1 Fräulein Lotti war soeben erwacht . Die Repetieruhr , die an einem zart geschweiften Schnörkel am rechten Kopfende des altertümlichen , reich geschnitzten Bettes hing , schlug mit zartem Klange sechsmal an . Gleich darauf begann die deutsche Stockuhr , eine solide Arbeit Meister Anton Schreibelmeyers , von der Kommode am Pfeiler aus , die Morgenstunde zu verkünden . – Auf ! auf ! befahl ihre gebieterische Stimme , an die Arbeit ! der Tag beginnt ! – Ihre Glocken hatten kaum ausgezittert , als auch schon die französische Wanduhr , in aller Bescheidenheit , eilig und leise zu melden begann : Sechs ! sechs ! gehorsamst zeig ich 's an . Eine kleine Pause – und am linken Kopfende des Bettes erhob das Seitenstück der Repetier- , eine Spieluhr , ihre Silberstimme und gab ein Schäferliedchen zum besten , so lieblich , als hätten kleine Engel es gesungen . Mit unendlichem Wohlgefallen lauschte das Fräulein dem Konzerte , das ihre Uhren abhielten , und hätte in den Schlußgesang beinahe mit eingestimmt , so fröhlich war ihr zumute . An dem Lichte , das durch die herabgelassenen Vorhänge in das Zimmer drang , erkannte sie , daß es heute einen schönen Tag gebe – war das nicht genug , um den reichen Quell von Heiterkeit in ihrer Seele zum Überströmen zu bringen ? Sie stand auf und kleidete sich an ; sehr sorgfältig zwar , aber ohne dabei mehr , als durchaus nötig war , in den Spiegel zu sehen , denn – sie war sich kein angenehmer Anblick . Die Zeit , in welcher sie ihren Mangel an Schönheit gar schmerzlich und fast wie eine Schmach empfunden , war freilich vorbei . Jetzt , mit fünfunddreißig Jahren als ehrenfeste alte Jungfer , hatte sie längst aufgehört , ihr Äußeres gehässig anzufeinden , aber so ganz erloschen war das letzte Fünkchen Eitelkeit in ihrem Frauenherzen doch nicht , wenn es sich auch nur in dem Gedanken aussprach : Es ist ein Glück , daß ich anderen anders vorkomme als mir selbst , sonst könnte mich niemand leiden . Nach beendeter Toilette begab sie sich aus dem Schlaf- in das Wohnzimmer . Es war ein trauliches Gemach , dessen Fenster auf einen kleinen Platz sah – einen sehr kleinen , denn er wurde von nur vier Häusern gebildet ; doch war er luftig und hell und gewährte den Anblick eines beträchtlichen Stückes Himmel , was gewiß kein geringer Vorzug war . Es will etwas heißen , im Herzen der Zivilisation zu wohnen , im Mittelpunkt der Hauptstadt , tausend Schritte vom Dome , den zu sehen viele Leute tausend Meilen weit hergezogen kommen , und dabei von seinem Fenster aus Wetterbeobachtungen fast wie Knauer und das Studium des Sternenlaufes fast wie ein Chaldäer betreiben zu können , Wolken und Vögel ziehen und der Sonne und dem Mond ins Gesicht zu sehen . Dieses Stück Himmel , obwohl – nur aus einem Fenster sichtbar , erhellte dem Fräulein die ganze im übrigen ziemlich finstere Wohnung und ließ ihr das Erklimmen der drei Stockwerke , die zu derselben hinaufführten , als eine höchst anmutige Promenade erscheinen , weniger beschwerlich als eine Bergbesteigung , und beinahe ebenso lohnend . Aber nicht nur der Himmel über dem Platze , auch die Häuser auf dem Platze und die Menschen , die in ihnen wohnten , nahmen das Interesse Fräulein Lottis in Anspruch . Die Fenster des gegenüberliegenden Hauses , das den Platz gegen Osten in einem stumpfen Winkel abschnitt , glänzten schon im Sonnenschein . Bei den reichen Leuten in der Beletage sind die Gardinen noch nicht aufgezogen ; dort schläft man in den Tag hinein , sieht den Himmel nie in seinem ersten , sanft umflorten Blau , in seiner duftigsten Schönheit . Im dritten und vierten Stock hingegen gibt 's freien Eintritt für Licht und Luft des goldenen Maimorgens . Auf den Mauervorsprüngen der beiden Häuser nebenan trippeln dicke graue Tauben in großer Aufregung . Sie warten voll Ungeduld auf das Frühstück , das ihnen Lotti auf das Fenstergesimse zu servieren pflegt . Kaum weniger gespannt als sie , sehen noch andere Geschöpfe dem anziehenden Schauspiel der Taubenfütterung entgegen . Es sind die nächsten Nachbarn des Fräuleins , und sie gehören zu ihren Bekannten , wenn auch nicht zu ihrem Kreise . Der Nachbar zur Linken erhält ihren ersten Gruß , dann kommen die Nachbarn zur Rechten . Jener , ein gebrechliches Männchen , engbrüstig und kahl , das Urbild eines alten Damenschneiderleins , diese , drei frische Jungen , mit runden , dank der frühen Morgenstunde sauber gewaschenen Gesichtern . Prächtige Bursche , noch zu jung für die Schule und doch beinahe schon der weiblichen Zucht entwachsen ; mit Worten wenigstens richtet die Mutter nichts mehr bei ihnen aus , obwohl sie dieselben nicht spart , die brave Frau . Der Mann und Vater hat seine Werkstätte nebenan in den Hof hinaus und plagt sich an der Drehbank vom Morgen bis zum Abend . Er ist Pfeifenschneider , aber im Rohre scheint er nicht zu sitzen und Überfluß hat er nur an Kindersegen . Die drei Erstgeborenen haben angefangen , sich um den besten Platz am Fenster zu balgen , die Mutter tritt unter sie , ein zweijähriges Mädchen auf dem Arme , zieht den Pantoffel vom Fuße und schlägt wacker auf die Buben los . Der Pantoffel fällt , gleich der Hand des Schicksals , ohne Unterschied auf das Haupt des Gerechten wie des Ungerechten , und bald herrschen Ruhe und Frieden . Die neuen Horatier liegen still nebeneinander im Fenster und beobachten die grauen Tauben , mit innigstem Verständnis für ihre Rauflust und ihren guten Appetit . Die Aufmerksamkeit des Schneiderleins hingegen ist auf das Fräulein gerichtet . Das braune Mohairkleid , das seine Gönnerin heute zum erstenmal angetan hat , ist seiner Hände selbsteigenes Werk . Der Schnitt hat sich seit wenigstens zehn Jahren als vortrefflich bewährt , und genäht und ausgefertigt ist das Kleidungsstück mit einer Sorgfalt , die ihresgleichen sucht . Alles solid und geschmackvoll . Der Rock so faltenreich , die Taille weder zu lang noch zu kurz , sondern gerade dort angebracht , wo der liebe Gott sie hingesetzt hat . Sie wird von einem breiten Gürtelband umgeben , aus reiner Seide , fein , weich und dauerhaft . Aus demselben Stoffe bestehen auch die Biais , die den Kragen und die enganliegenden Ärmel schmücken . Von den letzteren heben sich die glatten Manschetten , welche das Fräulein zu tragen pflegt , gar schön ab , und diese bilden die schneeweiße Einfassung der zarten schlanken Hände . Ach , diese Hände ! das Schneiderlein vermag sie niemals ohne innere Rührung zu betrachten . Sie waren das erste , was er erblickte in jenem unvergeßlichen Momente , in dem er die Augen aufschlug , die er für immer geschlossen zu haben meinte , freiwillig geschlossen , nach schwerem , entsetzlichem Kampfe . Der Alte besinnt sich nur noch wie eines bösen Traums des hoffnungslosen Elends , das ihn zu einer Tat der Verzweiflung getrieben ; er hat die Ursache fast vergessen und begreift ihre Wirkung nicht mehr . » Ich muß wahnsinnig gewesen sein ! « sagt er jetzt , wenn er der Stunde gedenkt , in welcher er sein kleines Töchterchen zu sich gerufen , Tür und Fenster desselben Zimmers , das er heute noch bewohnt , verriegelt und das Kohlenbecken entzündet hat . Damals hatte der Zufall Fräulein Lotti zur Retterin des armen Schneidermeisters gemacht , ihre Güte machte sie zu seiner Beschützerin . Nachdem er unter ihrer Pflege gesund und wieder erwerbsfähig geworden , sammelte sie allmählich für ihn einen kleinen Kundenkreis . Der Schneider befand sich jetzt in guten Verhältnissen , war sogar imstande , einen Sparpfennig zurückzulegen . Er hätte das ruhigste Leben gehabt , wenn nur die revolutionären Ideen seiner Tochter nicht gewesen wären . Aber die Leopoldine , ein ehrgeiziges junges Ding , ein Feuerkopf , hatte an den Arbeiten des Vaters immer etwas auszusetzen und schwärmte , zu seinem Grauen und Entsetzen , für die unsinnigsten , lächerlichsten , abscheulichsten Moden , nämlich für die neuesten . Soeben haben sie wieder einen scharfen Streit gehabt und sitzen jetzt einander gegenüber im Fenster und nähen an einer schwarzen Seidenmantille mit einem Eifer , den ihr nicht ganz ausgebrauster Zorn beflügelt . Die Mantille braucht erst morgen fertigzuwerden , wird es aber gewiß heute noch , wenn die Furie anhält , mit der Vater und Tochter die Nadel führen . Inzwischen hat sich das Dachfenster über der Schneiderwerkstätte geöffnet ; eine Frau und eine Katze sind an demselben erschienen , beide wohlgenährt und weißhaarig . Die Katze schleicht zur Morgenpromenade auf das Dach hinaus , bleibt öfters stehen und wirft begehrliche Raubtierblicke nach den Tauben , die von Fräulein Lotti gefüttert werden . – Wer eine von euch erwischen könnte ! denkt sie . Saubere Weltordnung , in der wir leben ! – Gäb 's eine Gerechtigkeit – ich hätte Flügel ! Frau Katze schüttelt den Kopf , schließt die Augen , leckt die fadendünnen Lippen und gähnt wie ein Tiger . Ihre Gebieterin hakt den Fensterflügel ein , damit die Spaziergängerin bequem eintreten könne , wenn es ihr genehm sein würde heimzukehren . Die Rückkunft ihres Lieblings kann die Bewohnerin der Dachstube nicht abwarten , sie muß an ihren Posten , in den kleinen Laden im Durchhause nebenan , wo sie im Winter altgebackenes Brot , im Sommer auch Obst feilbietet und zu allen Jahreszeiten Näschereien , die ihre Katze verschmähen würde , die aber an den Schulkindern beharrliche Abnehmer finden . Fräulein Lotti sandte bereits viele Grüße zu der dicken Frau empor , die so freundlich aussah wie des Teufels Großmutter und sich 's lange überlegte , bevor sie mit einem kaum merkbaren Nicken dankte . Aber auch damit ist Lotti zufrieden . An Zuvorkommenheit von Seite der Frau Brotsitzerin wurde sie nie gewöhnt und hat auch kein besonderes Herzensbedürfnis danach . Sie wünscht nur , konservativ wie sie einmal ist , daß alles beim alten bleibe und daß sie sich täglich sagen könne , was die Potentaten jährlich einmal in ihren Thronreden sagen : » Unsere Beziehungen zu den Nachbarstaaten sind die freundschaftlichsten . « 2 Lotti schloß ihren unersättlichen Tauben das Fenster vor den Schnäbeln zu und zog sich in das Zimmer zurück . Auf einem Tischchen , in der Nähe des Kamins , hatte Agnes , die goldene Säule des kleinen Haushalts , schon alle Vorbereitungen zum Tee getroffen . Lotti begann nun , ihn zu bereiten . Dabei musterte sie ab und zu ihr Stübchen mit wohlgefälligen Blicken . Je länger sie es bewohnte , desto gemütlicher erschien es ihr , desto mehr mußte sie selbst die geschickte Benützung des Raumes bewundern , die es möglich gemacht , so viele Tische , Schränke und Schränkchen in dem schmalen Zimmer unterzubringen . Sehr frei bewegen konnte man sich darin freilich nicht , am wenigsten dann , wenn zufällig mehrere Schranktüren zu gleicher Zeit offenstanden . Doch – was lag daran ? Lotti empfing ja keine Gäste , hatte auch für solche nicht vorgesorgt . Außer dem Fauteuil , den sie bei ihren Mahlzeiten benützte , war nur noch ein Sitzmöbel vorhanden , ein altdeutscher , geschnitzter Holzsessel , ein wahrer Ausbund von Schwerfälligkeit . Er überragte , kaum beweglicher als ein Berg , einen Arbeitstisch , auf dem mehrere zerlegte Uhrwerke unter Glasglocken und alle erdenklichen Uhrmacherwerkzeuge lagen . Auf der linken Seite des Fensters , in der dunklen Ecke , welche das Zimmer dort bildete , befand sich ein großer , bis an die Decke reichender Schrank . Der glich einer gotischen Kapelle , war aber ein Schreibtisch , sehr schön , sehr merkwürdig und sehr unbequem – der Schreibtisch einer Person , die nicht schreibt . Um so zweckmäßiger war der niedrigere Bücherschrank , der den größten Teil der Längenwand , dem Eingange zu Agnesens Zimmer gegenüber , einnahm . Schlanke Säulen mit korinthischen Kapitälchen verzierten die Glastüren des Aufsatzes , hinter dessen blanken Scheiben eine sehr gemischte Gesellschaft friedlich beisammen wohnte . Da standen Schillers Werke in einem Bande , im allerdings ziemlich abgenützten Prunkgewand aus rotem Saffian , neben zwei kleinen dicken Büchlein in schweinsledernen Schlafröckchen , den Mémoires du Maréchal de Bassompierre . Goethes Benvenuto Cellini hatte zwei ganz unähnliche Nachbarn , Dom Jacques Martins Histoire des Gaules und ein ehrwürdiges Inkunabel : Unser lieben frawen psalter , gedruckt zu Augspurg . Von Luca Zeisselmair . Am mitwoch nach Jakobi . In dé iar als man zelet 1495 . Gibbons Geschichte des Verfalles des römischen Reiches blickte gnädig auf den Herrn Quintus Fixlein herab , Krummachers Parabeln lehnten sich mit naiver Zutraulichkeit an die Annalen des Tacitus . Lessings Laokoon war durch ein Versehen mitten hineingeraten zwischen den Barometermacher auf der Zauberinsel und die Familie von Halden ; Prinz von Gotland , der Bramarbas und Himmelstürmer , hielt sich ruhig neben dem weisen Pascal . Viele Klassiker der Weltliteratur , alte und neue , fanden sich durch irgendein Hauptwerk vertreten ; vollständig vorhanden jedoch waren alle Lehrbücher der Uhrmacherkunst . Ihre lange majestätische Reihe wurde durch Hieronymus Cardani ( 1557 ) eröffnet und schloß mit M. L. Moinets Traité général d' Horlogerie . Kein einziges von allen diesen Büchern war seiner Eigentümerin ganz fremd , mit manchen stand sie auf dem vertrautesten Fuße , und gerade in diese vertiefte sie sich mit dem größten Vergnügen immer von neuem . Denn , meinte sie , ein schönes Buch nicht wiederlesen , weil man es schon gelesen hat , das ist , als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde , weil man ihn schon kennt . Übrigens – ein gutes Buch , einen guten Freund , die lernt man nicht aus . Ein weises Buch ist ebenso unergründlich wie ein großes Menschenherz . Viele dieser