Hedwig Dohm Sibilla Dalmar Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts Frau Dalmar lag in der zwölften Nachtstunde mit einem Buch in der Hand auf der Chaiselongue ihres Schlafzimmers , und las oder versuchte zu lesen . Ihr Gatte war mit ihrer Tochter Sibilla auf einem Ball . Vor ihrer Rückkehr mochte sie nicht zu Bett gehen . Sibilla bedurfte ihrer beim Ablegen der Balltoilette , und dann – – auf diesem Ball entschied sich vielleicht das Geschick des geliebten Kindes . Frau Dalmar war eine kleine unscheinbare Frau mit feinen Zügen und einer schüchternen Anmut im Wesen . Etwas leicht verkümmertes , dünnes , unausgewachsenes hatte sie . Sie machte den Eindruck einer verwelkten Knospe , die nie Blume gewesen war . In der That verbrauchte sie all ihre geistigen und körperlichen Kräfte , um ihre Pflichten als Hausfrau , Gattin und Mutter , die nicht immer leicht waren , zu erfüllen . Es galt , bei den geringen Mitteln , über die die Familie zeitweise verfügte , den Schein einer eleganten Lebensführung aufrecht zu erhalten . Ihre Ehe war eine freundliche , friedliche , obwohl der Gatte eine frischere , robustere Gefährtin vorgezogen hätte . So wie sie einmal war , behandelte er sie mit Humor , mit gutartigem Spott , und nannte sie , wenn er mit der Tochter über die Mutter sprach , unsre schwache kleine Mutti . Bezeichnend war , daß niemand den Vornamen von Frau Dalmar kannte . Daß sie unbeachtet blieb , war ihr gerade recht . Ohne jede Bitterkeit hatte sie sich damit abgefunden , nur die Mutter ihrer Tochter zu sein . Ihrer Tochter Sibilla ! ein so süßes Geschöpf ! All ihre Gemütskraft concentrierte sich in der Anbetung ihres Kindes . Darum konnte sie auch jetzt nicht lesen . Sie legte das Buch fort , streckte sich behaglich aus , schloß die Augen und malte sich die Zukunft ihrer einzigen Tochter aus . Wie bezaubernd hatte sie ausgesehen , als sie zum Ball fuhr , in dem Kleid von Silbergaze , mit der blaßrosa Rose in den goldbräunlichen Zöpfen . Wie hatten die großen dunklen Augen aus dem alabasterzarten Gesicht geleuchtet . Frau Dalmar begriff nicht , daß sich nicht jeder beim ersten Blick in dieses engelhafte Geschöpf verliebte . Sie erhob sich halb von der Chaiselongue und nahm von dem Seitentischchen ein Album . Es enthielt nichts als die Photographieen Sibillens , von ihren ersten Kinderjahren bis zur Gegenwart , zu ihrem achtzehnten Lebensjahr . Frau Dalmar vertiefte sich zärtlich in den Anblick dieser Köpfchen . Man brauchte nicht die Mutter zu sein , um in ihrem Reiz zu schwelgen . All diese Gesichtchen , mit dem wirren Gelock , das ein Oval von zarter , weichster Rundung einrahmte , trugen den Ausdruck schalkhaft holdseliger Lieblichkeit neben sinniger Klugheit . Als Frau Dalmar an die zweite Seite des Albums kam , waren die Krausköpfchen verschwunden und lange Zöpfe traten an ihre Stelle , und allmählich änderten sich auch die Physiognomieen ein wenig . Einige der Köpfe zeigten einen fast grübelnden Ausdruck , mit einem leisen Hauch von schwermütiger Müdigkeit . Dann aber kam wieder ein lachendes Gesicht , das Schulmädchen mit dem Ränzlein auf dem Rücken , das Barett schief in die Stirn gedrückt , keck und übermütig . Die nächste Photographie mit einem Anflug von Trotz und Gelangweiltheit . Augenscheinlich hatte das Kind da dem Photographen widerwillig gestanden . Was schon an den Kinderköpfchen auffiel , trat jetzt noch stärker hervor : der eigentümliche Kontrast zwischen den Augen , die wie aus geheimnisvollen Tiefen heraufblickten , und der schelmischen Lieblichkeit des Mundes . Lächelnder Mund und träumende Augen . Dann verschwanden plötzlich die Zöpfe , und drei bis vier Bilder zeigten wieder den lockigen Tituskopf . Frau Dalmar lächelte in sich hinein , während ihr Auge auf diesen Bildern ruhte . Einmal , ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sich Sibilla vor der Mutter gefürchtet , als sie sich heimlich eines Abends die Zöpfe abgeschnitten hatte . Das Flechten und Zöpfen des Morgens war ihr langweilig und unbequem geworden . Am Morgen nach der Unthat war sie in die Schule gegangen , ohne der Mutter Adieu zu sagen . Sie hatte ihr aber auf der schönsten Schüssel des Hauses die abgeschnittenen , zierlich geflochtenen , mit rosa Bändchen geschmückten Zöpfe ins Schlafzimmer geschickt , mit einem drolligen Gedichtchen , das ihre Verzeihung erflehte . Und dieses Gedicht und der wehmütige Anblick der geliebten Zöpfe waren der schwachen Mutter so ans Herz gegangen , daß ihre quellenden Thränen den aufsteigenden Zorn im Keim erstickt hatten . Frau Dalmar blätterte weiter in dem Album . Und da war das erwachsene junge Mädchen von so eigentümlich berückender , märchenhafter Schönheit , daß ein Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit Frau Dalmars Züge überflog . Lange hafteten ihre Blicke an einer der Photographieen , die Sibilla in ihrem sechzehnten Jahr darstellte . Die Augenlider waren müde über die , wie in Träumen verlorenen Augen gesenkt . Um die feingeschwungenen Linien des etwas großen Mundes spielte wieder das halbe , kindliche Lächeln . Von der Nase zum Mund aber zog sich ein trauriger , fast bitterer Zug . Dieser Zug , wie kam er in das Gesicht ihres so jungen und so glücklichen , so ganz glücklichen Kindes ? Frau Dalmar forschte in ihrem Gedächtnis nach einer Erklärung dieser seltsamen Traurigkeit . Sie regte sich dabei auf . Sie wollte der Erregung Herr werden und erhob sich aus der liegenden Stellung . In dem geräumigen Schlafzimmer , das Sibilla mit ihr teilte , sah es ziemlich unordentlich aus . Ein Kommodenkasten stand halb geöffnet ; auf dem Stuhle lagen allerhand Gegenstände , die das junge Mädchen für den Ball probiert hatte , ein Fächer , einige Paar Handschuhe , künstliche Blumen neben dem Karton , aus dem sie herausgerissen waren u. s.w . Die Mutter begann die Sachen zu ordnen und in die Kommode zurück zu legen . Ein Schreibheft in Oktavform mit der Aufschrift » Tagebuch « , das in einem Winkel der Kommode lag , fiel ihr in die Augen . Sie selbst hatte es Sibilla an ihrem elften Geburtstage geschenkt , und das Kind verpflichtet , all seine kleinen Erlebnisse in das Buch einzutragen . Sie hatte ihr eindringlich vorgestellt , was für Freude sie in späteren Lebensjahren an diesen schriftlichen Erinnerungen haben würde . Im Grunde hatte Frau Dalmar noch einen anderen Zweck mit dem Tagebuch verfolgt . Diese Frau , deren Leben kaum je durch einen Schatten von persönlicher Eitelkeit getrübt worden war , besaß eine krankhafte Eitelkeit in Bezug auf Sibilla , deren ungewöhnliche Begabung sie erkannt hatte . Das Kind sollte seine glänzenden Anlagen so vielseitig und so frühzeitig wie möglich entwickeln . In den regelmäßigen Tagebuch-Aufzeichnungen sah sie ein Mittel , den Stil und die Denkkraft der Kleinen zu üben . Ein bis zwei Jahre lang hatte Sibilla mit größeren oder kürzeren Pausen das Tagebuch geführt . Dann war es ihr langweilig geworden , sie hatte es beiseite gelegt und vergessen . Frau Dalmar hatte absichtlich , um Sibillas Aufrichtigkeit und Harmlosigkeit beim Niederschreiben nicht zu beeinträchtigen , nie verlangt , das Buch zu sehen , obwohl sie wußte , daß Sibilla ihr ohne weiteres den Einblick in dasselbe gestattet haben würde . Nun fiel dieses Bedenken fort ; sie nahm das Büchelchen , streckte sich wieder auf die Chaiselongue und vertiefte sich in die Tagebuchblätter , mit lächelndem Stolz über die Frühreife und die Aufrichtigkeit des Kindes . Das Tagebuch begann mit dem 12. Oktober 1867 . Sibilla war damals elf Jahre alt . » Ich werde dies Buch heut mit dem Geburtstag des Königs einweihen . Sehr schmeichelhaft für den König . Also , lege los , würde Herr Vogel ( unser Direktor ) sagen . Am Freitag war ich bei Anna Reicher erst zum Kaffee eingeladen , nachher war Tanzstundenball . Beim Kaffee war es wirklich göttlich . Keiner that den Mund auf , außer um Kaffee zu trinken , oder um Konrad Reicher – der einzige Knabe , die andern waren noch nicht da – zu flüstern . Als aber nachher getanzt wurde , da thauten wir gleich alle auf . Wir tanzten auch Cotillon , und ich bekam natürlich die meisten Bouquets . Ein Knabe aber , der Jesko von Stubnitz , der war sehr hübsch , tanzte aber schlecht . Alle Übrigen mir unbekannt . Was wäre sonst noch zu erzählen ? Ach was – ich werde jetzt lesen . 15. Oktober . Am Sonntag waren wir bei Grünaus eingeladen . Nach dem Kaffee spielten die andern : › wie gefällt Dir Dein Nachbar ‹ und anderes , während Johanna und ich Theaterstücke von Körner lasen , was mir viel besser als das ewige Spielen gefällt . Ich habe eine himmlische Puppe bekommen , in die ich verliebt bin . – Ich wickle ihr den Kopf immer in ein Taschentuch , damit er nicht zu sehr verstaubt . 1. November . Heut waren wir wieder in der Schule , wo es mir schrecklicher vorkam denn je , so laut , und ein Geschwirr durcheinander , nicht zum aushalten . Wir hatten Schreibstunde , und ich wollte nicht schreiben ; darum gab ich mir Mühe , unartig zu sein , um einen Punkt zu bekommen und den Kopf auflegen zu können , als weinte ich ; aber ich hatte dann doch nicht den Mut zu der Heldenthat . Gestern habe ich nachbleiben müssen , bei Frl. Gerster in der Religionsstunde , woraus ich mir ebenso wenig gemacht habe , wie aus einem Kuß von ihr . Ich kann sie nicht leiden , weil sie sich an der Nase herumführen läßt wie das unschuldigste Kind , und Frau Hegel nicht , weil sie so heuchelt und fromm thut und es dabei gar nicht ist . Mutter sagt , ich schreibe gut , und darüber freue ich mich . Ich freue mich unsäglich aufs Examen , ich sage nämlich ein Gedicht auf : › Das Glöcklein des Glücks ‹ , und ich werde mein blaues Kleid anziehen . Den 3. November . Ich laufe alle Tage Schlittschuh und amüsiere mich himmlisch . Heut bin ich einem Herrn in die Arme gelaufen , und das finde ich so hübsch . Wir waren bei Kreislers eingeladen und haben abends Chocolade getrunken . Ach , eine herrliche Erinnerung ist diese Chocolade . In der Schule fehlen drei Fräuleins ; es ist große Not , da man die Lehrerinnen nicht auf der Straße findet . Wenn ich manchmal an das Leben in der Schule denke , so kommt es mir so vor , als ob das , was man sonst im Leben Klatscherei nennt , in der Schule am meisten gepflegt wird , als lerne man in der Schule erst die schlechte Denkungsart , als wäre alles Schlechte daselbst in großen Behältern aufbewahrt . 1. Dezember . Wie schade , das Eis , das mich gestern mit so viel Freude erfüllte , heut ist es gebrochen ; man sieht wie alles Irdische vergänglich ist . Prinzens quälen immer so , daß wir zu ihnen kommen sollen , und ich möchte gar nicht gern , weil ich sie nicht mag . Aus meiner Klasse aber möchte ich gern zwei Mädchen zu Freundinnen haben , aber ich weiß gar nicht , wie ich es anfangen soll , besonders Emmy Kaiser . Es kommt mir manchmal vor als gehöre sie gar nicht in die Schule , als sei ihr Geist zu groß für einen so kleinen Wirkungskreis . Camilla Weller ist ein reizendes Mädchen , sehr fleißig , aber sie hat nicht so viel Geist wie Emmy ; Camilla ist der Liebling der ganzen Klasse , so sanft ist sie , während Emmy manchmal hart und stolz ist . Vorgestern waren wir wieder bei Kreislers , wo diesmal die Chocolade angebrannt war . Ich trank aber drei Tassen , weil die andern sie ganz verachteten , das that mir so leid . Wir verkleideten uns , und ich war zu nackig , da sagte die Mutter : › aber Sibillchen ‹ . Das habe ich so übel genommen , daß ich mich gleich auszog ; später versöhnte ich mich wieder . Ich habe neulich mein › Soll und Haben ‹ in der Schule verborgt , ich meine das Buch ; das hat Frau Hegel erfahren , die hat es der Frau Direktor erzählt , und nun dürfen wir keine Bücher mehr verborgen . Um Frau Hegel zu versöhnen , habe ich ihr das Buch geborgt . Ich lese jetzt › In Reih und Glied ‹ und bin ganz bezaubert davon . Ich denke immer bei mir , wem ich ähnlich werden möchte : Leo , Silvia , Amalie , oder Josepha . Ich möchte Leo ähnlich werden , da ich aber ein Mädchen bin , muß ich unter den drei Mädchen wählen , und da gefällt mir Silvia am besten . Ich werde wohl leider Gottes nicht so werden , aber wer kann die Zukunft lesen . 