I. Früh morgens , wenn die Hähne kräh 'n — Berlin schlief noch , aber es lag in jenem leisen Schlummer , der dem Erwachen vorhergeht . Eingelullt in süße Träume , ahnte es nichts von den Sorgen und Kämpfen des kommenden Tages , von dem unerwarteten Glück , den zermalmenden Schlägen des Schicksals . Nur an einzelnen Stellen stieß der tausendköpfige Koloß seinen Athem aus . Dunkler zu gewaltigen Ringen geballter Qualm entstieg von Feuergarben begleitet den geschwärzten Schloten ; wie der Gigantenlunge eines unsichtbaren Ungeheuers entstoßen , strömte er dem graublauen Aether zu , verwob er sich allmählich mit der Dunstwolke , die den Horizont noch verschleierte . Es war zwischen drei und vier Uhr an einem der letzten Tage des Monats April — in jener Stunde , wo die Straßen plötzlich menschenleer erscheinen , als hätte selbst der letzte Kneipenschwärmer das Bedürfniß gefühlt , noch vor dem jähen Wechsel von Nacht und Tag im Schutze des Dunkels sein Heim zu erreichen . Hinter dem äußersten Häuserring tauchte der erste fahle Schein der Morgendämmerung auf , der wie das geisterhaft bleiche Antlitz eines Riesen aus dem Dunkel sich erhob und immer höher und höher stieg . Die Häuser erschienen wie bleigetränkt , die Perspektive der Straßen verkürzte sich : Berlin glich einer todten Stadt , in der jeder Tritt , jedes leise Geräusch ein Echo abgiebt , das weit vernehmbar die Luft durchzittert . In diesem Zwielicht taumelte Franz Timpe durch die Straßen , dem Hause seines Vaters zu , um Ruhe für seinen schweren Kopf zu suchen . Die Augen fielen ihm fast zu , sein Gang war unsicher , sodaß er sich mit Gewalt beherrschen mußte , um auf den Beinen zu bleiben . Auf dem jugendlichen , nicht unschönen Antlitz zeigten sich die Spuren einer durchzechten Nacht : jene Merkmale der Ueberanstrengung , welche ein schwacher Körper noch nicht zu überwinden vermag . In der eigenthümlichen Beleuchtung des heranbrechenden Morgens , hervorgerufen durch den Kampf der letzten Schatten der Nacht mit dem grün-gelben Luftschein am Horizont , erschien sein Gesicht fahl und grau , hatte es harte , ausdruckslose Linien angenommen . Den Paletot lose um die Schultern gehängt , den Hut in den Nacken gerückt , das Pincenez schief auf die Nase geklemmt , fuchtelte er mit dem dünnen Spazierstöckchen in der Luft herum , versuchte er jedem Laternenpfahl seine Fechterkünste zu beweisen . In seiner Phantasie standen die Häuser schief , machten sie einen fremdartigen Eindruck auf ihn , trotzdem ihm jedes einzelne durch die Firmenschilder , die an ihm klebten , die Eigenthümlichkeiten , die ihm anhafteten , genau bekannt war . In diesem Stadtviertel war er geboren , hatte er die Tage seiner Kindheit verlebt , war er zum Knaben und zum Jüngling gereift . Selbst jetzt , wo das Fehlen der fluthenden Menge und rasselnden Wagen , die herabgelassenen Rouleaux und geschlossenen Jalousien den Gebäuden eine veränderte Physiognomie gaben , waren ihre Absonderlichkeiten seinem Gedächtnisse eingeprägt , denn es war nicht das erste Mal , daß er spät nach Mitternacht an ihnen vorüberschritt . Seit beinahe einem halben Jahre , seitdem ihn der Weg von der Schule direkt ins Comtoir der Firma Ferdinand Friedrich Urban geführt hatte , war fast keine Nacht vergangen , während welcher er nicht das nächtliche Leben Berlins durchkostet hatte . Die frische Morgenluft wirkte endlich wohlthuend auf ihn ein . Seine Haltung wurde sicherer , sein Gedankengang klarer , nur die Müdigkeit wollte nicht von ihm weichen . Um sich munter zu erhalten , begann er halblaut ein Lied zu summen , das er aber wieder abbrach , weil die Kehle ihren Dienst versagte . Er befand sich in jenem Gewirr enger Straßen des Ostens von Berlin , die sich wie ein Ueberbleibsel aus alter Zeit bis heute noch erhalten haben . Altehrwürdige Giebeldächer mit Mansardenfenstern blickten auf ihn herab . Unregelmäßig standen die Gebäude am schmalen Trottoir , hier eines von schiefer Haltung , wie von der Last der Jahre vornübergebeugt , dort eines weit hinter die Front gerückt , geziert mit einem kleinen Vorgarten , dessen Epheu die schmalen Fenster umrankte und bis zum Dache hinauflief . Nur vereinzelt überragte ein vierstöckiger Steinkasten , wie ein schlank gewachsener Jüngling zusammen geschrumpfte Greise , die vorväterlichen Wohnstätten , um einem stummen Wahrzeichen gleich den Segen der neuen Zeit zu verkünden . In der Stille dieses patriarchalischen Viertels vernahm man weiter nichts , als die schallenden Schritte des jungen Mannes und das schrille Pfeifen eines Bäckerjungen , das wie die ersten Mißtöne des erwachenden Tages aus der Entfernung herüberklang . Als Franz Timpe um die nächste Ecke bog , erblickte er endlich das Haus seines Vaters . Wie von Angst und Reue erfüllt , bannte er seine Schritte und drückte sich an die Häuser . Er befürchtete gesehen zu werden und schämte sich seines Nachhausekommens um diese Stunde . Beim Weiterschreiten richtete er den zaghaften Blick auf die gegenüberliegenden Fenster , hinter welchen noch friedliche Ruhe herrschte ; dann rechts und links die Straße entlang . Er versuchte den Nachtwächter zu erspähen , der ihm wie gewöhnlich das Haus öffnen sollte . Krusemeyer , ein bereits alter Beamter , dessen kugelrundes Gesicht von einer silbergrauen Bartfraise umrahmt wurde , hatte auf ihn gewartet . Er stand mit einem Schutzmann plaudernd unter dem Thorbogen eines neuen Gebäudes auf der anderen Seite der Straße und beobachtete das Näherkommen des jungen Mannes . Seit fünfzehn Jahren verschloß er die Häuser in diesem Revier , konnte sich aber nicht entsinnen , jemals einen besseren Kunden gehabt zu haben , als Franz Timpe es war . Er hielt sich daher mit Vorliebe in diesem Theile der Straße auf , um sich das übliche Zehnpfennigstück nicht entgehen zu lassen . Der Länge der Zeit , während welcher er hier seinem nächtlichen Berufe obgelegen , hatte er es zu verdanken , daß er mit den Geheimnissen der Hausbewohner vertraut war , ihre Tugenden und Sünden , Freuden und Leiden kannte . Wenn er hätte sprechen dürfen , was würde man da vernommen haben ! Vormittags holte er den verlorenen Schlaf der Nacht nach . Nachmittags betrieb er sein Geschäft als Flickschuster , bis die Zeit zum Abendappell ihn rief . Auf den einsamen Gängen durch die dunklen Straßen hatte sich mit der Zeit ein Philosoph aus ihm gebildet , der , in des Wortes bester Bedeutung , sein Licht nur im Dunkeln leuchten ließ . Und da ein Philosoph mindestens einen vertrauten Abnehmer seiner Ideen haben muß , so hatte sich denn auch im Laufe der Jahre ein solcher in einem gleichaltrigen , bereits mit einer stattlichen Zahl Dienstjahre befrachteten Schutzmann des Reviers gefunden , welcher den seltenen und merkwürdigen Namen Liebegott führte . Herr Alexander Liebegott erfreute sich eines behäbigen Körperumfanges , der den Neid seiner sämmtlichen Kollegen und die Freude aller derjenigen zweifelhaften Individuen bildete , welche in nächtlicher Stunde auf der Flucht vor ihm begriffen waren , und denen er niemals auf den Fersen zu bleiben vermochte . Auf den Schultern ruhte ein Riesenkopf , in dessen kürbisfarbenem Gesichte eine etwas großgerathene Nase in sanftestem Violett erstrahlte und ein mächtiger Schnurrbart traurig seine ungedrehten Spitzen hängen ließ , so daß das würdige Antlitz dem eines Seelöwen glich . Krusemeyer und Liebegott waren , soweit die Gelegenheit sich darbot , auf ihren nächtlichen Gängen ein unzertrennliches Paar , dessen Hang zu philosophischen , höchst sonderbaren Gesprächen eben so groß war , wie die uneigennützige Freundschaft zu einander und die Liebe zu gewissen alkoholduftenden „ Erheiterungstropfen “ , die in kalten Winternächten dazu dienen mußten , das Gespräch über die großen Vorgänge dieser Welt zu gleicher Zeit mit der Wachsamkeit anzufeuern . Im Uebrigen waren sie zwei pflichtgetreue Beamte , welche die Achtung ihrer Vorgesetzten genossen und beim Publikum allgemein beliebt waren . Die Autorität , die sie in den Augen ihrer Kollegen besaßen , war bereits eine derartige , daß ein Streit unter ihnen mit dem vielbedeutenden Schlußworten : „ So sagt Krusemeyer “ , oder : „ So sagt Liebegott “ , zu Gunsten des diese Behauptung Aufstellenden als beendet betrachtet werden durfte . Wenn die Ansichten der Beiden zeitweilig auseinandergingen , so geschah es über die Frage nach dem höchsten Ziele ihrer Wünsche . Liebegott hegte nur den einen Wunsch : während seines nächtlichen Dienstes von Niemandem belästigt zu werden , um seine theure Haut nicht zu Markte tragen zu brauchen ; Krusemeyer's höchster Wunsch ging dahin : durch eine seltene Heldenthat sich diejenigen Lorbeeren zu erwerben , die unbedingt nöthig waren , um seine soziale Stellung nach Kräften aufzubessern . Er hatte es besonders auf nächtliche Einbrüche abgesehen , lebte daher in der Einbildung , eines Nachts irgend einen Juwelier oder einen reichen Fabrikanten durch seine Aufmerksamkeit vor einem Verlust bewahren zu können , wodurch ihm dann eine reichliche Belohnung zu Theil werden würde ; ganz abgesehen von der amtlichen Belobung und Auszeichnung , die zu erwarten waren . Seine Phantasie hatte sich während der Jahre so sehr mit dieser dereinstigen Heldenthat beschäftigt , daß sein Spürsinn in jedem , einigermaßen verdächtig aussehenden Passanten jene gefährliche Person witterte , deren verbrecherisches Treiben ihn endlich zum Helden seiner Umgebung machen sollte . Da er obendrein ein arger Bücherwurm war , der die geringe freie Zeit , die ihm am Tage während der Pausen beim Essen zur Verfügung stand , redlich dazu benutzte , abenteuerliche Romane zu lesen , in denen das Verbrecherthum eine Hauptrolle spielte , so war sein Kopf mit den Erinnerungen an allerlei grausige Dinge erfüllt , die in einsamen Nachtstunden erst recht ihre Wirkung thaten . „ Ich erreiche es doch noch “ , sagte er mit Bezug auf die größte Zukunftsthat seines Lebens . Liebegott schüttelte das schwere Haupt und erwiderte : „ Ich glaube es nicht . Hier in dieser Gegend , wo jeder darauf wartet , daß man ihm etwas ins Haus trage ! Laß den Gedanken daran fallen . Und bedenke nur : Wenn der Kerl ausrückt und Du laufen müßtest , verstehst Du ? Ich sage laufen — — “ Alexander Liebegott beendete den Satz nicht . Es war ihm schon entsetzlich genug , nur an die Möglichkeit einer schnellen Fortbewegung zu denken . Er starrte vielmehr vor sich hin , lächelte dann im Gefühle seiner Sicherheit und klopfte leise mit der flachen Hand auf den wohlgenährten Bauch , während Krusemeyer listig die Augen zusammenkniff und sagte : „ He , he , dann rufe ich Dich , Du fängst ihn gewiß . “ „ Keine Anspielung “ , brummte Liebegott mit komischem Ernst . Die Annäherung Franz Timpe's gab dem Gespräch eine andere Wendung . Das laute Krähen eines Hahnes ließ sich in der Nachbarschaft vernehmen . Aus der Ferne klang schwach die Antwort eines zweiten und dritten herüber . „ Recht so , melde Dich , alter Junge “ , begann Krusemeyer wieder . „ Die Stunde muß angezeigt werden , in welcher der hoffnungsvolle Sohn nach Hause kommt . . . Sage mal , Liebegott , hast Du es auch so in Deiner Jugend getrieben , he ? “ „ Wäre so etwas gewesen , Krusemeyer ! Birke und Weide hätten einen Walzer auf meinem Buckel aufgeführt , und mein Alter wäre der Tanzmeister gewesen , der die Hände dabei bewegt hätte “ , erwiderte der Angeredete mit unterdrücktem Lachen . „ Meister Timpe muß einen Narren an seinem Jungen gefressen haben , daß er so etwas duldet ; aber das machen die Kneipmädels , die den Bengels die Köpfe verdrehen und das Geld aus der Tasche ziehen “ , philosophirte Krusemeyer , als er sich anschickte , dem Rufe des jungen Mannes Folge zu leisten . Bevor er über den Damm ging , wandte er sich noch einmal an den Genossen . „ Hörst Du nichts , Liebegott ? Mir war's , als knarrte hier hinter uns eine Thür . Sollte vielleicht ein Dieb — “ „ Beruhige Dich nur , es ist nichts . Du wirst es nicht erreichen , verlaß Dich darauf , “ erwiderte Liebegott und schritt dann bedächtig die Straße nach der anderen Seite hinunter , um seinen Genossen an der nächsten Ecke zu erwarten . Das Schlüsselbund des Wächters knarrte , die schwere Thür drehte sich in ihren Angeln und schloß sich dann leise hinter Franz Timpe , der horchend stehen blieb . Im Hause war noch Alles ruhig . Durch die geöffnete Hofthür fiel ein fahler Schein auf die rothen Steinfliesen des Flurs , der sich schmal und lang , gleich einer Kegelbahn , durch das alterthümliche Haus zog . Links befand sich die Werkstatt des Vaters , rechts die Wohnung der Eltern . Auf dieser Seite führte eine schmale , gebrechliche Stiege zum einzigen Stockwerk des Hauses empor , in dem zwei kleine bewohnbare Stuben sich befanden . In der einen schlief Franz , in der anderen Gottfried Timpe , der Großvater . Der Großvater ! Bei dem Gedanken an ihn erzitterte der junge Mann , denn der Greis pflegte mit den Hühnern aufzustehen , war begabt mit einem wunderbar feinen Gehör und der einzige Feind , den er im Hause besaß . Franz Timpe lauschte noch eine Weile , dann zog er behutsam die Stiefel von den Füßen und schlich mit angehaltenem Athem die leise ächzende Treppe empor . Oben angelangt , tappte er die Wand entlang , denn hier herrschte noch völliges Dunkel . Er mußte bei der Thür des Großvaters vorüber , um zu der seinigen zu gelangen . Lautlose Stille umgab ihn . Er athmete auf . Als er aber in seinem Zimmer angelangt war , vernahm