Werke besaßen außer ihrem eigenen auch noch einen besonderen , für Lotti unschätzbaren Wert . Sie waren mit Randbemerkungen von der Hand eines Mannes versehen , der ihr unter allen Lebenden am Höchsten gestanden – ihres Vaters . Sie meinte ihn sprechen zu hören , wenn sie die kurzen zierlich geschriebenen Sätze , Früchte reiflicher Überlegung und solider Fachkenntnis , überlas . Meister Johannes Feßler hatte nicht zu den Leuten gehört , die einen Gedanken deshalb schon für gut halten , weil er in ihrem Kopf entstanden ist . Das Handwerk , das er ein halbes Jahrhundert hindurch getrieben , hatte ihn gelehrt , dreißig » vielleicht und » ich glaube « leichter auszusprechen als ein » so ist 's « , oder ein » das steht fest « . Ein gewissenhafter Uhrmacher , wie er gewesen , ein Mann , der so oft erfahren hatte , daß am Ende einer Reihe scheinbar richtiger Schlüsse ein Irrtum lauern kann , der hütet sich wohl , leichtsinnig Behauptungen aufzustellen . Dafür haben die seinen aber auch bei allen Leuten , die es verstehen , einen Ausspruch auf dessen Feingehalt an Wahrheit zu prüfen , ihr gehöriges Gewicht . Aus den Randglossen des Meisters ließ sich erkennen , wie ernst es ihm war mit seinem Beruf und welche Liebe er für denselben gehegt . Man sah es wohl , was er auch gelesen hatte , wie sehr ein Buch seine Aufmerksamkeit gefesselt haben mochte , seines Handwerks hatte er dabei nie vergessen . Niemals war ein bemerkenswertes Ereignis in der Geschichte der Menschen zu seiner Kenntnis gekommen , ohne daß er gesucht hätte , es mit einem ebensolchen in der Geschichte der Uhren in Verbindung zu bringen . So befand sich zum Beispiel in einem historischen Werke , an einer Stelle , wo die Rede war vom Tode Kaiser Rudolfs von Habsburg , von Feßlers Hand die Anmerkung : In demselben Jahre erhielt die Kirche von Canterbury eine Schlaguhr , für welche dreißig Pfund Sterling bezahlt wurden . Weiter , als der Goldenen Bulle Erwähnung geschah , hatte der Meister seinerseits erwähnt : Gleichzeitig ehrte die Stadt Bologna sich selbst , indem sie die erste öffentliche Uhr aufstellen ließ . – Noch weiter : Eduard III. entsagt seinen Ansprüchen auf den französischen Thron – und – fügte Feßler hinzu – erteilt dreien Uhrmachern aus den Niederlanden Schutzbriefe , damit sie nach England kommen können . Anno 1368 . In demselben Geschichtswerke war der Beiname König Karls V. , der Weise , nachdrücklich unterstrichen und daneben stand : Muß , wie der gleichnamige große deutsche Kaiser , eine besondere Freude an den Werken der Uhrmacherkunst gehabt , ja vielleicht selbst dabei Hand angelegt haben . Der berühmte Meister Jouvence hätte sich sonst schwerlich erlaubt , eine seiner Uhren mit der Inschrift zu versehen : Charles le Quint , Roi de France Me fit par Jean Jouvence . Der nämliche weise König ließ auch ( 1364 ) Herrn Heinrich von Wick nach Paris kommen , wo dieser eine Uhr für den Turm des königlichen Schlosses verfertigte . Er erhielt Wohnung in demselben Turm und eine Besoldung von sechs Sous täglich . – Noch andere Randglossen machten darauf aufmerksam , daß Luther seine Bibelübersetzung zu derselben Zeit geschrieben hat , zu welcher Peter Hele , Andreas Heinlein und Caspar Werner in Nürnberg die ersten Taschenuhren zustande brachten , daß im Jahre des Unterganges der spanischen Armada Andreas Landek , Schüler Abraham Habrechts und Verfertiger der ersten Kirchenuhr in Nancy , zu Wertheim in Franken geboren wurde ; daß Anno 1690 – glorreichen Andenkens für Deutschland wegen der Gründung der Universität Halle , und für Frankreich wegen der Siege Luxemburgs , Catinats und Tourvilles – in Paris , wo bisher nur kleine Taschenuhren beliebt gewesen , plötzlich sehr große in die Mode kamen ... Und so weiter ! noch viele wichtige und höchst seltsame Zusammenstellungen , die jedem , der ein Herz hat für die Uhrmacherei , gar viel zu denken geben . Was ihm selbst dabei eingefallen , hatte Meister Johannes niemals verraten , sehr oft aber sein Bedauern darüber ausgesprochen , daß er nur ein ungelehrter Mann war und nicht imstande , eine ausführliche und genaue Geschichte der Entwickelung der Uhrmacherkunst zu schreiben . Das beste Material , das es geben kann – wenigstens zu einem Hauptzweig eines solchen Werkes – , besaß er selbst . Er hatte im Laufe seines langen Lebens eine Sammlung von Taschenuhren zusammengebracht , wie sie vor ihm so vollständig und lückenlos schwerlich ein Privatmann ( Herrn Asthon Levers ausgenommen , das versteht sich ! ) besessen haben dürfte . Lauter seltene und auserlesene Exemplare , jedes der Vertreter einer eigenen Gattung , jedes wertvoll an und für sich und doppelt wertvoll als Teil des Ganzen , zu dem es gehört . Wäre diese Sammlung bekannt , sie wäre gewiß auch berühmt geworden , sie hätte die Bewunderung aller Kenner erwecken müssen . Aber dem Meister Johannes war um Berühmtheit gar nicht zu tun , und was die Bewunderung betrifft , die ihm eigentlich ganz recht gewesen wäre – wer hört nicht gern loben , was er liebt ? – , so hat sie doch meistens Neid und Verlangen in ihrem Gefolge , die Feßler um keinen Preis zu erwecken wünschte . Er freute sich im stillen an seinem Schatze , was nicht heißen soll , daß er sich allein daran freute . Es gab zwei Getreue , die keine anderen Interessen kannten als die seinen , für die sein Wort das Evangelium war , sein Beifall das Ziel aller Wünsche , seine Zufriedenheit das höchste Lebensgut . Die beiden waren seine Tochter Lotti und sein Ziehsohn Gottfried . » Meine Gesellen « nannte er sie in ihrer Kindheit , und später mit Stolz » meine Gehilfen « . Endlich schien ihm auch diese Bezeichnung nicht mehr ehrenvoll genug , und er sprach sie niemals aus , ohne sich dabei in Gedanken zu verbessern : Ich sollte eigentlich sagen : Meine Berufsgenossen ... solche noch dazu , die im besten Zuge sind , mich zu überflügeln . Daß sie es doch möchten , und recht bald , und recht weit – sein liebster Traum wäre erfüllt . Aber nicht allein dieser , jeder Traum von Erfolg und Glück , den er für seine Kinder im treuen Vaterherzen hegte , schien in Erfüllung gehen zu wollen . Ihr Lebensweg lag so glatt geebnet vor ihnen , sie waren so ganz geschaffen , die Bahn , die das Schicksal ihnen vorgezeichnet , eines auf das andere gestützt , ohne Abirrung , ohne Wanken und Straucheln zu verfolgen . Sie waren beide brav und talentvoll , hatten ein und dasselbe geistige Interesse und dienten ihm mit dem gleichen Eifer . Niemals war ihre Einigkeit getrübt worden . Von dem Augenblick an , in welchem Feßler den kleinen Gottfried , den Sohn eines in der Fremde verstorbenen Verwandten , in sein Haus aufgenommen , hatte sich dieser , so jung er selbst war , zum Beschützer des noch jüngeren Mühmchens aufgeworfen . Gottfried war völlig verwaist , Lotti hatte vor kurzer Zeit ihre Mutter verloren . Die beiden Kinder wuchsen munter heran . Er wurde ein kräftiger , ernster Jüngling von nachdenklichem , etwas zurückhaltendem Wesen , sie ein hoch aufgeschossenes , schlankes Mädchen , verständig , sanft , und dabei immer lustig und guter Dinge . Sie bewunderte und verehrte ihren Vetter und fürchtete seinen Tadel mehr noch als den ihres Vaters . Ihren ersten großen Schmerz erfuhr sie , als Gottfried nach London geschickt wurde , um dort seine Lehrjahre durchzumachen . Er selbst hatte die Stunde der Abreise kaum erwarten können , aber als sie herankam , war sie so düster und leidvoll , wie sie aus der Ferne licht und freudig geschienen . Lotti schluchzte bitterlich . Der frohe Mut , mit dem sie bisher der Trennung von ihrem Jugendgespielen entgegengesehen , war plötzlich verschwunden , sie wollte nicht mehr begreifen , warum er denn fort müsse und wie es sich ohne ihn leben lassen solle . Feßler jedoch bestand auf seinem Sinn . Er umschloß seine beiden Kinder in einer Umarmung , dann trennte er sie sanft : » Leb wohl , Gottfried « , sagte er , » in drei Jahren bist du wieder bei uns . Geh , lieber Sohn . Im Vaterlande eines Harrison « – in seinen feuchten Augen leuchtete es begeistert auf- , » eines Mudge , eines Arnold müssen unsere künftigen Meister leben . Wenn du heimkommst , werde ich von dir lernen . « Allein dieses Wort sollte nicht zur Wahrheit werden . Als Gottfrieds Lehrzeit um war und er nach Hause zurückkehrte , behauptete er , bei seinen neuen Meistern nichts so gut gelernt zu haben , als seinen alten Meister und dessen Kunst zu schätzen . So berühmt jene auch seien , so teuer ihre Arbeiten bezahlt werden , Feßler dürfe sich mit dem Größten von ihnen messen . Eines nur verstände auch der Geringste unter allen besser , nämlich seine Geschicklichkeit geltend zu machen und zu verwerten . Diesen Vorwurf wies Feßler lächelnd zurück . Beehrten ihn die vorzüglichsten Uhrmacher nicht mit ihren Bestellungen ? zögerten sie , ihren Namen in eine Uhr schreiben zu lassen , die aus seinen Händen kam ? Aber Gottfried schüttelte den Kopf und meinte , das sei es eben , was ihn kränke . – » Ihr Name auf deinem Werk ! wo steht denn der deine ? Wer kennt dich ? wer weiß etwas von dir ! ... Was hast du von deinen unvergleichlich schönen und genauen Arbeiten ? « » Die Freude , sie zu machen ! « war die Antwort Feßlers , und das Herz schwoll ihm vor Wonne über die Anerkennung , die sein weitgereister Sohn ihm zollte . Die kleine Familie verlebte damals eine herrliche Zeit . Eine Zeit voll beseligenden Friedens und erfolgreicher Tätigkeit . Feßler war mit der Vollendung eines Chronometers beschäftigt , den er selbst für sein bestes Werk hielt . Gottfried lieferte dazu eine Kompensationsunruhe von so einziger und zarter Ausführung , daß Meister Johannes bei ihrem Anblick laut ausrief : » Unübertrefflich ! « – Dieses Lob hatte er noch nie einer Leistung gespendet , die aus seiner Werkstatt hervorgegangen war . Lotti hingegen gelang es , eine höchst merkwürdige und komplizierte Taschenuhr aus dem 16. Jahrhundert in Gang zu bringen . Es bedurfte dazu außerordentlicher Geschicklichkeit , unsäglicher Geduld – aber welche Freude , als sie belohnt wurden und das seltsame kleine Ding seine abenteuerlich geformten Räder in Bewegung zu setzen begann . Feßler und Gottfried lachten , staunten , bewunderten ; das Herz des jungen Mädchens pochte vor Entzücken ... Ja , es war eine herrliche Zeit ! – warum mußte sie so rasch vergehen ? Warum mußten ihr , die so erfüllt war von stillem und harmlosem Glück , Tage folgen voll Pein und Qual ? Böse Tage , in denen die fleißigen Hände Lottis ruhten , aus ihrer Seele jedoch die Ruhe gewichen war . Tage , in denen alles , was sonst ihr Leben erhellte , ihr gleichgültig geworden , und das Leben selbst – eine Last . 3 Diese schreckliche Zeit war nun längst vorüber ; doch hielt Lotti die Erinnerung an sie in ihrer Seele wach . Sie wollte nicht vergessen , daß auch ihr ein gehöriges Maß an Leid und Enttäuschung zugeteilt worden , sie wäre sich sonst im Vergleich mit anderen Menschenkindern ungerecht bevorzugt erschienen . Wie vielen wird es denn so gut , mit ihr sagen zu können : Ich habe das Leben , das ich brauche ! Ihrer alten Beschäftigung , zu der sie zurückgekehrt war , verdankte sie täglich neue Freude , verdankte ihr Frieden , Frohsinn und Unabhängigkeit . Wäre ihr Vater nur noch dagewesen , um dies alles mit ihr zu genießen ! Aber leider , Meister Johannes ruhte schon seit geraumer Zeit in der kühlen Erde . Er hatte keine Mühseligkeit des Alters kennengelernt ; niemals hatten ihm Auge und Hand bei Ausführung der Gedanken seines erfinderischen Kopfes ihre Dienste versagt . Wohl waren seine Haare weiß geworden , hatten seine Wangen sich entfärbt , aber aus seinen klaren Zügen leuchtete der Glanz einer unverwelklichen Jugend . Die Jugend des mit Bewußtsein Werdenden . Unermüdlich strebend und lernend , hatte er sich nicht Zeit genommen , recht zu überlegen , wieviel er schon erstrebt und erlernt – da plötzlich , ohne auch nur einen seiner Vorboten geschickt zu haben , trat der Tod an ihn heran . Und jetzt , im Angesicht der ewigen Trennung , fiel dem Meister der Gedanke schwer aufs Herz , daß er seine Tochter fast mittellos in der Welt zurücklassen müsse . Er hätte ihr so leicht eine behagliche Wohlhabenheit sichern können ! – Vor einem Jahre noch fand sich die beste Gelegenheit dazu , da bot ein reicher Kenner , der sich in die Uhrensammlung Feßlers vernarrt hatte , eine Summe dafür , eine lächerlich hohe Summe , wahrhaftig ein Vermögen . Allein Johannes hatte nicht einmal geschwankt , war ruhig dabei geblieben : » Die Uhren sind mir nicht feil . « Über diesen Leichtsinn , diese törichte Selbstsucht machte er sich in seiner letzten Stunde bittere Vorwürfe und bat noch sterbend seinen Sohn Gottfried , jenen abgewiesenen Käufer aufzusuchen und ihm zu melden , die Sammlung , nach welcher er so heißes Verlangen trage , stehe ihm nun zur Verfügung . Lotti jedoch erklärte , daß sie ebenso gern ihre Seele verkaufen ließe wie diese Uhren . So blieben sie denn in ihrem Besitze , wenn auch nicht ohne manchen harten Kampf . Die Sammlung Meister Feßlers war allmählich doch in einem Kreise von Kennern und Liebhabern zu dem ihr gebührenden Rufe gelangt . Es fehlte nicht an zudringlichen Leuten , die trotz der standhaften Zurückweisungen , die sie er fuhren , immer wieder erschienen , immer neue Bewerbungen anstellten , immer glänzendere Anerbietungen machten . Das war denn oft herzlich langweilig , trug aber nur dazu bei , die Liebe , welche Lotti für ihre Uhren empfand , noch zu erhöhen . Sie hörte niemals auf , ihnen ihre Sorgfalt angedeihen zu lassen , und wenn es noch soviel zu tun gab und wenn die Zeit noch so sehr drängte , ging