1. Dezember . Am Dienstag in der Religionsstunde war Frl. Peschke so sehr enthusiastisch und schlug immer dabei den Takt mit der Faust auf dem Klavier . In der Geographie sitze ich ziemlich weit unten . Als ich das vorige Mal mit der Straße von Piombino angriff , glaubte ich mit Bestimmtheit heraufzukommen , aber die Erste wußte es , und da sitze ich noch , wo ich saß . Es that mir sehr leid ; ich thue dann immer so , als ob es mir gleich wäre , das ist aber nur Heuchelei . Mit Anna Prinz bin ich noch böse , und sie zeigt mir ihre Feindschaft durch verächtliche Blicke und Worte . Ich freue mich aber sehr darüber , denn es bringt uns immer weiter auseinander . Mutter möchte , daß ich mich versöhne , das kann ich nicht . Ich kann ihr nicht die Hand reichen , nachdem ich die ihre schon zurückgewiesen habe . Das kommt mir ganz furchtbar vor . Sie hat auch noch mein › Soll und Haben ‹ ; ich glaube nicht , daß ich es ganz wiederbekomme . Ich lese jetzt › In Reih und Glied ‹ zum dritten Mal und bin ganz hingerissen , und ich nehme mir fest vor , wie Leo oder Silvia zu werden . Das Ende ist so rührend , daß ich es gar nicht beschreiben kann . Als ich das Buch aus der Hand legte , kam mir unser alltägliches Leben so unwürdig vor . Zu Ostern waren wir bei Dorns eingeladen . Wir suchten auch da Ostereier , aber wie armselig , nur ungefärbte . Zum Kaffee bekamen wir nur Zwieback und nur eine Tasse und – – Kochzucker . Gott wie pauvre . Wir haben in der 2b einen neuen Lehrer , der uns Rechnen und Geographie giebt . Er ist ganz nett , hat mich gefragt , ob ich mit dem Komponisten Dalmar verwandt sei , und ob ich dichten könne . Das erstere habe ich bejaht , das letztere verneint . 3. Dezember . Am vorigen Donnerstag kam Tante Emma mit ihren beiden Kindern an . Lotte ist noch etwas magerer geworden , und Eva hat sich nicht zum Vorteil verändert . Eigentlich waren wir nicht viel zusammen , ich vormittags in der Schule , sie nachmittags aus . Am Montag reisten sie wieder ab . Eigentlich ist es besser so , alles in der alten Ordnung . Es ist doch nicht angenehm , wenn man immer und immer rücksichtsvoll sein muß , ewig thun , was der andere will , denn die Bitte eines Gastes kann man doch nicht gut abschlagen ; und sie wird doch zum Befehl . Ich habe jetzt Tanzstunde und amüsiere mich sehr dabei . Wenn ich sagen sollte , was mich denn eigentlich amüsiere , so wüßte ich nicht zu antworten . An dem Hopsen allein kann man doch kein Vergnügen finden . Den 4. Dezember . Gestern , das war wieder schrecklich in der Schule . Bertha Giese ist ein armes Würmchen und immer so murklich angezogen , und ein schlimmes Auge hat sie auch . Sie bekommt immer nur eine trockene Schrippe mit in die Schule . Gestern aber hatte sie eine Schrippe mit Kuhkäse belegt , und sie schmatzte so recht vor Vergnügen beim Essen . Da ging Frau Hegel an ihr vorüber und schnüffelte so , und da entdeckte sie den Kuhkäse . › Pfui ‹ , sagte sie , › Übelriechendes gehört nicht in die Schule , ‹ und riß ihr die Schrippe weg . Die Bertha , die stand da mit so gräßlich hungrigen Augen und wäre beinahe an dem Bissen im Munde erstickt . Ich weiß nicht , mir stieg das Blut so in den Kopf und ich sagte zu Frau Hegel : › Es giebt noch viel Übelriechenderes in der Schule als Kuhkäse . ‹ Ich meinte damit ihr Benehmen , das wagte ich ihr aber nicht zu sagen . Ich mußte eine ganze Stunde nachsitzen . Es machte mir Spaß , das Nachsitzen , wirklich Spaß . Ich hasse Ungerechtigkeiten . Darum thun mir immer die Armen so sehr leid . Ich weiß überhaupt gar nicht , warum es Arme geben muß . Es ist zu dumm . Wenn ich groß bin , entdecke ich es vielleicht . Am andern Tage kam ich auch mit einem Käsebutterbrot in die Schule ; es war nicht gerade Kuhkäse , nur holländischer . Und ich aß es so recht vor Heglers Nase . Und sie schnüffelte nicht , und that , als sähe sie es nicht . Etsch , Frau Hegler , etsch ! etsch ! 30. Dezember . Lange , lange habe ich nichts eingeschrieben ; ich will aber auch sagen warum , damit ich mich später über den langen Zwischenraum nicht ärgre . Das Tagebuch war weg . Ich habe Auerbachs Dorfgeschichten gelesen , sie gefallen mir himmlisch . Übrigens , was ich da neulich über die Tanzstunde eingeschrieben habe , hatte ich bloß aufgeschnappt ; das Hopsen und Springen macht mir doch Vergnügen . Den 1. Januar 1868 . Ein neues Jahr hat angefangen , – jetzt schreibt man 1868 . Das kommt mir ganz wunderbar vor . Wie schnell das geht . Und wenn ich erst darüber nachdenke , was habe ich denn eigentlich in dem langen Jahre gethan ? Nicht einmal das dumme Büchlein konnte ich ausschreiben , und ich will Schriftstellerin werden . Ich will mich aber ändern und in diesem Jahr fleißiger werden . 6. Januar . Gestern nahm mich Vater zu einem Kaffee mit , wo nur Erwachsene waren . Ich habe mich sehr gut unterhalten ; zwar unterhalten eigentlich nicht , sondern zugehört . Dann schmeckte mir auch der Kuchen und das Eis herrlich . Am Sonnabend bin ich in Englisch in die erste Abteilung gekommen . Alle Kinder murrten und meinten , sie hätten ebenso gut in die erste Abteilung kommen können ; ich habe mich aber nicht daran gekehrt . In der Schule werde ich von Emmy Kaiser der angehende Blaustrumpf genannt . Unser Direktor , Herr Vogel , lobt immer Emmy Kaiser und Sibilla Dalmar , und die anderen müssen zuhören . 31. Januar . Meiner Treu ! Bin ich aber ein Faulpelz . Über vierzehn Tage nichts eingeschrieben , Noch nicht das neue Buch angefangen ! Aber was soll man denn eigentlich einschreiben ? Richtig , ich war am vorigen Sonntag bei Prinzens . Gar nicht amüsiert . Wir thaten gar nichts , sondern mußten mit anhören , wie Herr Prinz ein Karnevalsfest beschrieb , Frau M.s himmlischen Nacken in den Himmel erhob und ähnliches . Herr Prinz ist immer so albern zu mir , ich kann wirklich seine Späße nicht anders nennen. Z.B. sagte er immer : › Ich bete Dich an , Sibilla , Du machst mich unglücklich , ‹ und noch mehr solch Zeug , das doch , wenn es auch ein Scherz sein soll , ganz unsinnig ist . Wenn Camilla und Emmy bei mir sind , kochen wir oft auf der Kochmaschine . Neulich kochten wir zuerst höchst wohlschmeckende Chocolade , dann ganz prächtigen Eierkuchen mit Apfelmus und Apfelschnittchen und zum Nachessen Chocoladencrême . Nein , was kann ich denn bloß noch schreiben , denn später wird es mir doch nicht mehr interessant erscheinen , daß Frau Hegel fehlt und daß wir deshalb in der Stunde von 12–1 Uhr großen Unsinn gemacht haben , oder soll ich schreiben , daß am Sonnabend die Tanzstunde bei uns war und daß Cousine Anna , die gekommen war , uns so gut unterhielt , daß alle bis 9 Uhr blieben . So , nun steht es doch wenigstens hier und ich kann mich in meinem späteren Alter daran ergötzen . Anna ist ein außergewöhnliches kluges , liebenswürdiges Mädchen , die ich mir zur Freundin wünsche , denn eine Freundin genügt mir nicht . Die eine , die ich habe , ist mein Camillchen . In der Schule gefällt es mir gar nicht , wenigstens nicht die Kinder . Es sind fast alle Strohköpfe ! Sogar Emmy Kaiser , die ich früher anbetete , ist eingebildet und zänkisch , sie weiß nur mehr als die andern . Wäre ich doch nur erst aus der Schule ! Ich kann es manchmal nicht aushalten , wenn die andern so jedes Wort herauswürgen , und dann sage ich es , und dann heißt es wieder : Gott nein , immerzu sagt Sibilla Dalmar vor , weil sie sich einbildet klüger zu sein als wir alle . 3. Februar . Heute rief mir ein Junge › Judenschicksel ‹ nach . Ich weiß nicht , warum , vielleicht weil meine Zöpfe sehr lang waren und mit roten Bändern eingeflochten . Ich lief ihm nach und wollte ihm etwas thun , er lief aber schneller . Wenn mich einer beleidigen will , so könnte ich ihn – totschlagen , nein , so arg nicht , aber ihn prügeln , prügeln , und mich freu'n , wenn er recht schrie . Mutter nennt mich manchmal kleine Furie . Ich hoffe so sehr , daß ich nach der 2a komme . Ich könnte es gar nicht aushalten , wenn es nicht der Fall wäre . Ich bin so fürchterlich ehrgeizig . Dann werde ich wohl auch das englische Gedicht aufsagen , das heißt , ich will ! Ich sollte eigentlich das französische mit zwei andern zusammen aufsagen , und Herr Vogel war auch schon einverstanden damit , und da wollte ich plötzlich nicht , ich glaube aus Eifersucht . Ich hätte mich so gefreut , das Ganze allein aufzusagen , und da wollte ich lieber gar nicht . Und nachher ärgerte ich mich so , nicht , weil ich nun das Gedicht nicht aufsage , sondern weil ich mich so albern benommen habe . Am Nachmittag sagte mir Herr Simons , wenn ich das , was die erste Abteilung rechnet , nicht mit zu rechnen im stande wäre , so könnte er mich nicht in die 2a versetzen . Meine Stimmung war ohnehin schon nicht die beste , und ich weinte , ich weinte ! Oh , ich Dummkopf ! ich Dummkopf !!!!!!!! 5. April . Es war eine große und ereignisreiche Zeit , die letzte Woche . Am Donnerstag hatten wir das unsinnigste aller Examen . In dem Vierteljahr von Weihnachten an war uns alles schon eingelernt worden . Ich sagte das englische Gedicht auf , wie ich es mir in den Kopf gesetzt hatte . Die Martha Franz sagte dann das deutsche Gedicht ; ich kann nicht begreifen , wie ein Mensch um solcher geringfügigen Sache willen so zittern kann , wie sie es gethan hat . Abends kam Grete Stadler zu mir , die alle das Wunderkind nennen . Sie ist schon erwachsen , 16 Jahr alt ; sie erzählte mir Geschichten , und sie und die Geschichten gefallen mir sehr gut . Gestern war der große Tag der Versetzung . Nach einer langen Rede , die mich mehrmals zum Lachen brachte , wurde vorgelesen , wer versetzt würde . Als die Versetzungen nach 2a an die Reihe kamen , fing der Herr Direktor so an : › Ich werde mit der letzten anfangen , die eigentlich noch gar kein Recht hat , nach 2a zu kommen , weil sie zu jung ist ( man wirft mir bedeutsame Blicke zu ) , die aber meiner Meinung nach Euch alle übertrifft : Sibilla Dalmar ! ‹ Meine Freude war und ist noch grenzenlos . Emmy Kaiser wird jetzt nicht mehr mit verachtendem Stolze auf mich niedersehen . Sie äußerte neulich , ich wolle sie alle beherrschen . Pah , das will ich auch . 8. April . Gestern hatten meine Eltern Besuch . Die Frau von dem Dichter F. ( ich schreibe keine Namen aus , sonst geht es mir am Ende wie meiner Cousine Anna ; die führte auch ein Tagebuch , als sie zum Logierbesuch bei einer unangenehmen Tante war . Und das Tagebuch ließ sie einmal liegen , die Tante las all die schrecklichen Sachen , die sie über sie geschrieben , und Cousinchen wurde natürlich an die Luft gesetzt ) . – Also die Frau F. hatte ich mir viel jünger und hübscher gedacht . Sie hat so viel Falten um die Augen , besonders wenn sie lacht . Herr Tau ... war auch da , ein großer Virtuose und der Abgeordnete Herr Las ... Der hat mir sehr gut gefallen . Er spricht so interessant , kurz und klug , er hat mir von allen am besten gefallen . 