er durch die dünne Wand deutlich das laute Husten des Großvaters : die ihm längst bekannte Begrüßung , welche in aller Frühe zu ertönen pflegte , als ein Zeichen , daß der steinalte Mann das Nachhausekommen seines Enkels gehört habe . Franz Timpe preßte vor Aerger die Lippen fest aufeinander ; dann suchte er todtmüde sein Lager auf , um sich während einiger Stunden für den kommenden Tag zu stärken . Durch das dünne Rouleaux drang das Licht des immer mehr heraufziehenden Morgens gedämpft herein und ließ in dem Halbdunkel nur das bleiche Gesicht des Schläfers leuchten . II. Drei Generationen . Ja , ja , das waren noch andere Zeiten . . . . damals ! Das Handwerk hatte einen goldenen Boden und wurde geehrt . Voll Stolz band man sich frühmorgens die Schürze vor und schämte sich nicht der Arbeit der Eltern . Aber das scheint sich geändert zu haben , seitdem ich nicht mehr sehen kann . Heute will so ein Grünschnabel von Junge den großen Herrn spielen , mit gefüllter Tasche und weißen Händen umherlaufen und klüger als wir Alten sein . . . . Aber die Zuchtruthe fehlt , die Zuchtruthe — das ist meine Rede ! “ Auf diese wohlgemeinten Worte Gottfried Timpes , die sich seit einem Jahrzehnt täglich zu wiederholen pflegten , blieb Johannes Timpe gewöhnlich die Antwort schuldig , sobald es sich um die Anklage gegen sein einziges Kind , seinen Sohn , handelte . Aber sein Blick voll Liebe richtete sich mit dem Ausdrucke tiefsten Mitleids nach dem Fenster auf die hinfällige Gestalt des dreiundachtzigjährigen Greises , der seit einem Jahrzehnt ein Dasein in ewiger Nacht führte und in der Welt des vergangenen Jahrhunderts lebte , die seine Erinnerung ihm vor das geistige Auge zauberte . Ja , der Großpapa , sein Zorn über die Neuerungen ! Es war schwer sich beiden zu widersetzen , denn man ehrt die Ruine , der man seine Existenz zu verdanken hat und betrachtet ihre Absonderlichkeiten wie etwas Heiliges , Ueberliefertes . Und Johannes Timpe hatte seinem Vater Alles zu verdanken : seine Kunstfertigkeit als Drechsler , die Zähigkeit und Ausdauer , die man ihm nachrühmte , und auch dieses kleine , unscheinbare Haus , in dem er geboren und erzogen worden war . Schon sein Aeußeres verrieth die längst vergangene Epoche , in der es entstanden war . Ueber den vier Fenstern des Parterregeschosses zeigten sich in Stein gehauen , geflügelte Engelsköpfe , von denen nur zwei noch völlig erhalten waren , während von je einem der anderen Nase und Flügel fehlten . Die drei ausgetretenen Steinstufen führten zu der bohlenartigen , mit großen Nägelköpfen gezierten Thür , über welcher reliefartig das Sinnbild des Drechsler- und Kunstdrechslergewerbes prangte : ein Taster , auf dem über Kreuz Meißel und Röhre lagen ; darunter eine Kugel , flankirt von zwei Schachfiguren . Was dem Hause als ein besonderes Merkmal anhaftete , war seine außergewöhnliche Lage . Es stand mit der Front schräg hinter der Straße , so daß vor seinen Fenstern zwischen der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbarhauses ein spitzwinkliger Vorderhof entstanden war , der von der Straße durch ein Holzgitter getrennt wurde . Dieser absonderliche Umstand hatte auch an der Schmalseite des Gebäudes , an deren äußerster Ecke das andere Nachbarhaus hervorragte , einen zweiten , kleineren Winkel geschaffen , der durch eine Bretterwand bis zur Höhe des Giebelfensters den Blicken verdeckt wurde . Man hätte das ganze Häuschen wie einen steinernen , nach Fertigstellung der Straße in dieselbe hinein getriebenen Keil betrachten können , wenn nicht sein Alter dem widersprochen haben würde . In Wahrheit war es bereits vorhanden gewesen , als vor einem halben Jahrhundert die Nothwendigkeit zur Anlage einer Straße an dieser Stelle sich geltend gemacht hatte und man das Häuschen rechts und links zu umbauen begann , weil sein bisheriger Besitzer , Ulrich Gottfried Timpe , nicht die geringste Neigung zeigte , seine Rechte zu veräußern . Wenn der Großvater seine ewigen Rückblicke mit den Worten einleitete : „ Ja , ja , das waren noch andere Zeiten . . damals ! “ — so sprach er das in der Erinnerung an jene Jahre , wo das Häuschen hier noch wie ein einsamer Vorposten an der Peripherie der Stadt lag und den Blicken seiner Bewohner die weitmöglichste Aussicht über freie Felder und über das Bett der Spree gestattete . Als Ulrich Gottfried Timpe im Jahre 1820 vermöge eines kleinen Kapitals , das sein Vater , der Kunstdrechsler Franz David Timpe , ihm hinterlassen , sich hier angebaut hatte , war von dem großen Stadttheile , der sich heute von der Frankfurter Straße bis zur Spree hinzieht , noch wenig zu sehen . Vereinzelt standen die Häuser zwischen Gärten , Baustellen und Getreidefeldern . Selbst innerhalb der Stadtmauern zeigten sich lange Strecken öder Felder , unterbrochen bis zu den Thoren durch Königliche Magazine , durch ein riesiges Familienhaus , das dazu bestimmt war , armen Handwerkerfamilien ein billiges Obdach zu gewähren , und hin und wieder durch eine der vielen Gärtnereien , deren blühende Obst- und Blumenanlagen das damalige Köpnicker Feld , auf dem heute ein Meer von Häusern sich erhebt , zu einem eigentlichen Fruchtfeld gestaltet hatte . Die Straßen glichen ländlichen Fahrwegen , auf denen man hin und wieder tief im Sande versank ; und die ein- und zweistöckigen Häuser , welche sich mit der Zeit zu Straßenzügen an einander gekettet hatten , waren zum größten Theil von armen Handwerkern bevölkert , die nothdürftig ihr Dasein fristeten . Untergeordnete Gasthöfe und unansehnliche Wirthschaften tauchten überall auf und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der Stadt , die vereinzelt stehenden Häuser auf freiem Felde , hatten ein höchst zweifelhaftes Gesindel geschaffen , das in Spelunken aller Art seine Zufluchtsstätte fand , die Sicherheit bedrohte und die Gegend in einen argen Ruf brachte . Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit , denn inmitten von Armuth und Elend , die damals eben so vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte Berlins , die sich von dem Schlesischen- bis zum RosenthalerThor hinzog , bevölkerten , hatte sein Handwerk geblüht , wurde es in Ehren gehalten , galt die Schlichtheit des Mannes noch etwas , bestrebte sich nicht der Sohn des Meisters das Arbeitsgewand des Vaters zu verachten , um über seine Verhältnisse hinaus zu wollen . Allerdings wußte man auch damals noch nichts ( nach der Ansicht Ulrich Gottfried Timpes ! ) von einer gewissen Affenliebe , mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken , um dieselben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wachsen zu sehen . Gewiß , die Affenliebe ! Johannes Timpe hätte über den Gebrauch dieses Wortes von Seiten des erblindeten Greises ein Liedchen singen können ; denn der , dem die übertriebenen elterlichen Zärtlichkeiten galten , war Franz , sein und seines Weibes einziger Stolz . Der heutige Besitzer des kleinen Hauses hatte erst spät geheirathet . Nachdem seine zwei Brüder , die ebenfalls in der Werkstatt des Vaters thätig gewesen waren , das Zeitliche gesegnet hatten , und seine Stellung im Hause eine völlig andere geworden , war der Entschluß in ihm gereift , seine langjährige Braut heimzuführen . Als das geschah , zählte er bereits sechsunddreißig Jahre . Sein erstes Kind war ein Mädchen gewesen , das aber gleich nach der Geburt gestorben war . Dann war sein Sohn gekommen und nach diesem abermals ein Mädchen , welches das zehnte Jahr erreicht hatte und dann ebenfalls den Eltern entrissen wurde . Der Schmerz Johannes Timpes und seiner getreuen Gattin war ein unaussprechlicher gewesen . Als sie aber sahen , wie ihr Sohn zu einem hübschen Knaben heranwuchs und vortrefflich gedieh , faßten sie sich allmälig und übertrugen die Liebe , die sie für die blühende Tochter an den Tag gelegt hatten , auf ihn allein . Sie übersahen seine Schwächen , die sich im Hange zu allerlei Unarten , zum Verleugnen der Wahrheitsliebe , zur Ränkesüchtelei und zur Trägheit ausprägten ; trösteten sich mit der Selbstlüge , daß dieser böse Keim sich dereinst beim Emporschießen in die Frucht verlieren werde . War Franz doch ihr Stolz , der Träger des Namens seines Vaters , die Verwirklichung ihrer ganzen Zukunftspläne ! „ Handwerker darf der Junge nicht werden , er soll sich sein Brod leichter verdienen “ , pflegte Johannes Timpe in den Stunden nach Feierabend zu Frau Carolinen zu sagen . Und die getreue Ehehälfte ließ die klappernden Stricknadeln auf ein paar Augenblicke ruhen , blickte im Zwielicht sinnend auf den kleinen Winkel vor dem Fenster hinaus und erwiderte stolzbeseelt : „ In dem Jungen steckt etwas , der muß ' was Großes werden . “ Diese elterlichen Träume hatten bereits begonnen , als Franz anfing , die Schule zu besuchen , der Großvater nach dem Heimgange seiner Frau über mangelndes Sehlicht klagte und Haus und Geschäft ganz in die Hände seines Sohnes legte . Und als eines Tages dem Alten durch eine Entzündung seiner Augen das Sehvermögen gänzlich entschwunden , er ganz und gar auf die liebende Pflege Johannes und Carolinens angewiesen war , ein Leben aus sich heraus führte und nur noch mit seiner Erinnerung an die alte Zeit und mit seinen Rathschlägen nützen konnte ; als Johannes Timpe der Werkstätte ganz allein vorstand , er das Schicksal seines Vaters tagtäglich vor Augen hatte — wurde umsomehr der Wunsch in ihm rege , seinem einzigen Kinde Erziehung und Bildung zu Theil werden zu lassen , die ihm die Fähigkeiten zu geben vermöchten , eine bessere soziale Stellung einzunehmen und sich mit weniger saurem Schweiß durchs Leben zu schlagen . „ Er soll Kaufmann werden “ , hatte er dann eines Tages mit einer Bestimmtheit gesagt , an welcher nichts mehr zu ändern war . Und mit diesem Ausspruch verbanden sich merkwürdige Ideen , die in innigstem Zusammenhange mit seinem Gewerbe standen . Er hatte acht Gesellen in seiner Werkstatt , verlegen , sein Wohlstand schien nach und nach zu reifen , seitdem der industrielle Aufschwung im Viertel immer größer wurde ; ein kleines Kapital war zur Reserve angelegt worden — weshalb sollte er also nicht darauf sinnen , aus einem Handwerker zum Handeltreibenden zu werden , seine Beziehungen zu erweitern und auf eigene Faust zu spekuliren ? Dazu bedurfte er eines gewiegten Berathers , den er dereinst in seinem Sohn zu erblicken gedachte . Als Johannes Timpe in der Dämmerung eines Wintertages , wie gewöhnlich mit Frau Karoline am Fenster des Wohnzimmers sitzend , die Zukunft seines Sohnes festgestellt hatte , war auch sofort der Widerspruch bemerkbar geworden . „ Kaufmann ist Laufmann “ , hatte die Stimme des Großvaters sich vernehmen lassen . „ Mach ' den Jungen zu einem ordentlichen Handwerker , erziehe ihn zu harter Arbeit , dann wird er auch stets sein Brod finden , und Euch nicht über die Köpfe wachsen . Ich will Euch nicht wehe thun , aber der Junge hat schlechte Seiten . Und was ein Häkchen werden will , das krümmt sich bei Zeiten . “ Damals bereits war das harte Wort von der Zuchtruthe gefallen , das sich wie eine ewige Mahnung aus dem Munde des Alten Jahre hindurch fortsetzen sollte . Hätte Johannes Timpe seinen Vater nicht so lieb gehabt , nicht das Bewußtsein seiner ewigen Dankbarkeit gegen ihn mit sich herumgetragen , so würde er über die Hartnäckigkeit , mit welcher der Greis die wohlmeinenden Pläne des Ehepaars bekämpfte , ernstlich böse geworden sein ; aber eingedenk des Sprichworts , welches alten Leuten eine gewisse Wunderlichkeit zuspricht , verlor er niemals seine Ruhe , versuchte er so viel als möglich Ulrich Gottfried Timpe milder zu stimmen und ihn dem Knaben geneigter zu machen . Zum Schluß brachte er denn immer etwas hervor , was seiner Meinung nach das Recht auf seine Seite bringen mußte . „ Franz hat eine schwache Brust , er wird schwere Arbeit nicht ertragen können ; für die Drehbank ist er ganz und gar nicht geschaffen . “ Das war ein Punkt , der allerdings zu denken gab und welcher auch Karolinens Redseligkeit entfesselte . Was hätte Gottfried Timpe wohl gegen die Mutterliebe einzuwenden vermocht ! In einer derartigen Situation lauteten seine letzten Worte : „ Ihr werdet 's ja sehen . “ Dann sank das Haupt wieder auf die Brust , hüllte der Greis sich in tiefes Schweigen . So waren denn die Jahre vergangen . Franz hatte die obere Sekunda-Klasse der Realschule erreicht und wurde dann bei Ferdinand Friedrich Urban in die Lehre gebracht . Das war bereits im Oktober des vergangenen Jahres geschehen . Während dieser Zeit hatte er vielfach Gelegenheit gefunden , seine Anlagen zum Leichtsinn auf's Gründlichste zu beweisen , die Freiheit des Willens , die man ihm seit seiner frühesten Jugend gelassen hatte , nach Kräften auszunützen . An Bildung und Wissen seinen Eltern weit überlegen , inmitten der Weltstadt groß geworden , gewöhnt mit gleichaltrigen Genossen in Berührung zu kommen , deren Eltern eine andere Lebensstellung einnahmen , als die seines Vaters war , von dem brennenden Ehrgeize beseelt , in eine andere Sphäre der Gesellschaft hineinzukommen — hatte er sich mit der Zeit Neigungen zugewendet , die ihm unzertrennbar von den Passionen eines jungen Mannes seiner Bildung und seiner Zukunft schienen . Meister Timpe verweigerte seinem Sohne nichts . Er kleidete ihn nach der neuesten Mode , er gab ihm zu dem kleinen Monatsgehalt ein reichliches Taschengeld und empfand einen gewissen Stolz darin , von wohlmeinenden Nachbarsleuten die elegante