sie nicht an ihr Tagewerk , ohne ihren Uhren einen Besuch abgestattet zu haben . Hätte sie das jemals unterlassen müssen , die rechte Begeisterung , die rechte Lust zur Arbeit hätte ihr gewiß gefehlt . Auch heute war sie an das Schränklein getreten , das in der Ecke stand neben der Schlafzimmertür , dem großen Schreibtisch gegenüber . Eben fiel ein Sonnenstrahl schräg durch das Fenster auf das Kästchen , auf Lottis Hände , und als sie die erste Lade öffnete , schlupfte er sogleich hinein . Prächtig war's , wie er die kleinen ehrwürdigen Meisterwerke beleuchtete , welche darin auf einem Bettlein von purpurrotem Sammet lagen . Die glatten Gehäuse aus Messing , Kristall , Silber und Gold und die reich verzierten und die durchbrochenen , und in dieser die sorgfältig geputzten , polierten und wieder zusammengesetzten Werke erglänzten und gaben dem leuchtenden Strahl des Lichtes , der sie in ihrer Verborgenheit und Ruhe besuchen kam , sei nen Gruß zurück , Das war Lade Nummer eins ! Sie enthielt drei sogenannte » lebendige Nürnberger Eier « und drei » Halsvrln « . Kein einziges Stück jünger als dreihundert Jahre , manches noch älter und gerade die ältesten von der künstlichsten Beschaffenheit . Was wollten sie nicht alles können , diese kleinen Maschinen , was trauten sie sich nicht zu ? Sie begnügten sich keineswegs damit , die bürgerlichen Stunden anzuzeigen und zu schlagen und den Schläfer zu wecken , wann immer es ihm beliebte , auch den Wochen-und Monatstag verzeichneten sie , kontrollierten die Aspekte und Phasen des Mondes und behaupteten , den Stand der Sonne nachweisen zu können . Sie wandten den Himmelszeichen ihre Aufmerksamkeit zu , wußten Auskunft zu geben über die Sternzeit und nahmen Notiz vom türkischen Kalender ... Wahrhaftig , die braven Männer , denen sie ihre Entstehung verdankten , hatten sich Schweres vorgesetzt – und mit wie geringen Mitteln gedachten sie es zu erreichen ! Mit Spindelechappements – mit Löffelunruhen , deren kläglich humpelnder Gang von einer Schweinsborste reguliert wurde ! Sie verfertigten alle Räder aus Eisen , und von einer Schnecke war ihnen nicht einmal die Ahnung aufgekommen . Aber – so ärmlich ihre Kunst , so reich war ihr Vertrauen . Sie wußten – das heißt , sie glaubten , und weil sie glaubten , wußten sie – , daß Schwäche zur Stärke erwachsen kann , wenn nur der rechte Segen auf ihr ruht . Kühn und demütig zugleich riefen sie die Hilfe desjenigen herbei , dem nichts unmöglich ist , und stellten die Werke ihres Fleißes unter seinen allmächtigen Schutz , empfahlen sie auch wohl der Fürsprache der Mutter Gottes oder eines vornehmen Heiligen . Einer der alten Meister hatte in den Boden des Federhauses , das die Kraft umschließt , von welcher alle Bewegung ausgeht , die das ganze Getriebe gleichsam beseelt , den Namen Jesu eingegraben . Von einem andern war aus dem feingeschnittenen , prächtig ornamentierten Monogramm der heiligen Jungfrau Maria der Schutzdeckel des Zifferblattes gebildet worden . Auf der Innenseite des Gehäuses standen die Worte eingraviert : Kasper Werner hat mich gemacht Vnd der heiligen Jvngfrav dargebracht Da . man. zelt. 1541 . Immer reichere Schätze gelangten zum Vorschein , als Lotti ein Lädchen nach dem andern öffnete und schloß . Taschenuhren in allen Formen und Gestalten , achteckig , rund , oval , elliptisch , sternförmig , in Gehäusen aus Gold und Silber , aus Smaragd , Rauchtopas , Bergkristall . Unter andern gab es eine Uhr in Kreuzform , mit dem Augsburger » Stadtphyr « , » War dein- und Wichszeichen « versehen . Das Gehäuse , das Zifferblatt und der innere Deckel waren mit Darstellungen des Leidens Christi bedeckt , die dem besten Künstler zur Ehre gereicht hätten . Leider fehlte das Meisterzeichen . Aber mit Blindheit hätte man geschlagen sein müssen , um nicht sogleich zu erkennen , daß die prächtige deutsche Arbeit aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. stammte und vermutlich von Hans Schlotheim hergestellt worden war . Über den Ursprung ihrer nächsten Nachbarin , gleichfalls kreuzförmig , mit Gehäuse aus einem Stück Rauchtopas , konnte kein Zweifel obwalten . Ihr Schöpfer hatte sie nicht namenlos in die Welt geschickt , sondern neben dem Stellungsgrade brav und deutlich sein » Conrad Kreizer « eingeschrieben . Eine ganze Schar anmutiger Französinnen folgte . Köstliche Ührchen , geschmückt mit Emailmalereien von den Brüdern Huaut , oder mit erhaben geschnittenen Blumen , mit buntem Blattwerk , mit durchbrochenen Arabesken aus vielfarbigem Golde . Die Sammlung enthielt nicht minder merkwürdige Arbeiten von Tompion in England , Albrecht Erb in Wien , Gerard Mut in Frankfurt , Matthäus Degen , Christoff Strebell . Kurz , es fehlten wenig große Namen , und wer die vorhandenen mit recht scharfen Augen betrachtete , der sah mehr als nur Namen , in eine Metallplatte eingeritzt , der sah das Wesen des Meisters sich deutlich in seinem Werke spiegeln . Nach all den köstlich verzierten Stücken erschienen die einfachen Taschenuhren von Pierre le Roy , Berthoud , Breguet , eine Emmery ... Ach , die weckt traurige Erinnerungen , mahnt an die große Enttäuschung in Lottis Leben . Mit einer solchen Uhr in der Hand trat dereinst ... Hinweg ! – Schlafe du nur ruhig weiter . Hinweg von dir zu dem unerhörtesten Kuriosum der Sammlung – zu der Seetaschenuhr von Mudge dem Ersten . Die Geschichte will wissen , daß dieser berühmte und unsterbliche Mann in seinem Leben nur drei Seeuhren verfertigt hat , und zwar die erste im Jahre 1774 , und die beiden andern , der blaue und der grüne Zeithalter genannt , im Jahre 1777 . Nun , die Geschichte hat einmal wieder geirrt . Hier war sie auf die gründlichste Art der Welt widerlegt , durch eine Tatsache – hier war eine vierte Mudge . Zwillingsschwester der älteren , der von Maskelyn in Greenwich geprüften , und sicherlich in demselben Jahre mit dieser entstanden , wie denn auch die beiden jüngeren in einem Jahre gemacht worden waren . Die weltbekannten Beschreibungen , die wir von der ersten Seeuhr Mudges besitzen , paßten genau auf die , welche sich in Lottis Händen befand . Die Uhr war echt , ihr edler Ursprung über jeden Zweifel erhaben , es war eine ganze Mudge – die Lei stungsfähigkeit ausgenommen . Die durfte man freilich nicht mehr von ihr verlangen , der über hundert Jahre alten Greisin . Die letzte Lade , die von Lotti geöffnet wurde , enthielt schöne Arbeiten von Arnold , Richard , Recorder , Robert , Courvoisier , Ruderas , von hölzernen Unruhen Simon Henningers und Lorenz Freys und eine vollständig erhaltene hölzerne Taschenuhr von Andreas Dilger aus Gütenbach . Ein Familienerbe ! – Als Bräutigam hatte sie der Urgroßvater Lottis ihrer Urgroßmutter zugleich mit seinem Herzen dargebracht . Gottfried nannte sie die Majoratsuhr . Sie war nie getragen worden , hatte als Schaustück im Glasschranke der Urgroßmutter geruht . Nur an hohen Festtagen wurde sie hervorgeholt und zur Freude des Enkelchen Lotti aufgezogen . Dann setzte sie sich aber auch stracks in Bewegung und vollführte einen so akkuraten und energischen Gang und bimmelte so fleißig fort , als ob sie noch in der Blüte ihrer Jahre stände und als ob sie all die Zeit einholen wollte , die sie in unfreiwilliger Muße versäumt . Wie war sie nett ! Wie waren ihre hölzernen Räder , Platten , Kloben so bewunderungswürdig ausgearbeitet . Wie sauber aus-gestochen der Unruhkloben und die Stellungsflügel , und wie schön verziert die beiden und die Klobenplatte . Man sah der kleinen Dilger gar deutlich die Liebe an , mit welcher sie ausgeführt , und auch die , mit welcher sie zeitlebens gehegt und gepflegt worden war . Ihr gehörte Lottis letzter und zärtlicher Blick , bevor sie die Lade zuschob und dabei dachte : Ja , meine Uhren – die machen mir noch das Sterben schwer ! In diesem Augenblick wurde die Zimmertür geöffnet . » Guten Morgen « , sprach eine tiefe und wohlklingende Stimme . Lotti wandte sich rasch : » Du , Gottfried ? Ist es denn schon acht Uhr ? « » Noch nicht « , war die Antwort , » ich bin heute unpünktlich . « » Zeichen und Wunder « , rief Lotti , » was ist geschehen ? Was gibts ' ? « Gottfried war an den Arbeitstisch getreten . Er hob die kleinen Glasglocken von den Uhren , welche darunterlagen , und nahm diese in den allergenauesten Augenschein . » Du bist ja fertig « , sagte er nach einer Weile . » Beinahe – aber antworte mir doch – was gibt's ? « Er richtete sich empor , sah Lotti mit geheimnisvoller Miene , halb freudig , halb zweifelnd , an und sagte : » Eine Überraschung . « 4 » Eine Überraschung ? « wiederholte Lotti mit einem Anfluge von Sorge , » wenn ich Überraschungen nur zu schätzen wüßte . « » Diese wird dir gefallen « , entgegnete Gottfried . » Ich habe einen Laden gemietet und bereits eingerichtet . « Lotti schlug die Hände zusammen und konnte vor Staunen nur die Worte herausbringen : » Aber nein ! . . . Aber wo ? « Nun , nirgends anders als gleich nebenan in der breiten belebten Straße , die zum Domplatze führt . Ein allerliebster kleiner Laden , an dessen Ausschmückung seit acht Tagen eifrigst gearbeitet wurde , der ein schönes Fenster bekommen hatte aus einem Stück tauklaren Glases und eine geschmackvolle Vitrine mit feiner Einfassung aus Ebenholz . In dieser lagen seit gestern eine Kalenderuhr von Audemars und ein Chronometer von Dent inmitten anderer Uhren aus den vornehmsten Häusern . Lotti war bewundernd vor ihnen stehengeblieben , aber heute erfüllte deren Kostbarkeit sie mit Schrecken . » Ein solcher Wert ! « meinte sie , » ein so großes Kapital ! « Es schien ihr fast zu kühn , daß Gottfried die Bürgschaft dafür übernommen hatte . Er jedoch war durchdrungen von Ruhe und Zuversicht . Seit langer Zeit hatte er seine Vorbereitungen getroffen . Der Meister , der ihn beschäftigte , die Freunde , die er sich noch während seiner Lehrzeit erworben , unterstützten und förderten ihn dabei auf das kräftigste . Als ob es sich an ihm erproben sollte , daß nicht bloß diejenigen Vertrauen erringen , die es nicht wert sind , sondern manchmal doch auch einer , der es verdient , fand er allenthalben bereitwilliges Entgegenkommen . Es wurden ihm so billige und günstige Bedingungen gemacht , daß er , um in seinem Geschäfte zu bestehen , keineswegs auf ein besonderes Glück zu rechnen , sondern nur auf das Ausbleiben eines raffinierten Unglücks zu hoffen brauchte . Das setzte er Lotti auseinander , die ihm aufmerksam und immer freudiger zuhörte und endlich meinte , in der ganzen Geschichte gäbe es zwei verwunderliche Dinge ; erstens , daß er sich zu dem jetzt gefaßten Entschluß solange nicht gebracht , und zweitens , daß er sich doch dazu gebracht . Was sie von der Sache halte , wisse er ; hatte sie ihn nicht schon vor Jahren beschworen , sich auf eigene Füße zu stellen ? Gottfried erwiderte , seine Pedanterie sei schuld , daß es nicht früher geschehen . Er hatte sich 's einmal vorgesetzt , sein Geschäft nicht anzufangen , wenn er dazu auch nur einen Heller fremden Geldes brauchen würde . Um jedoch alles aus Eigenem bestreiten zu können , dazu habe es eben viel Zeit gebraucht . » Und gut angewandte , das weiß Gott « , meinte Lotti . » Heil dir , daß du gleich so stattlich ausrücken kannst an der Spitze von Dents und Audemars' ... « » Die beide schon halb und halb verkauft sind « , fiel er ihr ins Wort . » Gottfried , du machst mich übermütig ! Einen Wunsch hast du mir erfüllt , der schon vor Altersschwäche erloschen war – jetzt wird ein zweiter , dem es ähnlich ergangen , lebendig . Du mußt heiraten , Gottfried . « Er richtete seine kleinen , glänzenden braunen Augen fest auf sie und sprach ganz unternehmend : » Warum nicht ? « » Das sag ich ja « , rief Lotti , » warum nicht ? Warum solltest du die brave Frau nicht finden , die du verdienst ? Nur suchen heißt es , nur sich ein wenig bemühen , nur nicht , wie du es bisher getan hast , jeder Gelegenheit aus dem Wege gehen , mit einem jungen Mädchen zusammenzukommen , das vielleicht denken könnte : Dieser Gottfried Feßler wäre kein übler Mann für mich . « Er lachte . » Ein junges Mädchen denkt das nicht . « » Ich meine auch kein sechzehnjähriges . « Lotti hatte sich an den Arbeitstisch begeben und begann die reparierten Uhrwerke in ihre Gehäuse einzusetzen . Gottfried stand am Fenster und sah ihr zu . » Wann wird die Bestellung abgeliefert werden ? « fragte er nach einer kleinen Weile . » Kann morgen geschehen . « » Tu es selbst , ich bitte dich , und nimm zugleich Abschied von dem Meister . Du darfst für ihn nicht mehr arbeiten . « Lotti blickte ein wenig betroffen empor . » Abschied nehmen – das wäre schon gut , aber – so plötzlich , so ohne weiteres ? Ich bin ihm Dank schuldig , er hat immer Rücksicht auf mich genommen , mich nie ohne Arbeit gelassen , immer gut und rasch bezahlt . « » Rasch ja , gut – nein . Mache dir keine Sorgen . Ich habe den Herrn bereits darauf vorbereitet , daß er jetzt seine beste Arbeiterin verliert . Wie leid ihm ist , mag Gott wissen , aber begreiflich muß er 's finden , daß du dich von nun an für niemanden mehr plagen wirst als für mich , was soviel heißt als für dich selbst , denn – nicht wahr ? ... « Er war plötzlich in heiße Verlegenheit geraten und stockte . » Oh « , nahm er bald wieder das Wort , » da hätte ich beinahe vergessen ! Der Herr bittet dich nur noch um einen letzten Freundschaftsdienst . Du möchtest so gut sein , diese Uhr anzusehen . Ist sehr fein , sagte er , hat dein Lieblingsechappement . « » Duplex also . « » Jawohl . Er weiß gerade keinen Arbeiter , dem er sich getraut , sie in die Hand zu geben . Überdies hat's Eile . Morgen abend möchte er sie wiederhaben . « Gottfried stellte ein hölzernes , mit Messing eingelegtes Kästchen vor Lotti hin . Die wandte demselben den Blick eines teilnehmenden Arztes für einen Patienten zu und fragte : » Was fehlt denn ? « » Weiß nicht « , erwiderte Gottfried , » aber ich glaube , nicht viel . Der Herr hat mir eine lange Geschichte erzählt , er hat die Uhr von einem , der sie aus Leichtsinn oder aus Not losschlug , um ein Spottgeld . Will sie jetzt sehr teuer verkaufen , deshalb sollst du die Herstellung besorgen . Er schwatzte ein langes und breites , ich habe nicht zugehört . Es wäre auch überflüssig gewesen , nachdem ich wußte , was mich dabei anging . « Lotti , die das Kästchen nicht mehr aus den Augen gelassen , hatte es geöffnet und dann auch – mit seltsamer Spannung und Hast – die Uhr , welche darin gelegen . Unverwandt starrte sie den Namen F. Alexi & Sandoz frères auf der Küvette und die Zahl an , die darunterstand . » Verkauft – wie sagtest du ? – aus Leichtsinn oder aus Not « , sprach sie gepreßten Tones . » Freilich , freilich « , versetzte er , lehnte sich tiefer in das Fenster zurück , sah auf den Boden nieder und schien ernstlich und scharf nachzudenken . » Du wirst mich doch heute im Geschäft besuchen ! « rief er plötzlich aus . Lotti nickte bejahend ; sie hatte bereits begonnen , die Uhr zu zerlegen . » Das Schild ist noch nicht aufgemacht « , fuhr Gottfried langsam und zögernd fort , » aber fertig ist es schon . Es wird nicht aufgemacht , bevor du die Erlaubnis dazu gibst . « Er hielt inne , er wartete , aber vergeblich . Lotti schwieg , und so hub er denn nach abermaliger Pause von neuem an : » Denk nur , welche Freiheit ich mir genommen – denk nur – ich habe auf das Schild schreiben lassen ... wie gesagt , oder nicht gesagt , auf jeden Fall , wie selbstverständlich – es kann geändert werden , wenn du es wünschest ... « Jetzt erst wagte er es wieder , sie anzusehen . Sie war ganz versunken in ihre Arbeit – eine unbegreiflich schwere Arbeit für sie , die Meisterin ! Ihre sonst so sichere Hand zitterte , ihr Gesicht war hochgerötet , eine mühsam unterdrückte Erregung gab sich in ihrem ganzen Wesen kund . Was ist ihr denn ? dachte Gottfried . – Ahnt sie , was er ihr zu sagen hat , und versetzt sie das in eine Befangenheit , die aussieht wie Bestürzung ? Wär 's doch so ! dann nimmt sie wenigstens die Sache ernst , und er braucht nicht zu fürchten , mit einem Scherze heimgeschickt zu werden , das Ärgste , was ihm geschehen könnte , dem alten Menschen . Ihre sichtbare Unruhe befreit ihn von dieser Sorge und zugleich von aller Ängstlichkeit . Er atmet auf und spricht mit einem gewissen unbeholfenen Humor , dabei aber höchst bedeutsam und nachdrücklich : » Es wäre schade , wenn an dem Schilde etwas geändert werden müßte ; es ist sehr hübsch ausgefallen ... Macht sich wirklich gut , auf glänzend schwarzem Grund , das G. & L. Feßler ... G. und L .... Gottfried und Lotti ... « Ihre Stirn glühte , ihre Wangen brannten , sie beugte sich tiefer über ihre Arbeit und wiederholte mechanisch und ausdruckslos : » Gottfried und Lotti ? « Nein ! Ihre Gedanken waren nicht bei ihm . In der Weise hätte sie ebensogut fremde Namen ausgesprochen . Die Worte , die sie vernommen , waren an ihr Ohr gedrungen , die schüchterne , inständig bittende Frage , die in ihnen lag , nicht an ihr Herz ... Jetzt trat von allen Pausen , die während dieses Gespräches gemacht wurden , die längste ein . Still war 's im Zimmer , nichts hörbar als das Ticken der vielen Uhren und endlich ein tiefer , tiefer Seufzer aus Gottfrieds Brust . Lotti erhob den Blick und sah trotz des feuchten Schleiers , der sich vor ihre Augen gelegt hatte , den Ausdruck leidvoller Enttäuschung in seinen Zügen . » Was ist dir , Gottfried ? « sprach sie . » Du hörst mich nicht an « , entgegnete er unmutig . Sie nahm sich mit Gewalt zusammen : » Doch , ich habe alles gehört . « » Hast du ? Wirklich ? und – hast nichts einzuwenden ?.. . Es ist dir recht – du weißt ... « » Es ist mir recht , gewiß . Aber wenn du , Lieber , auf dein Schild auch nur G. Feßler hättest schreiben lassen , für uns hätte es dennoch und immer › Geschwister Feßler ‹ bedeutet . « » Geschwister – so ? – - ja , Geschwister « , murmelte er und zögerte , die Hand anzunehmen , die Lotti ihm reichte . Allein er ergriff sie doch und drückte sie fest und treuherzig , als Lotti sagte : » Es versteht sich ja von selbst , daß wir zwei nach wie vor treu zusammenhalten . « » Das Schild wird also aufgemacht « , sprach er , mit einem herzhaften Versuch , vergnügt zu scheinen . » Komm es bewundern , komm bald ! « Er nahm seinen Hut und verließ das Zimmer . Lotti war wieder allein und setzte ihre einen Augenblick unterbrochene Beschäftigung emsig fort . Sie hatte an der Uhr , die Gottfried mitgebracht , alle Brücken abgeschraubt , alle Räder ausgehoben , bis auf das Minutenrad . Das haftete noch , festgehalten vom Viertelrohr . Aber auch dieses muß nun weichen , das letzte Rad liegt bei seinen Kameraden , und Lotti hat gefunden , was sie suchte , was sie zu finden gewiß war . Ihren eigenen Namenszug und das Datum des 12. Mai , mit fast unsichtbar kleiner Schrift in die Bodenplatte eingeritzt und verborgen durch die Zähne des Rohres . Am 12. Mai , an dem Tage , der sich heute zum fünfzehnten Male jährte , hatte sie diese Zeichen da hineingeschrieben und diese Uhr ihrem Verlobten geschenkt und dabei gesagt : » Sie kann uns gute , sie kann uns traurige Stunden anzeigen , aber keine , in der unsere Treue gewankt . « So vermessene Behauptungen wagt die Jugend aufzustellen , solche Schwüre schwört die kindische Liebe , die , kaum erwacht , auch schon die Kraft in sich fühlt , ewig zu leben . Torheit ohnegleichen ! Ebensogut könnte die Rose schwören , daß sie niemals welken wird , denkt Lotti , und halb erloschene Erinnerungen tauchen in ihrer Seele auf . Bleiche Schatten ringen sich los aus der Nacht der Vergessenheit und gewinnen allmählich Farbe und Gestalt . Sie ziehen langsam vorüber , mächtig genug , um noch eine leise Wehmut , nicht mehr mächtig , einen Schmerz zu erwecken . Sie gleichen dem Gedanken an einen dunkeln , peinvollen Traum , aus dem der Schläfer zum Licht und zum Frieden erwacht . 5 Vor fünfzehn Jahren , an einem Winternachmittage , war ein junger Mann in der Werkstätte Feßlers erschienen und hatte ihm eine alte Uhr gebracht , mit der Bitte , sie zu schätzen . Während Feßler die Uhr betrachtete , betrachtete der junge Mann ihn so aufmerksam , wie ein Maler tut , der sich das Bild eines Menschen , den er aus dem Gedächtnis malen soll , einzuprägen sucht . » Dies ist « , sprach Feßler , nachdem er seine lange und sorgfältige Untersuchung beendet hatte , » ein kostbares Stück . « Er rief seine Tochter herbei , um auch ihre Meinung zu hören . Wie ? « sprach der Fremde ein wenig spöttisch und sehr erstaunt , » sind Sie Kennerin , mein Fräulein ? « Lotti fühlte den Blick auf sich ruhen , mit dem fast alle jungen Männer , denen sie zum ersten Male begegnete , sie ansahen ; den Blick , der deutlich fragt : Was willst du in der Welt ? und an den ein nicht hübsches Mädchen sich gewöhnen muß . Sie nahm die Uhr aus der Hand ihres Vaters und erkannte in derselben sogleich einen Taschenchronometer von Emmery mit Mudgescher Hemmung . Der Fremde lachte herzlich auf , als sie das sagte . » Ist's richtig , Herr Feßler ? « » Ganz richtig « , erwiderte dieser , unangenehm berührt von dem über Gebühr zutraulichen Wesen des jungen Mannes , der , an die Seite Lottis tretend , in seinem früheren Tone fortfuhr : » Sie können mir vielleicht auch sagen , was diese Uhr wert ist ? « Lotti schüttelte den Kopf . » Was sie jetzt wert ist , kann ich nicht sagen ; als sie neu war , sind gewiß nicht weniger als 150 Guineen für sie bezahlt worden . « » Als sie neu war ? Und wann mag das gewesen sein ? « » Vor siebzig Jahren etwa . « » Ich bewundere Sie ! « rief der junge Mann äußerst belustigt ; » das alles erkennen Sie so auf den ersten Blick ? . . . Jetzt aber die letzte , wichtigste Frage : Wieviel ist sie heute , wieviel ist sie Ihnen wert ? « fügte er zu Feßler gewendet hinzu . » Sie wäre mir sehr viel wert , wenn ich nicht schon eine ganz ähnliche besäße « , entgegnete dieser . » Ah ! in Ihrer Sammlung ? . . . Wenn Sie doch wüßten , Herr Feßler , wieviel Gutes und Schönes ich schon von ihr gehört habe ... von dieser Sammlung , und wie glücklich ich wäre , sie kennenzulernen ... Wenn Sie das wüßten – Sie würden mir den elenden Vorwand verzeihen , den ich gebraucht habe , um mich bei Ihnen einzuschleichen . « Er legte eine gründliche Beichte ab . Er hieß Hermann von Halwig , war ein kleiner Beamter und nebenbei ein ganz kleiner Poet und arbeitete eben an einer Novelle , in welcher eine alte Uhr eine große Rolle zu spielen hatte . Die mußte geschildert werden , und um das zu können , brauchte er ein Modell , brauchte er vor allem einige fachmännische Kenntnis . » Nehmen Sie mich ein wenig in die Lehre , bester Meister « , schloß er , » würdigen Sie mich eines Einblicks in Ihre Sammlung – Ihr Heiligtum , wie ich höre . – Daß ich ein ausgezeichneter Schüler sein werde , das verspreche ich nicht , aber ein dankbarer bin ich gewiß ! « Feßler sah den hübschen blonden Gesellen ein Weilchen nachdenklich an . Ihm gefielen seine fröhlichen blauen Augen und die sorglose Sicherheit , das muntere Selbstvertrauen , mit denen er sich auf die Reise durchs Leben zu begeben schien . Schweigend holte der alte Mann einige schöne Exemplare aus der Sammlung herbei und begann die Eigentümlichkeiten und Vorzüge derselben mit der Wärme eines Liebhabers auseinanderzusetzen . Halwig unterbrach ihn anfangs sehr oft ; er konnte die Scherze nicht unterdrücken , die ihm alle Augenblicke auf die Lippen traten . Allmählich jedoch wurde er still . Das herablassende und oberflächliche Interesse , das er für einige » Favoritinnen aus dem Uhrenha rem « gezeigt , verwandelte sich in ein gespanntes . Den Kopf in die Hand gestützt , sah er bald die Uhren auf dem Tische , bald den Meister , zuletzt nur noch diesen an , und dabei erhellte der Ausdruck einer so innigen Freude und Verehrung seine Züge , daß Feßler dachte : Dem Burschen könnt ich gut sein – trotz des Leichtsinns , mit dem er vorgab , eine Emmery verkaufen zu wollen . Der Bursche aber richtete sich plötzlich auf . » Was für Augen haben Sie ! « rief er , » was Ihnen ein Rädchen , eine Spindel , ein Ornament , ein Stückchen Email nicht alles erzählen ! Was für Augen und was für ein Herz ... Sie sind ein Künstler ! ... « Er deutete nach dem Schranke , dem Feßler die Uhren entnommen . » Das Kästchen dort ist für Sie , was für einen Poeten ein Schrein voll der köstlichsten Werke großer Dichter , die vor ihm gelebt . Eine schweigende , tote Welt , die ein Blick zum Dasein erweckt , zu einem mächtigern , schönern Dasein als das sogenannte wirkliche ... Ein Blick – ein sehender , der Blick des Verständnisses muß es sein .. . Nicht wahr , lieber Meister ? – Verständnis ist alles – Weisheit , Liebe , Poesie ... Nach dem allein haben wir zu ringen , die wir uns einbilden , Dichter zu sein ... An Stoffen fehlt's , höre ich die Leute sagen . – Begreife das Begreifbare , und aus allem , was dich umgibt , dringt die Fülle bildsamen Stoffes auf dich ein , und wenn es dir an etwas fehlt , so ist 's an Kraft , die wogenden Quellen zu fassen und sie zu leiten an ein gewolltes Ziel ! « Er sprang auf , ergriff die Hand Feßlers , nannte ihn einen edlen , einen seltenen , einen herrlichen Mann und verabschiedete sich mit der Bitte , recht bald wiederkommen zu dürfen . Und er kam wieder , kam täglich , ganze Wochen hindurch , und wenn er ja einmal ausblieb , bedauerte dies niemand mehr als Feßler . Lotti sprach überhaupt nicht von ihm , vermied es sogar , seinen Namen zu nennen , und was Gottfried betraf , der meinte , es sei nicht übel , zwölf Stunden lang Ruhe zu haben in der Werkstatt . Er leugnete nicht , daß Halwig eine große Unterhaltungsgabe besitze , allein für seinen Geschmack machte » der Poet « einen gar zu häufigen Gebrauch davon . » Wenn ich am Sonntag Unterhaltung habe , ist mir 's genug , täglich Unterhaltung ist mir zuviel « , sagte er und bewies es , indem er begann , das Haus zu den Stunden zu verlassen , in denen Halwig es zu besuchen pflegte . Dieser zeigte sich darüber gekränkt . Er war nicht gewöhnt , gemieden zu werden ; er tat sich etwas zugute auf die Macht , die ihm über die Gemüter der Menschen gegeben war . Keiner , um dessen Neigung er sich beworben , hatte ihm widerstanden , er hatte immer gehört und geglaubt , daß man ihn liebhaben müsse , wenn er es darauf angelegt . Bitter beklagte er sich bei Lotti über die Steifheit und Kälte ihres Vetters , versicherte , trotzig wie ein verwöhntes Kind , er werfe seine Freundschaft niemandem an den Kopf , und wenn Gottfried ihn hasse , so zahle er ihn mit gleicher Münze . Sobald sich jener aber blicken ließ , kam er ihm wieder mit der alten und – darüber konnte kein Zweifel sein – aufrichtigen Wärme entgegen . Er bemühte sich , sein Interesse zu erwecken , ihm Teilnahme einzuflößen , er warb förmlich um ihn . Alle liebenswürdigen Eigenschaften seines beweglichen , frischen , herzgewinnenden Wesens kamen dabei zum Vorschein , rührten aber denjenigen nicht , dem zu Ehren sie sich in ihrem vollsten Glanze zeigten . Eines Tages war Gottfried , mit einer dringenden Arbeit beschäftigt , von früh bis abends daheim geblieben und hatte im Eifer seines Fleißes die Stunde versäumt , zu welcher er jetzt regelmäßig seinen Rückzug vor dem » Luxusartikel « , wie er Halwig nannte , anzutreten pflegte . Zum Bewußtsein