16. April . Ich muß doch eigentlich auch in das Buch schreiben , wenn ich mich schlecht benommen habe , und mich nicht immer loben . Cousine Anna , die seit einigen Monaten bei uns wohnt , und ich , wir waren also am Mittwoch sehr ungezogen . Anna las im Bett aus einem verbotenen Buch . ( Ich muß zu meiner Schande gestehen , ich würde es auch thun , wenn ich nicht mit Mutti in einem Zimmer schliefe . ) Ich machte Anna heftige Vorwürfe , und als sie da weiter las , schlug ich sie und hielt die Thür zu , weil sie mich wieder schlagen wollte ; da zerschlug sie das Glas in der Thür und that sich sehr weh . Vater war , ich glaube zum ersten Mal , sehr böse auf mich . Nachher bat ich ihn um Verzeihung ; er ist so gut und verzieh mir . Ob ich Anna wohl geschlagen habe , weil sie das Buch las und nicht ich ? So , nun steht doch wenigstens eine Schandthat von mir hier . Ich lese jetzt › Die Pickwicker ! ‹ Sie gefallen mir sehr gut , trotzdem Mutti lachte , als sie das Buch in meiner Hand sah , und meinte , ich könnte es unmöglich verstehen . Vorher blätterte ich in der Bibel , sie ist gar nicht so langweilig , wie ich immer dachte , sondern im Gegenteil sehr unterhaltend . 30. April . Seit 14 Tagen habe ich dich , holdseliges Buch , nicht in Händen gehabt . Damals waren noch Ferien , nun sitze ich schon seit 1 1/2 Woche in 2a . Es gefällt mir recht gut , wenn auch anfangs ein paar Gänschen über mich lachten , was sie jetzt hübsch bleiben lassen . Die drei Lehrer sind recht nett , am besten gefällt mir Doktor Heckel , der ist am energischsten und weiß zu erreichen , was er will . Dann kommt Doktor Bender , der sich alles gefallen läßt . Höchstens sagt er : › Sie bringen mich zur Verzweiflung ‹ oder › Ich bitte Sie um alles in der Welt , das geht nicht so . ‹ Darüber muß ich immer lachen , daß er anstatt g , j sagt . Der dritte , der Doktor Schell – ein Murrkopf . 30. Mai . Ich habe hier ein Blatt ausgerissen , auf dem lauter Unsinn stand , und daher hat das , was ich jetzt schreibe , gar keinen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden . Was will ich eigentlich schreiben ? Mir ist so wirr im Kopf . In der Schule reden immer alle über mich . Neulich war Frau Hegel sehr ungerecht gegen mich . Ich mußte mich die ganze Stunde in acht nehmen , nicht zu weinen . Als aber alle weg waren , außer Frau Hegel und Nette Günzer , da fing ich an fürchterlich zu weinen , und dann lachte ich wieder , und das Ende vom Liede war , daß ich Frau Hegel bat , niemandem zu erzählen , wie albern ich gewesen war , und ich glaube , Frau Hegel und Nette ängstigten sich etwas , ich glaube , das war mir nicht unangenehm . Warum war sie so ungerecht !! 17. Mai . Gestern feierten wir das herrlichste Fest , das vor 49 Jahren der Welt den großen Künstler Dalmar ( mein Vater ) schenkte . Grete und ich , wir hatten zu dem Geburtstag ein Theaterstück gelernt – › Rotkäppchen ‹ von Tiek . Ich war das Rotkäppchen , ich glaube ein recht hübsches . Wir spielten es vormittags , und nachmittags noch einmal , und Cousine Else war der Wolf . Sein Fell war aus lauter Pelzkragen zusammengeheftet . Else weinte erst , sie schämte sich herauszukommen . 31. Mai . Erster Pfingstfeiertag . Wir haben das Vorderzimmer ganz mit Maien geschmückt . Sieht das hübsch aus ! und wie es duftet ! Nachmittag fuhren wir nach einem Ort , der Lichterfelde heißt . An und für sich ist der Ort nichts weniger wie hübsch , ein paar kahle Villen und verkrüppelte Kiefern . Das Essen aber in der Restauration , das schmeckte mir sehr gut . Dann aber kam ein Gewitter . Ich fürchte mich immer schrecklich vor Gewittern . 5. Juni . O , mein Gott , ist das heut' langweilig . Vater und Mutter sind nach Charlottenburg gefahren und wir können in der schönen Luft keinen ordentlichen Spaziergang machen . Ich war zwar unten , aber wo sollte ich denn hin ? immerzu bei Milenz vorbeigehen , wo so viele Leute sind ? Im Hintergarten sitzen die Wirte , im Vorgarten ein altes Fräulein mit dem Gesangbuch in der Hand . Wohin ? Ich wollte , ich könnte auch ein wenig spazieren fahren , oder in irgend einem Lokal wie › Krugs Garten ‹ oder › Moritzhof ‹ Kaffee trinken . Aber nichts . – Lesen mag ich auch nicht mehr , über uns klimpern die Kinder auf dem Klavier , und so heiß ist es , so heiß . Ach , ich habe schon solches Kopfweh , und bin so müde , trotzdem es noch ganz früh ist . Ich dächte gerade , ich hätte nun genug geklagt . Buch zu . 23. Juni . Ich habe schon wieder seit vielen Tagen nichts eingeschrieben . Heut vor 8 Tagen hat unsere ganze Klasse eine Partie nach den Pichelsbergen gemacht . Wir fuhren dabei über die Havel , die viel breiter ist , als ich mir gedacht habe . Ich habe mich sehr gut amüsiert , weiß aber doch nicht , was ich darüber schreiben soll . Ach , ich bin so müde , und es ist so heiß , ich habe so viel gearbeitet . Frau Hegel hat heute gesagt , ich wäre nicht mehr die fleißige Schülerin von ehemals , ich fühle , es ist wahr . Ich weiß gar nicht , wie das gekommen ist . Ich habe mir vorgenommen , nun ganz anders zu werden , darum habe ich auch jetzt in der Hitze so viel gearbeitet . Ich wollte bloß , die Cousine wäre erst weg , denn es ist bald nicht mehr zum aushalten mit dem Kinde , ich hasse sie , und die anderen lieben sie auch nicht . 16. September . Wieder habe ich fast ein viertel Jahr nichts in das Buch geschrieben . Ich bin jetzt 12 Jahr . Als ich das vorige Mal einschrieb , war ich noch 11 Jahr . Wie schnell das wechselt , ich denke immer , ich bin noch 11 , ich weiß nicht warum . Außer vielen Geschenken wurde mir zum Geburtstag noch etwas sehr Hübsches aufgebaut , und das war Gretchen . Am Tag vor meinem Geburtstag waren wir abends bei Günzers eingeladen gewesen , und so kam es , daß ich nicht merkte , daß Grete die Nacht über bei uns geblieben war . Als ich am nächsten Morgen aufgebaut bekam , stand sie auf dem Tisch , in ein weißes Laken gehüllt , mit einem grünen Kranz über dem aufgelösten Haar . Am Nachmittag kam Camilla , wir amüsierten uns sehr . Ich bin so entsetzlich matt und müde , aber ich kann nicht schlafen . Ach , es ist so heiß heute und ich habe so viel gelesen . 22. September . Ach , ich bin jetzt so faul in der Schule , beim Aufstehen und überhaupt immer . Heut war ich sehr ungezogen und bin in abscheulicher Stimmung , weil Vater böse auf mich war . Ich dachte , er wüßte von meiner Unart nichts . Ich begreife gar nicht , wie Mutter es ihm sagen konnte . Als er nach Hause kam , sagte ich ihm ganz ahnungslos › Guten Tag ‹ , er aber antwortete mir gar nichts , auch abends nicht . Ich muß nur schnell von etwas anderem sprechen . Neulich an Annas Geburtstag war Grete da . Wie habe ich die eine Zeit lieb gehabt , doch jetzt ist die Liebe verrauscht und sie ist mir gleichgültig , manchmal kann ich sie sogar nicht leiden . Ich mag nicht , daß sie zu Muttern so zärtlich ist und sie › Mama ‹ nennt , überhaupt an Zärtlichkeit fehlt es ihr nicht , es ist das mit ein Hauptgrund , warum ich sie nicht mehr leiden kann . Ich habe jetzt eine neue Freundin in der Schule , Hedda Rank , ein sehr kluges Mädchen . Sie ist erst seit Ostern in der Schule , und da sie klug ist , ist sie natürlich den anderen verhaßt , und wenn die Dummen dann über sie lachen , dann weint sie . Das ist freilich nicht klug . Wir haben Ferien . Gott sei Dank . Leider nicht lange . Ich habe jetzt keine Lust zum Schreiben . 13. Januar 1869 . Mein Gott , wie lange habe ich nichts in dies Buch geschrieben , recht dumm von mir , denn welche kleine Mühe macht es mir , und welche große Freude werde ich später einmal davon haben , wie Mutter wenigstens sagt . Weihnachten war es sehr vergnügt . So viel Geschenke bekam ich . Grete hat wieder vom 2. Feiertag bis gestern hier bei uns gewohnt . Ich kann sie jetzt wieder besser leiden , ich liebe sie nicht , aber ich bin ihr ziemlich gut . Eigentlich glaube ich nicht , daß sie viel Talent hat , denn neulich las sie uns ein ganz einfaches Gedicht vor › Das Grab am Busento ‹ und › Die Grenadiere ‹ , und sie las es so herzlich schlecht , daß alle sagten , ich hätte es besser gelesen , und das muß ich auch selbst sagen , ohne mich loben zu wollen . Was aber Grete bei ihrem Lehrer durchgenommen hat , macht sie recht gut , manchmal sogar sehr ergreifend . Ich bin heut aus der Schule geblieben , weil mir nicht wohl war . Ich gehe so ungern in die Schule , ich kann gar nicht sagen wie . Ich will ja fleißig sein , will viel , sehr viel lernen , aber es geht ja nicht in der Schule . Frau Hegel hat uns die Bibel als das beste Buch empfohlen , in dem wir fleißig lesen sollen . Nun befolgen wir ihr Gebot . Grete , Anna und ich , wir haben uns neulich Abend hingesetzt und die schönsten Stellen ausgesucht von – aber nein , das ist zu häßlich , ich schreibe es nicht . Nun , so thun wir doch Frau Hegels Willen . Außer der Bibel lese ich jetzt Zschokkes Novellen . Zum Teil recht niedlich , zum Teil ein bißchen langweilig . 9. Februar . Ich erlebe jetzt sehr viel und doch wird mir die Zeit so erschrecklich lang , nein , eigentlich sehr kurz , denn wenn ein Tag vorbei ist , weiß ich gar nicht , was ich überhaupt die ganze Zeit gethan habe , ich bin so überdrüssig . Prutz meinte neulich in seinem Vortrag , ein jeder Mensch müßte so eine Zeit einmal haben , in der er ohne Grund traurig wäre , in der er tot sein möchte . Na , zu Grabe getragen werden möchte ich doch noch nicht . Es thut mir sehr leid , daß die Vorträge von Prutz schon zu Ende sind . Sie haben mir sehr gefallen . Ich freute mich immer schon auf den Tag , und war ungeduldig ; schade , daß es nun vorbei ist . Ich habe sehr viel dabei gelernt , ich habe einigermaßen einen Begriff bekommen von der Litteratur des 18. Jahrhunderts , von der ich nicht das geringste wußte . Ich weiß nicht , mir schwebt immer ein ganz gleichgültiger Vorfall vor , bei dem mir aber unrecht geschah . Ich war erst 5 Jahre alt . In unserem Hause wohnte eine alte Frau , bei der hatte der kleine Knabe vom Wirt schrecklich geklingelt , die alte Frau lief auf den Hof , mir wurde die Schuld zugeschoben , und ich bekam eine fürchterliche Strafrede . Dieser geringfügige Vorfall ist mir nie aus dem Gedächtnis geschwunden ; Kinder behalten ja immer , wenn ihnen unrecht geschieht . Jetzt bin ich nicht mehr so , im Gegenteil , ich behalte besser im Gedächtnis , wenn jemand etwas Gutes und Hübsches zu mir oder von mir sagt . Neulich war Gesellschaft bei Löwes . Vater nahm mich mit , obgleich es Mutter sehr unrecht fand . Ich habe mich noch nie so gut amüsiert . Es war eine ausgewählte Gesellschaft , meist Schriftsteller und Kritiker. Fr ... vertrat das letztere Fach . Mit dem habe ich Brüderschaft getrunken und auch mit Auer ... Auer ... ist ein reizender Mensch . Ich kann ihn nicht nur gut leiden , ich habe ihn auch lieb . Wolt ... war auch da . Grete neckte mich eine Zeit lang mit Wolt ... Zu dumm ! Wenn man jemand gern mag , muß man darum verliebt in ihn sein ? Dann war Julius M .... da . Er findet mich sehr hübsch , er hat es mir gesagt . Es macht mich sehr , sehr glücklich , wenn mich jemand hübsch findet . Er hat mir immerzu Schmeicheleien gesagt , das macht mich verlegen , und ich gerate nicht gern in Verlegenheit . Uebrigens ist unser Gefallen aneinander gegenseitig . Ich finde ihn sehr nett . Nett ist ein dummes Wort , ich meine etwas ganz anderes , ich kann mich gar nicht ausdrücken Er hat uns auch schon einen Besuch gemacht . Er hat eine Tochter , ebenso alt wie ich . Auerb ... habe ich auch gebeten , uns zu besuchen , und er hat versprochen zu kommen . Ich habe ein Vielliebchen von ihm gewonnen und mir eines seiner Werke gewünscht . Ich hoffe , er wird 's nicht vergessen . Wie langweilig war dagegen die Geburtstagsfeier von Cousine Anna . Wenn man das Fest mit der Gesellschaft am Tage vorher vergleicht , muß man lächeln . Und ich lächelte auch , als Anna zu mir sagte , daß ich mich doch unzweifelhaft heut besser amüsierte als gestern . Das gute Kind kam mir so naiv vor mit seiner Frage . Sie kann sich nichts vorstellen , das über eine Punschtorte und ein Glas Champagner geht . Ich legte gestern Prutz einen Lorbeerkranz hin zum Abschied . Nachher that 's mir leid , daß ich es übernommen hatte , denn der Kranz sah schrecklich ruppig aus . 