die nun beginnende Reihe der Gepäckwagen zur Seite hatten . Es fehlte hier an all und jedem Beängstigenden , und an Stelle davon traten Genrebilder von durchaus harmlosem Charakter . In einer an vier Ketten hängenden Schoßkelle schlief eine Hundefamilie , während auf dem Rand einer großen Trommel ein ältlicher und etwas fadenscheiniger Rabe saß , in betreff dessen es zweifelhaft blieb , ob er sich bloß zufällig hier eingefunden oder aber den Rang eines wirklichen Mitgliedes der Truppe habe . Phemi war natürlich der letzteren Ansicht und beteuerte wiederholt , daß ein Schützenplatz ohne Wahrsagerei gar nicht möglich und die vorhin gesehene schwarze Frau mit dem Kind an der Brust aller Wahrscheinlichkeit nach die Lenormand dieses Kreises gewesen sei . Sie habe durchaus auch die Requisiten dazu gehabt : einen stechenden Blick und einen falschen Scheitel . Und das dritte sei eben dieser Rabe . Übrigens käme die Wahrsagerei wieder in Mode , was auch gut und erklärlich sei , denn je freier der Mensch werde , desto nötiger werd ihm der Hokuspokus . Graf Pejevics , der gerade vornehm genug war , um ungestraft liberalisieren zu können , wollte demgemäß widersprechen , aber Phemi ging mit Hülfe von Spiritismus und Amerikanismus , zwischen denen sie gleichzeitig auch allerlei natürliche Zusammenhänge finden wollte , sofort zu Beweisen über und zeigte sich dabei so beredt und zeitungsbelesen , daß man den ansteigenden Talweg bereits halb hinauf war , als der Anblick des jetzt in gleicher Höhe mit ihnen fahrenden Hotelwagens ihren Vortrag momentan unterbrach . » Ah , die Gräfin ! « Und sie grüßte mit ihrem Tuch über die tiefe , mit Tannen besetzte Schlucht hinweg . » Phemi ! « sagte Franziska . Phemi nahm aber den Tadel , der sich darin ausdrückte , nicht an und sagte nur lachend : » Ich weiß schon , was ich tu . Frage nur Graf Pejevics . Man muß die vornehmen Leute nicht immer daran erinnern , daß sie vornehm sind . « Und dabei winkte sie ruhig weiter . » Übrigens laß dir sagen , Schatz , daß das alles nur uraltes Sommerfrischen- und Badevorrecht ist . In der Stadt rückt sich 's leicht wieder zurecht . « Eine Viertelstunde später waren unsere drei Fußgänger glücklich oben , und als gleich darnach auch der Wagen erschien , hatte Phemi bereits einen Platz gefunden , der jeden erdenkbaren Vorzug in sich vereinigte : temperierte Sonne , Schutz vor Wind und Zug und einen wundervollen Blick in die Landschaft . » Wie schön ! « sagte die Gräfin , und Franziska gab ihr ein Mäntelchen um , während Egon ein Kissen aus dem Wagen und Graf Pejevics eine Fußbank herbeiholte . » Hier bleiben wir , nicht wahr , und schonen unsere Kräfte ? Wenn man das Gute hat , muß man das Bessere nicht auf allerlei Gefahr hin haben wollen . Und nun , Egon , mache den Wirt ; oder besser noch , Fräulein Phemi . Zu der hab ich ein Vertrauen und bin ganz sicher , daß sie nicht bloß den artigsten und raschesten Kellner , sondern auch den besten und frischesten Kuchen für uns entdecken wird . « Und nun kamen heitere Stunden oben auf dem Aussichtspunkte , schön und heiter auch für Franziska , die das Berg- und Burgenpanorama noch nicht kannte , darunter Schlösser und Türme , die seit der Türkenzeit in Trümmern lagen . Am meisten interessierte sie die Ruine von Schloß Merkenstein , und Graf Egon , der landeskundig war , erzählte von einer