der Zeit wurde er durch Lotti gebracht , die eine Lampe auf den Tisch stellte und ihn mahnte , Feierabend zu machen . » Ist es denn so spät ? « fragte er . » Spät und nicht mehr hell , du verdirbst dir die Augen . « » Was liegt daran ? – Was liegt an mir ? « sprach er halblaut vor sich hin , wie einer , der , plötzlich geweckt , aus dem Schlafe redet . Er stöhnte schmerzlich auf und preßte beide Hände gegen die Stirn . Lotti wurde feuerrot ; schweigend , mit einer Gebärde der Mißbilligung wandte sie sich ab . Der Vater hatte seine allabendliche Zimmerpromenade unterbrochen , war vor Gottfried stehengeblieben und fragte , was ihm fehle . » Nichts « , erhielt er zur Antwort , » nur die Augen sind mir ein wenig müde geworden . « » Gönn dir Ruhe « , sagte Feßler , » mach es mir nach , ich spaziere schon lange müßig auf und ab und hätte ganz gut noch eine Weile schaffen können – die Tage wachsen , der Frühling kommt heran ... Ja , der kommt , man darf auf ihn zählen , der kommt . Wer aber ausbleibt « , schloß der alte Mann seine Betrachtungen , » das ist unser Hofpoet ... In drei Tagen hat er sich nicht blicken lassen , und auch heute – seine Stunde ist vorbei – er kommt nicht mehr . « » Um so besser ! « rief Gottfried , » ich wollte , wir wären für immer von ihm befreit . « » Befreit ! – Ist das dein Ernst ? ... « » Leider ja « , versetzte Lotti , und ein tiefer Groll sprach aus ihrer erregten Stimme . Gottfried erhob den Kopf : » Was sagst du ? « » Daß du ungerecht bist , zum erstenmal in deinem Leben ; ungerecht und grausam gegen einen edlen und guten Menschen ... Es ist herzlos und tut ihm weh – gerade von dir – denn du bist es já ... « ihre Lippen zitterten , der Ausdruck des bittersten Schmerzes zuckte über ihr Gesicht , » der ihm der Liebste ist von uns allen ... « Sie hielt tief atmend inne , Gottfried murmelte ein zorniges Wort , und der Vater stand in stummer Betroffenheit vor seinen beiden Kindern . In einer bisher ahnungslosen Seele dämmerte das Bewußtsein zerstörter Hoffnungen , eines nahenden Unglücks auf . Eh er sich's versah , bevor ihm zu einer Befürchtung Zeit geblieben , war der Friede aus seinem stillen Hause entwichen und aus den Herzen seiner Kinder ... In dem Augenblicke wurde an der Hausglocke gestürmt , bald darauf durcheilten leichte Schritte das Vorgemach . » Da ist er doch « , sagte Feßler . Halwig erschien auf der Schwelle , er schwenkte seinen Hut und sah so glücklich aus , als ob er eben eine Welt erobert hätte . 6 » Vater Feßler « , rief er , » da ist es , da haben Sie's , mein Büchlein , mein erstgebornes ! ... Sieht es nicht nett aus in seinem purpurroten mit Gold geputzten Kleidchen ? . . . Lesen Sie , was hier steht , auf der ersten Seite : › Johannes Feßler , meinem Lehrer , meinem Vorbild , meinem Freund ... ‹ Es ist Ihnen gewidmet , Ihr Eigentum , ich bringe , was aus meinem Herzen floß und Ihnen gehört , und lege es Ihnen zu Füßen . « Er machte Miene , das Büchlein wirklich auf den Boden vor Feßler hinzulegen ; der aber hinderte ihn daran . » Geben Sie es mir in die Hand , das ist Ehre genug « , sprach er und lächelte seinem Liebling zu , bei dessen Erscheinen der trübe Ernst verschwunden war , der eben noch die Stirn des alten Mannes umdüstert hatte . Er ließ sich erzählen , wie der Poet seit drei Tagen in verzehrender Erwartung seines Werkes gelebt , wie er jede freie Minute auf dem Postbüro zugebracht und durch die Ausbrüche seiner Ungeduld den Ärger eines Expeditors und das Mitleid zweier Briefträger erregt habe . Jetzt aber sei alles gut , meinte er und flehte , die Familie möge ihm diesen Abend schenken und sich den Vortrag seiner Dichtung gefallen lassen . Er stellte die Lampe auf den Tisch inmitten der Werkstätte und trug vier Sessel herbei . Lotti sollte ihm gegenübersitzen , Feßler und Gottfried neben ihm . » Auf diese Stunde « , sagte er , als alle Platz genommen hatten , » habe ich mich gefreut von dem Momente an , in welchem mir der erste Gedanke meines Gedichts aufgegangen , bis zu dem , in welchem ich am letzten Verse gefeilt ... Wie jetzt in der Wirklichkeit , umgaben Sie mich immerwährend im Geist , Sie geliebten drei ! « Seine Augen ruhten vor Innigkeit und Wärme leuchtend auf seinem kleinen Auditorium , dann öffnete er das Buch und begann zu lesen . Was er las , war nur eine einfache Herzensgeschichte – ähnliche sind wohl tausendmal berichtet , millionenmal erlebt worden . Abgedroschen ! wollte Gottfried schon ausrufen , aber er unterdrückte das Wort . Offenbar hatte der Dichter nicht durch das Interesse an seiner Fabel zu wirken gesucht ; was da fesselte und bezwang , das war der Schönheitszauber , der in dem schlichten Bilde webte , das war die Wahrheit und die Leidenschaft , die es atmete , und wen man darin am liebsten gewann , das war der Dichter selbst . Absichtslos , ja wider seinen Willen hob seine Gestalt sich verklärt aus seinem Werke und erschien so liebenswürdig wie die verkörperte Jugend . Er war von Begeisterung durchglüht , von Talent getragen ; eine Unendlichkeit wogte in seiner Seele . Für Ernst und Scherz , für Zorn und Wehmut , Haß und Liebe , für jede Stimmung und Empfindung der menschlichen Brust lag das Verständnis in seinem Herzen und der Ausdruck auf seinen Lippen . Kein Zweifel an sich selbst hemmte seinen Schwung , kein Mißtrauen in seine Kraft lähmte ihn , er hatte sie , er wußte es , er war ihrer Wirkung gewiß und baute auf sie mit der unerschütterlichen Zuversicht , die dem Erfolg vorangeht , die ihn oft erzwingt . Und so fragte er denn auch , als er geendet , voll freudiger Unbefangenheit : » Was sagen Sie ... Ist es mir nicht gelungen ? « » Vollkommen « , erwiderte Feßler , » es klopft ein Herz darin . « » Nicht wahr ? ... Und Sie , Gottfried – Ihre Meinung ? « Gottfried war die ganze Zeit hindurch dagesessen , den Ellbogen auf den Tisch und die Stirn in die Hand gestützt . Jetzt lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sprach , ohne Halwig anzusehen : » Es ist schön , ganz schön . « » Ich danke , Freund ! Ein solches Lob von Ihnen , das tut wohl ... Aber Sie – Fräulein Lotti ... Sie schweigen – Sie sagen mir nichts ... « In glühender Verwirrung blickte Lotti zu ihm auf : » Ich kann nicht – Sie sehen ... « stammelte sie , ein schmerzliches , vergeblich unterdrücktes Schluchzen erstickte ihre Stimme . » Lotti ! ... Ist es mir gelungen , Sie zu rühren , zu ergreifen ? . . . Soll mein schönster Traum mir heute ganz in Erfüllung gehen ? « Er sprang auf und eilte jubelnd auf sie zu . Lotti streckte abwehrend die Hände aus ; sie weinte , nicht sanft befreiende Tränen – Tränen qualvoller Beschämung und Empörung über sich selbst . Halwig trat bestürzt zurück . Einen Augenblick stand er zweifelnd vor ihr , plötzlich aber leuchtete das Bewußtsein des Sieges , den er über diese Seele errungen , mit süßem Triumphe aus seinen Augen , und er rief in einem Tone , aus dem Rührung , Entzücken und ein letztes Zagen zugleich herausklangen : » Sie zürnen mir ? soll ich dafür büßen , daß mein Gedicht Sie bewegte ? « » Zürnen ? Wie können Sie glauben ? . . . Eine neue Welt hat sich vor mir aufgetan ... Ich weiß nicht , ich kann nicht sagen , was ich am meisten bewundere – ich sehe nur , wie groß , wie herrlich und wie fern ... « Ihre Stimme brach , sie erhob einen raschen hilflosen Blick zu ihm , den er einsog wie himmlischen Tau . » Nicht fern « , rief er , » o nein ! Ihnen ist sie es nicht , sie lebt von Ihrem Leben , ist von Ihrem Atem durchhaucht ... Schöpferin meiner Welt , haben Sie sich in ihr nicht erkannt ? « Und schon lag er vor Lotti auf den Knien , bedeckte ihre Hände mit seinen Küssen , nannte sie seinen Engel , seine Geliebte , seine Braut . Er pries die Stunde , in welcher sie ihm zum ersten Male begegnet war , und die noch schönere , ewig gebenedeite , in welcher er 's zum erstenmal empfunden , daß sie ihn liebe . Das war nicht heute , war nicht vor kurzem , das war sehr bald , nachdem sie einander kennengelernt – er wollte gar nicht gestehen , wie bald ... um nicht allzu vermessen zu erscheinen , so vermessen wie man eben wird , wenn man sich geliebt weiß von dem edelsten und reinsten Herzen . » Jetzt aber sprich ! « bestürmte er sie , » bestätige mir mein Glück vor diesen teuren Zeugen ... deinem Vater , deinem Bruder , den meinen von nun an – ein Wort , Geliebteste ! « » Was soll ich sagen – du weißt alles « , war ihre Antwort , und jauchzend faßte er sie in seine Arme . – - Es war keine stumme Seligkeit , die seine ; unwiderstehlich brauste der Feuerstrom der Worte , die er ihr lieh , dahin und vermochte die Einwendungen Feßlers zu übertäuben und vermochte Gottfried , sich ein Wort der Fürsprache für denjenigen abzuringen , dem Lotti ihr Herz geschenkt . Freimütig erzählte Halwig die Geschichte seines Lebens , sprach von dem Leichtsinn , mit dem er das Erbe seiner Eltern zersplittert , gestand , daß er im Begriffe gewesen , auf schlechte Wege zu geraten , als sein schützender Stern ihn in das Haus Feßlers geführt . Von dem Augenblicke an war er ein anderer Mensch geworden . Er beschwor Feßler und Gottfried , Erkundigungen über ihn einzuholen . Seine Vorgesetzten im Amte , seine Freunde und Bekannten sollten entscheiden , ob er verdiene , hoffnungslos verworfen zu werden . » Davon ist nicht die Rede « , sagte Feßler und Halwig rief : » So lasset denn die Geliebte das Erlösungswerk vollenden , das sie an mir begonnen hat . « Sie wurde seine Braut ; und der Mann , der ihr wie ein höheres Wesen erschien , machte sie zur Herrin seines Schicksals . Er unterordnete sich ihr , er wollte ihr alles danken , was er besaß , er wollte alles , was er war , nur durch sie geworden sein . Sein junges Haupt , das schon von der Morgenröte des Ruhmes umglänzt wurde , beugte sich vor ihr , schmiegte sich demütig an ihre Knie . » Das heißt verwöhnen « , sagte Vater Feßler , aber Gottfrieds Meinung war : » Bete sie nur an , sie verdient's . « Einige Monate vergingen , da fiel der erste Schatten auf die bisher ungetrübte Seligkeit der Verlobten . Halwig hatte plötzlich den Staatsdienst aufgegeben , um sich ganz und gar seinem dichterischen Berufe widmen zu können , der ihm täglich neue Erfolge brachte . Ein zweites Büchlein war dem ersten gefolgt . Es erfüllte reichlich die schönen Erwartungen , die jenes erregt hatte . Die kleine Gemeinde von Bewunderern , die sich um den Dichter zu sammeln begann , wußte seines Lobes kein Ende und begrüßte auch sein drittes Werk mit unbegrenztem Entzücken . Und gerade dieses , das er , um eine übernommene Verpflichtung zu erfüllen , in fieberhafter Hast begonnen und beendet , war ihm vor allen andern ans Herz gewachsen . Er hatte daran erprobt , daß er zu jeder Zeit Herr seiner Stimmung , seiner Phantasie , aller seiner Gaben war , daß sein Talent ihm leiste und gewähre , was immer er von ihm verlangte . Er wußte jetzt , daß sein Wollen unumschränkt über sein Können gebiete . Ganz erfüllt von dem Gefühl eines so vollkommenen Gelingens , erschien er bei seiner Braut , und Lotti schwelgte im Anblick seiner stolzen Glückseligkeit . Als es jedoch hieß , ihre Meinung über die Arbeit auszusprechen , welche Hermann seine beste und reifste nannte , zagte sie und antwortete mit Befangenheit nach langem Zögern , daß ihr alles gefalle , was von ihm ersonnen sei . » Dieses « , rief er , » müßte dir auch gefallen , wenn ein anderer es ersonnen hätte . « » Vielleicht – gewiß ... « erwiderte Lotti , erschrocken über den Ausdruck von Enttäuschung , der sich in seinen Zügen malte . Er fuhr erregt fort : » Du mußt lernen , ganz von mir abzusehen bei der Beurteilung meiner Arbeiten . Daß Schönes geschaffen werde , daran liegt alles ; ob ich es geschaffen , ob Hinz oder Kunz , daran liegt nichts ... Der Standpunkt ist der einzig richtige – der soll der deine sein . – Deine Liebe zu mir darf sich nicht durch blinde Bewunderung äußern . Du mußt wissen , warum du bewunderst – mußt Gründe haben , für dein Lob . Aufrichtigkeit verlange ich von dir und will hoffen , daß du mich ihrer würdig hältst . « » Hermann – wie könnt ich anders ? « fragte sie mit einem ängstlichen Lächeln . » Ich sage dir , was ich denke , aber das hat ja keinen Wert ... Mein Urteil zu begründen , muß ich erst lernen ... jetzt bin ich noch nicht imstande , dir zu sagen , warum ich dir dieses Mal nicht so leicht – nicht mit so voller – wie soll ich's nennen ? – so voller Hingerissenheit folgen konnte wie früher , wie besonders bei deinem ersten , allerschönsten Gedicht ... « Nun brauste er auf . Er fragte , ob sie denn immer auf seine Anfänge zurückkommen wollte , ob ihr das Unbedeutendste am nächsten läge . » Wenn du bei dem Punkte stehenbleibst , von dem ich ausging , indes ich vorwärts jage , werden wir bald auseinandergekommen sein ! « rief er , war nicht zu beschwichtigen und verließ sie im Zorne . Freilich war er am nächsten Tage wieder da , demütigte sich vor ihr und weinte vor Reue , als sie ihn , womöglich noch liebreicher als sonst , empfing und ihm versicherte , nicht zu wissen , was sie ihm verzeihen solle . Er war so beschämt und in seiner Beschämung so ausbündig und unwiderstehlich liebenswürdig , daß Lotti ihn bat , sich nur recht bald wieder einzubilden , er habe ihr weh getan . Diese Bitte wurde erfüllt , aber in anderem Sinne , als sie gestellt war . Hermann ließ es an Gelegenheit nicht fehlen , ein gegen sie begangenes Unrecht gutmachen zu müssen , aber dieselbe zu benützen , verstand er bald nicht mehr . Ein leiser Zweifel , eine Frage vermochten alle Dämonen in seiner Brust zu entfesseln , und Lotti erkannte mit Entsetzen , daß es Augenblicke gab , in denen