Erscheinung seines Sohnes , der wie ein „ junger Graf “ dahinschreite , gelobt zu wissen . Dabei übersah er denn auch gern die „ kleinen Seitensprünge “ Franzens , wie er die abenteuerlichen Kneipereien des jungen Mannes zu nennen pflegte . Das kam selten vor ; legte sich doch der „ gute Junge “ fast regelmäßig um 9 Uhr schlafen , um des Morgens rechtzeitig munter zu sein . Als der Großvater eines Vormittags seinem Sohne berichtete , daß Franz einige Mal nach Mitternacht nach Hause gekommen sei , lachte Johannes Timpe ihm laut ins Gesicht . Sein Sohn , der um 9 Uhr bereits nach seiner Stube hinaufgegangen war , sollte am frühen Morgen nach Hause gekommen sein ? Er fand das äußerst schnurrig und sprach von „ wunderlichen Träumen “ und „ Gespenstersehen trotz der Blindheit . “ Der Greis aber hatte sich nicht getäuscht . Eines Abends vernahm er , wie sein Enkel kurz vor zehn Uhr leise die Thür verschloß und die Treppe hinunterschlich . An den geschlossenen Fensterläden vorüber konnte Franz unbemerkt die Straße erreichen . Das wiederholte sich mehrmals in der Woche . Er täuschte und belog eine Eltern zu gleicher Zeit . Der Alte war starr bei dieser Entdeckung , behielt sie zuerst für sich , nahm aber seinen Enkel bei Gelegenheit in's Gebet , um ihn zu beschämen , Timpe junior leugnete ; und als er inne ward , daß das nichts helfe , wurde er von einem unbezwingbaren Haß gegen den Alten erfaßt — einem Haß , der eigentlich nur das helle Aufflackern einer von seiner Kindheit an in ihm schlummernden Abneigung gegen den Großvater war . Ulrich Gottfried Timpe aber mußte nach seiner Mittheilung erleben , daß Johannes zuerst ein sehr ernstes , überraschtes Gesicht zeigte , dann zu lachen anfing und sagte : „ Ein toller Junge ! Der hat richtigen Mutterwitz . Ich weiß Vater , daß Du Dich nicht gut mit ihm stehst ; überlaß' mir nur die Ge schichte . Das ist mehr Leichtsinn als Schlechtigkeit . Du darfst nicht vergessen , daß die jungen Leute von heute anders über die Moral denken , und daß die Welt mit der Zeit eine andere geworden ist . Das verstehen wir Beide nicht mehr . Du noch weniger als ich . “ Als Franz Timpe von dieser Unterredung erfahren hatte , versuchte er seinen Großvater auf das Gründlichste anzuschwärzen : Der Alte gönne ihm nicht das liebe Leben . Wenn er wirklich einmal des Nachts spät nach Hause gekommen , so sei das nicht so schlimm und nicht dazu angethan , eine große Klatscherei darüber zu machen . Das ganze Bestreben des Großpapas ginge nur darauf hinaus , ihn mit den Gesellen auf eine Stufe zn stellen , wie es früher vielleicht Mode gewesen sein mochte . Könne er wohl etwas dafür , wenn der Geschäftsführer ihm die Ehre erweise , mit ihm länger zu kneipen , als es sonst der Fall zu sein pflegt ? Er sei eben sehr angesehen im Geschäft und seine Kollegen hielten große Stücke auf ihn . Damit hatte Franz sein Ziel erreicht ; denn Johannes Timpe , erfreut über das Ansehen , das sein Sohn , der Stolz seiner alten Tage , genoß , wischte die Hände an der blauen Schürze ab , zog seinen Stammhalter an sich und sagte leise , indem er sich verlegen umsah , als befürchte er , von dem Großpapa gehört zu werden : „ Ich weiß , wie das ist , mein Junge . . . Also der Geschäftsführer verkehrt mit Dir ? Hm — das läßt sich hören . . . Versprich mir nur , nicht länger als bis Mitternacht wegzubleiben , dann bin ich schon zufrieden . Du mußt doch schlafen . Wenn das nicht wäre . . . “ Franz Timpe wendete sein hübsches Gesicht ab , denn er wollte dem Vater seine Verlegenheit nicht zeigen . Und während Daumen und Zeigefinger der rechten Hand sich mit dem Flaum der Oberlippe beschäftigten , erwiderte er : „ Ich verspreche es Dir ! “ „ Ich wußte , daß Du es thun würdest , mein Sohn . “ Meister Timpe hatte seinem Jungen vergnügt auf die Schulter geklopft und ihn dann ( es war in der Mittagsstunde beim hellen Sonnenschein eines trocknen Wintertages ) durch den langen Flur nach dem Garten hinaus genöthigt , der sich hinter dem Häuschen ausdehnte . Mit diesem Fleckchen Erde hatte Johannes Timpe seine besonderen Pläne , über welche er nur zu gern mit seinem Sohne sprach . Da schwirrten die Worte : „ Anbauen . . . . Kleine Fabrik errichten . . . Das Geschäft kaufmännisch betreiben . . . Seinen Sohn zum Kompagnon machen ... Neues Vorderhaus errichten . . . “ durch die Luft , so daß Franz seinem Vater mit dem größten Interesse zuhörte ; denn man schilderte ihm das Element , in dem er sich einst zu bewegen gedachte . Befehlen , herrschen , Fabrikbesitzer spielen — gewiß , das war das Ziel , dem er zustrebte . Während aber Johannes Timpe das seinem Sohne entwickelte , vergaß er niemals den Kopf nach dem Großpapa zu wenden , der in der Mittagsstunde in dem Rahmen der Hofthür zu stehen pflegte , um die Tauben zu füttern , die girrend auf seinen Pfiff heran geflogen kamen . Der Drechslermeister fürchtete seinen Vater , wie Franz ihn haßte . Was würde er wohl sagen , wenn er Kenntniß von diesen tollen Plänen bekäme ? Er , der sich einen Handwerker nicht anders vorstellen konnte , als mit zwei oder drei Gehülfen in der Werkstatt , arbeitend gegen baare Bezahlung , im Besitze eines einzigen Geschäftsbuches , in dem die Ausgaben und Einnahmen gewissenhaft verzeichnet wurden ; bescheiden und anspruchslos lebend , nur darauf bedacht , ohne jede Spekulation zu einem soliden Wohlstande zu gelangen . Großvater , Vater und Sohn bildeten in ihren Anschauungen den Typus dreier Generationen . Der dreiundachtzigjährige Greis vertrat eine längst vergangene Epoche : jene Zeit nach den Befreiungskriegen , wo nach langer Schmach das Handwerk wieder zu Ehren gekommen war und die deutsche Sitte auf's Neue zu herrschen begann . Er lebte ewig in der Erinnerung an jene glorreiche Zeit , die nach Jahren voller Schrecken und Demüthigung den deutschen Bürger zu einem bescheidenen Menschen gemacht hatte . Johannes Timpe hatte in den Märztagen Barrikaden bauen helfen . Er war gleichsam das revoltirende Element , das den Bürger als vornehmste Stütze des Staates direkt hinter den Thron stellte und die Privilegien des Handwerks gewahrt wissen wollte . Und sein Sohn vertrat die neue Generation der beginnenden Gründerjahre , welche nur darnach trachtete , auf leichte Art Geld zu erwerben und die Gewohnheiten des schlichten Bürgerthums dem Moloch des Genusses zu opfern . Der Greis stellte die Vergangenheit vor , der Mann die Gegenwart und der Jüngling die Zukunft . Der Erste verkörperte die Naivität , der Zweite die biderbe Geradheit des Handwerkmannes , der sich seiner Unwissenheit nicht schämt , sich seines Werthes bewußt ist ; und der Dritte die große Lüge unserer Zeit , welche die Geistesbildung über die Herzensbildung und den Schein über das Sein stellt . III. Die Nachbarschaft . So winklig wie Timpes Haus nahm sich auch das Gärtchen aus . Eine in doppelter Mannshöhe emporragende Mauer umschloß es von drei Seiten und trennte es vom Nachbargrundstück . Diese Mauer hatte ihre besondere Geschichte . Vor zehn Jahren stand an ihrer Stelle ein niedriger Staketenzaun . Die Handwerkerfamilie konnte an schönen Sommertagen , war sie hinten in einer kleinen Laube versammelt , einen herrlichen Anblick genießen , wenn die Augen sich nach den uralten Bäumen , grünenden Rasenflächen und künstlichen Blumenanlagen des Nachbargrundstückes richteten . Dasselbe gehörte einer reichen KaufmannsWittwe , die mit ihren Töchtern in der nächsten Querstraße ein villenartiges Haus bewohnte . Die drei Kinder im Alter von 7 bis 12 Jahren hatten ein besonderes Vergnügen daran gefunden , vom niederen Zaune aus dem Treiben in der Werkstatt , deren große Fenster nach dem Gärtchen hin ausgingen , zuzuschauen . Das Schnurren der Drehbänke und das Sprühen der Schnitzel übten einen großen Reiz auf sie aus . Mit der Zeit waren sie mit Franz so vertraut geworden , daß er sich nicht scheute , den Zaun zu überklettern , um sich nach Herzenslust mit den Mädchen in dem großen Garten zu tummeln . Dabei blieb es jedoch nicht . Sein Hang zu allerlei üblen Streichen trieb ihn öfters dazu , in der Dämmerung auf eigene Faust dem Nachbargrundstücke Besuche abzustatten , um die Obstbäume zu plündern . Als er eines Abends dabei gesehen worden war , hatte es eine Auseinandersetzung zwischen der Wittwe und Johannes Timpe gegeben . Der Drechslermeister war sehr betrübt über die Diebereien seines einzigen Kindes und versprach der Wittwe , den Knaben zu züchtigen und Sorge dafür zu tragen , daß man ihr zu weiteren Klagen keine Veranlassung geben würde . Johannes Timpe hätte vielleicht die versprochene Züchtigung , zum ersten Male in seinem Leben , energisch vorgenommen , wenn er nicht bemerkt haben würde , wie sein Vater bereits auf den Moment wartete , wo das Geheul des Jungen ihm endlich den Beweis für die Umsetzung seiner Lehre von der Zuchtruthe ins Praktische geben werde . Er unterließ also die Züchtigung und beschränkte sich auf einen Verweis , der beschämend auf seinen Sprößling wirken sollte . Seine übergroße Gutmüthigkeit aber that nicht die geringste Wirkung ; denn nach acht Tagen hatte Franz die gute Lehre vergessen . Er ließ sich abermals auf frischer That im Nachbargarten ertappen . Diesmal schlug die Wittwe einen anderen Weg ein . Eines Tages wurden Fuhren neuer Steine hinter dem kleinen Zaune abgeladen ; Arbeiter mit ihren Geräthschaften erschienen und errichteten in wenigen Tagen die mit Glasscherben gekrönte Mauer . Johannes Timpe undFrau Karoline waren natürlich sehr aufgebracht darüber . Der Meister setzte eine Beschwerde auf , des Inhalts , daß die Mauer der Werkstatt das Licht nehme . Es kam auch eine Kommission , um sich an Ort und Stelle davon zu überzeugen , gelangte aber zu dem Resultat , daß der Abstand der Mauer vom Hause ein zu großer sei , um die Beschwerde zu rechtfertigen . Sie mußten sich also in das Unvermeidliche fügen . Nur der Großvater fühlte ein geheimes Behagen an der Rache der Nachbarin . Er konnte ohnehin nicht sehen , der Garten war ihm also völlig gleichgültig . „ Das habt Ihr Eurem lieben Söhnlein zu verdanken , “ sagte er mehrmals . Johannes Timpe und sein Weib mußten darauf schweigen , denn sie konnten ihm nicht Unrecht geben . Es wurde dem Drechslermeister und seiner Ehehälfte schwer , sich daran zu gewöhnen , den Vorgängen jenseits der Mauer keine Aufmerksamkeit mehr schenken zu dürfen , wie es vorauszusehen war , daß Franz sich am wenigsten in das Unvermeidliche fügen würde . Eines Tages konnte er es ohne eimen Einblick in den Nachbargarten nicht mehr aushalten . Er kam auf eine glückliche Idee . In der Ecke , wo die Mauer an das Häuschen stieß , stand ein mächtiger Lindenbaum , der seine Zweige weit über das Dach des Hauses streckte und an heißen Sommertagen einen vortrefflichen Schutz gegen die Strahlen der Sonne gewährte . Hoch oben in der Krone des Baumes erblickten die Eltern eines Abends den Sohn , Er war durch eine Dachluke direkt auf den Baum gestiegen , hatte auf zwei Aeste ein Brett gelegt , und guckte vergnügt in die Welt hinaus . „ Von hier aus kann man weit sehen “ , hatte er heruntergerufen . Und Johanens Timpe , der über die Waghalsigkeit seines Einzigen erst erschrocken war , dann aber lachen mußte , war ebenfalls zum Dachboden emporgestiegen , hatte seinen behäbigen Korpus mit Mühe durch die Luke gedrängt und neben seinem Sprößling Platz genommen . Wahrhaftig , der Junge hatte Recht . Hier oben konnte man sich über den Verlust der früheren Aussicht vortrefflich trösten . Dem Sohne zur Liebe wurde die Dachluke erweitert . Die Gesellen mußten eine Art Brücke vom Dache bis zum Baume schaffen ; und zur Sicherheit wurde hoch oben in der Krone rings um den Stamm ein Sitz mit Geländer angebracht und dieser Auslug , zu Ehren seines Entdeckers , „ Franzen 's Ruh ' “ getauft . Johannes Timpe aber nannte ihn seine „ Warte “ . Der Aufenthalt zwischen Himmel und Erde war eine vortreffliche Abwechselung in der Eintönigkeit der langen Abende und gab Veranlassung , sich noch wochenlang darüber zu unterhalten . Als der Großvater das Sägen und Hämmern über seinem Kopfe vernahm , erkundigte er sich im Geheimen bei den Gesellen nach der Ursache des Zimmerns , da man ihm aus sehr bekannten Gründen wohlweislich von den Vorgängen der neuesten Zeit nichts gesagt hatte . Er schwieg tagelang . Eines Abends aber , als Meister Timpe vergnügt plaudernd neben seinem Sohne auf der Warte saß , konnte der Greis sich doch nicht enthalten , in einem Gespräche mit seiner Schwiegertochter unten in der Laube die absichtlich laut gethane Bemerkung zu machen , daß zu seiner Zeit die Eltern den Jungen die Hosen stramm gezogen hätten , wenn dieselben so vermessen gewesen wären , auf dem Bäumen herumzukriechen , um sich der Gefahr auszusetzen , Arme und Beine zu brechen . Heute aber schiene es , als strebten die Eltern danach , ihren Kindern mit bösem Beispiele voran zu gehen : „ Ja , früher , wer dachte früher an so etwas ! “ Mit den Jahren hatte sich dann auch der älteste Timpe an die Kletterlust von Vater und Sohn gewöhnt und sogar einmal lebhaft bedauert ( das geschah natürlich ganz verstohlen ) , daß sein Alter und seine Blindheit es ihm nicht möglich machten , ebenfalls von dort oben den Leuten in die „ Suppenterrine zu spucken . “ In der Mittagsstunde des Tages , in dessen ersten Stunden Krusemeyer und Liebegott ihre Ansichten über die Nachtschwärmerei Franz Timpe's zum Besten gegeben hatten , suchte dieser seinen Vater in dem Gärtchen auf . Er war soeben aus dem Geschäft gekommen , und da das Essen noch auf sich warten ließ , wollte er die Neuigkeit , die er mitgebracht hatte , dem Alten sofort mittheilen . Meister Timpe war bei seinen Beeten , die er eigenhändig zu umgraben und zu besäen pflegte . Den einen Zipfel der Schürze hoch gesteckt , die Schirmmütze etwas schräg auf die noch wohlerhaltenen grauen Haare gerückt , stand er über seine Schaufel gebeugt und musterte den Boden . Dieser kleinen Beschäftigung im Garten , die ihm neben seinem Handwerk wie eine Erholung dünkte , pflegte er in den Morgen- und Mittagsstunden nachzugehen . Den ganzen Winter hindurch freute er sich bereits auf den Frühling , der ihn in den Stand setzen würde , seine Liebhaberei für Blumen und Gemüse zu bethätigen . Die Aprilsonne lag erwärmend auf den Bäumen und Sträuchern , an denen bereits das erste Grün sich bemerkbar machte ; und ein frischer Erdgeruch entstieg dem keimenden Boden und würzte die Luft . Nur wie ein leises Brausen drang das Branden und Wogen des Berliner Lebens über die Dächer hinweg in diese abgeschlossene Idylle hinein . Wenn Johannes Timpe seinen Sohn zu Gesicht bekam , galt seine erste Frage den Fortschritten im Geschäft . In den ewig sich gleichbleibenden Worten : „ Nun wie war 's heute — sind sie zufrieden mit Dir ? “ lag die ganze Zärtlichkeit , die er für seinen Sohn stets in so reichem Maße übrig hatte . Franz überhörte heute die Frage ganz ; dafür aber sagte er sofort : „ Weißt Du noch Vater , wie meinetwegen die Mauer errichtet wurde ? “ Meister Timpe blickte bei dieser merkwürdigen Frage auf . „ Gewiß , mein Junge , aber wie kommst Du darauf ? “ Franz schwieg ein paar Minuten , denn es fiel ihm ein , daß er zuvor etwas Nützlicheres zu thun habe , als sogleich die Frage seines Vaters zu beantworten . Er zog eine Haarbürste hervor , musterte sich eine Weile aufmerksam in dem Stückchen Spiegel derselben , glättete seine nach der neuesten Mode in der Mitte kokett gescheitelte Frisur , versuchte den Spitzen des keimenden Schnurrbartes eine symmetrische Form zu geben , pfiff leise vor sich hin , stellte sich mit den Händen in den Hosentaschen breitbeinig vor seinen Vater hin und erwiderte dann erst : „ Wer hätte jemals daran gedacht , daß ich doch noch über die Mauer hinwegkommen würde . Denke Dir nur : Herr Urban hat die Wittwe da drüben geheirathet und zwar ganz im Stillen auf einer Reise , die er kürzlich gemacht hat . Selbst das Geschäftspersonal hat jetzt erst davon erfahren . Es soll nämlich extra eine Festlichkeit für uns veranstaltet werden . Meine alte Feindin wird meine Frau Chef — ist das nicht ein Hauptspaß ? “ Johannes Timpe war diese Enthüllung so unerwartet gekommen , daß er zuerst stumm blieb , nur an seiner Mütze rückte und mit den Fingern der linken Hand über den kurzgeschorenen Kinnbart fuhr . Es war das immer ein Zeichen großer Nachdenklichkeit . Dann erst sagte er langsam : „ Sieh , der Schlauberger ! Ein schönes Grundstück da drüben und was die Hauptsache ist , Frau Kirchberg , jetzt Frau Urban , soll viel Geld besitzen . Es ist die alte Geschichte : wo Viel ist , kommt Viel hinzu . “ Meister Timpe faßte unter den Brustlatz seiner Schürze , holte eine mächtig-runde , bemalte Dose hervor und nahm mit einem „ hm , hm “ bedächtig eine Prise . Das sei aber noch nicht alles , berichtete Franz weiter . Man habe die Absicht , den größten Theil des Gartens zu Bauterrain umzuwandeln und eine große Fabrik mit den neuesten Verbesserungen zu errichten . „ Die schönen alten Bäume ! “ warf Meister Timpe im Tone des Bedauerns ein , bei dem Gedanken , eines Tages an Stelle des herrlichen Laubschmuckes kahle Backsteinmauern und riesige Schornsteine emporragen zu sehen . „ Also Dein Chef will im eigenen Hause fabriziren “ , sagte er dann auf's Neue , indem er die Arme über den Knauf des Spatens kreuzte und vor sich hin blickte . Im Geist vernahm er bereits das Zischen des Dampfes , das Schnurren und das Summen der Treibriemen — jenes eigenthümliche , die Erde erzitternd machende Geräusch , das die Nähe großer , in Bewegung gesetzter Maschinen verkündet . Wenn er nur genau gewußt hätte , wann das Bauen drüben seinen Anfang nehmen sollte . Er war nicht umsonst plötzlich so still geworden . Ihm fielen seine alten Pläne wieder ein , welche sich um die Vergrößerung seines eigenen Geschäftes drehten . Wenn an Stelle dieser Mauer eine schwindelhohe Wand erstünde , wenn man ihn immer mehr umschlösse , um ihm das Licht des Himmels zu nehmen ? Er hatte nie daran gedacht , daß die Verhältnisse jenseits der Mauer sich jemals ändern würden . Etwas wie Traurigkeit überkam ihn , eingedenk der Möglichkeit , daß sein Gärtchen eines Tages einem jener dunklen Höfe gleichen könne , über welche die Sonnenstrahlen nur auf Minuten dahinhuschen , ohne jemals ganz die Tiefe zu erreichen . Als er sich umwendete , um an seinen Sohn noch eine Frage zu richten , war dieser bereits verschwunden ; die Mutter hatte ihm vom Flur aus einen Wink gegeben , dem er gefolgt war . Es war nahe an ein Uhr . In der Werkstatt hatten die Gesellen sich nach eingefunden , um die Arbeit wieder aufzunehmen . An dem geöffneten Flügel des einen Fensters saß Thomas Beyer , der älteste Gehülfe Timpe's . Seit fünfzehn Jahren stand er bereits an ein und derselben Drehbank . Er war ein hagerer , starkknochiger Mann von etwa 40 Jahren und wohnte mit einer Schwester zusammen , die ihm die Wirthschaft führte . Er lebte sehr mäßig , besuchte sehr häufig populäre Vorträge und benutzte jede Gelegenheit , seine Belesenheit zu beweisen . Dadurch war er zu einer gewissen Autorität bei seinen Kollegen in der Werkstatt gelangt , die ihn wie ein lebendes Auskunftsbureau betrachteten , das auf Alles Antwort geben müsse . Die ergötzlichsten Ansichten wurden dabei zu Tage gefördert . Da er überdies mit allen Verhältnissen des Hauses vertraut war , in Abwesenheit seines Arbeitgebers die Geschäfte desselben wahrnahm , so wurde er von diesem mehr wie ein Kamerad als wie ein Untergebener betrachtet . „ Meister “ , rief er zum Garten hinaus , „ wir haben noch nicht genug Schornsteine in der Nähe , es müssen noch einige hinzukommen . Aber ich habe es immer gesagt : die Ueberproduktion wird die Menschen zu Grunde richten . Die großen Fabriken fressen das Handwerk auf und zuletzt bleibt weiter nichts übrig , als Arbeiter und Fabrikanten , zweibeinige Maschinen und Dampfkessel . Wie soll das enden ! “ „ Diesmal haben Sie Recht , Beyer “ , erwiderte Johannes Timpe , während von der Hofthür her , wo die Tauben sich vor dem Großvater versammelt hatten , die alte Litanei des Greises ertönte : „ Ja , ja , das waren noch andere Zeiten . . . damals ! Das Handwerk hatte einen goldenen Boden . . . Die Schornsteine müssen gestürzt werden , denn sie verpesten die Luft ; aber die Handwerker haben selbst daran Schuld . Sie sollten ihre Söhne nicht Kaufleute werden lassen , die nur noch spekuliren und nicht arbeiten wollen “ . Er hatte seinem Ingrimm wieder einmal Luft gemacht , drehte sich um , faßte nach der Wand und schritt , auf seinen Stock gestützt , den Oberkörper gebeugt und den Athem kurz hervorstoßend , den langen Flur entlang , begleitet von dem Geräusch der klappernden Hauspantoffeln . Durch das Gespräch aufmerksam geworden , hatten sämmtiche Gesellen sich an den Fenstern versammelt . Da drüben sollte also eine Fabrik errichtet werden ? Das war eine Nachricht , über welche man sprechen mußte . Johannes Timpe war es selbst angenehm , mit den Arbeitern seine Ansicht auszutauschen ; und so eiferte denn ein Jeder , seine Bemerkungen zu machen . Urban sei ein ganz geriebener Junge , meinte Leineweber aus Braunschweig , ein kleiner , schmächtiger Mensch , der sich die Brust an der Drehbank ruinirt hatte , aber sich immer in Träumen darüber erging , was er anfangen würde , wenn er einmal einen Batzen in der Lotterie gewönne . Er habe bei einem Meister gearbeitet , der für Urban geliefert habe . Wenn dieser anfange , auf eigene Faust zu fabriziren , so würde er wohl seinen guten Grund haben . Jedenfalls mache er hundert kleine Meister todt . Und Leitmann , ein bereits graubärtiger Geselle , der früher einmal selbstständig gewesen war und durch das viele Treten der Drehbank einen hinkenden Gang sich angeeignet hatte , kannte ihn schon seit der Zeit , als sein ganzes Geschäft aus zwei winzigen Zimmern bestand und er , einen mächtigen Karton unter dem Arm , seinen eigenen Reisenden spielte , der durch die Straßen Berlins keuchte , oder hoch oben auf dem Omnibus von einem Thor zum andern fuhr . Das sei vor zwanzig Jahren gewesen , als die ovalen Bilderrähme zum ersten Male auf der Drehbank hergestellt wurden . Dadurch habe er sein Glück gemacht . Fritz Wiesel , ein blutjunger Berliner , hatte , als er noch Lehrling war , im Komtor von Ferdinand Friedrich Urban zu thun gehabt . Sein Geiz sei sprichwörtlich , meinte er . Er habe einmal einem Droschkenkutscher in der Zerstreutheit ein Zehnpfennigstück zu viel gegeben und sich darüber so sehr geärgert , daß er befürchtete , bankerott zu werden . Meister Timpe wurde durch die eintretende Heiterkeit mit fortgerissen , bis er endlich sagte : „ Ihr macht ihn schlechter , als er in Wirklichkeit ist , Kinder . Ich habe ihn kennen gelernt , als ich meines Sohnes wegen mit ihm Rücksprache nehmen mußte , und ich kann sagen , daß er mir wie Jemand vorgekommen ist , der die Welt und die Menschen kennt . “ — „ Und sie deshalb gehörig ausbeutet , “ fiel Thomas Beyer brummend ein . Meister Timpe zuckte die Achseln und erwiderte : „ Ein Kaufmann muß rechnen , sonst geht er zu Grunde “ , sagt mein Franz immer . „ Es ist nun einmal in der Welt so , lieber Beyer , daß jeder seinen Vortheil sucht . “ „ Aber der liebe Herrgott hat die Erde nicht dazu geschaffen , Meister , daß die Einen Alles haben und die Anderen Nichts , “ gab der redselige Altgeselle zurück . „ Da habe ich neulich einen Vortrag gehört — “ Johannes Timpe unterbrach ihn mit einer Handbewegung . „ Weiß schon , weiß schon , lieber Beyer ! — Sie berufen sich immer auf die Vorträge . . . Sie scheinen übrigens in der letzten Zeit gefährliche Gedanken bekommen zu haben . “ Meister Timpe drohte lächelnd mit dem Finger und fuhr dann fort : „ Laß Jeden thun und Jeden haben , was er will . Der Werth des Lebens besteht nicht darin , zu sagen , ich bin das und das und ich besitze das und das , sondern darin , daß der Mensch sagt : Ich bin zufrieden . Liebe zur Arbeit , Neidlosig keit dem Nächsten gegenüber und der Glaube an einen ewigen Gott — das sind die drei Dinge , die wir zuerst beherzigen müssen , wollen wir uns eines wirklichen , innern Glückes erfreuen . Denn , daß das Glück von außen kommt , sagen nur Diejenigen , die es in ihrem Innern nie empfunden haben . „ Das sind alte Anschauungen , Meister “ , sagte Thomas Beyer wieder , indem er seine Drehbank in Bewegung setzte . „ Sie sind nicht fortgeschritten in Ihren Ansichten ; aber Sie werden einmal anders denken . “ Johannes Timpe kannte die Unterhaltungssucht seines Altgesellen über derartige Dinge und wußte , daß es schwer war , ein Ende mit ihm zu finden . Deshalb drehte er dem Fenster den Rücken und schritt der Wohnung zu , um sein Mittagsmahl einzunehmen . Die Gehilfen aber konnten noch nicht zur Ruhe kommen . Während sie Anstalten machten , um an ihre Arbeit zu gehen , wurde das Gespräch fortgesetzt . Theobald Spiller , genannt Spillerich , gebürtig aus einer kleinen Stadt , des Königreichs Sachsen , war der Lustigmacher der Werkstatt . Er war ein kleiner rund gebauter Mann mit glatt geschorenem Haar und bartlosem Gesicht , in dem der breite Mund selten zur Ruhe kam . Selbst beim Drechseln erzählte er seine Schnurren , und lachten die Anderen nicht , so erlaubte er sich dieses Vergnügen allein . Er hatte oft die tollsten Einfälle , war aber sonst ein durchaus harmloser Mensch , der nur die üble Angewohnheit hatte , regelmäßig des Dienstags bereits Vorschuß zu nehmen , was sich im Laufe der Woche zwei- bis dreimal zu wiederholen pflegte . Er aß nämlich ungemein stark und hatte eine besondere Vorliebe für extra seinen Liqueur , durch den er sich die Einsamkeit seines Junggesellenlebens trostreicher zu machen versuchte . Er schlug vor , den Versuch zu machen , Ferdinand Friedrich Urban von der Errichtung der Fabrik abzubringen , schon des Freikonzertes wegen , welches die Nachtigallen im Sommer zum Besten gäben , worauf der Berliner diesen guten Gedanken mit einem : „ Det stimmt “ , bestätigte — ein Stichwort , das er den Tag über unzählige Mal anzuwenden wußte . Man erging sich nun in den verschiedensten Plänen , die jedoch alle als nicht besonders wirkungsvoll verworfen wurden , bis endlich Theobald Spiller , genannt Spillerich , den Vogel abschoß , indem er sagte , man müsse das Gerücht verbreiten , der Geist von Frau Urbans erstem Manne ginge im Garten umher , um sich gegen die beginnende Verwüstung zu verwahren . „ Wenn Ihr mir ein Leichengewand besorgt , mich dabei nicht verhungern läßt und sofort bei der Hand seid , wenn ich um Hilfe rufen sollte , so mache ich die Geschichte “ , sagte der kleine Sachse zum Gaudium der Uebrigen , indem er die Spähne von seinem in der Form einer Kugelakazie gestutzten Haar entfernte . Man hätte diese Pläne jedenfalls noch ins Ungeheuerliche gesponnen , wenn nicht Franz Timpe vor den Fenstern wieder sichtbar geworden wäre . In der Werkstatt konnte ihn Niemand seines Hochmuths wegen