rätselvollen Buchstabeninschrift : » O. H. I. N. N. « , die sich bis diesen Tag an dem stehengebliebenen Portal der Burgruine befinde . Phemi , die sich mitunter auf die Wissenschaftlichkeit hin ausspielte , wollte die Bedeutung davon für ihr Leben gern erraten und ruhte nicht eher , bis ihr Egon die Buchstaben ins Notizbuch geschrieben und schließlich , als alles Raten umsonst geblieben , die Versicherung gegeben hatte , daß nur der Wiener Witz bis dato die Deutung dafür gefunden habe . » Welche ? « fragte das Fräulein neugierig . » Oesterreich Hinkt Immer Noch Nach . « Und nun gab es ein norddeutsch übermütiges Lachen von seiten der beiden jungen Damen , das erst schwieg , als sie halb erschrocken einen spöttisch superioren Zug um den Mund der beiden Grafen spielen sahen . Aber Phemi witzelte rasch die kleine Verstimmung fort , und Graf Pejevics , der erst wenige Tage wieder aus England zurück war , wohin er sich der Rennen halber begeben hatte , wurde jetzt eindringlich gebeten , über seine Reise zu berichten , ganz besonders auch von seiten der alten Gräfin . » Ich bin halb von englischer Extraktion « , sagte diese . » Meine Mutter war eine Howard und meiner Mutter Mutter eine Talbot . « » Eine Talbot ! « wiederholte Phemi mit einem beinahe komisch wirkenden Ernste , dem man es deutlich anhörte , daß die halbe » Jungfrau von Orleans « an ihrem inneren Auge vorüberzog . » Aber trotz dieser nahen und nächsten Beziehungen « , fuhr die Gräfin fort , » war ich nie dort . Ich hab eine Scheu vor der Überfahrt und höre jedesmal zu meinem Troste , daß es keinen schlimmeren › Pas ‹ geben soll als den Pas de Calais . Indessen , wenn ich auch niemals dort war , ich höre doch gern davon . Alles ist interessant und eigenartig und zeigt uns das Leben von einer neuen Seite . Wie fanden Sie London ? « » Vor allem ohne Londoner und beinahe auch ohne Engländer . Es ist dasselbe wie mit Wien , wie mit allen großen Städten . Sie werden zum Rendezvous für die Provinzen oder die Welt überhaupt . In London ist alles › irish ‹ und › scotch ‹ , und wollte man die Deutschen zählen , so fände man wahrscheinlich mehr als in unserem guten Wien . Im übrigen , um auch das noch zu sagen , ich kann mich mit einer Lebensweise nicht befreunden , die den Tag mit Speck und Ei beginnt und ihn mit Cognac abschließt . Kardinal Antonelli soll denn auch ausgerufen haben : › Ich mag kein Volk , das vierzig Sekten und eine Sauce hat . ‹ Er hätte nach meinen Erfahrungen auch noch hinzusetzen können : Alles sei schwer und massig in diesem Lande , sogar die Träume . Wenigstens sprechen sie selber von plumpudding dreams . « Es fehlte , wie sich denken läßt , nicht an Opposition dagegen , am meisten von seiten Phemis , die nicht müde wurde , vom Großen Freibrief an , über Milton und Shakespeare weg bis zu Scott und Thackeray hin , alles zu loben und zu preisen . Egon und Graf Pejevics amüsierten sich ersichtlich und stimmten mit ein oder widersprachen auch , je nach Laune . So schwanden die Stunden , und erst als die Sonne gesunken und statt ihrer die Mondsichel sichtbar geworden war , erhob man sich , um den Rückweg anzutreten . Auch die Gräfin zog jetzt vor zu gehen und sprach nur den Wunsch aus , daß der am wenigsten abschüssige Weg eingeschlagen würde . Graf Pejevics bot ihr den Arm , und Phemi plauderte nebenher , während