22. März . Was habe ich nicht alles erlebt in diesen letzten Monaten ! Es war eine ereignisreiche , darum nur allzu schnell vergangene Zeit . Womit soll ich meinen Bericht anfangen ? Ich werde mit etwas beginnen , was uns auch für die nächste Zeit wahrscheinlich viel beschäftigen wird . Vater wünscht nämlich , wir sollen Berlin verlassen . Ich fände es wahrhaft schrecklich , wenn wir in einer kleinen Stadt leben sollten . Vater ist zu einem Musikfest nach Weimar gefahren . Ich kann mir recht gut denken , daß es ihm dort gefällt , wenigstens für einige Zeit . Er wird bewundert , gefeiert , aber wir ? Wir sind nicht berühmt , man wird uns kaum beachten . So egoistisch es auch ist , ich ärgere mich manchmal darüber , daß Vater sich so gut amüsiert , und besonders über eine Äußerung von ihm , daß er sich so wohl fühlt , wie seit 20 Jahren nicht . Wenn es ihm gefällt , wenn er sich amüsiert , gut , das thue ich ja auch , aber daß es ihm ohne uns besser gefällt , das kann ich ihm nicht verzeihen . Gestern bekamen wir Censuren . Meine ist sehr schlecht , ich bin aber ganz zufrieden . Nämlich alle geben zu , daß ich erzfaul gewesen bin und zerstreut und unaufmerksam , aber meine Fortschritte loben sie alle . Das ist mir eine rechte Befriedigung , denn es beweist mir , daß ich nicht dumm bin , was ich übrigens längst wußte . Fräulein Glaser verließ die Schule mit einer rührenden Abschiedsfeier . Unsere Klasse hatte ihr den Goethe geschenkt und ich hatte ihr ein Gedicht dazu gemacht , ein bißchen hat mir Mutter dabei geholfen . Es lautet : Du scheidest , und Du wirst nicht wiederkehren , Was Dein an Glauben und an reichem Wissen , Du gabst es uns , in Beispiel und in Lehren . Ach , Teure , schmerzlich werden wir dich missen . ( Na , na ! ) Fahr wohl ! Es lächle Dir zu allen Zeiten Das Leben nur im heiteren Festgewand , Und unsere Wünsche mögen Dich geleiten , Hast Du Dich treulos auch von uns gewandt . ( Hier fing sie an zu heulen und sich zu verteidigen . ) Und wandelst Du auf Goethes Zauberfluren Am Wunderstrom , wo nie versiegt die Quelle , So denke derer , die jetzt Deinen Spuren Nachweinen , Vorbild Du , uns leuchtend helle . Und bist Du leiblich uns auch längst entschwunden , Du lebst in unserm Herzen jetzt und immer , Du wirkest fort – wir sind an Dich gebunden Und uns umstrahlt von Deinem Geist ein Schimmer . ( Gut gelogen , Sibillchen . ) Dies Gedicht habe ich eigentlich nur eingeschrieben , um Raum zu füllen . Ich habe mir nämlich vorgenommen , in möglichst kurzer Zeit dies Buch auszufüllen . Ich war in einer Gesellschaft bei Rosa Bär . Dort war auch Trudchen Henning , die so fremd und herablassend zu mir that . Auch ihre Schwester Alice hat , wenn ich ihr einmal begegne , ein eigentümliches Wesen zu mir , so leutselig . Sie haben bei Vater Musikunterricht . Es macht mir immer den Eindruck , als ob ihr Vater zu ihnen gesagt hätte : › Seid recht freundlich zu den armen Dalmars . ‹ Ich will ihre Freundlichkeit nicht . Sie sollen sie für sich behalten , die geldstolzen Hennings . Geld ! Geld ! kommt mir manchmal so ordinär vor . Heut , als ich mit Mutter im Tiergarten spazieren ging , sahen wir einen sehr prachtvollen Kinderwagen , in dem lag ein prachtvoll geputztes Kind mit dicken , rosigen Bäckchen , und eine noch viel prachtvollere Spreewälderin schob den Wagen . Als wir das Kind und den Wagen und die Amme bewunderten , kam eine arme Frau heran mit einem zerrissenen Umschlagetuch . Sie hatte auf dem Arm ein Kind , das war nur Haut und Knochen und nur in eine Art Lumpen eingewickelt . Das vermagerte Ding kreischte vor Vergnügen über den schönen Wagen und wollte dem prachtvollen Kind Händchen geben . Ganz empört stieß die prachtvolle Amme das magere Händchen – schmutzig war es ja – zurück und fuhr schnell davon . Was Kinder für sonderbare Augen haben können . Ich kann die Augen von dem Haut- und Knochenkind nicht vergessen . Ob es wahr ist , was in der Bibel steht : › Der Herr , der die Lilien wachsen läßt u. s.w . ‹ Frau G. ermahnt uns immer , recht bibelgläubig zu sein . Wenn nur die armen Kinder von Bibelsprüchen satt würden ! Eisenach , den 29. April 1869 . Wenn ich nach langen Jahren dieses Buch überlesen werde , so werde ich mich natürlich fragen , wie kam ich damals so plötzlich nach Eisenach ? Um dann nicht lange darüber nachdenken zu müssen , schreibe ich hier einfach den Grund . Mutter ist im Winter recht krank gewesen : Gelenkrheumatismus ; sie sollte früh aufs Land . Sie wählte Eisenach , weil da eine sehr gute Pension für mich sein soll . Ich passe doch gar nicht in eine Pension . Vater ist in der Nähe von Dresden auf den Landsitz eines Freundes gereist , um , wie er sagt , die letzte Feile an seinen Merlin zu legen . Es ist recht häßlich von mir , aber wie ich Vatern kenne , legt er die Feile doch nicht an . Die Gegend um Eisenach ist sehr schön . Jeden Tag entdecken wir neue Schönheiten . Die Wartburg haben wir immer vor Augen . O , es ist wundervoll , wenn sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in ihren Fenstern wiederspiegeln . Es scheint dann , als ob ein flammendes Meer sich darüber ergösse , bis der Schein nach und nach matter wird und endlich die glühende Röte sich in ein dunkles Lila verwandelt und der Abendstern hoch und hehr darüber schwebt . Unsere Wohnung ist hübsch und geräumig . Und die Schule – besser als unsere in Berlin ist sie jedenfalls . Auch eine Bibliothek giebt 's hier und was für eine ! Ein paar Novellen und Romane , hauptsächlich aber Ritter- und Räubergeschichten . 10. Juni . Als ich eben das Vorhergehende überlas , wollte ich die paar Seiten ausreißen , nur , um mich nicht immer über meine Albernheiten ärgern zu müssen ; etwas schildern zu wollen , was ich nicht kann , und etwas empfinden zu wollen , was ich nicht empfinde . Ich finde es ja hier recht schön , aber ich kann nicht sagen , daß mich die Natur sehr ergriffe oder rührte , wie ich mir in den letzten Seiten den Anstrich geben will . Vater war hier . Wir haben eine kleine Reise durch Thüringen gemacht . Zu Haus konnte ich mich gar nicht wieder an das langweilige Leben gewöhnen . Tag für Tag in die Schule zu gehen , Schularbeiten zu machen und mit Amanda Schulz , meiner Freundin ( weil ich keine andere habe ) , spazieren zu gehen . Ich möchte wohl noch etwas schreiben , aber da ruft schon wieder die dumme Schule . 31. Juli . Wie die Zeit so rasend schnell verstreicht . Schon wieder über einen Monat voller Langweile , seit ich zum letzten Male eingeschrieben habe . Viel ist seitdem nicht vorgekommen . Das vorige Mal sprach ich mit meiner Freundin Amanda Schulz , jetzt muß ich von meiner Feindin Amanda Schulz erzählen . Ich konnte das Mädchen von vornherein nicht leiden , und habe keine Ahnung , wie so urplötzlich unsere innige Freundschaft gekommen war , denn wir passen gar nicht , aber gar nicht zusammen . Ich war sogar ihretwegen einige Mal recht böse auf Julie Herbig , von der ich es recht unfein fand , daß sie immerfort sagte , mit einem solchen Mädchen würde sie nie umgehen , und sie wußte doch , daß ich mit Amanda befreundet war . Es ist wahr , Amanda ist ganz oberflächlich , es ist ihr unmöglich , etwas ernstes vorzunehmen . Ihre höchste Seligkeit ist , wenn ein paar dumme Gymnasiasten sich in sie verlieben und ihr nachlaufen . Die Ursache unseres Zankes war nun folgende . Ich ging mit aufgelöstem Haar spazieren ( offen gestanden macht es mir Vergnügen , wenn die Leute sich nach mir umsehen ) und Amanda , die ganz Kleinstädterin ist , wollte so nicht mit mir gehen . Es ist unanständig , sagte sie , und flechtest Du Dir nicht augenblicklich die Haare ein , so gehe ich fort und komme nie wieder . Ich ließ sie gehen , und bis jetzt hat sie , Gott sei Dank , ihr Versprechen gehalten ! Doch genug von der langweiligen Amanda . Ich habe jetzt Consuelo gelesen . Es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht . Ach , hätte ich doch auch eine so schöne Stimme . 31. Januar 1870 . Seitdem ich nichts in dieses Buch geschrieben – es ist ein halbes Jahr her , bin ich um viele Erfahrungen reicher geworden . Vater , der noch den ganzen Winter über in Dresden an seinem Merlin arbeitet , wünschte , daß ich in Eisenach in der Pension bleiben sollte . Ich wollte aber nicht , ich wollte nicht , ich sträubte mich dagegen mit aller Macht , warum , weiß ich eigentlich selbst nicht zu sagen . Ich dachte es mir entsetzlich in der Pension zu sein , ohne freien Willen , immer mit allen anderen zum Spazierengehen ausgetrieben zu werden , wie eine Herde Schafe , pardon Lämmer , dabei tödliche Langweile . Und ich setzte es durch , nach vielen Kämpfen und vergossenen Thränen . Wir kamen glücklich in Berlin an , und nach einigen Bummeltagen wurde ich in die Schule von Frau H. gesteckt , welche Dame wir mit Tante anreden mußten . Diese Schule nun ist süß , entzückend , balsamisch , berauschend . Ich gehe mit Entzücken hin . Wir haben aber auch reizende Lehrer . Zuerst mein Liebling , der Geschichtslehrer Dr. G . Er ist ein hübscher Mann von Witz , Geist , Humor , Ironie , kurz , er hat alle möglichen Vorzüge , nur ist er ein wenig , sagen wir sehr exaltiert . Dann kommt der Professor L. , der Schwarm aller jungen Mädchen , gewissermaßen meiner auch . Bei ihm haben wir Aufsätze , die mir teils gelingen , teils auch nicht . Lesen und Gedicht bezeichnet er in meiner Censur als talentvoll . Professor H. unterrichtet , ist aber kein Schulmeister . Wir thun bei ihm was wir wollen . Dr. K . Der unselige Mann unterrichtet in zwei mir verhaßten Gegenständen : Rechnen und Physik ; das dient nicht dazu , ihn mir angenehmer zu machen . Professor L. ein orthodoxer Herr . Miß N. eine dumme Trine . 