leiden . Er hatte die Manier , äußerst herablassend zu thun und auf einen Gruß kaum einen Dank zu finden ; dagegen verlangte er äußerst herrisch die Erfüllung seiner Wünsche . Vernahm er den freundlichen Ton , in welchem der Drechslermeister mit den Gesellen verkehrte , so fühlte er sich dadurch unangenehm berührt . Es passe sich nicht , mit Arbeitern kameradschaftlich zu verkehren , meinte er zu seinem Vater ; denn es ärgerte ihn , nicht so respektirt zu werden , wie er es wünschte . Nur Thomas Beyer gegenüber pflegte er bescheiden aufzutreten , denn er hatte es nicht vergessen , wie dieser ihm einst , als er noch Schuljunge war , für eine arge Unverschämtheit eine Ohrfeige versetzt hatte , die noch lange Zeit hindurch eine Genugthuung für den Großvater bildete . Es hatte damals zwischen dem Meister und seinem ältesten Gesellen eine heftige Szene gegeben , in welcher aber schließlich der Gerechtigkeitssinn Johannes Timpe's zu Gunsten seines Gehilfen siegte . Erblickten die Gesellen den angehenden Kaufmann , beobachteten sie die geckenhaften Manieren , die er sich angeeignet hatte , so wurde er zur Zielscheibe geheimer Spöttereien , die seine Ohren nicht angenehm berührt hätten , wenn er sie vernommen haben würde . „ An dem Zierfuchs hat sich der Meister eine Ruthe für seine alten Tage gezogen “ , pflegte Thomas Beyer zu sagen und wiederholte es auch heute . „ Det stimmt “ , fiel Fritz Wiesel ein . „ Er müßte sich einmal vierzehn Tage lang an der „ Bank “ die Beine austreten , vielleicht würde er dann etwas zahmer werden . “ „ Das hilft alles nichts “ , meinte der kleine Sachse . „ Er muß vier Wochen lang im Schaufenster eines Friseurs stehen , oder zu Castan ins Panoptikum kommen . Da gäbe es etwas zum Lachen . “ Oftmals wurden die Bemerkungen so laut gethan , daß Franz Timpe etwas von ihnen auffing . Er schäumte dann vor Wuth , schwieg jedoch , weil er fürchtete , sich noch lächerlicher zu machen ; oder er schlug den alten Weg ein : suchte seinen Vater auf und klagte die Gehülfen der Faulheit und anderer Dinge an . Dadurch machte er sich nur noch verhaßter bei den Leuten in der Werkstatt . Sein Trost blieb dann die Zukunft , die Erfüllung der Pläne seines Vaters , die ihn in den Stand setzen würden , dereinst über die Arbeiter zu herrschen und sich für die erlittenen Verhöhnungen zu rächen . ... Wie schön war nicht die Aussicht ! Das Geschäft würde blühen und gedeihen , er sich emporschwingen , wie Urban es gethan hatte ; man würde ihn Chef nennen , eine reiche , schöne Frau würde sich finden , dazu Pferd und Wagen und eine Villa , wie Herr Ferdinand Friedrich Urban sie besaß . Und warum den Gedankenflug nicht noch höher erheben ? Schon mancher hatte es bis zum Kommerzienrath gebracht , der wie er , in jungen Jahren begonnen hatte . ... Den Kopf voll dieser Träumereien , mit denen ein Heer von Arbeitern , riesige Schornsteine , doppelthürige Geldschränke und Unsummen Geldes sich verbanden , die wie Phantome an ihm vorüber jagten und seine Phantasie belebten , enteilte er auch diesmal der Hörweite der Gesellen und machte sich auf den Weg zum Komtor . IV. Das Loch in der Mauer . In den Morgenstunden des anderen Tages — die Gesellen saßen gerade beim Frühstück — ließen plötzlich jenseits der Mauer heftige Meißelschläge sich vernehmen , deren heller Klang die Luft durchdrang . Gerölle von Steinen und Mörtel folgten ; hin und wieder wurden Stimmen laut . Man schien etwas abzumessen und seine Meinung darüber auszutauschen . Die Gehülfen wurden aufmerksam , und Thomas Beyer sagte zu Johannes Timpe , der die Werkstatt betreten hatte : „ Hören Sie nur , Meister , da drüben fängt man schon an zu bauen . Urban hat es sehr eilig . “ Der Alte war ebenso überrascht wie seine Leute . Das ging in der That sehr rasch , wenn Beyer Recht hatte . Timpe schritt nach dem Garten hinaus , um etwas von dem Gespräch aufzufangen und seine Beobachtungen in der Nähe zu machen . Die Schläge richteten sich gegen die Mauer . Nach einer Viertelstunde bewegte sich ein Stein in derselben ; die Spitze eines Meißels wurde sichtbar . Es dauerte nicht lange , so konnte man eine Oeffnung erblicken , die sich nach einer weiteren Viertelstunde so vergrößert hatte , daß das bärtige Gesicht eines Maurers sich zeigte . Der Mann blickte neugierig durch das Loch und nickte dem Meister wie zum Gruße zu . Schlag auf Schlag folgte dann wieder , Stein auf Stein verschwand ; die Oeffnung erweiterte sich bis zum Boden , bis sie endlich so groß war , daß ein Mensch in gebückter Haltung bequem hindurchschlüpfen konnte . Meister Timpe wollte gegen den Maurer seinem Unmuth über den herniedergefallenen Kalk , der seine Beete bedeckte , Luft machen , als durch die Oeffnung eine laute Stimme erschallte : „ Guten Tag , mein lieber Herr Timpe ! Also hier wohnen Sie ! “ Und Herr Ferdinand Friedrich Urban , ein kleiner , hagerer Mann mit einem schmalen bartlosen Gesicht , auf dessen langer , spitzer Nase eine goldene Brille thronte , präsentirte sich den erstaunten Blicken des Drechslermeisters . Dieser Begrüßung folgte ein Wortschwall von Entschuldigungs- und Erklärungsgründen : „ .. Ohne Belästigung für den Nachbar ginge so etwas nicht ab. ... Der Schutt solle sofort weggeschafft werden . ... Man wolle die Mauer durchaus nicht abreißen , müsse aber eine Wurzel des Baumes da hinten , die bis unter das Fundament führe , durchschneiden , um Unheil zu verhüten . ... Sämmtliche Bäume sollten fallen .. “ und so weiter . „ Wenn Sie erlauben , überschreite ich die feindliche Grenze . “ Bevor noch der verlegene Meister Timpe ein zuvorkommendes : „ Bitte , bitte recht sehr , “ ganz zu Ende bringen konnte , hatte Herr Ferdinand Friedrich Urban sich bereits mit der größten Rücksicht auf seinen Zylinderhut durch die Oeffnung gezwängt und mit einem Sprunge die Beete überschritten . Dann verstieg er sich so weit , Johannes Timpe die Hand entgegenzustrecken , die dieser erst ergriff , nachdem er die seine mit der Schürze in Berührung gebracht hatte , um sie reinlicher zu machen . Ueberhaupt merkte man ihm an , wie außerordentlich geehrt er sich durch diesen Besuch fühlte . Er lüftete mehrmals hinter einander die Mütze und setzte sie schließlich in der Zerstreuung äußerst schief wieder auf , so daß der Schirm über das eine Ohr ragte . Endlich versuchte er doch einige zusammenhängende Worte hervorzubringen , die der Ehre , welcher er durch diesen plötzlichen Besuch theilhaftig wurde , Ausdruck verleihen sollten . Herrn Ferdinand Friedrich Urban's lange und spitze Nase schnüffelte eine Weile in der Luft herum , als wollte sie die Atmosphäre dieses kleinen Handwerkerheims in sich aufnehmen ; die wasserblauen Augen glitten über die Brille hinweg , nach rechts und links prüfend im Kreise herum , dann sagte er , während die dürren Finger der rechten Hand eine abwehrende Bewegung machten : „ Schon gut , schon gut , mein lieber Herr Timpe ! “ Dabei klopfte er dem Meister auf die Schulter , wie es Jemand zu thun pflegt , der einem Menschen seine Herablassung beweisen will . Dann fuhr er mit seiner hellen Trompetenstimme , die sich wie die eines Knaben anhörte , fort zu sprechen , die Sätze kurz hervorstoßend : „ Die ganze Geschichte dort drüben gehört jetzt mir . Sie werden wohl schon davon gehört haben . . . . Frau Kirchberg ist erst kürzlich meine Frau geworden . . Sie haben einmal einen kleinen Streit mit ihr gehabt . Weiß schon , schadet nichts ! So etwas wird vergessen . ... Ihr Sohn wird trotz seiner frühen Vorliebe für verbotene Früchte ein tüchtiger Kaufmann werden . Gewiß , gewiß , ohne Frage ! “ Meister Timpe's Gesicht leuchtete , während Herr Urban von Neuem anhub : „ Ich will eine große Fabrik da drüben errichten , eigentlich zwei , aber es wird nur ein Gebäude werden , weil Alles ineinandergreifen soll . ... Ich sehe ja nicht ein , weshalb ich nicht in meinem eigenen Hause fabriziren sollte . ... Man muß heute Alles großartig , mit Dampf betreiben , um billig liefern zu können . Die Konkurrenz ist zu groß . Die Knopf- und Stockfabrikation ist zwar bereits sehr heruntergekommen , aber ich werde die Geschichte schon anfassen , es einmal mit meinen eigenen Ideen versuchen . Die Elfenbeinbranche werde ich hinzunehmen , vielleicht auch die grobe Holzdrechslerei mit Dampf betreiben . Die Geschichte wird schon gehen ... Uebrigens wäre mit Ihrem Artikel noch etwas Großes zu machen , wenn — “ Er brach plötzlich ab , als empfände er , zu weit gegangen zu sein , fragte dann aber plötzlich : „ Sagen Sie doch , mein lieber Herr Timpe , wollen Sie Ihr Grundstück verkaufen ? “ Der Meister hatte eine derartige Frage nicht erwartet . Kurze Zeit schwieg er , dann erwiderte er sehr bestimmt : „ Niemals , wenigstens so lange ich lebe , nicht . Ein halbes Jahrhundert befindet sich das Haus bereits in unserem Besitz und , so Gott will , soll mein Sohn , und bekommt er einst Kinder , sollen diese es noch länger behalten . ... “ Er nahm bedächtig eine Prise ; dann fügte er in seiner ruhigen , gemessenen Sprechweise hinzu : „ Ich will ebenfalls bauen und meine Werkstätten vergrößern . “ Ferdinand Friedrich Urban blickte überrascht auf und maß den Meister mit einem Seitenblick , dann sagte er mit gezwungener Gleichgültigkeit : „ So , so , also ebenfalls im Großen fabriziren , he ? “ Während die Hände sich mit der dicken , goldenen Uhrkette beschäftigten , vergaß er nicht , mit leicht gesenktem Haupte über die Brille hinweg das Antlitz des Gefragten zu studiren . Und Johannes Timpe , erfreut darüber , in diesem angesehenen Kaufmann einen Mann gefunden zu haben , der so leutselig mit ihm über seine geschäftlichen Pläne sprach , wußte nichts Besseres zu thun , als mit gleichem Vertrauen entgegenzukommen und sein Herz auszuschütten . Seines Sohnes , ja nur seines einzigen Sohnes willen würde er das thun . Natürlich sei vorläufig noch nicht daran zu denken . Der Junge müsse erst etwas Ordentliches lernen , ein tüchtiger Kaufmann werden , sich Fachkenntnisse aneignen ; dann , ja dann könne er wohl der Sache näher treten . Lange werde das ja nicht dauern , denn ein paar Jahre seien bald herum . Ein Handwerker würde er trotzdem immer bleiben , aber heute , wo Alles rechne und die Zahlen bei den Menschen die größte Rolle spielten , sei es jedenfalls von Vortheil , auch ein wenig direkt mit dem Handel in Verbindung zu treten . Herr Ferdinand Friedrich Urban hatte diesen Herzensergüssen aufmerksam und ohne Unterbrechung zugehört ; nur daß er hin und wieder ein halblautes „ So , So ! “ vernehmen ließ , das man aber mehr als Ausdruck seiner Ueberraschung denn einer Zustimmung betrachten konnte . Endlich sagte er überzeugungsvoll : „ Die Geschichte wird gehen , aber wenn ich Ihnen einen Rath geben dürfte , so wäre es der : Seien Sie vorsichtig , ehe Sie Ihr Geld verpulvern . Wem nicht viele Mittel zur Verfügungstehen , der sollte hübsch seinen alten Weg gehen , ehe er einen neuen betritt . . . . In meinem Geschäft stecken bereits Hunderttausende , und doch habe ich noch Tag und Nacht zu arbeiten , um mich über Wasser zu halten . Einer macht den Anderen todt . Wer es am längsten aushalten kann , der bleibt Sieger . . . . Mit dem Geldhineinstecken ist 's bald gethan , bekomme es Einer nur erst wieder heraus ! Thäte man nicht besser , sein Geld zu einem soliden Zinsfuß anzulegen ? Aber leicht gesagt bei einem Kaufmann ! Hat er einmal angefangen mit dem Hineinstecken , dann muß er seinen Geldsack immer auf's Neue bluten lassen . Er muß , verstehen Sie , er muß ! — sonst verschlingt ihn das große Thier Nimmersatt , das man Konkurrenz nennt . . . . Aber die Geschichte wird eines Tages gehen , sage ich mir , darum werde ich noch einmal mit den Hunderttausenden anfangen . “ Er machte eine Kunstpause , dann sagte er wieder : „ Sie sollten Ihr Grundstück doch verkaufen , und zwar an mich . Ich zahle Ihnen den doppelten Preis des Werthes . Sehen Sie , ich kann diese Ecke hier gebrauchen ; sie würde sich vortrefflich zu meinem Kontorgebäude eignen . Ich könnte dasselbe dann direkt an die Straßenfront bauen . Ihre Nachbarn zur Rechten und Linken sind mir bereits entgegengekommen . Die Geschichte wird gehen , wie ? “ Johannes Timpe kam aus der Ueberrumpelung nicht heraus . Einige Augenblicke blickte er sinnend vor sich hin und überlegte sich die Sache äußerst reiflich . Das Angebot war ein verlockendes . Da fiel sein Blick auf die hinfällige Gestalt seines Vaters , der sein Leben auf dieser Scholle Erde zu beschließen gedachte . Sein Entschluß war ein für allemal gefaßt . „ Nein , ich thue es nicht , “ sagte er fest und bestimmt . „ Ich lege noch tausend Thaler baar hinzu — “ Timpe machte eine abwehrende Handbewegung . „ Nun dann mein letztes Gebot , weil mir durchaus an dieser Ecke etwas liegt : Ich zahle Ihnen den dreifachen Werth , und zwar in baarem Gelde , Schlagen Sie ein und seien Sie nicht thöricht . “ Es war dieselbe Situation . Johannes Timpe wurde schwankend , die Aussicht auf leichten Gewinn lockte , das baare Geld lachte ihn im Geiste an . Er hatte sich niemals träumen lassen , daß aus seinem Grund und Boden über Nacht Reichthümer zu schlagen seien . Abermals richtete er den Blick nach der Hofthür , von woher im selben Augenblick die Worte schallten : „ Das Haus verkaufen wir nicht . Dabei bleibts ! “ Der starrsinnige Greis , dessen feinem Gehör die Unterhaltung nicht entgangen war , drehte sich kurz um und ließ wieder den Dreiklang seiner Pantoffeln und der