Egon mit Franziska folgte . Man ging anfänglich sehr vorsichtig , vorsichtiger noch als nötig ; als man aber die Kuppe passiert und die breiteren Gelände gewonnen hatte , machte sich's , daß man nicht nur in aller Bequemlichkeit , sondern auch in einem beflügelten Marschtempo marschieren konnte . Denn das bunte Treiben auf dem Schützenplatz unten hatte mittlerweile begonnen , und die festen Takte von Trommel und Pauke drangen bis hoch an den Abhang hinauf . Um jedes Carrousel her waren Lichter und Lampions , und inmitten eines eingefriedigten Platzes , auf dem trotz der Mondhelle noch viele Pechfackeln brannten , erkannte man nicht nur Pierrot und Harlekin , sondern hörte ganz deutlich auch das Gelächter , das die Kapriolen und Witze beider begleitete . » Wir kommen gerade zu guter Zeit « , wandte sich Egon an seine Begleiterin . » Und ich freue mich darauf . Können Sie sich denken , daß ich ein wirkliches Vergnügen an diesen Dingen habe ? « » Gewiß « , antwortete Franziska , » das dürfen Sie , das ist Ihr gutes Recht . Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre , so würd ich es auch haben . Aber unsereins ist doch mehr oder weniger geniert und empfindet leicht eine Verwandtschaft heraus , die schließlich bedenklich ist . « » Sie scherzen « , sagte der Graf , » oder wenn es wirklich Ihr Ernst ist , so möcht ich fast von Empfindelei sprechen dürfen . « » Empfindelei vielleicht . Aber Scherz , nein . Ich nehm es ganz ernsthaft . Auch glaub ich kaum , daß ich damit vereinzelt dastehe . « » Phemi ? « lachte der Graf . » Nein , Phemi nicht . Aber andere , wobei mir eine kleine , dasselbe Gefühl ausdrückende Lenau-Geschichte wieder in Erinnerung kommt , die mir Bauernfeld letzten Winter erzählte . « » Darf ich sie wissen ? « » Gewiß . Ich habe die Namen und näheren Umstände vergessen , aber gleichviel . In irgendeinem Wiener Restaurant , in dem Lenau verkehrte , befand sich eine junge Person , die nicht bloß die Gäste bediente , sondern auch Verse machte . Diese Verse nun wurden bei bestimmter Gelegenheit an Lenau gegeben , der sie las und sofort in eine befangene Stellung zu der neu entdeckten Dichterin geriet . Alles , was sie geschrieben hatte , war unter mittelmäßig , aber sich auch fernerhin von ihr bedienen zu lassen erschien ihm nichtsdestoweniger unmöglich oder doch im höchsten Grade peinlich . Er sah in ihr die Kollegin , die Mitschwester und wußte sich schließlich nicht anders zu helfen , als daß er fortblieb . Es hat das , als mir Bauernfeld davon sprach , einen großen Eindruck auf mich gemacht , und ich würd es einen feinen und liebenswürdigen Zug an Lenau nennen , wenn ich mir nicht selber damit eine Schmeichelei sagte . « » Die Sie sich mit gutem Gewissen sagen dürfen « , antwortete der Graf und nahm einen Augenblick ihre Hand . » Übrigens freut es mich aufrichtig , Sie so lenaubegeistert zu finden . Heute schon zum zweiten Male . « » Wie das ? Zum zweiten Male ? « » Nun , meine Gnädigste , Sie werden doch allen Ernstes nicht glauben wollen , daß ich das schöne › Nach-Süden‹-Lied , wie Sie 's damals nannten , und seine Schlußstrophe vergessen haben könnte ? « » Welches ? « » › Hörbar rauscht die Zeit vorüber an des Mädchens Einsamkeit ‹ ... Ich glaube , so hieß es . Es hat mich damals in seiner melancholischen Schönheit eigentümlich ergriffen und war der erste Plauderabend