11. März . Nach langer Unterbrechung nehme ich den Faden meiner Erzählung wieder auf . Mutter ist fort , zu einer kranken Schwester nach Stuttgart gereist , sie bleibt vielleicht Monate lang fort , und ich bin allein hier , bei den Großeltern . Die ersten Tage glaubte ich es nicht ertragen zu können , ohne sie zu leben , heimlich vergoß ich bittere Thränen . Doch der erste Schmerz der Trennung legte sich . Wir schreiben uns ganz regelmäßig , teilen uns alle Erlebnisse mit , aber von meiner Sehnsucht schreibe ich kein Wort mehr , seitdem die kranke Tante aus Stuttgart an Großmama geschrieben hat , was ich für lamentable Briefe schriebe . Ich kann 's nicht leiden , wenn eine dritte fremde Person das liest , was nur für meine geliebte Mutter bestimmt ist . Zu Weihnachten habe ich mich hier so unglücklich gefühlt , daß ich aus Mitleid mit mir selbst hätte weinen können . Mein einziger Trost war wirklich die Schule , wo ich mich durch Übermut und Unart für die häusliche Sittsamkeit entschädigte . Das wurde mir aber in der Censur eingetränkt , die vielen Einzelrüffel abgerechnet . Gerade als ich 4 Wochen bei Großmama war , mußte sie nach Breslau zu einem verheirateten Sohn reisen , und ich kam zu der Familie Haller , mit der Vater sehr befreundet ist , und wo ich 4 Wochen blieb . Es gefiel mir hier ungleich besser als bei Großmama , doch glücklich war ich auch hier nicht . Marie Haller , meine Schulfreundin , und ich , wir sind zu ungleiche Naturen , um in Frieden nebeneinander leben zu können . Sie ist klug , aber sie ist ein Kind , und das bin ich nicht mehr , vielleicht bin ich es nie gewesen . Wir wurden nun auch wie Kinder behandelt , und daran bin ich nicht gewöhnt , weder von Mutter noch von Großmama . In der Schule gefällt es mir noch immer ausgezeichnet , trotzdem ich meine Meinung in Bezug auf mehrere Lehrer geändert habe . Zum Beispiel Professor L. ist nicht mehr mein Schwarm , sondern ist zu einem langweiligen Peter zusammengeschrumpft , der sich das Air unermeßlicher Gelehrsamkeit zu geben weiß . Die Tante selbst kann manchmal außerordentlich liebenswürdig sein und manchmal wieder das Gegenteil . Von jemand , der mich ganz besonders interessiert , habe ich noch gar nicht gesprochen , das ist meine einzige Freundin Timäa Burg ; ihre Mutter ist eine Ungarin , daher der Name Timäa . Sie ist mir ein Rätsel . Eins steht fest , sie ist sehr klug , sehr originell und sehr launenhaft . Ich habe mir schon mehr von ihr bieten lassen als von irgend wem , doch alles hat seine Grenze , und als sie sich neulich sehr unfreundlich benahm , war ich zum ersten Mal ernstlich böse ; zu meiner Verwunderung fing sie am nächsten Tag an , die Versöhnung anzubahnen . Ihre Mutter habe ihr gesagt , sie müsse mich um Verzeihung bitten , und dabei sah sie mich so an , als wollte sie sagen : es thut mir leid , daß ich Dich beleidigt habe , aber ich kann nicht abbitten . Da fiel ich ihr um den Hals und sagte , daß ich ihr nicht mehr böse sei . Timäa ist nun einmal so sonderbar , gar nicht wie andere Mädchen , aber sie muß sich doch auch beherrschen lernen , denn wie Goethe sagt : › Wer sich nicht selbst befiehlt , bleibt immer ein Knecht . ‹ 15. Mai 1870 . Am Mittwoch gehe ich für diesen Sommer zum letzten Male in meine vielgeliebte Schule . Meine Gefühle sind geteilt . Einmal zieht 's mich nach Eisenach , wo ich Vater und Mutter treffe , und dann wieder möchte ich mit aller Leidenschaft hierbleiben , und der Gedanke an die Pension erfüllt mich mit Schrecken . Eisenach , 2. August 70. Schon wieder hat sich alles gewendet und verändert , und wenn ich alles nachtragen wollte , was ich in diesem Zeitraum erlebt , würde ich Tage dazu brauchen . Ich will darum nur die wichtigsten Ereignisse niederschreiben . Berlin habe ich am 23. Mai verlassen mit unendlichem Bedauern , das sich natürlich nur auf die Schule bezieht . Der Professor G. hielt mir eine schöne große Abschiedsrede , bei der ich beinahe Thränen vergossen hätte . › Wirken Sie nur auf Timäa , ‹ sagte er unter anderem , › damit treten Sie ein in den apostolischen Beruf der Menschheit . Sie haben ein großes und gutes Gemüt , ich weiß es ! Leben Sie wohl , Sibilla , Gott mit Ihnen ! ‹ Ein großes und gutes Gemüt habe ich ? In Weimar erwartete mich Vater , der sich dort zum Besuch einige Wochen aufhält . O war ich glücklich , als ich ihn sah . Was für ein anderes Leben mit jemand , den man lieb hat , zusammen zu sein , als immer nur mit gleichgültigen Menschen . In Weimar , hatte ich sehr viel Vergnügen , so viel wie nie zuvor , doch ich muß sagen , ich möchte nicht immer in diesem Rausche leben . Das ermüdet und stumpft ab gegen höhere Interessen . Ich habe berühmte Persönlichkeiten kennen gelernt , unter denen Franz Liszt die Hauptrolle spielte . Ich bin hingerissen von ihm , er war zu liebenswürdig , ich begreife , daß man ihn lieben kann . Ich glaube aber doch , daß hauptsächlich Eitelkeit mir diese Worte diktiert . Nach Liszt kommt Frau Viardot , die so mütterlich liebevoll zu mir war . Noch unendlich viel andere Leute lernte ich kennen , und alle fanden mich sehr hübsch und sehr klug . Soll ich's glauben ? Als ich nun nach einem achttägigen Freudenrausch nach Eisenach in die Pension kam , fühlte ich mich erst recht unbehaglich , aber was thut nicht alles die Gewohnheit ! Jetzt fühle ich mich ganz wohl hier . Mutter kam eine Woche nach mir in Eisenach an . Als ich die Depesche , die ihre Ankunft meldete , erhielt , glaubte ich die Freude nicht überstehen zu können , nachher aber , als Mutter nun wirklich da war , wurde ich übel gelaunt . Warum ? Weil ich sie allein haben wollte und sie doch mit so vielen andern sprach . Ich bin , glaube ich , sehr egoistisch . Ich soll doch aber ein gutes Herz haben ? Eisenach , 12. August . Wir haben in den großen Ferien ziemlich viel Vergnügen gehabt . Einmal eine Waldpartie mit Herren . Es kam aber an dem Tag zu viel zusammen . Vater telegraphierte mir am Vormittag , Liszt würde durchkommen , ich möchte an den Bahnhof gehen . Fräulein Hahn wollte mir erst keine Erlaubnis geben , weil sie es ( lächerlich kleinstädtisch ) unschicklich fand . Endlich durfte ich mit einer jungen Dame , einer Lisztschwärmerin , hingehen . Wir mußten sehr lange warten , während welcher Zeit meine Begleiterin aller Welt erzählte , daß wir Liszt erwarteten . Ich ärgerte mich darüber . Endlich kam er und brachte mir ein wunderschönes Bouquet mit und Grüße vom Vater , und dann – küßte er mir die Hand . Ich wurde dunkelrot . Einige Blumen des Bouquets ruhen gepreßt in diesem Buche . Ich mußte mich nun sehr beeilen , um die Partie noch einzuholen . Wir amüsierten uns sehr gut . – – Ach , ich kann heut nicht schreiben , mein Kopf schmerzt schrecklich und mir ist so wirr , gar nicht als ob ich lebte . Ich möchte wissen , wie lange dieser Zustand noch dauern wird . Ich wollte , ich wäre recht krank . Eisenach , den 5. September 1870 . Das , wovon alle Welt voll ist , vom Kriege , habe ich noch gar nichts geschrieben . Empfindungen darüber kann ich nicht schreiben , denn meine Feder kann diese wechselnden Empfindungen nicht schildern . Manchmal denke ich gar nicht an das grause Schicksal der Tausende und Tausende , die da zusammen in einem großen Grabe ruhen , mit der Wunde in der Brust , und ich bin dann ganz vergnügt . Durch irgend eine Gedanken-Verbindung aber werde ich dann plötzlich auf das Schlachtfeld versetzt , und ich bin dann ganz starr und staune nur so , daß man da so ruhig sitzt , ißt und trinkt und sich womöglich rühmt , zwei Paar Socken gestrickt zu haben für die , die da draußen ihr Leben lassen müssen . Wir haben bis jetzt nur Siege erfochten ; der Krieg naht seinem Ende . Es nimmt sich gar nicht so wichtig auf dem Papier aus , wenn man da liest : › Gestern wurde Napoleon III. gefangen genommen . ‹ Und doch , welche ungeheure Wirkung haben diese paar Worte hervorgerufen – in ganz Europa . Und es ist wahr : › des großen Dämons großer Affe ‹ , er sitzt auf Wilhelmshöhe gefangen . Auch in dem kleinen Eisenach regte sich endlich die Freude , wenn auch etwas lau . Nie werde ich die Scene vergessen , die in unserer Schule stattfand , als sich mit dem ersten Kanonenschuß von der Wartburg die Nachricht von der Gefangennahme Napoleons verbreitete . Jubel , tolles Lachen , heftiges Rotwerden begleitete den erneuten Kanonendonner . Mir stürzten die Thränen aus den Augen und eine Freude , wie ich sie wohl nie empfunden , durchglühte mich . Fräulein schloß die Schule ; die Tagesschülerinnen stürzten nach Haus und wir stürmten in den Garten , wo wir im Lauf von zehn Minuten sechsmal die Wacht am Rhein sangen . Unterdes war auch Mutter herbeigeeilt , und ich und Julie Herbig , wir kleideten uns schnell an und nun ging 's auf den Marktplatz . Ein ledernes Volk ! Kein Gesang , kein Lärm , keine Umarmung , fast alles wie immer , nur wehende Fahnen verkündeten die Größe der Stunde . Auf dem Markt kaufte Mutter uns vor Freude Pflaumen und Birnen , schrecklich viel . Am Abend war ein großes Konzert zum Besten der Verwundeten . Aber auch hier stimmte kein begeisterter Patriot in die Vaterlandslieder mit ein , die ein Männerchor wunderschön sang . Eine wunderbare Scene war sehr geeignet , die Lachlust zu erwecken . Fräulein Dreier , ein Eisenacher Kind , sollte Herrn Wilhelm , dem Komponisten der Wacht am Rhein , einen Lorbeerkranz überreichen . Es war ein Riesenkranz , und Fräulein Dreier war ganz in weiße Gewänder gehüllt , und Herr Wilhelm , der in der Thür stand , blinzelte erwartungsvoll zu dem Kranz hinüber . Nach jedem Liede machte Fräulein D. einen Hopsversuch zu ihm hinauf , aber immer wieder traute sie sich nicht . Endlich , nachdem alle Lieder gesungen waren , kriegte sie Courage und – › O hehre Stunde ‹ – begann sie ihr Gedicht und stülpte ihm dabei den Kranz auf das ehrwürdige Haupt . Aber o Mißgeschick ! Ihr bleibt das Wort in der Kehle stecken , ihm aber nicht der Kranz auf dem Kopf ; er rutscht und umschlingt als Riesenhalsband seinen Hals . Er lächelt verlegen über die Lorbeeren fort , und sie läuft kirschrot auf ihren Platz zurück . Und › die hehre Stunde ‹ war vorüber . Nach dem Konzert gingen wir noch einmal durch die Stadt , die spärlich illuminiert war und so duse und ledern wie nur je . Ich hasse dieses Eisenach und mein ganzes Sinnen ist auf mein Berlin gerichtet . Ich will nach Berlin ! Ich will ! Mutti muß ! « – – – – – – – – – – – – – – – Frau Dalmar ließ die Hand mit dem Buch sinken . Allmählich war sie bei der Lektüre ernster und zuletzt traurig und nachdenklich geworden . Waren nicht in dem Büchelchen da Anzeichen einer herrschsüchtigen , herben , kapriciösen Eigenart ? zugleich etwas Krankhaftes ? diese immer wieder erwähnte Müdigkeit ? Sie besann sich . Ja , das Kind hatte eine Zeit lang gekränkelt , ohne bestimmte Ursache . Sie war nur blaß und unlustig und müde gewesen . Der Arzt hatte die üblichen Mittel gegen Blutarmut verschrieben . Nach und nach war es auch besser geworden . Sie las noch einmal die eine und die andere Seite des Tagebuchs . Allmählich beruhigte sie sich . Sie sah Sibilla vor sich in all ihrem Liebreiz , all ihrer Lebensfreudigkeit . Nein , es war nichts auf diese Äußerungen eines frühreifen Backfisches zu geben . Trotzige Kindereien , aus dem Milieu der Schule heraus . Sie tröstete sich damit : wenn Kinder sich selbst oder anderen etwas erzählen , so übertreiben sie gern , unabsichtlich , auch ihre Fehler . Ein so junges Geschöpf war außer stande , sein innerstes Sein zu veranschaulichen . Nur für Gröberes , Äußerliches reichten seine Ausdrucksmittel hin . Freilich sie , die Mutter , hätte strenger , konsequenter die Erziehung der Tochter handhaben müssen , anstatt in allzu zärtlicher Schwäche jeder Laune