er sie haßte . Da legte er den Ausbrüchen seines Zornes keinen Zügel an . Er litt und fand es natürlich und gerecht , daß diejenige , die ihn liebte , mit ihm leide . Wenn er sich von ihr mißverstanden oder im stillen getadelt glaubte , warf er ihr ihre untergeordnete Tätigkeit , ihren beschränkten Wirkungskreis vor . » Von dem , was ich anstrebe , steht freilich nichts im › Le Paute ‹ ! « rief er eines Tages , und Gottfried , der bisher männlich an sich gehalten , fuhr empor : » Noch ein solches Wort , und ich schlage dir den Schädel ein ! « Dem heftigen Auftritt zwischen den beiden Männern , der darauf folgte , wurde mühsam genug von Feßler ein Ende gemacht ; aber von nun an begann Gottfried sein passives Benehmen dem Brautpaar gegenüber aufzugeben . » Du bist ein ungebärdiges Kind « , sagte er zu Halwig , » du wärst imstande , das Liebste , das du hast , in einem Anfall übler Laune zu zerstören ; ich will strenge Wache über dich halten . « Halwig drückte ihm die Hand , er begab sich gern unter den Schutz seines besten Freundes . » Verschwören wir uns gegen alle meine Fehler ! « rief er , ganz beseelt von den edelsten Vorsätzen , » wenn du mir treulich hilfst , will ich ihrer schon Herr werden ! « Lotti war mit diesem Bündnisse nicht zufrieden , sie wußte , daß Hermann die Selbstbeherrschung , die es ihm auferlegte , ebensowenig zu bewahren vermochte , wie er die Aufrichtigkeit vertrug , nach welcher er immer verlangte . Seine ganze Natur empörte sich gegen den Zwang , die leiseste Mißbilligung fraß ihm am Herzen , erbitterte ihn , machte ihn unglücklich und überzeugte ihn nie . Was ihn stählte , was alle seine Kräfte entfaltete , das war der Kampf gegen Haß und Verfolgung und der Genuß überschwenglichen Lobes und verhimmelnder Liebe . » Ich kann nur im Lichte gedeihen , und ihr lebt im Halbdunkel « , rief er einmal nach einer langen Kontroverse mit Gottfried und verließ das Zimmer ohne Abschiedsgruß . Lotti erhob sich lautlos und ging ihm nach . Eine Weile darauf hörte man aus dem Vorgemache sein zorniges Sprechen herübertönen , manchmal unterbrochen durch ihr sanft beschwichtigendes Flehen . Dann wurde die Haustür zugeschlagen , und eine lange Zeit verfloß , bevor Lotti , noch bleich und zitternd , in die Werkstatt zurückkehrte . Am Abend sprach Feßler zu Gottfried : » Was ich dir sagen wollte : Gib dein Erziehungswerk auf . Den Halwig änderst du nicht . Laß ihn . Ihr ist er ja recht , wie er ist . « » Aber Vater , er mißhandelt sie . « Feßler seufzte und zog bedauernd die Achseln in die Höhe . » Seine Mißhandlungen sind ihr lieber als die Liebkosungen eines andern . Das ist so Weiberart . « Gottfried schwieg und ließ fortan die Dinge gehen , wie sie gingen . Die Besuche Halwigs wurden immer seltener , und wenn er kam , war er entweder düster und verschlossen oder von einer aufgeregten und erzwungenen Lustigkeit , die unter allen seinen wechselnden Stimmungen Lotti am peinlichsten berührte . In eine solche geriet er einmal , als Feßler über einige Vorbereitungen zur nahenden Hochzeitsfeier sprach , und plötzlich erklärte Lotti ihrem Vater , die Vermählung müsse hinausgeschoben werden . » Hat er den Vorschlag gemacht ? « rief Gottfried . » Ich wünsche es ! « entgegnete sie rasch . » Warum ... Mißtraust du ihm ? « Vielleicht nur mir « , war ihre Antwort . Scheinbar völlig ruhig begab sie sich an die Arbeit . Kurze Zeit , nachdem Lotti diesen Entschluß gefaßt , schien Hermann ganz zu ihr zurückzukehren . Er hatte eine große Täuschung erlitten , er fand Trost bei ihr , die seinen Schmerz tiefer empfand als er selbst . Sein gesunkener Mut wurde indessen bald wieder durch neue Erfolge gehoben , und die unausbleiblichen Früchte derselben stellten sich ein . Die Huldigungen , die ihm dargebracht wurden , wollten bezahlt werden , sie forderten ihren Lohn , machten Ansprüche auf die Persönlichkeit , auf die Zeit des Dichters . Verwandte , die sich vor Jahren von ihm losgesagt hatten , erinnerten sich plötzlich , und erinnerten ihn , daß er zu ihnen gehöre . Wenn er von seiner Verlobung mit der Tochter eines Uhrmachers sprach , hörten sie ihn mit der überlegenen Nachsicht an , die gescheite Leute für Künstlerlaunen besitzen . Halwig begann sich einzubilden , daß er seine Braut nur um den Preis schwerer Opfer , harter Kämpfe werde heimführen können . Er ersparte und verschwieg ihr nichts ; kein noch so herbes Urteil , das Menschen über sie fällten , die sie nie gesehen , kein Bedenken derjenigen , denen er früher aus dem Wege gegangen und die er jetzt » die Seinen « nannte . Er schrieb diese grausame Offenheit dem unbegrenzten Vertrauen zu , das er für Lotti empfand , und die bestärkte ihn darin . Sie wußte , daß sie seine Liebe verloren hatte , aber den Schatten derselben , dieses Vertrauen , das ihr sein Herz öffnete , sie seine geheimsten Gedanken kennen ließ , an dem hielt sie fest , das hütete sie wie das heilige Feuer , wie ihr Lebenslicht . Als ob ihre Liebe in dem Maße wüchse , in dem die seine abnahm ; als ob er sie durch Qual fester an sich ketten würde , wachte sie über dem kleinen Reste seiner Neigung in übermenschlicher Treue und Geduld . Ein Aufflackern seiner erlöschenden Empfindung war ihr , was der Mutter ein Lächeln ihres sterbenden Kindes ist . Endlich kam die Stunde , in welcher sie ihre Kraft erlahmen fühlte , in welcher ihr glühender Entsagungsmut sie verließ . Nach jahrelangem Ringen erwachte in ihr die unwiderstehliche Sehnsucht nach Frieden . Aber sie wollte diesen nicht mit einem Selbstvorwurf in der Seele dessen erkaufen , den sie so sehr geliebt hatte . Sie tat es an einem Tage , an dem er sich einmal wieder ihr gegenüber so herzlich , so warm , so voll Hingebung und Innigkeit gezeigt wie in der Frühlingszeit ihrer Liebe . Er war länger verweilt , als er beabsichtigte , und sprang erschrocken auf , als einige Uhren zugleich die fünfte Nachmittagsstunde schlugen . » Ich sollte längst fort sein ! « rief er , » aber gleich viel ... Bei dir versäume ich nichts , ich gehe immer reicher , besser , als ich gekommen bin ... Ich bin ein Narr , so selten zu kommen . « Sie traten beide an das geöffnete Fenster , durch welches die sanft bewegte Luft des lauen Herbstabends hereinflutete . Die Sonne hatte sich hinter einer schweren Wolke verborgen , aber ihr Widerschein säumte den Horizont mit Purpurstreifen . Breite , goldige Lichter lagen auf den Dächern der Häuser und behaupteten sich noch siegreich gegen die grauen Dünste , die von den Bergen herzogen und den östlichen Teil der Stadt schon in ihre wallenden Schleier gehüllt hatten . Drüben am Kai jagte Wagen an Wagen vorbei , drängte und tummelte sich das Menschengewühl , indes der Strom lautlos und träge seine trüben Wellen rollte . » Die Aussicht hab ich lieb « , sprach Halwig , » ich sehe gern das Treiben der großen Stadt so tief unter mir ... Dein Vater hat recht , seine hohe , alte Warte nicht zu verlassen , wenn es ihm auch manchmal schwerfallen mag , sie zu erklimmen ... Leb wohl – das heißt auf Wiedersehen ! « » Nein , nein « , sagte Lotti hastig , » es heißt leb wohl ... « Eine brennende Röte bedeckte ihre Wangen , und sie umspannte mit beiden Händen die Hand , die er ihr gereicht . » Wir wollen scheiden , wir müssen ... als gute Freunde , aber für immer . Gib mir mein Wort zurück , wie ich dir das deine zurückgebe , Hermann ... « » Was ficht dich an ? « fragte er . Sein Ton klang vorwurfsvoll , allein ein Blitz feuriger Überraschung , kaum sichtbar für ein anderes Auge als das ihre , hatte während ihrer vorhergehenden Rede in seinem Angesicht aufgeleuchtet . » Ich kann deine Frau nicht werden « , fuhr sie fort , rascher jetzt und mit fliegendem Atem : » Schon lange wollte ich dir das sagen ... Ich ringe schon lange mit mir ... Ich kann mich von meinem Vater nicht trennen , kann auch die Lebensweise nicht aufgeben , an die ich gewöhnt bin von Kindheit an ... die mir sehr lieb ist ... « » Ich meinte dir noch viel lieber zu sein ! « rief er und setzte in unaussprechlicher Verwunderung hinzu : » Du gibst mich auf ?! ... Du – mich ?! « Du wirst dich darein fügen – nicht wahr ? ... Sage nicht , daß es dir unmöglich ist ! « Sie richtete die Augen fest auf ihn , und die seinen senkten sich . Es flog ihm durch den Sinn , daß sie ihm untreu geworden , daß sie einen andern liebe , aber sogleich mußte er lächeln über diesen Verdacht . Er fragte sich , ob sie ihn auf die Probe stellen wollte , fragte sich auch , ob sie nicht vielleicht seinem Glück , seiner Zukunft ein ungeheures Opfer bringe ? Die ruhige Haltung , in der sie vor ihm stand , machte ihn aber auch an dieser Vermutung irre . Er fuhr aus seinem Brüten auf und sagte mit dem Ausdruck eines echten Schmerzes : » Und wir sollen uns niemals wiedersehen ? « » Doch ... wenn wir ganz vernünftig geworden sind . « » Du bist es schon jetzt ! « entgegnete er voll Bitterkeit . » Und du wirst es werden – wirst mir danken ... Laß mir deine Hand ! wende dich nicht ab ... Du hast keinen Grund , mir zu grollen . Ich befreie dich von einer traurigen Braut , bei der keine Freude zu holen ist – « sagte sie mit einem schwachen Versuch zu lächeln . Er unterbrach sie , er wollte nicht weiter hören ; er erklärte , daß er ein einmal gegebenes Wort nie wieder zurücknehme , und wenn es sein Unglück wäre ... » Wenn es aber auch das meine ist ? « fragte sie , und er rief halb zornig , halb verlegen : » Wie du mich mißverstehst !.. . Wie du nur glauben , es nur für möglich halten kannst , daß ich dich aufgeben werde , ohne Grund ... Weißt du denn einen ? . . . Daß ich mich von dir trennen werde – so plötzlich ... « Sie erhob das Haupt . » Wir sind längst getrennt « , sprach sie . » Es ist aus . Frage dich selbst , ob du recht hättest , mich mitzuschleppen durchs ganze Leben , weil du einmal geglaubt hast , mich zu lieben . « » Geglaubt ?.. . Ich habe dich unaussprechlich geliebt – meine Liebe zu dir war ... « » Sie war ! « fiel ihm Lotti mit einem schneidenden Schmerzenston ins Wort , der die Qual ihres Innern verriet . » Täusche dich nicht ... Wir wollen die Kraft haben einzugestehen , daß eine Empfindung , die wir für ewig hielten – erloschen ist . Und wir wollen nicht unsere Zukunft auf die erloschene bauen , nicht erwarten , daß ein Glück aus ihr erblühen könne ... « Er starrte sie an und schwieg . Sein Verstand gab ihr recht , sein Herz stimmte ihr bei . Was sich in ihm noch regte und sträubte , das war ein leiser Gewissensvorwurf . Allein auch den vermochte Lotti zu beschwichtigen , indem sie sagte : » Nur die Geliebte scheidet sich von dir – die Freundin bleibt . Die wirst du immer finden . Komm zu ihr , wenn du ein Leid zu klagen hast , wenn du verdrossen bist und schlimmen Mutes . Bedrückte Seelen warten – das verstehe ich , das ist die Kunst , die ich ausübe , das ist meine Virtuosität ... « » Lotti ! « rief er überwältigt und zog sie an seine Brust . Plötzlich jedoch ließ er sie aus seinen Armen , warf sich in einen Sessel nieder und brach in heftiges Schluchzen aus . Sie trat zu ihm , beugte sich , ihre Lippen ruhten lange auf seiner Stirn ... regungslos , mit geschlossenen Augen , empfing er ihren schwesterlichen Kuß , und ihm war , als senke sich aus seinem innigen Berühren Frieden und Versöhnung in seine kämpfende Seele . Als er aufblickte , fand er sich allein ; Lotti war in ihr Zimmer geeilt , und er hörte sie den Riegel vorschieben . Er sprang auf , er rannte zur Tür und pochte und rüttelte daran wie ein Verzweifelter . Kein Laut antwortete seinem Drohen und Flehen . Endlich mußte er sich ergeben – mußte sich fassen . » Ich komme wieder , hörst du mich ? Ich komme wieder ! « sprach er und schritt nach einem letzten Zögern , einem letzten vergeblichen Erwarten , langsam aus dem Gemach . 