bei der Tante . Nur Feßler war zugegen und draußen Schnee gefallen . Entsinnen Sie sich noch ? « Franziska war betroffen , aber es gelang ihr , ihre Verlegenheit zu verbergen , und in einem immer lebhafter werdenden Gespräche schritten beide die Berglehne hinunter und auf die Budengasse zu . » Sollten wir nicht lieber einen Umweg machen ? « » Oh , nicht doch « , antwortete die Gräfin , an die sich seitens Franziskas diese Frage gerichtet hatte . » Mein Leben verläuft viel zu still und einsam , als daß es mir nicht eine Freude sein sollte , von ungefähr unter Menschen zu kommen . Ich such es nicht auf , aber wenn es sich gibt , so heiß ich es jedesmal willkommen . « Und so mündete man denn wirklich in das bunte Fest- und Jahrmarkttreiben ein . Eine Menge großer Schaubuden war da , Panoramen , an denen sie , dem Menschenzuge folgend , rasch vorübergingen , bis ihnen zuletzt ein kleines Zelt auffiel , über dessen Eingang in Transparent die Worte standen : » Einzige Verkündigung der Wahrheit « , und darunter in kleiner Schrift : » Fünfzig Kreuzer . « » Ah ! « sagte Phemi , » da muß ich hinein . Oft ist mir die Wahrheit umsonst gesagt worden , aber sie war auch darnach . Nichts ist umsonst , nicht einmal die Wahrheit . « Und sie schickte sich wirklich an , in das Zelt einzutreten . Aber Franziska zog sie wie mit Gewalt zurück und sagte : » Du bleibst ! « Eine momentane Verlegenheit trat ein und schwand erst wieder , als man aus der Budengasse heraus war . » Ich war überrascht , Sie so heftig zu sehen « , nahm endlich Egon das Gespräch wieder auf . » So heftig und so bestimmt . « » Und noch dazu gegen Phemi « , setzte Franziska lachend hinzu . » Phemi selbst aber wird mir am ehesten verzeihen . Ich konnte nicht anders und habe nun mal einen tiefen Widerwillen dagegen . Unser ganzes Leben ist eine Kette von Gnaden , aber als der Gnaden größte bedünkt mich doch die , daß wir nicht wissen und nicht wissen sollen , was der nächste Morgen uns bringt . Und weil wir 's nicht wissen sollen , sollen wir 's auch nicht wissen wollen . « » Auch nicht einmal im Scherz , im Spiel ? « » Auch nicht einmal im Spiel . Denn es ist ein Spiel mit Dingen , die nicht zum Spielen da sind . Ich muß es wiederholen , ich hasse jede Neugier , die den Schleier von dem uns gnädig Verborgenen wegreißen will ; aber am meisten widerstreitet mir doch die Neugier , die nicht einmal ernsthaft gemeint ist . Es gibt der tückischen Mächte genug , und ihre listig lauernde Feindschaft auch noch durch Spiel und Spott herausfordern zu wollen tut nie gut und ist der Anfang vom Ende . « Der Graf schwieg . Bald darnach aber trennte man sich vor Phemis und Franziskas Veranda , bis wohin die Gräfin in Artigkeit gegen die jungen Damen diese begleitet hatte . Siebentes Kapitel Am andern Morgen saßen beide Freundinnen eine halbe Stunde früher als sonst in der Veranda , deren Leinwandvorhänge nach der einen Seite hin halb zurückgezogen waren , während gegenüber , wo die Vorhänge fehlten , eine Hängematte hing , in der sich Lysinka schaukelte . Sie war in ein Bilderbuch vertieft und überließ deshalb , ohne wie sonst wohl zuzuhorchen , die beiden Damen ihrem Gespräche , das sich selbstverständlich um die Partie vom Tage vorher drehte . Dann aber entstand eine Pause , bis Franziska plötzlich und mit einiger Befangenheit fragte : » Sagtest du