des Kindes Vorschub zu leisten . Streng sein ! Konsequent ! Sibilla gegenüber , die Augen hatte , die einem das Herz umkehren konnten ! Vor diesen Augen , wenn sie sich mit Thränen füllten , hielt keine Pädagogik stand . Hätte wenigstens der Vater mit ein wenig Energie die Schwäche ihrer Behandlungsweise ausgeglichen . Der Vater als Erzieher ! sie mußte lächeln . Franz Dalmar war ein hervorragender Musiker , obgleich er eigentlich nie etwas anderes publiziert hatte , als Lieder , allerdings reizende , ergreifende . In keinem Konzert-Programm durften sie fehlen . In seinem Pult aber lag eine Opernpartitur , seit Jahrzehnten vollendet , fast vollendet , deren Text er selbst gedichtet hatte : » Merlin « . Er glaubte an dieses Werk der Werke . Wenn mein Merlin erst heraus ist , pflegte er zu sagen . Seit Jahren schon legte er immer die letzte Feile an seinen Merlin . Dalmar war lebensfreudig bis zur Genußsucht , leichtsinnig bis an die Grenze des gesetzlich Erlaubten , dabei ein berühmter Causeur , voll sprühender Laune . Einige Jahrzehnte hindurch war er der verzogene Liebling aller Salons gewesen . Sorglos wie ein Kind trieb er auf dem Strom des Lebens einher . Sein Fahrzeug kenterte nie . Von jeder Sandbank kam er wieder los , an den gefährlichsten Klippen glitt er glatt vorüber . Trotzdem er zeitweise viel Geld einnahm , kam er auf keinen grünen Zweig . Die Familie lebte von der Hand in den Mund . Er war ehrlich genug sich einzugestehen , daß er eigentlich nur arbeitete , um die Mittel für seine Amüsements zu gewinnen . Er gab für hohes Honorar einigen Prinzen , Prinzessinnen und Millionären Unterricht . Kam er unregelmäßig oder gar nicht in die Stunden , er erhielt dennoch sein Honorar ; es fiel ihm nicht ein , daß man damit nicht den Lehrer , sondern den bezaubernden Gesellschafter honorierte , der mit seiner Person die Gegenleistung bestritt . Seine Verheiratung gehörte auch in das Repertoire seiner Leichtfertigkeiten . Er hatte seine Frau – die Tochter eines Landpredigers – auf einer Reise kennen gelernt , sich unter dem Duft einer Linde in das zierliche , feine Mädchen verliebt , und sie nach drei Monaten geheiratet , unbekümmert darum , ob sie zueinander paßten , und ob er die Mittel zur Erhaltung einer Familie erschwingen würde . Der reservierten Haltung seiner Frau war es zuzuschreiben , daß das Bohémetum , zu dem er neigte , in seinem Hause keine Wurzeln schlug . Sibilla liebte ihre Eltern , den Vater ein wenig mehr als die Mutter , den lieben berühmten Vater , der nebenbei auch als Persönlichkeit so charmant war , während die Mutter nur Mutter war . Sibilla kam es gar nicht in den Sinn , daß diese Mutter auch ein Leben für sich haben könne . Und in der That , sie hatte keins . Als Mutter aber besaß sie unschätzbare Vorzüge . Sie war wie geschaffen zur Vertrauten , zur Beraterin und Trösterin , Qualitäten , die das Töchterchen ausnutzte . Den Vater behelligte sie nie mit ihren kleinen Geheimnissen und Kümmernissen . Leidvolles , Unangenehmes hätte er wie eine Zudringlichkeit , die ihn beleidigte , abgewehrt . Sibilla pflegte selbst ein gelegentliches Unwohlsein vor ihm zu verbergen . Er , der Kerngesunde , glaubte nicht an Krankheiten und Kränklichkeiten . Auf sein schönes Töchterchen war er über alle Maßen eitel , und diese Eitelkeit verleitete ihn , das dreizehn- und vierzehnjährige Mädchen ab und zu mit in die Gesellschaft Erwachsener zu nehmen , gewissermaßen zum Spaß . Frau Dalmar , die immer Scheu trug , den Wünschen ihres Gatten zu widerstreben , ließ es zu , trotz der Opposition ihres Verstandes . Daß sie selbst eine geheime Freude an dem Entzücken hatte , das ihr Kind erregte , gestand sie sich nicht . Die übertriebenen Huldigungen , die Sibilla erfuhr , hätten leicht dem Kinde das Köpfchen verdrehen können , wenn dieses liebreizende Köpfchen nicht einige Gran Verstand mehr beherbergt hätte , als die Köpfe anderer junger Mädchen . Mit ihrem sechzehnten Jahr wurde sie regelrecht in die Gesellschaft eingeführt . Der Vater diente ihr als Chaperon . Frau Dalmar hatte sich schon seit Jahren aus dem Gesellschaftsverkehr zurückgezogen . Ansammlungen vieler Menschen , und die heiße , dicke Luft der Gesellschaftsräume vertrugen ihre schwachen Kopf- und Herznerven nicht . Aber Abend für Abend erwartete sie auf der Chaiselongue oder im Bett liegend die Rückkehr der Tochter . War sie eingeschlafen , so erwachte sie regelmäßig einige Minuten bevor der Schlüssel in der Korridorthür gedreht wurde . Und immer von neuem klopfte ihr Herz , wenn die Lichtgestalt des jungen Mädchens auf der Schwelle erschien . Sibilla pflegte sich dann an das Bett der Mutter zu setzen , und ihr bis in die kleinsten Einzelheiten zu erzählen , was sie erlebt hatte , und es war fast immer Heiteres , Belustigendes . Und sie erzählte so lebendig , so wahr , die Mutter erlebte alles mit , sie identifizierte sich mit der Tochter , ja sie genoß ihre Triumphe und empfand ihre Enttäuschungen noch intensiver als Sibilla selbst . Denn auch Enttäuschungen blieben ihr nicht erspart , wenn sie auch leichter darüber hinwegkam , als andere junge Mädchen . Hatte sich ein Verehrer von ihr gewendet , im nächsten Augenblicke war die Lücke ausgefüllt . Die Erfolge dieses jungen Mädchens in der eleganten Welt waren phänomenale . Sie galten nicht nur ihrer zugleich poetischen und strahlenden Schönheit , Sibilla war auch intelligent , wissend , weit über ihre Jahre hinaus , in ihrem Denken , ihrer Ausdrucksweise von einer verblüffenden Frühreife . Dabei fehlte es ihr nicht an Koketterie , eine unauffällige , nicht nachweisbare , und doch unwiderstehlich anlockende , oft nur eine einschmeichelnde Flexion ihrer tiefen und weichen Stimme , eine Biegung des schlanken Halses , ein Blick . Süße magische Augen hatte sie , die bald schwarz erschienen , in sammtnem Schmachten , bald grünlich schimmernd , Augen von träumerischer Pracht wie Meeresleuchten . Ein Fluidum schien von ihnen auszugehen , das geheime Fäden von Seele zu Seele spann . Ganz eigenartig war auch ihr luftiges , lockeres , leicht sich kräuselndes Haar , das verschiedene Farben zeigte , ein Streifen aschblond , daneben oder darüber rötliches Hellbraun . Über der Stirn ein zartes aschblondes Gekräusle . Man wurde nie darüber einig , ob sie blond oder brünett sei . Ihr Teint , von der Farbe des zartesten Elfenbeins , bei Tage oft von krankhafter Durchsichtigkeit , erschien abends oder sobald sie erregt wurde , wie von innen durchleuchtet , rosigem Abendsonnenschein auf Schnee vergleichbar . Einen Mangel aber hatte das reizende Mädchen . Sie verstand nicht zu lachen . Ihr Lachen klang fast rauh . Es lachte etwas Fremdes aus ihr . Es disharmonierte mit der Poesie ihrer Erscheinung . Die Gesellschaftskreise , in denen Dalmar mit seiner Tochter verkehrte , waren aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt . Freidenkende Aristokraten , Finanziers , Beamte , die künstlerische oder litterarische Interessen hatten , Politiker , Attachés . Den Kern bildeten die Schriftsteller und die Bankiers . Letztere waren weitaus in den meisten Fällen die Festgeber . Sie waren es , die die Bilder und Bücher ihrer Gäste kauften , die in ihre Konzerte gingen , oder wenigstens die Billets dazu nahmen . Ihre Salons standen jedem offen , der durch Esprit , Schönheit , Rang , Reichtum oder Berühmtheit etwas war , oder etwas schien . Skeptische und frivole Lebensanschauung herrschte in diesem Kreise vor , eine Atmosphäre , die die natürliche kritische Veranlagung Sibillas förderte . Und in einem Alter , in dem andere junge Mädchen nur für Tanz , Cotillonbouquets , Schmeicheleien und für diejenige Lektüre schwärmen , in der das Sichkriegen die Hauptrolle spielt , las sie die Aufsätze von Schopenhauer , las sie politische Zeitungen , oft mit der Landkarte in der Hand . Fade Schmeicheleien fertigte sie mit Ironie ab , das heißt nur die faden , andere besser fundierte behagten ihr außerordentlich . In ihren ersten zwei Gesellschaftsjahren war das Leben Sibillas eine einzige Festfreude , die sich oft bis zum Rausch steigerte . Aber schon in der dritten Saison schwand bei der Achtzehnjährigen der Rausch und die ersten Spuren einer nervösen Erschlaffung machten sich bemerkbar . Frau Dalmar hatte kaum Unrecht , wenn sie meinte , jeder müsse sich auf den ersten Blick in Sibilla verlieben . In der That war sie Grund und Ursache von viel Herzeleid , wenn auch immer in der zwölften Stunde die eigene Umsicht der Entflammten oder der Beistand anderer das Schadenfeuer glücklich löschte . Da hatte unter anderen ein junger , vielversprechender Docent sein Herz so völlig an sie verloren , daß er sich gezwungen sah , plötzlich abzureisen , um nicht – wie er einem Freunde brieflich mitteilte ( dieser trug die Mitteilung in weitere Kreise ) durch seine wahnsinnige Leidenschaft seine Carriere zu untergraben . Ein anderer , ein Millionärssöhnchen , wurde Knall und Fall nach Wien , woher er gekommen , von seiner Familie zurückgerufen , die Wind bekam , daß er im Begriff sei , mit einem armen Mädchen reinzufallen . Massenhaft erschienen auf dem Plan Jünglinge aus der jeunesse dorée – Sibilla nannte sie die goldnen Grünen – die ihre Passion für den jungen » star « an die große Glocke hingen , ihre Augen gierig an ihrem Liebreiz sättigten und das süße Geschöpf wie Trüffeln , Champagner und Austern zu ihren Dineramüsements rechneten , natürlich ohne die entfernteste Absicht , eine junge Dame zu heiraten , die keine Partie war . Daß ihre Herzen nicht brachen und die Sinne ihnen keinen Streich spielten , dafür sorgten leichte Dämchen aus andern Sphären . Sibilla hatte durchaus nicht den Wunsch , sich früh zu verheiraten , sie amüsierte sich viel zu gut . Daß in ihrem elterlichen Hause niemals Gesellschaften gegeben wurden , gab ihrer Position eine etwas unsichere Basis , und leistete der Vorstellung , daß Vater und Tochter sich durch den Glanz ihrer Persönlichkeit für die ihnen erwiesene Gastfreundschaft zu revanchieren hätten , Vorschub . Jede einzelne der Treulosigkeiten , die Sibilla erfuhr , brachte ihr keine Enttäuschung . Als aber die Abfälle liebeseliger Jünglinge , die sich durch eine Heirat mit reichen Mädchen – mochten diese häßlich oder geist- und gemütlos sein – ihrem Strahlenkreis entzogen , immer häufiger wurden , da stutzte sie . Ihre harmlose Weltlust erlitt eine Trübung . Sie mochte auch wohl für diesen oder jenen eine leichte Neigung empfunden haben . Anfangs litten ihr Stolz und ihre Eitelkeit ein wenig unter den Kränkungen , deren Ursache sie bald durchschaute . Dann aber bäumte sich dieser Stolz dagegen auf , er wuchs darunter . Sie wurde übermütiger , kälter , anspruchsvoller ; sie ließ ihren Launen freieren Lauf . Sie wurde bewußtlos koketter – eine Art Rache : Wie Du mir , so ich Dir . Aus diesem Milieu heraus entwickelte sich ihre Beobachtungs- und Urteilskraft zu größter Feinheit und Schärfe . Freilich entging ihr nicht , daß unter den jüngeren Herren der Gesellschaft auch etliche vorkamen , die an der Frivolität des galanten Sports nicht participierten . Da war z.B. ein junger Offizier , der die mittellosen jungen Mädchen wie Geächtete floh – aus Ehrenhaftigkeit . Diese geldlosen Geschöpfe existierten für ihn nicht . Er tanzte nie mit ihnen , nicht einmal eine Pflichttour , selbst dann nicht , wenn sie Töchter des