7 Allein sooft er wiederkam , so ungestüm er nach ihr fragte – Lotti ließ sich nicht sehen . Er schrieb an sie , er bat sie um eine Unterredung , und sie entgegnete , sie wolle dieselbe gern gewähren , wenn er zuvor verspreche , ihres früheren Verhältnisses mit keinem Worte zu erwähnen . Auf diese Bedingung konnte er nicht eingehen , das erklärte er offen in einem zweiten Briefe , der unbeantwortet blieb . Damit war zwischen ihnen alles zu Ende . Als sie einander nach langer Zeit zufällig auf der Straße trafen , senkte Lotti die Augen , und Halwig wandte die seinen ab . Später vermieden sie es nicht mehr , einen raschen Blick zu wechseln . Hast du mir nichts zu sagen ? fragte der ihre und wurde durch ein kaltes Lächeln , eine Miene spöttischer Gleichgültigkeit erwidert . Nach solchen flüchtigen Begegnungen kehrte Lotti heim mit fliegenden Pulsen und brennender Stirn , und am nächsten Morgen erzählten ihre müden und geröteten Augen von einer durchweinten Nacht . Aber auch diese letzte , törichte Schwäche ward überwunden . Lotti gewöhnte sich , an dem einst Geliebten vorbeizugehen wie an einem Fremden ; sie errötete nicht mehr , wenn sein Name in ihrer Gegenwart ausgesprochen wurde ; sie las auch seine Bücher nicht mehr . Sie wurde von ihnen allzu peinlich berührt . Es gab sich darin ein Haschen nach dem Absonderlichen und Unerhörten kund , ein Streben , gemeine Neugier zu wecken , eine Vorliebe , das Krasse , oft sogar das Widerliche zu schildern , die Lotti entsetzten und ihr wie Lästerungen an dem Gotte erschienen , den Halwig selbst sie verehren gelehrt : am Gotte des Schönen . Jahre vergingen . Feßler starb – kurze Zeit nachdem ihm angekündigt worden , daß er seine » hohe Warte « verlassen müsse , weil das Haus zum Umbau bestimmt sei . Lotti bezog ihre jetzige Wohnung . Gottfried mietete sich bei dem Uhrmacher ein , für den er seit dem Tode seines Pflegevaters arbeitete . Des erlittenen Verlustes immer eingedenk , führten beide still ihr Leben fort ; Lotti war von ihrer ersten und einzigen Liebe so vollkommen geheilt , daß sie die Nachricht von Halwigs Verheiratung , die Gottfried eines Tages brachte , mit unbefangener Heiterkeit aufnahm . Vor drei Jahren hatte sich's ereignet , und Lotti besann sich heute noch des verstörten Gesichts , mit dem Gottfried damals bei ihr erschienen war , der Verlegenheit , der unnötigen Schonung , mit denen er , nach langem Hin- und Herreden seine Neuigkeit plötzlich hervorgestoßen und dabei so beschämt und elend ausgesehen , als ob er eben eine schändliche Handlung begangen hätte . » Ich muß es dir sagen « , entschuldigte er sich , » du hättest es vielleicht auf eine unangenehme Art erfahren können ... unvorbereitet vielleicht ... « Lotti sah ihn freundlich an und sagte : » Nun – was hätte das gemacht ? « » Wenn du ihnen aber begegnet wärest wie ich – ganz unerwartet – beim Biegen um eine Ecke ... Arm in Arm . « » So hätte es mich gefreut « , sagte Lotti . » Hätte es ? ... « Sein Gesicht hatte sich verklärt , er geriet in Begeisterung , und jetzt kam es heraus , daß er schon seit einigen Tagen von der Verheiratung Halwigs unterrichtet war , daß er auch gehört hatte , die junge Frau sei arm , vornehm und schön . » Das Letztere kann ich bezeugen « , sprach Gottfried mit gedämpfter Stimme , als ob er ein Geheimnis anzuvertrauen hätte , » du und ich , wir haben nie etwas Schöneres gesehen . Sie ist groß – um ein Haar vielleicht größer als du , und so zart , so ätherisch , als wäre sie aus Mondesstrahlen gewoben ... aber nein , das Bild paßt nicht ; die Strahlen des Mondes sind kalt , und sie sieht aus wie das junge , rosige Leben ... Ein Kind , sag ich dir , und hat doch schon etwas in den Augen ... Ich war eilig und ging in Gedanken so hin , wäre beinahe an sie angerannt ... Er rief : › Holla ! ‹ und sie blickte mich mit diesen prächtigen , sonderbaren Augen unaussprechlich verwundert an , als ob sie sagen würde : Geben Sie doch acht ! Ich bin es ja ! ... so , daß ich außerordentlich erschrocken stehenblieb und den Hut rückte . Da bemerkte ich erst , daß er den seinen abgenommen hatte . Gesprochen wurde nichts , wir haben beide nur getrachtet , so bald als möglich fortzukommen . « Gottfried nahm seinen gewohnten Platz in der Fensterecke , dem Arbeitstisch Lottis gegenüber , ein , und sie begann von anderen Dingen zu sprechen . Sie erzählte mit einer Art Entrüstung , daß der Uhrenliebhaber , der einst für ihre Sammlung jenes hohe Angebot gemacht , das Feßler bereute von der Hand gewiesen zu haben , sich wieder melde . Von Amerika aus , wo er lebte – er war ein Deutscher , der dort Glück gemacht – , erneuerte er seinen Antrag in einem Briefe , den sein Agent Lotti überbrachte . Sie sann jetzt über ihre Antwort nach , konnte nicht Worte finden , scharf und bestimmt genug , um ihren unerschütterlichen Vorsatz , sich nie von ihrer Sammlung zu trennen , auszudrücken . Sie hatte Lust , dem » Amerikaner « mitzuteilen , was bisher niemand außer Gottfried wußte , daß der Hausschatz nämlich im Testamente Lottis dem Museum ihrer Vaterstadt vererbt sei , wo er unter dem Namen » Feßlersche Sammlung « auf die Nachwelt übergehen sollte zum Nutzen und zur Freude künftiger Generationen . Gottfried gab ihr , etwas zerstreut , in allem recht , sprang aber plötzlich von dem Gegenstand ihres Gespräches ab und sagte : » Findest du es nicht verwegen von ihm , ja sehr verwegen , in seinen doch schon reifen Jahren ein Mädchen zu heiraten , wie gesagt , fast noch ein Kind und so wunderschön ? « » Von – ihm ? ... du sprichst von Halwig – « erwiderte sie mit einem verweisenden Blick . – Die sanfte Lotti war gegen Gottfried ausnahmsweise immer ein wenig streng . » Das muß man wissen ... Reife Jahre ? Ach was ! Künstler bleiben immer jung , nur wir altern , wir Arbeitsleute . « So hatte sie vor drei Jahren die Kunde von Hermanns Verheiratung aufgenommen und seitdem nichts mehr von ihm gehört . Und jetzt , nachdem sie alles verschmerzt , vieles vergessen , kam ein Bote aus der langentschwundenen Zeit und weckte sie aus ihrer tiefen Ruhe . Sie staunte selbst über die Gewalt des Eindrucks , den sie plötzlich empfangen hatte , über die Pein , welche er verursachte . Doch versuchte sie nicht , sich ihr zu entziehen , dazu kannte sie sich zu gut . Ihre Leiden wollten völlig durchlebt sein , bevor sie sterben konnten . Da half kein Wegschieben , keine Überredungskunst , sie forderten ihr ganzes Recht und wichen erst , nachdem es ihnen geworden . Sie nahm ihre Arbeit vor . Gleichförmig wie immer spann ihr Tagewerk sich ab . Nachmittags besuchte sie Gottfried in seinem Gewölbe . Allein , was sie auch tat und sprach , unablässig summten ihr die Worte : » Aus Leichtsinn oder Not « im Ohr , und der Gedanke an Halwig verließ sie nicht eine Sekunde . Sie durchwachte eine böse Nacht . Am nächsten Morgen kam Gottfried und mahnte sie noch einmal , die bei ihr bestellten Arbeiten dem früheren Meister heute selbst zu überbringen . Sie versprach es , lehnte aber Gottfrieds Antrag , sie zu begleiten , auffallend hastig ab . » Wie du willst « , sagte er und verabschiedete sich ohne eine Spur von Empfindlichkeit . Sie blickte ihm eine Weile nach . » Der beste Mensch ! « murmelte sie leise vor sich hin und begann ganz gegen ihre Gewohnheit müßig , mit gekreuzten Händen , im Zimmer auf und ab zu gehen . Ihre alte Dienerin trat ein und verwunderte sich über die Maßen , ihre Herrin unbeschäftigt zu finden . Aber sie freute sich noch mehr als sie sich verwunderte . Der Himmel selbst , meinte sie , beschere ihr eine Gelegenheit , sich so recht nach Herzenslust über die interessanten Neuigkeiten auszulassen , die sie vom Markte mitgebracht . Leider fand sie nur geringe Teilnahme und wurde plötzlich durch die Worte unterbrochen : » Agnes – ich gehe jetzt aus . « Das war freilich leichter gesagt als getan . Ausgehen ? Jetzt ? – die Alte entsetzte sich über » diese Idee « . Vor dem Essen war das Fräulein nie ausgegangen , warum denn heut ! Die Frage und die seltsam forschende Miene , mit der sie gestellt wurde , machten Lotti erröten ; sie wandte das Gesicht verlegen ab und sagte : » Warum ? – ja – - ich könnte eigentlich auch später – wenn du dich beeilen wolltest ... « Agnes entfernte sich , erschien jedoch bald wieder . Sie überbrachte die Visitenkarte eines fremden Herrn , der das Fräulein dringend zu sprechen wünschte . Der Agent des » Amerikaners « kam einmal wieder , die Anerbietungen seines Chefs in bezug auf die Uhrensammlung zu erneuern . Er wurde selbstverständlich abgewiesen . Allein statt sich damit zu bescheiden und sich – zufrieden oder nicht – zu empfehlen , nahm er auf das breiteste Platz in dem Fauteuil und ließ alle fünf Minuten einige wegwerfende Worte über alte Uhren fallen . Nach einer tödlich langen Stunde erhob er sich endlich mit der Versicherung , er wolle vor seiner Abreise noch einmal vorsprechen . Lotti erlaubte sich zu bemerken , das sei ganz überflüssig , worauf er verbindlich erwiderte , er danke und werde sich gewiß einfinden . Dieser Besuch schien Lotti den Appetit verdorben zu haben , denn sie ließ ihr Mittagsmahl , das von Agnes endlich aufgetragen wurde , unberührt . Sie kleidete sich rasch und hastig zum Ausgehen an und blieb dann zögernd an der Tür stehen ... sie eilte die Treppe hinab und schritt langsam durch die Straßen ... immer langsamer , je näher sie ihrem Ziele kam . Sie wollte sich Gewißheit über die Umstände verschaffen , unter denen ihr einstiges Geschenk verkauft worden war . Sie wollte es . Und doch erhoben sich Einwendungen in ihr gegen den unwiderruflichen Entschluß . – Was soll die Gewißheit , nach der du strebst , dir bringen ? fragte sie . – Was hast du zu erwarten ? Du wirst von einem Leichtsinn hören , den du nicht heilen kannst , oder von einer Not , der abzuhelfen du nicht vermagst . Laß ab ! Was quälst du dich ?.. . Zu wessen Frommen ? Du bist längst vergessen – vergiß auch du ! Lotti horchte den leisen abratenden Stimmen und – mit Bewußtsein handelte sie ihnen entgegen . Jetzt stand sie an der Tür des Uhrmacherladens , jetzt drückte sie die Klinke . Der Laden war leer , aber aus dem anstoßenden offenen , mit Gaslicht hell erleuchteten Raume schallte ihr ein lauter Wortwechsel entgegen . » Ich weiß ja , daß ich eine Gefälligkeit von Ihnen verlange ! rief eine Stimme , deren Ton Lotti seit fünfzehn Jahren nicht mehr gehört hatte und die sie dennoch augenblicklich erkannte . » Ich aber bin nicht in der Lage , Gefälligkeiten zu erweisen . – Entschuldigen Sie , da ist jemand ... « sagte der Uhrmacher , der den Eingang zum Gewölbe nicht aus dem Auge gelassen hatte : » Ah – Fräulein ! eben recht ... « Er eilte auf Lotti zu , indem er fortfuhr zu sprechen : » Vierundzwanzig Stunden bin ich im Wort gestanden ; jetzt sind drei Tage vorüber ; und mit dem besten Willen – wenn ich noch so gern möchte – ich könnte die Uhr nicht beschaffen , denn sie ist – « er warf Lotti einen Blick des Einverständnisses zu , » bereits in anderen Händen . Diese Dame kann es bestätigen . « Derjenige , dem diese Rede galt , hatte sie mit Äußerungen des Unglaubens begleitet . Als Lottis Zeugnis angerufen wurde , richtete er plötzlich die Augen auf sie , verstummte und starrte sie so vernichtet , so völlig überwunden und ratlos an wie ein Kind , das auf einer schlimmen Tat ertappt wird . » Mein Gott – Sie ? ... « stammelte er , » was werden Sie von mir denken ? « Lotti hatte sich rascher gefaßt als er ; sie erwiderte : » Nichts anderes , als daß es schön von Ihnen ist , sich so herzlich nach Ihrer alten Uhr zurückzusehnen . « Beide schwiegen und sahen einander an . Sie ihn mit leiser , etwas peinlicher Überraschung : er sie halb wehmütig , halb freudig . Seine Verlegenheit war wie durch Zauber verschwunden , und ihm wurde leicht und wohl ums Herz . Ihm schien es , als träte ihm die Erinnerung an die beste Zeit seines Lebens verkörpert entgegen ... nicht die glänzendste , oh , bei weitem nicht ! Aber die beste gewiß . » Fräulein Lotti – Fräulein Lotti « , wiederholte er mehrmals , ohne den Blick von ihr zu verwenden . Er fand in ihrem Gesicht den Ausdruck , den er einst geliebt hatte , wieder . Hübsch war sie nie gewesen , doch konnte sie schön sein , wenn ihre Seele sich in ihren Zügen spiegelte , wenn der Abglanz ihrer reinen Gedanken auf ihrer Stirn sichtbar wurde , wenn eine Gemütsbewegung ihre Wangen rötete – so wie jetzt ... Was lag daran , ob leichte Falten diese Stirn furchten , ob diese Wangen schmaler geworden ? Die Augen blickten so gütig , wie je ; die rosige Farbe der Lippen hatten die Jahre verwischt , den Zug von Sanftmut und stiller Heiterkeit , der sie umspielte , jedoch nur tiefer eingeprägt ... Ja , sie war es , war dieselbe noch ! und – sie hat sich wenig verändert , dachte er . Lotti hingegen dachte : Er hat sich sehr verändert . Worin aber ? fragte sie sich . Die Zeit ist ja doch schonend an ihm vorübergezogen . Seine Gestalt hatte sich jugendlich schlank erhalten . Die Farbe seiner Haare und seines Gesichtes waren dunkler , sein Bart und seine Brauen waren lichter geworden . Die Augen lagen tiefer , und schon bildeten sich Ringe um dieselben , doch funkelten sie noch feurig wie sonst ; er war noch immer ein Bild männlicher Schönheit , sein Wesen noch immer anziehend und gewinnend . Allein der Charakter seiner Erscheinung hatte eine gewaltige Änderung erfahren . Keine Spur des Künstlers war mehr an ihm . Er sah wie ein vollendeter Weltmann , sogar ein wenig stutzerhaft aus . Das Haar war kurz gehalten , der Backenbart nach englischer Mode zugeschnitten , und die nämliche und allerneueste Mode hatte auch die Form des langen lichten Oberrocks , den er trug , bestimmt , hatte bei der Wahl des glänzenden Zylinders , der sportsmäßigen Krawatte , der Handschuhe aus Hundsleder den Ausschlag gegeben . Wenn Kleider Leute machen würden , hätte man ihn für ein Mitglied des Jockeyklubs halten müssen . Er hatte jedoch nur die äußere Hülle eines Engländers , nicht dessen Art und Weise angenommen – vielleicht nicht anzunehmen vermocht . Es war nichts von steifer Gleichgültigkeit in dem Tone , in welchem er sich an Lotti wendete und sie versicherte , er freue sich des Wiedersehens , trotz der ihn beschämenden Umstände , unter denen es stattfand . Er bat sie , ihn anzuhören , bat , ihr seine törichte und leichtsinnige Handlung , die allerdings unverzeihlich sei , wenigstens erklären zu dürfen . Lotti unterbrach ihn und meinte , daß sich wohl mehr werde tun lassen . Sie wandte sich an den Kaufmann , und ihrer eindringlichen Fürsprache gelang es nach einiger Bemühung , den übereilten Handel rückgängig zu machen . Sodann verabschiedete sie sich von dem alten Geschäftsfreunde und verließ das Gewölbe zu gleicher Zeit mit Halwig . » Ihre Uhr ist bei mir « , sagte sie zu ihm , » in drei Tagen schicke ich sie hierher , da kann sie abgeholt werden . « Er wollte in Worte des Dankes ausbrechen , sie aber grüßte so deutlich verabschiedend , daß ihm nichts übrigblieb , als diesem Winke zu gehorchen . Er verneigte sich , trat zurück , und sie schlug den Weg nach ihrer Wohnung ein . Sie war schon eine ziemlich große Strecke gewandert , als sie durch rasch hinter ihr hereilende Schritte eingeholt wurde und Halwig an ihrer Seite erschien . Verzeihen Sie mir « , sagte er , » verzeihen Sie , Fräulein Lotti ... eine große Bitte ... « » Nun ? « » Erlauben Sie mir , meine Uhr selbst bei Ihnen abholen zu dürfen ? « » Das steht Ihnen frei ! « antwortete sie . » In drei Tagen also !.. . Um diese