nicht , daß die Belmonti geschrieben habe ? « » Ja . « » Und daß sie sich Lysinka zurückerbeten ? « » Ja . « » Und willst du nicht darauf eingehen ? Offen gestanden , ich glaube , daß die Belmonti recht hat und daß du diese Ferien länger ausdehnst , als dem Kinde gut ist . « Phemi lachte herzlich , dann aber sagte sie : » Ja , Fränzl , es hilft dir nichts , du mußt nun schon deutlicher mit der Sprache heraus . Denn du wirst mir doch nicht wirklich und ernsthaft einreden wollen , daß du Lysinkas halber Erziehungssorgen hättest . Ich würde glauben , du wolltest sie los sein , wenn ich nicht umgekehrt wüßte , daß du sie fast so gern hast wie Hannah . Also beichte . « Franziska sah verlegen vor sich hin , und Phemi , der ihre Verlegenheit leid tat , setzte deshalb ohne weiteres hinzu : » Nun , laß nur , ich brauche deine Beichte nicht und will dir sagen , was es ist . Sieh , ich bin lange nicht so gescheit wie du , hab aber bessere Augen und sehe gleich , wie 's steht und im Herzen aussieht . Auch in deinem . Und deshalb weiß ich , es kommt alles nur daher , weil du wieder Reputationsanfälle hast und einfach fürchtest , die › Nichte ‹ könnte dich über kurz oder lang in Verlegenheit bringen , die › Nichte ‹ , die mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist und an deren Nichtenschaft deshalb niemand glaubt . Sieh « , fuhr sie fort , » du bist ein so guter Kerl , daß ich dir nichts übelnehme , schon lange nicht . Empfindeleien sind ohnehin nicht meine Spezialität , und so begnüg ich mich denn in dieser dir Sorge machenden Lysinka-Sache mit dem geflügelten Wort : › Es ist mein Kind , es bleibt mein Kind , ihr gebt mir nichts dazu ‹ , noch dazu klassisches Zitat . Und sogar vom alten Goethe , der immer recht hatte . « » Nicht immer . « » Aber doch in solchen Dingen . Er verstand sich zu gut darauf . Jedenfalls hab ich vor , mich nach diesem Spruche zu richten und Madame Belmonti noch eine Weile warten oder meinetwegen auch sich ängstigen zu lassen . « Franziska schwieg . Endlich sagte sie : » Verzeih , Phemi , daß ich davon sprach . Es war nicht recht . Aber ich dachte , man könne nicht gleichzeitig zwei Dinge wollen , die sich einander ausschließen . Es liegt dir selber an dem Umgange mit drüben und muß auch so sein , denn es ist eine herrliche Frau , diese alte Gräfin , ganz von jener Feinheit , Nachsicht und Milde , die , wie du mit Recht sagtest , immer nur bei den Frommen und Vornehmen zu finden ist . Aber man darf ihr umgekehrt auch nicht zuviel zumuten , und wenn wir wirklich einen auch nur oberflächlichen Verkehr mit ihr unterhalten wollen , so müssen doch Fragen ausgeschlossen sein , die , wenn sie wie zufällig in Gegenwart Graf Egons zur Sprache kämen , unzweifelhaft zu Verlegenheiten und hinterher zu Witzeleien und allerhand Medisance führen würden . « » Du bist ein Kindskopf « , lachte Phemi . » Lehre mich doch die vornehme Welt kennen . Ich stecke länger darin und will dir sagen , wie 's liegt . Auch die Besten nehmen uns bloß so hin . Sie lassen sich 's gefallen , daß wir ihnen die Zeit vertreiben , und sind auch wohl dankbar dafür , aber von unserer Tugend und Sitte zu hören ist ihnen nur langweilig . Denn sie glauben nicht daran , und weil sie nicht daran glauben , er scheint ihnen unser Tugendanspruch einfach prätentiös . Wir sollen nicht bloß tatsächlich anders