Hauses waren , in dem er zu Gast gebeten war . Sie hatten sich durch unheilbare Pauvreté jedes Recht an seinem Interesse verscherzt . Sibilla mußte sogar zugeben , daß unter den vielen Minneschwätzern etliche andere es ernst meinten , nur waren diese Herren leider nicht acceptabel , beim besten Willen nicht . Da war ein blutjunger Maler , der absolut nichts besaß als seinen Größenwahn , nicht einmal Talent . Dazu schnüffelte er infolge eines Stockschnupfens . Ein anderer Bewerber war zwar Millionär , neutralisierte aber diesen Vorzug durch Altlichkeit und ordinäre Manieren . Das Betrübendste war nun , daß diese Phalanx der goldenen Grünen gewissermaßen einen Kordon um Sibilla zog , so daß ernste , verdienstvolle Männer sich ihr weder nähern konnten noch mochten . Indessen fühlte sich seit einiger Zeit die jeunesse dorée in den Hintergrund gedrängt durch einen noch ziemlich jungen Dichter , der bereits über ein ansehnliches Lorbeerreis verfügte , mit bester Anwartschaft auf einen späteren vollen Kranz . Denn er gehörte nicht zu denen , die über die Schnur hauen . Wohl aber versuchte er auf seichtem Sande den Ossa auf den Pelion zu türmen , ein echter , rechter Bourgois-Titan . Frau Dalmar wußte , daß Ewald Born – Sibilla nannte ihn den Troubadour Ewald de Born – rasend in das junge Mädchen verliebt war . Sie sympathisierte mit ihm und sah seit Monaten lächelnd dem Gebahren dieses naiven , kraftstrotzenden Menschen zu , der außer stande war , seine Gefühle zu beherrschen . Daß er sich noch nicht erklärt , mochte an der kühlen Haltung Sibillas liegen , mit der sie anfangs seine Huldigungen – gereimte und ungereimte – entgegennahm . In der That waren ihr das naiv-feurige Temperament , die strotzende Robustheit des Dichters unsympathisch , und seine Nase fand sie komisch . Indessen blieb sein feuriges Werben doch nicht ohne Wirkung auf sie , und allmählich war eine gute und bequeme Neigung für ihn in ihr gekeimt und gewachsen , ganz sicher die Neigung , ihn gern zu heiraten . Trotzdem bewahrte sie eine kühle Gelassenheit ihm gegenüber . Es ließ sie auch kalt , daß eine reiche Landsmännin ( er war Sachse ) und Verwandte des Dichters , die fünf bis sechs Jahre älter als er war , ihn minnte , mit der zähen Leidenschaft eines energischen , allzu reifen Weibes . Freunde und Verwandte liehen ihr Beistand , ohne in der Wahl der Mittel , wie es sich später herausstellte , wählerisch zu sein . Bei Sibilla und Ewald Born waren jetzt alle Gedanken Frau Dalmars , als sie in stiller Nacht auf der Chaiselongue ruhte . Ob das liebe Kind als Borns Verlobte nach Hause kommen würde ? Es war ja gar nicht anders denkbar . Am vorigen Abend war ein sehr erfolgreicher Einakter von ihm im Schauspielhaus aufgeführt worden . Sibilla war ganz glücklich und erregt aus dem Theater nach Hause gekommen . Sie trank noch ihren Thee , die Mutter war schon im Schlafzimmer , als um 101/2 Uhr die Klingel gezogen wurde : Ewald Born . Ein Schreck , der nur halb freudig war , zitterte durch Frau Dalmars Seele . Sie zögerte eine Minute . Sollte sie die beiden allein lassen und ihnen Zeit zur Aussprache gönnen ? Ihr Zartsinn verneinte . Was mußte Ewald Born selbst denken , wenn sie ihn so spät absichtlich mit der Tochter allein ließ ? Sie warf das Kleid , das sie schon abgelegt , schnell wieder über und trat in den Salon . Sie wurde rot ; ein Unbehagen beklemmte sie , als sie das Paar nebeneinander stehen sah , er so nah , zu nah bei ihr , ihre Hand in der seinen haltend , mit einer grellen Flamme in den Augen . Er entschuldigte sich Frau Dalmar gegenüber , daß er so spät noch gekommen , er habe vergebens ihren Gatten und Fräulein Sibilla am Ausgang des Theaters gesucht , und in der Besorgnis , irgend ein Unwohlsein könne Sibilla verhindert haben , ins Theater zu gehen , habe er sich die Freiheit genommen u. s.w . Er sprach abgebrochen , wie abwesend , und während er sprach , verschlang er Sibilla mit den Augen . Offenbar that er sich den äußersten Zwang an , um das reizende Mädchen nicht an seine Dichterbrust zu ziehen . Frau Dalmar , die bisher in jeder Weise seine Werbung begünstigt hatte , wurde plötzlich in der Empfindung , daß etwas Ungehöriges vor ihren Augen geschähe , kalt und unfreundlich . Nach zehn Minuten ging er , verwirrt wie berauscht . Mutter und Tochter blieben in einer seltsamen Stimmung zurück ; die Tochter , unzufrieden , daß die Mutter die Aussprache gehindert . Frau Dalmar , ihre Dazwischenkunft bereuend . Zwar begriff sie , daß der Dichter in seiner tiefen seelischen Erregung das officielle Wort nicht über die Lippen gebracht , und doch – – sie war mißmutig . Sie plauderten heut nicht wie sonst miteinander , ehe sie zu Bett gingen . Auf morgen , hatte er gesagt , als er ging , und dieses morgen war heut . Also heut ! Frau Dalmar wünschte , daß Sibilla diesen Mann heiraten möge . Sie fühlte seit einiger Zeit eine Wandlung im Wesen ihres Kindes , ein allmähliches Verblassen ihrer strahlenden Weltlust . Und einmal würde sie ja doch heiraten . Als Borns Gattin blieb sie wenigstens in Berlin . Diese Vorstellung war nicht ohne Einfluß auf ihre Begünstigung des Dichters geblieben . Sie hatte aber auch bessere , reinere Motive . Born war nicht nur ein guter Mensch , er war auch eine kerngesunde Natur , körperlich und geistig ! Das würde die nervöse Veranlagung Sibillas ausgleichen . Ja , sie war ganz und gar einverstanden mit dieser Heirat . Plötzlich zuckte Frau Dalmar zusammen . Ein Geräusch da draußen , die Korridorthür wurde geöffnet , das Atmen wurde ihr schwer vor innerer Erregung . Im nächsten Augenblick trat Sibilla ein . Frau Dalmar erschrak . Blühend , leuchtend war das Kind von ihr gegangen , und nun stand sie da , blaß , übernächtig , mit dunklen Schatten unter den Augen . Ein paar mißfarbige Rosenblätter waren in dem wirren Haar hängen geblieben . Die Silbergaze des Kleides hing schlaff an den zarten Gliedern nieder . Sibillas Köpfchen fiel kraftlos zur Seite , Frau Dalmar empfing sie zärtlich und begann ihr Kleid aufzunesteln . Ihre Hand zitterte ein wenig . Sie fühlte an Sibillas Bewegung , daß sie ungeduldig und gereizt war . » Wo hast Du denn Deine Bouquets ? « fragte die Mutter , nur um das Schweigen zu brechen . » Verschenkt . Ich wollte sie nicht . Der starke Geruch hat mir Kopfschmerzen gemacht . « Sie ließ sich , halb schon im Stehen schlafend , entkleiden . Und wie sie mit dem gelösten Haar , in dem langen , weißen Nachthemd , dem geneigten Köpfchen dastand , meinte Frau Dalmar , daß ihr nur Flügel und eine Lilie fehlten , um wie ein Engel auszusehen – ein kranker Engel . Als Sibilla den Kopf in den Kissen barg , begegnete sie dem unruhig forschenden Blick der Mutter , die nichts zu fragen wagte . » Sieh mich nicht so an , Mutti , ich mag 's nicht . Ich weiß ja was Du wissen willst . Er war gar nicht da . Er ist verreist , auf lange . Er kommt nicht wieder , wenigstens nicht zu mir . Ich erzähl's Dir morgen – morgen . Brich Dir nur nicht mein Herz , arme Mutti – – ach , ich bin so müde . « In der nächsten Minute war sie fest eingeschlafen . Frau Dalmar hielt mühsam ihre Thränen zurück , sie zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit dessen , was Sibilla gesagt . Hätte sie als Mutter nicht vorsichtiger sein müssen ! Wie konnte sie nur die jedes Maß überschreitenden Huldigungen des Dichters dulden , die man nun ihrem Kinde nachtragen würde ! Aber was hätte sie thun sollen ? Das entscheidende Wort ihm abpressen ? Mußte er sich nicht erst der Liebe seines Mädchens versichern ? Er schien so anders als jene frivolen jungen Männer , deren Lebensführung er streng verurteilte . Er schien so ganz Gentleman , und nun hatte er ebenso gehandelt wie jene , nein , schlimmer als die gewissenlosesten unter ihnen . Hätte er nicht , ehe er innerlich mit sich einig war , seiner Leidenschaft , seinen Gebärden und Worten Zügel anlegen müssen , anstatt förmlich mit Posaunenstößen der Welt kund zu thun , daß er in Flammen stehe ? Und nachdem er das gethan , und in dem Augenblick , wo alle Welt seine Verlobung erwartet , geht er auf und davon , unbekümmert darum , was er dem jungen Geschöpf anthut . Sie fand es lächerlich , unerhört , daß die Sitte auf dem Gebiet der Liebe immer zu Gunsten des Mannes entscheidet , selbst wenn die Thatsachen sonnenklar Zeugnis gegen ihn ablegen . Er benimmt sich nichtswürdig , und das Opfer ist kompromittiert . Sibilla schlief fest und sanft . Frau Dalmar weinte . Als am anderen Vormittag Sibilla in ihrem hübschen himmelblauen Morgenkleid beim Frühstück saß – die Mutter leistete ihr dabei Gesellschaft – sah sie zwar etwas matt , aber keineswegs betrübt aus . Die Mutter strich ihr das Brot mit Butter , schlug ihr das Ei auf , und freute sich an ihrem Appetit . Sibilla aß zierlich und langsam . Frau Dalmar fiel ein Stein vom Herzen . Vielleicht war es doch so am besten . Im Grunde paßten sie ja gar nicht zusammen , er so schmiedeeisern derb , sie feinstes Filigran . Frau Dalmar lief in die Speisekammer und kam mit einem Büchschen Orangegelée – einer Lieblingsnäscherei Sibillens – zurück . Lachend fiel Sibilla darüber her . » Mutti , willst mein krankes Herz mit Orangegelée heilen ? Eigentlich ist Dir die Geschichte ganz recht . Du hast sie mir eingebrockt , Du hast mir diese Neigung für den Troubadour eingeredet , ja , ja Du . Und da wärst Du nun zur Strafe um meinen Liebhaber gekommen , Du arme betrogene , hintergangene Mutti . « Frau Dalmar war zu glücklich über die Heiterkeit ihres Kindes , um über den Spott empfindlich zu sein . » Und nun , Mutti , « fuhr Sibilla in demselben Tone fort , » ich sehe ja , Du brennst vor Neugierde die Schauermähr zu vernehmen von der Untreue des Ritters Ewald de Born . Ach , hieße er Bertram , nie hätte er solchen Verrat geübt . Nämlich : Frau Rechtsanwalt Barer schenkte mir reinen Wein ein , aus › herzlicher Freundschaft ‹ , die herzliche Freundschaft mit Anführungszeichen . Also eine Verschwörung gegen mich , Klatsch , Verleumdung , meine Koketterie , alles ist ihm hinterbracht worden . Frau Rechtsanwalt brannten darauf , mir die Details dieser Verleumdung – pardon – unter die Nase zu reiben . Ich aber zuckte so abwehrend hoheitsvoll meine silbergazenen Schultern , daß ihr der Klatsch in der Kehle stecken blieb . « » Und die Verschwörer ? « fragte Frau Dalmar . » Freunde , Verwandte , Mitfühlende jener Jugendgespielin Born's , die sein Bild schon seit einigen Jahrzehnten im verschwiegenen Busen tragen soll . Augenblicklich weilt sie in Dresden , wo sie expreß erkrankt sein soll , um den Vetter und Landsmann an ihr Sterbelager rufen zu können . Gott schenke ihr ein langes Leben an der Seite meines Ex-Troubadours . Weißt Du was jemand neulich von ihm sagte ? Er dichte mit geballten Fäusten . So , nun weißt Du alles , Mutter . Ich grolle ihm nicht , und wenn das Herz auch bricht , denn wem anders als ihm verdanke ich dies köstliche Orangegelée . « Plötzlich aber ließ sie den vollen Löffel mit dem Gelée fallen und wurde verdrießlich . » Fort in die Speisekammer mit dem Gelée , ich verdiene es nicht . Das hatte ich ja ganz vergessen . Die Geschichte hat ja ein Nachspiel , ein schauriges , ein trauriges ! Wehe ! wehe ! Rette mich , Mutti ! rette mich ! oder ich muß den schönen Arthur heiraten , Arthur Meier natürlich . « In halb komischer Verzweiflung warf sie sich