Zeit , nicht wahr ? Ich komme , ich danke Ihnen ... das ist eine Freude ! « » Die hätten Sie sich längst machen können . « » Können ? ... « wiederholte er fragend , » haben Sie mir nicht dereinst gesagt , nur wenn ich ein Leid zu klagen hätte , mög ich kommen ? Nun , Fräulein Lotti , ich hatte keines zu klagen außer demjenigen , das Sie selbst mir damals angetan haben ... und das ich allein tragen und überwinden mußte ... In allem übrigen bin ich glücklich gewesen ... « » Und davon sollte ich nichts wissen ? « unterbrach sie ihn . » Davon wollten Sie nichts wissen ... « » O wie kindisch ! Ist es möglich , Halwig , so kindisch sind Sie geblieben ? « Er fiel sogleich in den heitern Ton ein , den Lotti angestimmt hatte . Erst die Frage , die sie an ihn stellte , wie es denn komme , daß sie ihm seit Jahren nicht einmal mehr auf der Straße begegnet sei , stimmte ihn ernster . » Ach « , sagte er mit einem Seufzer , » ich bin ja wie der Vogel der Minerva . In der Dämmerung beginne ich meinen Flug . Tagsüber schmiedet mich die Arbeit an meine Stube fest ... freilich keine unnütze Arbeit – eine lohnende und erfolgreiche ... « Er warf den Kopf stolz zurück . » Überdies « , setzte er , als Lotti schwieg , mit veränderter Stimme hinzu , » habe ich diesen Winter und den vorigen in England zugebracht , die Gesundheit meiner kleinen Frau machte einen längeren Aufenthalt in einer kräftigeren Luft notwendig . « » Sie ist leidend ? « » Nichts von Bedeutung . Gott sei Dank , nichts , das mir den geringsten Grund zu Besorgnissen gäbe . « » Sie müssen mir von Ihrer Frau erzählen , Halwig . « » Ich will sie Ihnen bringen ! « rief er , hielt aber sogleich inne , wie jemand , der ein übereiltes Wort gesprochen hat , und setzte zögernd hinzu : » Das heißt , wenn meine Frau – ich wollte sagen , wenn Sie es mir erlauben . « » Erlauben – wie denn ? – ich bitte Sie darum . « Sie waren bei dem Hause Lottis angelangt , und diese blieb stehen . » Hier wohne ich « , sprach sie , » hoch oben im dritten Stock . « » Hier also – gut – hier suche ich Sie auf , in drei Tagen ... Wie glücklich wäre ich , unser kaum begonnenes Gespräch jetzt schon fortsetzen zu können – aber ich bin ein Sklave ... ein freiwilliger natürlich – einer , der vernarrt ist in seine Sklaverei ... Auf Wiedersehen denn ! « Er ergriff ihre Hand und drückte sie mit Wärme : » Fräulein Lotti – so haben wir uns doch endlich wiedergefunden ! « » Und wie mir scheint « , antwortete sie , » als ganz gute Freunde . « 8 Am dritten Tag , zur bestimmten Stunde , fand Halwig sich ein . » Agnes , kennen Sie mich noch ? « sprach er , ins Vorgemach tretend , dessen Tür die Alte ihm geöffnet hatte . Agnes erwiderte ausweichend : » Das Fräulein hat mir schon gesagt , daß Sie kommen werden . « Der harte Blick , mit dem sie ihn empfangen hatte , wurde allmählich milder . » Aber ich hätte Sie auch so erkannt ; Sie sehen ja prächtig aus . « » Sie noch besser , Agnes , Sie noch viel besser ! « Die Alte schmunzelte und dachte : Jetzt geht es mir wieder mit ihm , wie es mir immer gegangen ist . Im Grunde ihres Herzens hatte sie von jeher eine tiefe Abneigung gegen ihn gehegt . Sie war eifersüchtig auf die Geltung , die er im Handumdrehen im Hause erlangt , sie verabscheute seine Tätigkeit . » Was tut er ? « meinte sie , » er schreibt ? Er kritzelt ? Saubere Arbeit für einen Mann – nähen wäre ebensogut . Ich möchte einen Schreiber geradesowenig wie einen Schneider . « Da sie niemals Gelegenheit gehabt , diese Behauptung zu beweisen , war es ihr freigestellt , ihren Haß maßlos zu überschätzen . Trotzdem blieben Halwigs Bewerbungen um ihr Wohlwollen nie ohne Erfolg . Wenn er sie freundlich gegrüßt , wenn er fünf Minuten lang mit ihr geplaudert hatte , gestand sie es regelmäßig zu : » Er ist halt doch ein lieber Mensch . « » Darf ich eintreten « fragte er , » oder wollen Sie so gütig sein , mich anzumelden ? « » Nicht notwendig , das Fräulein erwartet Sie , und Herr Feßler auch . « » Gottfried auch ? « Ja , ja « , bestätigte Lotti , die auf der Schwelle des Zimmers erschien , » zwei alte Freunde heißen Sie willkommen . « Gottfried stimmte nicht sehr laut in ihre Worte ein , zeigte sich anfangs ein wenig abweisend , aber das dauerte nicht lange . Bald empfand auch er jenes eigentümlich freudige , Herz und Zunge lösende Gefühl , das in reifen Jahren durch das Wiedersehen mit einem Genossen der Jugendzeit erweckt wird . » Und wie lebst du jetzt ? « fragte er , nachdem sie genugsam in Erinnerungen geschwelgt hatten . Halwig lehnte sich in den altertümlichen Sessel zurück , der ihm eingeräumt worden war , und kreuzte die ausgestreckten Beine . » Freund « , lautete seine langsam gesprochene Antwort , » ich lebe nicht – ich schreibe . « Lotti sah ihn befremdet an , und ein tiefes Mißbehagen schien sich seiner unter diesem Blicke zu bemächtigen ; die Stimme erhebend fuhr er fort : » Ich schreibe vom Morgen bis zum Abend oder – zur Abwechslung – vom Abend bis zum Morgen ... Es gibt einmal nichts so Unpoetisches wie das Dasein eines Poeten im neunzehnten Jahrhundert ... Aber was ist zu tun , wenn man einen Haushalt mit der Feder bestreiten muß ? « » Das kann dir nicht schwer werden « , meinte Gottfried , » ein gefeierter Dichter wie du ... « » Heuchle nicht , Gottfried ! Was weißt du davon , ob ich ein gefeierter Dichter bin ? « » Nun – man nimmt doch auch manchmal eine Zeitung zur Hand . « » Daher schöpfst du deine Nachrichten ? Gehst zum Fasse statt zum Quell ... Und Sie , Fräulein Lotti , verschmähen Sie es gleichfalls , sich selbst zu überzeugen , ob ich den Ruf verdiene , den man mir macht ? « » Verschmähen ? « wiederholte sie , » nein . Aber , lieber Halwig , ich altmodische Person lese schon seit langer Zeit nichts Neues mehr . « » Sie tun vielleicht sehr gut daran « , sprach er nicht ohne leisen , etwas ironischen Verdruß . Er erhob sich , trat an den Bücherschrank und las halblaut die Titel einiger darin aufgestellter Werke . » Da sind noch alle , die alten Bekannten ... Ja , ja , Ihre Umgebung hat sich ebensowenig verändert wie Sie selbst . Der Raum ist kleiner geworden « , sprach er und blickte sich in der Stube um , » die Gegenstände sind dieselben geblieben . Aber – wo ist denn die Sammlung , der Schatz des Hauses ? « Lotti deutete nach der Ecke des Zimmers . » Dort steht sie . Unvermindert ? In ihrer ganzen Herrlichkeit ? « » Jawohl , in ihrer ganzen unvergleichlichen Herrlichkeit . « » Wirklich ? « » Wie können Sie daran zweifeln ? Ein Geizhals würde sich leichter von Hab und Gut trennen als ich mich von einer meiner Uhren . « » Nicht einmal eine wäre Ihnen feil ? – Um gar keinen Preis ? Nicht um Wohlhabenheit , nicht um Reichtum ? « » Welche Fragen ! « erwiderte Lotti beinahe verletzt . Halwig nahm seinen früheren Platz wieder ein ; er stützte die Arme auf seine Knie und sah eine Welle nachdenklich vor sich hin . Da plötzlich erhob er die Augen zu Lotti : » Idealistin ! Sie wohnen in einer Nußschale unter dem Dach , plagen sich ums tägliche Brot , verzichten auf alle Annehmlichkeiten des Lebens , um nichts zu schmälern von einem eingebildeten Wert ... Sie haben recht ! ... Bewahren Sie sich , was Ihnen unschätzbar ist ! « schloß er wehmütig , schlug jedoch gleich darauf mit einem der unvermittelten Übergänge , die ihm immer eigen gewesen waren , einen heitern Ton an . Er nannte sich einen glücklichen Menschen und pries sein Schicksal , das ihn endlich wieder mit seinen alten Freunden zusammengeführt . Der Verkehr mit ihnen sei das einzige gewesen , wonach er eine Sehnsucht empfunden , die sich oft bis zum Schmerze gesteigert . Jetzt war auch diese erfüllt . Ihm fehlte nichts mehr . Er begann von seiner Frau zu erzählen , und wie er sie im Sturm gewonnen , trotz des Widerstandes , den ihre Eltern , ihre Geschwister , » die ganze hochadelige Sippe « gegen ihre Verbindung mit ihm aufgeboten habe . Anfänglich wurde sein Haus von den Verwandten seiner Frau gemieden – nur anfänglich ... » Seitdem sie sich überzeugt haben , daß meine Kunst keine brotlose ist « , sprach er lachend , » bin ich merkwürdig in ihrer Achtung gestiegen , und das freut mich , obwohl ich keinen Grund habe , viel Gewicht auf ihre Meinung zu legen . Es sind sehr ehrenwerte Leute , aber durchaus keine überlegenen Geister . Ein wirkliches Band besteht nicht zwischen uns ... « » Einfluß nehmen sie aber doch auf dich « , versetzte Gottfried . » Dein Äußeres hat sich völlig dem der Weltmenschen anbequemt . Der Tausend ! was bist du nobel geworden ... ich bewundere dich schon die ganze Zeit im stillen . « » Spotte nur « , sagte Halwig . » Übrigens , lieber Alter , die Zeiten sind vorbei , in welchen man den Dichter am wallenden Lockenhaar und am abgeschabten Flausrock erkannte . Den Wunsch , genial auszusehen , habe ich allerdings aufgegeben . Aber nicht infolge äußerer Einflüsse , sondern dank meinem verbesserten Geschmack . « Gottfried blinzelte ihn freundlich an . » Sehr gescheit « , sprach er ; » deine Leute können mit deiner stattlichen Erscheinung zufrieden sein . Und deine Bücher , sage mir , finden die bei ihnen gehörige Anerkennung ? Gefallen sie ihnen , wie du selbst ihnen gefallen mußt ? « » Meinen Leuten – Bücher ? ... meinen Leuten ? – Freund , ich frage mich manchmal , ob sie lesen können « , entgegnete Halwig und fuhr nach einem Blick voll Verwunderung , den Lotti auf ihn geworfen , rasch fort : » Das gilt nur von den Männern ! Die Frauen lesen , die – ja . Und zwar die alten französische , und die jungen englische Romane . Welche Früchte diese Lektüre den ersten trägt , weiß ich nicht ; die zweiten holen sich aus der ihrigen Begeisterung für englische Sitten und Gebräuche und für alle Arten von Sport . Sie verstehen sich auf Pferde trotz eines Maquignons , reden wie die Jockeys und – sind reizend . – Ja , ich muß gestehen , daß ich sie reizend finde , obwohl ich mich nicht im geringsten täusche über ihre stupende Oberflächlichkeit ... Aber – was geht die mich an ? Mich unterhalten , mir gefallen diese Amazonen in Schleppkleidern ; meinetwegen dürfen sie bleiben , wie sie sind ... Die Klagen über die Fehler der Aristokraten , über ihre Frivolität , Genußsucht und Unwissenheit hört man bis zum Ekel wiederholen ; allein , wer hat jemals freundschaftlich mit ihnen verkehrt und sich dabei nicht wohlgefühlt ? – Man hat überhaupt keinen Sinn für das Anmutige und Schöne , wenn man keinen hat für die Anmut und Schönheit ihrer Umgangsformen ... freilich , eine Ahnung von Talent zu dergleichen Dingen muß man mitbringen , um sie als Vorzüge gelten lassen zu können ... diese Ahnung fehlt – nicht dem großen Publikum , das unsere ist vortrefflich , keine Nation der Welt vermag ein besseres zu bilden – es fehlt den Wortführern des Publikums , meinen Herren Kollegen und lieben getreuen , immer dienstbeflissenen Feinden . « » Deine Kollegen und Feinde ? « fragte Gottfried ganz verwundert über diesen plötzlichen Ausfall . » Nun ja ! – Ich habe zuviel Glück und habe stets zuviel Glück gehabt , um ohne Neider zu sein . Sie tun , was sie können , um mir meine Erfolge zu verkümmern , allein die Mühe ist verloren . Noch befinde ich mich im Vollbesitze meiner Kraft und hoffe , nicht so bald zu erlahmen – geschähe das – erwachte ich eines Tages und wäre kein Dichter mehr – wie man behauptet , daß es geschehen könne , anderen schon geschehen sei – versiegte plötzlich der Quell , aus dem ich gewöhnt bin , ohne Maß zu schöpfen – ja dann ... « er griff sich mit beiden Händen an den Kopf , » dann wäre ich verloren ... denn alles , was ich bin und habe , steht und fällt mit meinem Talent . Mein Haus ist darauf gegründet , die Zukunft meiner Frau ... geistige Verarmung hätte für mich so viel zu bedeuten wie materielle Not – und das hieße sie betrogen haben , die mir in unbegrenztem Vertrauen gefolgt ist ... Närrische Gedanken – « unterbrach er sich mit einem gequälten Lachen , » ich kenne mich und fürchte nichts . Aber die Phantasie , die uns beseligt , will auch peinigen . Nur zu !.. . In der Einbildung müssen wir das Furchtbare durchmachen , das uns die Wirklichkeit erspart – das ist der Tribut , den der Glückliche dem allgemeinen Menschenelend bezahlt ... Und , daß er reichlich bezahle , dafür sorgen die eigenen , in dem Geschäft , das ich betreibe , bis zum Zerreißen gespannten Nerven , und die Bemerkungen der süßen Neider , oder die Ratschläge der weisen Freunde . Auf dem Wege hierher bin ich dem weisesten von allen begegnet ... Was der nicht alles wußte , nicht alles kommen sah ! Wie der so eindringlich bat , als hänge sein eigenes Heil davon ab : Gönne dir Ruhe ! Sündige nicht auf dein Talent – du brauchst Sammlung , Erholung ... Wohl brauch ich sie , aber sie mir gönnen heißt abtreten , anderen Platz machen ... O nein , ich weiche nicht , ich bleibe und fühle Nerv und Stärke genug in mir , der ganzen heranwachsenden Epigonengeneration standzuhalten ... Ich traue mir 's zu , sie alle zu überdauern , diese altklugen Kinder mit ihrem riesigen Wollen und ihrem zwerghaften Können ... Aber ich ermüde Sie mit diesen literarischen Miseren ... Lassen Sie uns von angenehmeren Dingen reden ... « Er gab dem Gespräch eine andere Wendung , er bemühte sich , die frühere Heiterkeit wiederzugewinnen . Allein es war vergeblich . Endlich erhob er sich und nahm Abschied . Sehr bald , so bald , als es ihm nur irgend möglich sei , wollte er mit seiner Frau wiederkehren , die er im voraus der Freundschaft und Güte Lottis empfahl . » Wie kommt er dir vor ? « sprach Gottfried zu Lotti , als sie wieder allein waren . Sie sah an ihm vorüber durch das Fenster und antwortete zögernd : » Wie dir . «