sein wie sie , nein , sie wollen sich dieses Unterschiedes auch bewußt werden . Und so glaube mir denn , es wird ihnen gar nicht schwer , uns zu pardonnieren , aber uns zu respektieren ist ihnen lästig und unbequem . Du hast keine Vorstellung davon , in wie vielerlei Kleider sich der menschliche Hochmut steckt . Und auch die Gräfin drüben , sosehr ich sie verehre , wird schließlich keine Ausnahme machen ... Aber sieh nur , wer ist denn der alte Herr , der sich drüben im Hotel eben über die Balkonbrüstung lehnt und hieher lorgnettiert , als kenn er uns ? Ist das nicht ... ? « Und im selben Augenblick erkannten beide den alten Grafen und erwiderten seinen Gruß . Wirklich , er war es , und ehe sich beide Damen noch in ihren Verwunderungen und Mitteilungen erschöpft hatten , erschien er bereits in Person , um ihnen einen Morgenbesuch zu machen . Er war unbefangen , auch Franziska gegenüber , und lächelte nur , als Phemi genau so , wie sie damals Egon bestürmt hatte , halb in wirklicher und mehr noch in erkünstelter Neugier mit hundert Fragen auf ihn einzudringen begann . Es habe verlautet , wenn auch nur gerüchtweise , daß er den Sommer in Trouville zubringen werde ; statt dessen habe , wie der Augenschein lehre , Wien oder doch Öslau gesiegt , woraus sie den Schluß ziehe , daß das entkaiserte Frankreich auch zugleich ein entzaubertes Frankreich für ihn gewesen sei . Der Graf in seiner Antwort schwankte zwischen Zugeben und Bestreiten und versteckte dabei den eigentlichen und wahren Grund seiner Rückkehr hinter allerlei Scheingründen , in deren übermütiger und etwas grotesker Ausmalung er sich gefiel . Es sei wirklich sein Plan gewesen , während der heißen Monate nach Trouville zu gehen , aber weil die Saison erst Mitte Juli beginne , habe er zu viel Zeit gehabt , sich in seiner Phantasie mit dem Badestrand und seinen Bildern zu beschäftigen , eine Beschäftigung , an der schließlich die ganze Reise gescheitert sei ; was übrigens niemanden in Verwunderung setzen werde , der das Übergewicht der Vorstellung über die Wirklichkeit irgendeinmal an sich selbst erfahren habe . Das fait accompli bedeute gemeinhin nicht viel , aber in der Erwartung der Dinge liege Himmel und Hölle . Das habe sich ihm in den Tagen seiner Phantasiebeschäftigung mit dem Trouviller Badestrand auch wieder recht fühlbar gemacht . Er habe nichts gegen Urzuständlichkeiten , und das letzte , woran er kranke , sei Prüderie , ja das Paradiesische , das Mittelafrikanische , das Mythologische , gleichviel , welcher Ausdruck seitens der Damen bevorzugt werde , werde niemals von ihm beanstandet werden ; aber er hasse die Mischgattungen und müsse statt ihrer auf Einheit und Reinheit des Stiles dringen . Jeder ehrlich gemeinte Versuch , das alte Theatervorhangthema : Neptun und Arion samt dem ganzen Corps de ballet der Weltmeere , zu neuem , wirklichen Leben erblühen zu lassen , dürfe seiner Zustimmung ein für allemal sicher sein , aber verschämte Halbzustände , Zustände , die nicht Fisch und nicht Vogel seien , hätten diese seine Zustimmung mit gleicher Entschiedenheit nicht . Und so dürfe er sich denn allerdings berühmen , ausschließlich unter der Wucht ästhetischer Bedenken einen fluchtartigen Rückzug aus Frankreich angetreten zu haben . Während er so sprach , war Lysinka neugierig aus ihrer Hängematte herausgekrochen und stellte