der Mutter in die Arme . Und sie erzählte : Über Ewald de Borns Abtrünnigkeit wäre sie doch wohl etwas verstimmt gewesen . Das Tanzen hätte sie gelangweilt . Darüber hätte sie sich wiederum geärgert , und da sie doch nicht auf den Ball gegangen wäre , um sich zu ärgern , hätte sie sich nun à tout prix amüsieren wollen . Der schöne Arthur – Mitternacht – ein Erker – rote Ampel , Palmen und Blumen , süßduftende , aus dem Nebenzimmer schmelzender Gesang : » Das Lied vom Asra « , und sie , erpicht auf etwas Extraes , Schlagsahnenstimmung . – Und da – hat er ihr sein Herz offeriert , und sie , in einer halben Verliebtheit , aus Champagner , Blumenduft , Musik und Rachegefühlen notdürftig zusammengekratzt , habe nicht – nein gesagt . » Und nun , Mutti , « schloß sie ihre halb verdrießlich , halb neckisch vorgebrachte Geschichte , » nun wird er heut kommen , im Cylinder und hellen Handschuhen mit schwarzen Nähten , und Dich um meine Hand bitten . Rundweg abschlagen , Mutti , selbstverständlich . Ich kann ihn doch unmöglich heiraten , pour ses beaux yeux , die er wirklich hat . Komm , wir wollen uns auf Gründe besinnen , da ich mich nun doch einmal so schofel benommen habe . « Mutter und Tochter hatten kaum ihre Beratung begonnen , als das Mädchen mit einer Karte eintrat : » Frau Kommerzienrat Moller . « Die Kommerzienrätin war die Schwester des schönen Arthur . Mutter und Tochter stutzten . Was wollte die ? Sie kannten sie nur oberflächlich und standen in keinem gesellschaftlichen Verkehr mit ihr . Frau Dalmar ging hinaus , um mit der Schwester des schönen Arthur zu sprechen . Sibilla war doch etwas neugierig . Sie nahm die Zeitung zur Hand . Anfangs blickte sie nur zerstreut hinein , allmählich aber interessierte sie der Inhalt , und sie hatte den schönen Arthur und seine Schwester im Nebenzimmer fast vergessen , als Frau Dalmar wieder eintrat . Der Ausdruck ihres Gesichts , zwischen Ärger und Lachen schwankend , war so komisch , daß Sibilla sofort erriet . » Der schöne Arthur hat sich übereilt , « rief sie der Mutter mit drolligem Entsetzen entgegen . Ungefähr . « Der schöne Arthur habe noch auf dem Ball selbst der Familie – und er hatte sehr viel Familie – seine Heiratsprojekte kundgethan . Vormittags , Schlag 10 Uhr , Familienrat im Hause der Kommerzienrätin . Allgemeines Lamento . Besonders Schwester Alice hatte so geweint , aber so . Nämlich : der schöne Arthur war gar nicht in der Lage ein armes Mädchen zu heiraten . Ein lockerer Zeisig war er . Erst im vorigen Jahr hätte die Familie seine Schulden bezahlen müssen . Fräulein Sibilla wäre auch viel zu geistreich für ihren dummen Jungen von Bruder , welcher Ansicht er selbst sich nicht ganz hätte verschließen können . » Also , Du möchtest den schönen Arthur freigeben . Natürlich habe ich geantwortet , Du hättest die Galanterien des jungen Herrn überhaupt nur für einen Ballscherz gehalten und nicht einen Augenblick daran gedacht , Frau Meier zu werden . « Sibilla lachte aus vollem Halse . Sie amüsierte sich noch eine Weile über den zurückgezogenen Heiratsantrag , dann aber wurde sie doch wieder unmutig . Sie warf sich müde in den Fauteuil zurück und verschlang ihre Hände über dem Kopf , den sie hin und her wiegte . » Ach , Mutter , ich konnte mich gestern nicht ausstehen , und ich kann mich überhaupt nicht ausstehen , und die andern auch nicht . Alle diese Meiers und Borns und die goldenen Grünen , sie sollen mich in Ruhe lassen ; dieses ewige Courmachen wächst einem ja zum Hals heraus . « In ihren bösesten Stimmungen gebrauchte sie gelegentlich einen vulgären Ausdruck , was der Mutter jedesmal einen Stich ins Herz gab . Es kontrastierte zu stark mit ihrer poetischen Schönheit . Und plötzlich erklärte sie , überhaupt nicht mehr in Gesellschaft gehen zu wollen . Sie müsse sich von all den Körben , die sie bekommen , erholen . Frau Dalmar machte ihr sanfte , aber eindringliche Vorstellungen . Man würde ihr Verschwinden aus der Gesellschaft in Zusammenhang mit der Abreise Borns bringen . Sibilla sah es ein , und sie ging nach wie vor aus , aber ihre Haltung änderte sich sichtlich . Jede Annäherung der goldenen Grünen wehrte sie mit süperbem Stolz ab . Denen wurde sie auch bald zu klug . Fast ausschließlich wendete sie sich jetzt ernsten , meist älteren Männern zu , Männern , die in der Politik , Wissenschaft oder Litteratur eine Rolle spielten , und die entzückt und überrascht waren , mit einem jungen , schönen Mädchen ernste Gespräche führen zu können . Sibillas Intelligenz gewann dabei , und in betreff der Huldigungen blieb es beim alten . Gerade wie die Lieutenants , die Referendare und die goldenen Grünen entdeckten auch Professoren und Geheimräte – sie nannte sie ihre Johanniskäfer – im Verkehr mit Sibilla ihr Herz . Auch ein Brackenburg war da , ihr rettungslos verfallen : ein junger Kaufmann , Benno Raphalo , der in einem der ersten Bankhäuser eine erste Stellung einnahm . Sie selbst aber , so schien es , sollte bei dem Neigen von Herzen zu Herzen immer zu kurz kommen . Dem Brackenburg konnte sie doch unmöglich Gegenliebe widmen . Er war ja amüsant und gutherzig , aber – Benno Raphalo ! Außerdem war sie ja in den Grafen Jürgen Planer verliebt . Ganz im Gegensatz zu dem wortreichen , überschwenglichen , weißglühenden Ewald de Born verhielt sich der Graf in seinem Liebeswerben fast stumm . In seiner reservierten Haltung aber lag eine stille Inbrünstigkeit . Wenn er nach einem Besuch sich empfahl , so pflegte er langsam , wie zögernd , rückwärts der Thür zuzugehen , mit unheimlicher Intensität seine Blicke an ihr festsaugend . Er blieb dann wohl auf der Schwelle stehen , als könne er sich nicht entschließen sie zu überschreiten . Zuweilen trat er noch einmal ins Zimmer zurück , als hätte er etwas vergessen , oder erwarte er , daß sie etwas sage . Er sprach fast nie mit einer andern Dame als mit ihr , und mit ihr in so leisem Tone , als flüstere er Geheimnisse . Alles was er sagte war nur wie ein Andeuten , Hindeuten auf etwas Verborgenes , Tiefes , das in gewöhnliche Worte nicht zu fassen sei . Ein mystischer , krankhafter Zug war in seinem bleichen Gesicht , in seinen stahlblauen Augen . Gerade das zog Sibilla an . Er erzählte ihr mit Vorliebe von Hallucinationen , die er gehabt . Zuweilen konnte Graf Planer auch sarkastisch sein . Sein Sarkasmus richtete sich dann gegen Benno Raphalo , dessen Natürlichkeit ihm unbehaglich war . Der rächte sich durch harmlose Witze . Er meinte , der Graf schweige einem Löcher in den Kopf , seine Seele sei so flach , wie das Weltmeer tief sei u. s.w . Nach einigen Monaten seiner stillglühenden Werbung kam der Graf seltener , und wenn er kam blickte er düster drein . Eines Tages erschien er ganz schwarz gekleidet , mit einem Trauerflor um den Hut . Er müsse zu einem Leichenbegängnis . Wer tot sei ? Sein einziger Freund . Woran er gestorben ? An leidenschaftlicher Liebe zu einem jungen , bürgerlichen Mädchen . Er dürfe sie nicht heiraten . Seine ganze Willenskraft habe er daran gesetzt , um die Einwilligung seines Vaters , von dem er abhängig war , zu erlangen – vergebens . Müsse er das Bild des engelhaften Mädchens aus seinem Herzen reißen , das Herz ginge mit in Stücke . Bei den letzten Worten war er aufgestanden , und langsam , rückwärts , wie er pflegte , ging er der Thür zu , nur langsamer noch als sonst , seine Augen mit drohend hypnotischer Starrheit in die ihren tauchend , und er flüsterte vor sich hin : Komm ! Beim Hinausgehen ließ er die Thür offen , und sie sah ihn durch die offene Thür im Vorzimmer , immer noch rückwärts fortschreitend , die Lippen bewegend . Ein Zug entstand von irgendwo her , und die Thür fiel krachend ins Schloß . Sibilla hatte verstanden . Es war ihr erster wirklicher Schmerz . Zitternd , bitterlich weinend fiel sie in die Arme ihrer Mutter , der sie nun alles sagte . Ein Fieberanfall zwang sie das Bett zu hüten . Sie schauderte vor dem Anblick einer Zeitung . Sie sah nur ihre Mutter an , um in ihren Augen zu lesen , ob etwas geschehen wäre . Vierzehn Tage mochten vergangen sein , als die Mutter ihr eine Zeitung hinreichte . Der junge Graf Jürgen Planer war der chinesischen Gesandtschaft attachiert worden und bereits nach Peking abgereist . Sibilla erholte sich ziemlich schnell von ihrer Nervenerschütterung . Der Kummer richtete mehr Unheil in ihrem Kopf als in ihrem Herzen an . Was sie noch an Illusionsfähigkeit besessen , ging unrettbar verloren . Es dauerte nicht lange , und sie sprach ganz ruhig und kühl von ihrem » Vampyr « , dem chinesischen Attaché . Vorherrschend in ihrer Empfindung war die Scham , eine bittere Scham , ein zitternder Zorn darüber , daß sie sich immer wieder zu den Abenteuergelüsten dieser Hochstapler der Liebe mißbrauchen ließ . Sie fühlte , wie unter dem heißen Hauch all dieser buhlenden Gebärden , die sie zu verstehen anfing , sich etwas in ihr abnutzte , welkte : die Blume der Empfindung . Die letzte Erfahrung legte den Grund in ihr zu einer kalten Skepsis , zu einer Geringschätzung , die sie nicht nur gegen andere , sondern auch gegen sich selbst richtete . Nein , sie hatte auch diesen nicht geliebt , wenigstens nur so obenauf , ein Nervenreiz , eine Lust , eine Neugierde am Ungewöhnlichen , Geheimnisvollen . » Und weißt Du , « sagte sie einmal zu ihrer Mutter , » ich traue mir die unglaubliche Albernheit zu , daß der Grafentitel bei mir mitgewirkt hat , bei mir ! Und ich halte mich für radikal . Ich gehe mit dem Plan um , Lassalle'sche und Marx'sche und andere soziale Schriften zu lesen – Dummkopf ich ! « Sie stellte auch Reflexionen an , die ihre Geringschätzung gegen die Abtrünnigen einigermaßen dämpften . War sie nicht ungerecht aus persönlicher Rancüne ? Warum sollte das Weib diesen jungen Männern alles sein ? Sie hatte von neuem Lust , sich aus dem Gesellschaftsleben zurückzuziehen . Aber was anfangen im Hause ! Da war es auch nicht mehr so behaglich wie sonst . Der charmante Vater neigte sich mehr und mehr dem Bohêmetum zu . Sibilla war jetzt 21 Jahre alt , sie bedurfte seiner als Chaperon nicht mehr . An ihre Triumphe hatte er sich gewöhnt , sie interessierten ihn kaum noch . Er war bequem geworden , der Zwang des Fracks , der eleganten Haltung und des Geistreichseinmüssens fiel ihm lästig . Er zog es vor , halbe Nächte in Cafés und Restaurants zuzubringen , mit amüsanten Witzbolden und flotten Künstlern , bei einem Glas Wein – es durfte auch eine Flasche sein – und einem Spielchen – es durfte auch Roulette sein . Sibilla konnte es sich nicht verhehlen , der Vater , der einst so süße Lieder komponiert , der der Lion der Gesellschaft gewesen , er verbummelte . Mit dem Respekt vor dem Vater schwand auch ihre Liebe . Stolz und indolent , wie sie geworden war , machte sie keinen Versuch , ihn schmeichelnd oder mit ernster Mahnung zurückzuhalten . Sie zürnte ihm , daß er keine Rücksicht auf sie und die Mutter nahm . Er bemerkte die innere Auflehnung seiner Tochter , und da er Peinlichem stets aus dem Wege ging , entschwand er mehr und mehr aus dem Gesichtskreis der Seinen . Die Mutter , ja , die war lieb und gut , sie war ihr , was ihr in den Kinderjahren das Tagebuch gewesen , das Blatt , in das sie ihre Geschichte schrieb . Aber die liebe Mutter war doch eigentlich ein halbes Kind , so schwach , sie leistete ihr niemals Widerstand , nicht ihren ärgsten Launen .