sich ohne jede Spur von Verlegenheit mit an den Tisch , ganz so , wie verwöhnte Kinder zu tun pflegen . Ihr Auge ging dabei beständig umher und sah jeden einzelnen wie fragend und doch auch wieder halb verständnisvoll an . Es war ersichtlich , daß sie dem alten Grafen , der unwillkürlich seine Hand über ihr langes blondes Haar hingleiten ließ , ungemein gefiel ; ehe er aber eine Frage zu tun imstande war , sagte Phemi , die mit Franziskas aufsteigender Verlegenheit ein Mitleid haben mochte : » Das war nun also Trouville , Herr Graf . Und nun Paris , Paris , von dem ich so gerne höre , das mein Ideal und meine Sehnsucht war von Kindheit an und das ich schon um meiner Kunst willen so gern gesehen und befragt und studiert hätte . Ja , wirklich , um meiner Kunst willen . Eine reizende junge Kollegin von mir , natürlich Liebhaberin , phantasierte neulich sogar von der Heiligkeit ihrer Kunst . Es war komischer als Tewele . Doch ich verirre mich von der Hauptsache , von Paris , über das wir , nicht wahr , Fränzl , um so lieber berichten hören , als uns Graf Pejevics gestern erst von London erzählt hat . « » Und wie fand er London ? « » Er klagte , daß alles zu schwer sei , sogar die Träume . « » Je nun « , lachte der Graf , » die sind heuer auch in Frankreich gerade schwer genug . Es sind Rüstungs-und Waffenträume , Vierundzwanzigpfünder mit der Aufschrift › Revanche ‹ . Ja , die Franzosen sind und bleiben Kinder . Aber so schwer ihre Träume sind , so leicht ist ihr Leben nach wie vor , und ich habe keinen Unterschied entdecken können zwischen sonst und jetzt . Das entkaiserte Frankreich , um Fräulein Phemis Wort zu wiederholen , ist nicht entzaubert . Und warum nicht entzaubert ? Weil es zu den Vorzügen oder meinetwegen auch zu den Schwächen dieses Volkes gehört , im steten Wechsel der Dinge sich selbst immer gleichzubleiben . Ich habe es nun unter einem halben Dutzend widerstreitender Regierungen im wesentlichen ohne jede Veränderung gesehen und möchte mich fast verwetten , daß es auch dasselbe war , als die Trikoteusen um die Guillotine herum saßen und schnupften und plauderten und Strümpfe strickten . Es ist ein Phantasievolk , dem der Schein der Dinge vollständig das Wesen der Dinge bedeutet , ein Vorstellungs- und Schaustellungsvolk , mit einem Wort , ein Theatervolk . « Wie die Wiener ? « » O nicht doch , meine Gnädigste . Die Wiener sind ein Vergnügungsvolk und gehen ins Theater , um unter Lachen und Weinen sich etwas vormachen zu lassen , aber auch der Passionierteste fühlt sich schließlich auf seinem Parkett- oder Parterreplatz immer noch wie zu Gast . Anders der Franzose . Der ist da zu Hause , füllt die Hälfte seines Daseins mit Fiktionen aus , und wie die Stücke sein Leben bestimmen , so bestimmt das Leben seine Stücke . Jedes ist Fortsetzung und Konsequenz des andern , und als letztes Resultat haben wir dann auch selbstverständlich ein mit Theater gesättigtes Leben und ein mit Leben gesättigtes Theater . Also Realismus ! Auf der Bühne gewiß , aber auch weitergehend in der Kunst überhaupt . Welche Lust , ein französisches Schlachtenbild zu sehen , auf dem die Säbel nicht angeklebt sind , sondern wirklich geschwungen werden . Elan auch da , Leben und Wirklichkeit . Und nun gar erst der Roman ! « » Ah , Sue ; Balzac . « » Überholt . « » Flaubert ? « » Überholt . « » Nun , wer denn ? «