Stütze vernehmen . „ Da haben Sie es gehört “ , sagte Timpe lachend , ungemein vergnügt darüber , in dem Großvater einen Befreier aus seiner Pein gefunden zu haben . „ Das ist die letzte Instanz , und dagegen ist nichts zu machen . Reden wir nicht mehr darüber , Herr Urban . “ „ Merkwürdige Menschen , die Sie sind ! Sie werden es eines Tages bereuen . “ Etwas wie Unmuth drückte sich auf Urban's Zügen aus . Die Nase schien spitzer geworden zu sein , die ausdruckslosen Augen warfen über die Brille hinweg empörte Blicke auf das Häuschen , als wollten sie die halbe Ruine für das erlittene Fiasko verantwortlich machen . Herr Ferdinand Friedrich Urban zog sein rothseidenes Taschentuch hervor und entfernte einige Kalkspritzer von seinem tadellos schwarzen Gehrock . Dann fragte er mit erzwungener Liebenswürdigkeit : „ Darf ich vielleicht einmal die Gelegenheit benutzen , Ihre Werkstätten kennen zu lernen ? “ Und da er sich einmal vorgenommen hatte , ohne einen Profit diesen Ort nicht zu verlassen , sich aber Johannes Timpe , gegen welchen ihn ein plötzliches Mißtrauen gepackt hatte , beim Beschauen der Arbeitseinrichtung äußerst geneigt machen wollte , so erfaßte er dessen schwache Seite und kam auf Franz zu sprechen . „ Ja , mein lieber Herr Timpe — damit ich auch einmal ernstlich von Ihrem Sohne rede : ein Prachtjunge mit einem Wort ! Er hat Manieren , so daß er die Zierde des besten Hauses bilden könnte ; besitzt eine wundervolle Handschrift , rechnet ungemein schnell und hat sich Kenntnisse der englischen und französischen Sprache angeeignet , was man nicht unterschätzen darf . Etwas zum leichten Leben geneigt , aber du mein Gott — das sind die allgemeinen Fehler der Jugend , die schließlich auch nothwendig zur Kenntniß des Lebens sind . . . . Er wird Karrière machen ! Ja , ja . . . “ Johannes Timpe zeigte eine Miene , als wenn er den zehnfachen Preis für sein Grundstück empfangen hätte ; denn was konnte ihn wohl glücklicher stimmen , als das Lob seines Einzigen aus dem Munde des Mannes , der die guten Eigenschaften Franzens am Besten erkannt haben mußte . So schritt er denn bereitwillig dem großen Kaufmann voran und öffnete ihm zuvorkommend die Werkstattthür — wie ein Mann , der einen ausgezeichneten Besuch empfangen hat , dem er die größte Aufmerksamkeit erweisen muß . Die Gesellen steckten die Köpfe zusammen und setzten auf kurze Zeit die Drehwerkzeuge ab , um das betäubende Geräusch zu vermindern ; dann sahen sie sich an , als wollten sie fragen : Was will denn der hier ? Wiesel und Leitmann erinnerten sich seiner sofort und nannten seinen Namen . Der Chef des Hauses Ferdinand Friedrich Urban entwickelte ein sichtliches Interesse selbst für die kleinsten Dinge — gleich einem Fachmanne , der jede Gelegenheit wahrnehmen möchte , um seine Kenntnisse zu bereichern . Sein Gesicht neigte sich bald hier- bald dorthin , oder beugte sich tief auf die Gegenstände ; und die lange Nase , die sich wie ein Steuer abwechselnd nach rechts und links wendete , blieb fortwährend in Bewegung , als bildete sie ein nöthiges Bestandtheil zur allgemeinen Prüfung . Er untersuchte Alles : die Drehbänke die Werkzeuge , die angefangene Arbeit ; stellte sechs Fragen auf einmal , so daß Johannes Timpe Mühe hatte , die Neugierde seines Nachbarn zu befriedigen . „ Ja , Sie sind noch Einer , der zu beneiden ist ! Ihnen ist die Konkurrenz noch nicht über den Kopf gewachsen . So sagte erst neulich der alte Heinicke — Sie kennen ihn ja , seine Firma ist eine der ältesten am Platze , — daß Ihre Horn- und Elfenbeinkrücken berühmt seien , und daß Niemand es besser verstehe , solider zu arbeiten und eine schönere Zeichnung zu erfinden , als Sie . Wer zu gleicher Zeit die Mo delle macht , der hat eben den größten Vortheil . Und doch ist dieser Artikel noch viel zu theuer . Neue Maschinenerfindungen werden auch hier noch eine große Rolle spielen müssen . . . . Wollen Sie mir nicht einmal Ihre Modelle zeigen ? “ Meister Timpe zögerte einen Augenblick . Sein Blick glitt prüfend über den Fabrikanten , der anscheinend gleichgültig den Arbeiten Thomas Beyer's zusah . Ein gewisses Mißtrauen stieg in ihm auf , aber es verschwand auch ebenso schnell . Lächerlich das , woran er eben dachte ! Wenn dieser Mann , der in einem vortrefflichen Renommee stand , um sein Vertrauen bat , so würde er dasselbe jedenfalls auch zu achten verstehen . Und dann : man stiehlt nicht gleich mit den Augen , man prägt sich in wenigen Minuten nicht Dinge ein , deren Herstellung manchen harten Tages , deren Erfindung noch längerer Zeit bedurfte . So sagte er denn höflich : „ Wollen Sie die Güte haben — ? “ und führte den reichen Kaufmann in das Allerheiligste seines Hauses : in seine Arbeitsstube , die ihm zugleich zur Aufbewahrung der Modelle diente . Hier stand seine Drehbank , pflegte er allein zu sinnen und zu schaffen . Selbst die Gesellen hatten hier keinen Zutritt ; sie mußten vorher anklopfen , wollten sie den Meister sprechen . Wenn mit Thomas Beyer eine Ausnahme gemacht wurde , so geschah es nur , weil dessen Treue und Ehrlichkeit seit langer Zeit erprobt waren . Urbans Blick glitt voll unverkennbaren Entzückens die Wände entlang , wo an Bindfaden befestigt und mit Nummern versehen , unzählige Holzgegenstände hingen , die in alen Formen und Gestalten aus Meister Timpes kunstgeübter Hand hervorgegangen waren . „ Die Geschichte macht sich “ , sagte er ein über das andere Mal . Nach dieser stehenden Redensart folgten Worte des Lobes und der Bewunderung , so daß Johannes Timpe von einem gewissen ungekünstelten Stolz beseelt wurde , schweigend dabei stand und sich beflissen zeigte , den besonderen Wunsch seines Nachbarn nach näherer Besichtigung irgend eines Gegenstandes zu erfüllen . „ Heinicke hat nicht zu viel gesagt : Sie sind ein tüchtiger Mann ! “ Als Ferdinand Friedrich Urban sich mit den üblichen Dankesworten verabschiedet und den Weg wieder durch die Oeffnung der Mauer genommen hatte , rief er noch einmal zurück : „ Aber wie gesagt , der Artikel ist noch viel zu theuer , viel zu theuer . “ . . . Nach einer Stunde kam Franz Timpe zum Abendbrod nach Hause . „ Wißt ihr das Neueste ? “ sagte er zu seinen Eltern , „ die Stadtbahn soll hier durchgelegt werden . Die ganze Gegend wird dadurch gewinnen . “ Johannes Timpe führte vor Erstaunen den Happen Brot nicht dem Munde zu . Ihm fiel plötzlich etwas ganz Merkwürdiges ein , so daß er fragte : „ Weiß Dein Chef schon davon ? “ „ Ei freilich ; er selbst hat es unserem Geschäftsführer erzählt . “ „ Potz Blitz , jetzt ist mir Alles erklärlich ! Er wollte nämlich zu einem dreifachen Preise unser Haus kaufen , um vielleicht das Zehnfache herauszuschlagen . Dieser Schlauberger , dieser Schlauberger . . . . “ V. Fräulein Emma . Eine Woche später , man schrieb den 4. Mai , befand sich Franz in der Laube des Gärtchens , wo er allein sein Essen einnahm . Der Flieder stand in voller Blüthe . Knospe auf Knospe hatte sich aufgethan und eine seltene Wärme der Luft ließ die Pracht des nahenden Sommers ahnen . Die Drehbänke standen bereits still , friedliches Schweigen herrschte in dem Häuschen . Sieben Uhr war kaum vorüber , der Himmel hell und durchsichtig , so daß dem Blick eine weite Aussicht gestattet wurde . Die Mauer zeigte noch immer ihre klaffende Oeffnung , denn es war nun fraglich geworden , ob man sie nicht ganz niederlegen solle , um eine elegante , architektonisch verschönerte , an ihre Stelle zu setzen . Da Meister Timpe auf eine Stunde seine alte Stammkneipe , drüben auf der anderen Seite der Straße ( Vater Jamrath 's Weißbier war im ganzen Viertel berühmt ) aufgesucht hatte , so war in Franz die alte Lust erwacht , die seit Jahren in ihm nicht mehr rege werden durfte : dem Nach bargrundstück einen Besuch abzustatten . Er hielt diesen Gang heute nicht mehr für so gefährlich wie früher ; ja glaubte sogar berechtigt zu sein , sich an Ort und Stelle von der beginnenden Umwandlung des Parkes überzeugen zu dürfen . Sollte doch auch er dereinst seine Thätigkeit auf dem feindlichen Gebiete fortsetzen . Er war eben im Begriff , sich zu erheben , als eine helle Mädchenstimme ganz in der Nähe laut und vernehmlich sagte : „ Papa Timpe 's Haus sieht immer noch so häßlich aus wie früher . “ Als die Sprecherin , die sich in dem Durchbruch der Mauer wie in einem Rahmen präsentirte , den jungen Mann erblickte , zog sie verlegen den Kopf zurück ; Franz aber , bereits außerordentlich geübt in Galanterien Damen gegenüber , lüftete sehr höflich den Hut und gebrauchte einige zuvorkommende Redensarten , die ihre Wirkung nicht verfehlten ; denn alsbald zeigten sich die Locken wieder und dieselbe Stimme sagte : „ Ach , Sie sind's , Herr Timpe ! Man kennt Sie gar nicht mehr wieder “ ... Es war Fräulein Emma Kirchberg , die jüngste Tochter der jetzigen Frau Urban , ein schlank gewachsenes Mädchen von nahezu siebzehn Jahren , das sich noch in der körperlichen Entwickelung befand und etwas zu groß gerathene Hände besaß , die ihren größten Kummer bildeten , und welche sie daher so wenig als möglich zu zeigen versuchte . Ihr längliches , gesund aussehendes Gesicht enthielt regelmäßige Züge , deren Harmonie nur durch einen etwas breiten Mund , der beim Lachen zwei Reihen gesunder Zähne zeigte ( und das geschah oft , denn sie lachte gern ) , gestört wurde . Dafür entschädigten ein paar große , schwärmerisch blickende Augen , die sehr keck in die Welt blickten und zeitweise die Starrheit von zwei durchsichtigen Wassertropfen annahmen , auf welche das Grün der Bäume seinen Reflex wirft . Das röthlich blonde Haar fiel in Ringeln über die Schulter und verlieh dem Antlitz den Schimmer von gefärbtem Alabaster . Sie war nicht allein ; eine Freundin , Therese Ramm , die etwas kränklich aussehende Tochter eines Dachpappenfabrikanten aus der Köpnickerstraße war bei ihr . Therese stand in gleichem Alter mit Emma und war deren stete Gesellschafterin , soweit sich das mit der Zeit und den Umständen vertrug . Da sie hinter der Mauer stand , so blieb sie Franzen noch verborgen , der sie seit jener Zeit kannte , als an Stelle der Mauer das kleine Zäunchen stand und er ein guter Spielkamerad der Mädchen war . „ Ja , damals ! “ dachte er in diesem Augenblick mit dem Großvater . Jene Tage tauchten vor seinem Geiste auf : wo er mit dem jetzt so großen Fräulein Emma als Kind Hand in Hand den Nachbargarten durchtollte , sie verwegen auf seine Arme nahm und die Drohung ausstieß , sie in den Wassergraben zu werfen , falls sie ihr lautes Rufen nach der Mutter nicht lassen würde . Allerlei phantasiereiche Ausgeburten seines Gehirns schlossen sich dem an : er würde sie des Nachts aus ihrem Bette rauben und in ein dunkles Gewölbe werfen lassen , wo sie bei Wasser und Brod so lange sitzen müsse , bis sie alt und grau geworden sei und kein Mensch mehr sie zur Frau haben wolle . Die kleine magere Emma fing dann an bitterlich zu weinen und bat ihn , seinen fürchterlichen Plan nicht auszuführen . Sie wolle auch ganz artig sein und sich von ihm durch den Garten tragen lassen . Und nun stand dieses kleine , zierliche Ding von damals als furchtlose , elegant gekleidete Dame vor ihm und redete ihn mit „ Herr Timpe “ an . Was die Jahre und die Entfremdung doch Alles zuwege bringen ! Fräulein Emma hatte sechs Jahre bei einer Tante auf dem Lande zugebracht , da ihre Mutter von jeher für ihren schwächlichen Körper gefürchtet hatte und es eines Tages für nöthig fand , dem Verlangen des Arztes nach einem Ortswechsel nachzugeben . Im vergangenen Winter war das Mädchen wieder nach Berlin zurückgekehrt , um von nun an inmitten der Familie zu verweilen . Die ganze Nachbarschaft hatte ihre Größe angestaunt und sich über die ländlichen Manieren gewundert , die sie sich angeeignet hatte . Ihre beiden älteren Schwestern aber fanden alle Augenblicke Veranlassung , sich über sie zu ärgern und ihren trockenen Humor , mit dem sie sich über Alles lustig machte , und mehr noch ihre Ungenirtheit im Gespräche zu bemängeln und unausstehlich zu finden . Binnen wenigen Monaten war sie zum enfant terrible geworden , das schließlich anfing , eine gewisse Ausnahmestellung im Hause einzunehmen . Therese Ramm allein erklärte sie für entzückend , denn sie fand mannigfache Berührungspunkte mit ihrer Freundin , da sie als einziges Mädchen unter fünf Brüdern sehr zu leiden hatte ; außerdem fühlte sie sich in ihrem ganzen Denken und Trachten innig mit Emma verwandt , zumal dieselbe trotz ihrer Fehler eine große Herzensgüte besaß , die in der Schlichtheit , mit der sie zu Tage trat , doppelt für sie einnahm . Fräulein Kirchberg hatte kaum Franz erblickt und begrüßt , als sie erklärlicherweise von denselben alten Erinnerungen heim gesucht wurde ; und da sie die Empfindung hatte , als müsse sie ihrem vorlauten Gruße etwas hinzufügen , um nicht in Verlegenheit zu gerathen , so sagte sie sehr lustig : „ Bitte , zeigen Sie mir doch einmal das unterirdische Burgverließ , in das Sie mich früher zu werfen drohten , wenn ich Ihnen nicht pariren wollte . Entsinnen Sie sich noch , Herr Timpe ? “ „ Ich habe im Augenblick daran gedacht , mein Fräulein , und freue mich , daß Sie mich bei unserer ersten Begegnung auf etwas aufmerksam machen , wofür ich nachträglich vielmals um Verzeihung bitten muß . Aber ich war damals ein sehr ungezogener Junge , wie das oftmals in solchem Alter vorkommen soll . “ „ Und jetzt sind wir Beide sehr vernünftig geworden , wenigstens Sie , wie es scheint , denn von mir will man das durchaus nicht behaupten . Schwester Bertha nennt mich eine lose Range , wenn ich das Gebahren meines Hauslehrers in Urfeld , des spindeldürren Kandidaten Knothe , nachahme ; und Schwester Alwine besitzt die große Freundlichkeit , sehr anzügliche Redensarten von einer Landpomeranze fallen zu lassen , falls ich einmal die Verwegenheit besitze , bei Tisch in Gegenwart von Gästen gewisse Schicklichkeiten nicht zu beobachten , die mir sehr albern vorkommen ... Aber es ist so , wie Tante Julie zu sagen pflegt : Wir sind allzumal Sünder . “ Die Stimmung wurde durch diese im größten Uebermuthe gesprochenen Worte eine so anheimelnde , daß die beiden jungen Leute sich plötzlich so vertraut wie früher vorkamen undsozusagen zwischen Thür und Angel eine launige Plauderei begannen , in der eine Erinnerung die andere jagte . Franz mußte von seinen Ungehörigen erzählen : Ob der Großvater noch lebe und seine alte Bärbeißigkeit beibehalten habe ; ob Herr Beyer noch seinen alten Platz da links am Fenster inne habe und das alte traurige Gesicht beim Drechseln mache ; ob der kleine dicke Geselle aus Sachsen immer noch viel Wurst und Käse esse ; ob die Tauben noch lebten , und ob man noch immer auf den Lindenbaum steige , um neugierige Blicke über die Mauer zu werfen ? Und so weiter . Alles das wurde sehr schnell hintereinander gefragt , und als die Neugierde erschöpft war , sagte Emma plötzlich : „ Steigen Sie doch hier durch und kommen Sie in unseren Garten . Es ist mir durchaus nicht angenehm , mich fortwährend um Ihretwegen bücken zu müssen . Es ist Niemand weiter hier , als Fräulein Therese Ramm , ein liebes gutes Schäfchen , das keinem Menschen etwas zu Leide thut . . . . Ich stelle sie Ihnen hiermit feierlichst vor . “ Jetzt erst erblickte Franz die andere junge Dame und zog zum zweiten Male sehr tief seinen Hut . Eine Weile zögerte er , der Aufforderung Folge zu leisten ; dann aber siegte seine Abenteuerlust und die alte Neugierde . Nach einigen landläufigen Redensarten , aus welchen die Worte „ Dank “ , „ große Ehre “ , „ liebenswürdige Einladung “ vernehmbar waren , trat er näher und schlüpfte durch die Oeffnung . Oben am geöffneten Dachfenster zeigte sich das weiße Haupt des Großvaters . Vor wenigen Minuten war er erschienen und hatte einen Theil des Gespräches mit angehört . Ingrimmig darüber , Niemanden in seiner Nähe zu haben , den er seinen Hader mit der Welt fühlen lassen konnte , stieß er kräftig mit dem Stock auf die Diele und murmelte halblaut vor sich hin : „ Der und die Sippe da drüben , die passen zusammen . Die werden uns einen Brei einrühren , von dem wir Zeit unsers Lebens essen können , ohne satt zu werden . Dieser Bursche , dieser Ueberläufer ! “ . . Die Faust ballte sich , und das Fenster wurde unsanft zugeschlagen . Jenseits der Mauer schritt Franz neben den beiden Mädchen langsam dahin . Zuerst war er sehr zerstreut und gab verkehrte Antworten auf die Fragen Emmas , denn sein Interesse wurde durch die Umgehung in Anspruch genommen . An einzelnen Stellen hatte man bereits Erde aufgeworfen , um den Grund und Boden zu prüfen . Meßschnüre waren ausgespannt , eine Arbeitsbude zeigte sich . In der Nähe der Mauer zeugte entwurzeltes Strauchwerk von dem Ernste , mit dem man die Neugestaltung zu beginnen gedachte . Alles deutete darauf hin , daß demnächst hundert rührige Hände ihre Arbeit beginnen würden , um das , was hier stand und die Allmacht der Natur verkündete , dem Boden gleich zu machen . Als Franz stehen blieb und sich eine darauf bezügliche Bemerkung erlaubte , zeigte Emma ein sehr trauriges Gesicht , in dem sich der Ernst allerdings etwas komisch ausnahm . Da sie aber ihren Groll nicht zu unterdrücken vermochte und schon längst die Gelegenheit herbeigesehnt hatte , ihrem Unmuth über die neuesten Wandlungen der Dinge einmal gründlich Luft zu machen , so ließ sie nun den Worten des Aergers freien Lauf . Vorerst gestand sie ein , nicht zu begreifen , wie ihre Mama , die sie so sehr liebe und welche sie immer für außerordentlich vernünftig gehalten habe , es über sich habe gewinnen können , auf ihre alten Tage noch einmal zu heirathen ; und obendrein einen so häßlichen , wenig sympathischen Menschen , wie Herr Urban es sei ! Dann sah sie sich zu der Erklärung genöthigt , daß sie niemals ihren Stiefvater als solchen anerkennen werde und sich vorgenommen habe , allen Ernstes barmherzige Schwester zu werden , falls Herr Urban es jemals wagen sollte , irgend welche väterlichen Rechte über sie ausüben zu wollen . Und zum Schluß brach sich der ganze Jammer ihrer Mädchenseele über die Verwüstung im Parke Bahn . „ Ich werde es Mama'n niemals verzeihen können , daß sie den Namen meines Vaters einem Vandalen geopfert hat , der keinen Respekt vor dem Allerheiligsten und keinen Sinn für Natur hat . Alle Menschen haben uns um diesen schönen Garten inmitten der Stadt beneidet , Mama hat oft betheuert , sie werde ihn niemals veräußern , und nun soll hier alles wie Kraut und Rüben ausgerissen werden . Es ist einfach schändlich ! “ Sie ballte die Hände , die Lippen zuckten und ihre Augen wurden feucht , so daß Therese ganz ergriffen wurde , ihren Arm um Emmas Taille legte und Neigung zeigte , sich aus alter Anhänglichkeit demselben Schmerze hinzugeben . Um ihr Mitgefühl zu beweisen , drückte sie das Taschentuch mehrmals gegen das Antlitz . Franzen's Sinn für Romantik war niemals bedeutend ausgeprägt gewesen . Seitdem er sich dem Kaufmannsstande widmete , suchte er eine gewisse Force darin , über Alles äußerst nüchtern und praktisch zu denken und bei jeder Gelegenheit seinen Cynismus hervorzukehren . Er fand daher das Gebahren der beiden Mädchen äußerst komisch , lachte und sagte sehr altklug : „ Das verstehen Sie Beide nicht , meine Damen . “ Er machte eine Pause der Ueberlegenheit , beschäftigte sich einige Augenblicke mit den Spitzen seiner ersten Mannes würde über der Oberlippe , ordnete dann mit einer eben so schnellen als koketten Handbewegung den Zipfel des weißen Taschentuches , der aus der äußeren Brusttasche ragte , zupfte den Rock mehrmals glatt , drückte beim Gehen zu gleicher Zeit die Brust und die Knie heraus und wendete sich dann direkt an Fräulein Kirchberg , und zwar mit einem Tone , der nur zu deutlich sein Bestreben kennzeichnete , bereits für einen erfahrenen Mann zu gelten , der die Welt nach allen Richtungen hin kennt . So sagte er denn mit Würde : „ Seien Sie versichert , Fräulein Kirchberg , daß ich Ihren gerechten Schmerz zu würdigen weiß . Jedoch dürfen „ wir “ nicht vergessen , daß der Kaufmann die Welt regiert und daß er nur mit dem Verstande rechnet . Die Sentimentalität müssen „ wir , “ die „ wir “ uns daran gewöhnt haben , den Nutzen einer Sache nur vom praktischen Standpunkte aus zu beurtheilen , allen denen überlassen , die niemals einen Begriff davon gehabt haben , daß die größten Dinge dieser Erde ihr Entstehen nur dem Handel zu verdanken haben . Die Zahl macht heute Alles ; nur wer rechnen kann , hat Aussicht zu etwas zu kommen und sein Leben zu genießen . „ Wir “ Kaufleute sind die eigentlichen Macher — Pardon , wenn ich mich zu sehr geschäftsmäßig ausgedrückt habe — ich wollte sagen , die einzigen Erlöser der bedrängten Menschheit . „ Wir “ bauen mit unserem Gelde Leuchtthürme , Paläste , ganze Städte , „ wir “ geben der Armuth Brod , „ wir “ verhelfen den Bürgern zum Wohlstande , an „ uns “ wenden sich Könige und Kaiser , wenn sie in Noth sind und Geld gebrauchen . Ja , meine Damen , „ wir “ Kaufleute regieren die Welt . . . “ Er machte abermals eine Pause . Die beiden Mädchen waren bei den rasch hintereinander herausgeschnarrten , mit Pathos gesprochenen Worten starr geworden und blickten mit dem Ausdruck unverhohlener Bewunderung auf ihren Begleiter . Emma konnte sich nicht enthalten zu sagen : „ Sie sind ja ein furchtbar großer Redner geworden , seitdem wir uns nicht gesehen haben , Herr Timpe “ . Und Therese drückte ihrer Begleiterin den Arm und flüstertte leise : „ Ein netter Mensch , nicht wahr ? “ Franz Timpe aber , geschmeichelt durch die Anerkennung Emmas , und im Gefühle der großen Rolle , die er hier spielte , ordnete mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand abermals den Modezipfel der Brusttasche , spielte eine Weile mit den Glaceehandschuhen , die er aus Rücksicht gegen die Damen hervorgelangt hatte , und fuhr fort : „ Herr Urban , Ihr Stiefvater , mag Ihnen persönlich nicht gefallen , mein verehrtes Fräulein , aber er ist mein Chef , ein bedeutender Industrieller , und aus diesem Grunde sehe ich mich genöthigt , eine Lanze für ihn zu brechen . . . Er ist derjenige Mann , der die ganz überflüssige Existenz dieser Bäume und dieses Gartens hier zuerst erkannt hat . Dieses Lob gebührt ihm . . . Bedenken Sie nur , was für ein Verdienst er sich dadurch erwirbt : er wird an dieser Stelle prächtige Fabriken erbauen , hunderte von Menschen in ihnen beschäftigen , — Leute , die durch ihn vielleicht vor dem Hungertode gerettet werden . Herr Urban wird dadurch zu gleicher Zeit zu einem großen Menschenfreude , denn er giebt den Leuten Arbeit und Brod . Aber nicht nur das : die Industrie wird ihm äußerst dankbar sein müssen , ja ich behaupte kühn : die ganze Menschheit , weil er vermöge seines Geldes und seiner Intelligenz seine Fabrikate von nun an zu einem so billigen Preise herzustellen vermag , daß sie Jedermann zugänglich sein werden . Bedauern wir also die Bäume nicht , freuen wir uns vielmehr darüber , daß sie fallen , denn sie sind stumme , unthätige Wesen , die der Menschheit mit nichts Anderem nützen können , als mit ihrem Holze ; und auch aus diesem Grunde müssen sie ihr Dasein aufgeben . ... Das ist so meine Theorie , meine Damen , die ich mir erlaubte , Ihnen in wenigen aber großen Zügen zu entwickeln . “ Er steckte den Daumen der rechten Hand zwischen zwei Knöpfe seines Rockes und schlug mit den übrigen Fingern den Takt zu der Melodie , die er leise zu pfeifen begann . Es war unleugbar : er kam sich im Augenblick wie ein Held vor , der eine große That verrichtet hat und das Bewußtsein empfindet , die Situation völlig zu beherrschen . Emma , die ihn während seiner letzten Rede aufmerksam betrachtet hatte , ärgerte sich im Geheimen , daß er ihren Stiefvater so außerordentlich lobte ; andererseits berührte es sie sehr sympathisch , daß er die Interessen des Mannes , dem er zum Danke und zum Gehorsam verpflichtet war , so energisch wahrnahm und hinter dessen Rücken mit Anerkennung und Achtung von ihm sprach . Um ihm aber zu beweisen , daß sie mit seinen praktischen Grundsätzen nicht übereinstimme , begann sie : „ Wenn Sie die Bäume für stumme , unthätige Wesen halten , so kann ich nur mein Bedauern darüber ausdrücken , daß Sie niemals ihre Sprache vernommen und verstanden haben . Ich hätte gewünscht , daß Sie gleich mir bei Tante Julie gewesen wären , um mutterseelenallein durch den Wald zu streifen und das Rauschen der Bäume zu vernehmen . Wie oft habe ich an schönen Sommertagen im Grase gelegen und den ziehenden Wolken am Himmel nachgeblickt , Es war weiter nichts zu vernehmen , als das Rascheln und Säuseln der Blätter in den Baumkronen . Da dachte ich an Mama , Alwine und Bertha , habe laut ihre Namen in die Luft gerufen und dann vernommen , wie die Blätter über mir flüsternd die Antwort gaben . Das war oft eine wunderschöne Musik . Erst fing es leise an zu tuscheln , so daß es sich anhörte , als spiele im Finstern eine Maus mit einem Stückchen Papier ; dann rauschte es lauter , kam klagend wie eine Windsbraut daher gezogen , pfiff und flötete in allen Melodieen und brauste dann mächtig wie ein Posaunenchor durch die Wipfel , so daß ich glaubte , mich in einer großen , großen Kirche zu befinden , in der eine Riesenorgel ertönt . . . . Das mag vielleicht für Manchen eine überflüssige Sprache sein , ich aber habe mich an ihr erbaut und sie oft im Stillen gesegnet . . . . . Ich hatte mich so sehr darauf gefreut , sie in diesem Sommer auch hier zu vernehmen und muß nun erleben , daß aus reiner Spekulation alle Poesie verschwinden soll . Das ist wirklich ganz abscheulich ! Weil die Bäume nicht rechnen können , sollen sie fallen ! Es thut mir weh' , Herr Timpe , daß auch Sie so denken gelernt haben , trotzdem Sie früher , wenn wir uns hier herumtummelten , so oft ausriefen : Ach die schönen Bäume , sie werfen so prächtigen Schatten ! Was würden Sie nun sagen , wenn man Ihnen Ihren schönen Lindenbaum da drüben nähme ? “ Franz war nahe daran gewesen , von der Schwärmerei Emmas gerührt zu werden , schämte sich aber jetzt seiner Inkonsequenz und erwiderte daher kurz und trocken : „ Er könnte fallen , denn ich benutze ihn nicht mehr . “ „ Also nur was Ihnen gefällt und nützlich erscheint , hat bleibenden Werth — nicht wahr , so meinen Sie ? Das wäre dann sehr egoistisch von Ihnen . “ „ Gewiß , das muß auch jeder Mensch sein , mein Kind , falls er zu etwas kommen will im Leben . Immer hübsch praktisch denken , und nicht schwärmen und mit den Beinen am Monde kleben . Dann wird die Geschichte schon gehen . “ Der das sehr laut sagte und mit diesen Worten wie mit helltönenden Gewitterschlägen in die Unterhaltung fuhr , war nicht Timpe junior , sondern Herr Ferdinand Friedrich Urban , der am Arme seiner Frau Gemahlin gemüthlich aus einem Seitenweg daher gebummelt kam und die letzte Rede seiner jüngsten Stieftochter vernommen hatte . Die jungen Leute waren außerordentlich erschrocken , am meisten Franz , der beim Anblick der früheren Frau Kirchberg das Gefühl eines Menschen verspürte , der plötzlich an einem Orte entdeckt wird , wo er eigentlich nicht hingehört . Jedoch zog er mit einer Verbeugung sehr tief den Hut und behielt ihn in der Hand , denn er wagte nicht , ihn sogleich wieder aufzusetzen . Dabei zeigte er ein Gesicht , das wenig mit seiner sonstigen Keckheit harmonirte . Bevor er noch irgend etwas zu seiner Entschuldigung hervorbringen konnte , hatte ihn sein Chef bereits aus der Situation gezogen . „ Na Timpe , Sie auch hier ? Alte Freundschaft wieder erneuert , he ? Die Geschichte macht sich ! Lassen Sie sich nur nicht stören . Tüchtige Leute weiß ich immer zu schätzen . Bin neulich auch über die feindliche Grenze geschritten , also Wurst wider Wurst ! . . . . . Uebrigens , liebe Agathe , — kennst Du ihn noch , den Obstdieb ? . . . Na , schadet nichts , alles vergessen ! Er gehört zu unserem Geschäft . “ Frau Kirchberg , eine stattliche Dame mit sehr ausdrucksvollen Zügen , die sehr langsam zu sprechen pflegte und jedes Wort , das sie sprach , mit der Lorgnette in der Hand begleitete , lächelte gnädig und erkundigte sich in ihrer monotonen Weise nach den Eltern des jungen Mannes . Und da sie inne ward , daß Franz , der nach diesem unerwarteten Empfang sofort den Kopf wieder in die Höhe streckte , sich überstürzte , äußerst aufmerksam gegen sie zu sein ( er hatte sofort ihr niedergefallenes Spitzentuch aufgehoben und es beugung zurückerstattet ) , so verschwand allmählich ihre alte Antipathie gegen ihn , verstieg sie sich nach fünf Minuten bereits , während welchen sie neben einander dahin geschritten waren , zu der ihrem Manne zugeraunten Aeußerung , daß man es anscheinend mit einem sehr wohl erzogenen jungen Manne zu thun habe , der durchaus nicht den Eindruck mache , als stamme er aus einer einfachen Handwerkerfamilie . Und Urban , der wie immer , seitdem er das junge Eheglück genoß , äußerst gut gelaunt war , und der schon längst seine besonderen Pläne mit dem einzigen Sohne Meister Timpe's hatte , fühlte sich durch diese unerwartete Gnade seiner Frau so erfreut , daß er sich sofort an die Seite seines ihn um Haupteslänge überragenden Lehrlings begab , und , fortwährend mit schiefem Kopfe zu Franz aufblickend , ein Gespräch begann , das sich um die neue Fabrik drehte . Er vergaß dabei nicht , hin und wieder auf die geschäftliche Thätigkeit seines Nachbarn zu kommen , über die er jedenfalls von dem Sohne die beste Auskunft empfangen mußte . Dann , wenn Franz , geehrt durch diese Würdigung seiner Person seitens seines Chefs , bereitwillig Antwort gegeben hatte , beeilte sich Urban mit einem sehr plötzlich hingeworfenen „ Wie ? “ ... . „ So , so “ , ... „ Ach ! “ seine Vorliebe für Anwendung von Interjektionen zu beweisen . Nach einer erhaltenen Auskunft fuhr dann verstohlen ein blitzartiges Lächeln über seine Züge , die rechte Hand rückte nervös an der Brille und die Nase beschrieb die bekannten Kreise und Linien in der Luft . Einige Schritte hinter ihnen gingen Arm in Arm neben Frau Urban deren Tochter und Therese . Auf Emma hatte das plötzliche Dazwischentreten ihres Stiefvaters einen wenig günstigen Eindruck gemacht , wie immer , wenn sie ihn erblickte und er seine Ungenirtheit hervorkehrte . „ Wie Dein Mann dazu kommt , mich nach unserer so kurzen Bekanntschaft als „ mein Kind “ anzureden , ist mir unverständlich , Mama “ , sagte sie malitiös , und doch mit einem Anflug von Humor , der ihrer Freundin Veranlassung gab , leise zu kichern . Frau Urban jedoch fand diese Aeußerung nicht passend . Sie liebte ihre jüngste Tochter mehr wie die anderen Kinder , mußte aber nur zu oft erleben , daß dieselbe sich durchaus nicht in Dinge fügen wollte , deren Anerkennung zum allgemeinen Hausfrieden nöthig war . Sie sagte daher wohlmeinend : „ Ich habe Dich bereits mehrmals gebeten , wenn Du von Herrn Urban zu mir sprichst , die ganz unschicklichen Worte „ Dein Mann “ nicht mehr anzuwenden . Du wirst Dir auf die Dauer die Bezeichnung „ Papa “ trotz Deiner Abneigung aneignen müssen . “ „ Niemals , Mama ! Ich werde mich nie daran gewöhnen können . Ich kann ihn nun einmal nicht leiden . Wie gut war dagegen unser wirklicher Papa — Du weißt , ich war sechs Jahr alt , als er starb , und kann mich seiner noch sehr gut erinnern . “ Frau Urban zog ihre Tochter an sich , legte den Arm um ihre Schulter und sagte sanft : „ Es giebt gewisse Dinge im Leben , die man durchaus so nehmen muß , wie sie sind , will man sich nicht selbst das Dasein erschweren . ... Mir zu Liebe wirst Du es thun , Kindchen , nicht wahr ? “ Einen Augenblick drohten bei Emma die Thränen hervorzubrechen ; sie unterdrückte dieselben aber , weil ihr Stiefvater sie nicht weinen sehen sollte . Dann sagte sie , indem sie ihre Mutter plötzlich mit beiden Armen umschlang : „ Mama , ich habe Dich von Herzen lieb ! Ich will es thun , weil Du es wünschest . Aber nie und nimmer werde ich diese Liebe auf Herrn Urban ausdehnen können . Ich verstehe garnicht , wie Alwine und Bertha so gleichgiltig darüber denken können . “ „ Sie sind eben vernünftige Mädchen , “ warf Frau Urban ein . „ Also dann bin ich unvernünftig ! Es scheint sich hier viel geändert zu haben , seitdem ich nicht mehr unter Euch weilte und nicht nach dem Rechten sehen konnte . “ Ihre Mutter brach in ein lautes Lachen aus , das ihrer sonstigen Ruhe ganz widersprach . „ Siehst Du , so gefällst Du mir wieder “ , sagte sie dann ; „ daran erkenne ich meine lustige Plaudertasche . Du besitzest Humor und der ist nicht jedem Menschen beschieden ; man kann sich mit ihm vortrefflich zu trösten versuchen . “ Emmas Stimmung hätte wohl nicht so schnell gewechselt , wenn sie nicht die Vertraulichkeit , mit welcher ihr Stiefvater mit Franz verkehrte , bemerkt haben würde . Das erweckte eine gewisse Befriedigung in ihr , denn sie konnte sich nicht verhehlen , daß ihr einstiger Jugendfreund trotz seiner prosaischen Anschauungen und seines stutzerhaften Auftretens , dessen Komik ihr nicht entging , ein hübscher , junger Mann von Manieren geworden sei , der , was das Aeußerliche betraf , einen sehr günstigen Eindruck auf sie gemacht hatte . Da sie auf ihrem Landaufenthalt nur mit einigen jungen Leuten zusammengekommen war , Söhnen von Lehrern , Pächtern und Pastoren , die zum Theil sehr blöde und beschränkt thaten und jede Keckheit vermissen ließen , so hatte Franzen's furchtloses , elegantes Auftreten sofort ihre Anerkennung errungen . Dadurch wurde ihre günstige Meinung von ihm nur noch bestärkt ; und nicht minder durch den freundlichen Ton , mit welchem er hier empfangen worden war . Im Laufe des Gespräches mußte sie ihrer Mutter beichten , wie und wo sie die Bekanntschaft des jungen Mannes erneuert hatte . Bei dieser Gelegenheit hielt sie sich für verpflichtet , auf den kleinen Streit zwischen ihr und Franz zurückzukommen und die Lobeshymne desselben auf ihren Stiefvater zu erwähnen . „ Siehst Du “ , sagte Frau Urban , „ da hast Du gleich Einen , der anderer Meinung über Deinen neuen Papa ist . Daß die Bäume fallen müssen , thut mir ebenso leid wie Dir , aber wir haben Ersatz dafür : Urban besitzt in Steglitz eine sehr schöne Villa , zu der ein prächtiger Garten ge hört . Da kannst Du Deine Träumereien fortsetzen , so lange bis — — “ „ Ihr mich losgeworden sein werdet , “ fiel Emma ergänzend ein , da ihre Mutter zögerte , den Satz zu beenden . „ Oh gewiß Mama , ich will bald dafür sorgen . Ich werde Schullehrerin werden , mir eine blaue Brille anschaffen und darnach trachten , so häßlich zu erscheinen , daß alle Menschen auf den ersten Blick sagen werden : Das ist Herrn Urban's Tochter , das sieht man sofort . “ „ Aber Kind , willst Du denn ewig ungezogen bleiben ! “ Die würdige Dame gab ihrer Tochter einen leichten Schlag . Und Therese , die sonst eine große Neigung zur Schweigsamkeit besaß , sah sich jetzt ebenfalls genöthigt , mit beredten Worten ihre Freundin auf das Unschickliche ihrer Bemerkung aufmerksam zu machen . Sie waren in einiger Entfernung von Herrn Urban und Franz zurückgeblieben . Als sie dieselben auf der Seite des Gartens , die an der Straßenfront lag , erreichten , fanden sie den Ersteren bereits wieder in voller Thätigkeit , seinem Lehrling die großartigen Pläne der neuen Fabrikanlage in die Luft zu zeichnen . Der lange Zeigefinger der rechten Hand beschrieb Linie auf Linie , Kreis auf Kreis , bis er endlich kerzengerade gen Himmel ragte , begleitet von den vielbedeutenden Worten : „ Das wird der Schornstein , verstehen Sie ? Er wird an Höhe alles überragen , was jemals in dieser Gegend gesehen worden ist . “ Dieses „ Verstehen Sie ? “ , zeitweilig unterbrochen von dem Stichwort „ die Geschichte macht sich “ , ließ sich überhaupt nach jedem Satze vernehmen , so daß es sich wie das Werda “ eines Postens anhörte , auf das unter allen Umständen eine Antwort erfolgen muß . Und Franz stand steif und gerade wie ein Gardist dabei , der sich auf dem Paradefelde befindet und eine feierliche Miene zeigt , gab sich alle Mühe bei dem jedesmaligen Angriff von Herrn Urban's Zeigefinger auf seine Brust nicht zu wanken , und beantwortete jede Kardinalfrage mit den Vertrauen erweckenden Worten : „ Großartig “ . . . . „ Ausgezeichnet . . . . „ Das wird ' was werden ! “ Herr Ferdinand Friedrich Urban war glücklich ; und er konnte nicht leugnen , daß seine Sympathie für den Sohn seines Nachbarn bedeutend gestiegen und daß er auf dem besten Wege sei , immer mehr gute , wohlthuende Seiten an ihm zu entdecken . Dieser junge Mann besaß das richtige Verständniß für seine Pläne , denn er war groß geworden inmitten von Artikeln , die er , Urban , dereinst ebenfalls zu produziren gedachte . Das leuchtete ihm ein . „ Wir machen Alle todt , “ sagte er zum Schluß , während die flache Hand wie die Schneide eines Schwertes durch die Luft fuhr , als sollte diese Bewegung die Symbolik seiner Worte bilden . Mit diesem „ Alle “ meinte er die Konkurrenten . „ Keine Frage , Herr Urban , wir machen Alle todt “ , bestätigte der junge Mann mit einem Ernste , der eine erschütternde Tragikomik enthielt . Unbewußt glitt sein Blick nach dem kleinen Häuschen des Vaters hinüber , aus dessen Schornstein blauer Rauch kerzengerade wie eine Segnung des Friedens zum Himmel stieg ; und ebenso gleichgültig ahnungslos glitt sein Blick wieder zurück zu seinem Chef , der den herankommenden Damen entgegentrat . Ferdinand Friedrich Urban war durch seine anhaltenden Gestikulationen so erschöpft geworden , daß er zu seinem Leidwesen die Lektion mit den Damen nicht von Neuem beginnen konnte . Und da seine Frau durchaus keine Neigung verrieth , wie er und seine Stieftochter es bereits gethan hatten , den Kopf durch das Loch in der Mauer zu stecken , so machte man wieder Kehrt und schritt auf dem breiten Mittelweg zurück , den man gekommen war , die Damen diesmal voran und Franz mit seinem keuchenden Gebieter hinterdrein , da er es noch immer nicht an der Zeit hielt , sich zu verabschieden . Herrn Urbans rothseidenes Taschentuch fuhr fortwährend über das Gesicht und zur Abwechselung einigemal über die Gläser der goldenen Brille . Da er die Angewohnheit hatte , die Arme niemals still zu halten und beim Gehen fortwährend zu tänzeln , so bemühte Franz sich soviel als möglich , einen gewissen Abstand von ihm einzuhalten , um eine Karambolage der Füße zu verhindern . Sie waren vor der hinteren Veranda des Wohnhauses angelangt . Allmälig war der Himmel dunkler geworden , so daß die Abenddämmerung den Baumstämmen die scharfen Konturen nahm . Jetzt endlich wollte Franz sich verabschieden , da sagte plötzlich Urban : „ Ach was , bleiben Sie ! Haben Sie schon Wein getrunken , zum Beispiel echten Rüdesheimer Berg ? — Kommen Sie nur , wir haben noch zu reden , Ihr Vater muß nachgeben ! “ Und zum grenzenlosen Erstaunen seiner Frau , und zum heimlichen Vergnügen Emma's und Theresen's , faßte der kleine Chef seinen großen Lehrling unter den Arm und stieg mit ihm die Stufen empor . Franz wußte nicht wie ihm geschah ; aber sein erster Gedanke war : Das müßten die Leute im Komtor sehen ! Ja , ja , wenn man Eindruck zu machen versteht . . . . . VI. Franzens-Ruh . Franzens-Ruh war lange nicht so zu Ehren gekommen , wie in den nächsten Wochen und Monaten . Tag für Tag bestieg Johannes Timpe die Warte , um sich von dem Fortschritt jenseits der Mauer zu überzeugen . An klaren Sommerabenden , wenn das absterbende Leben Berlins sich bereits bemerkbar machte , der letzte Dunst der heißen Straßen verschwunden war und eine allgemeine Ermattung in der Luft lag , durch welche das zweite Erwachen der Riesenstadt zum Vergnügen nach den Lasten des Tages , nur in gedämpften Lauten herübergeführt wurde , saß es sich oben in den Zweigen am Schönsten . Ueber die Dächer der niedrigen Häuser hinweg konnte der Meister seinen Blick in die Ferne schweifen lassen . Wendete er den Rücken , so schaute er in das Treiben der HolzmarktStraße hinein , die sich längs der Spree hinzog . Rechts am diesseitigen Ufer tauchte das langgestreckte , schwarze Gebäude einer Eisengießerei auf ; links davon in einiger Entfernung die Riesen-Gasometer einer Gasanstalt , die sich wie Festungs bollwerke ausnahmen ; und hinter ausgedehnten Holzplätzen eine Zementfabrik , deren ewig aufwirbelnde weiß-gelbe Staubwolken die Luft durchzogen und einen scharfen Kontrast zu den sich aufthürmenden Kohlenbergen der Gasanstalt bildeten . Und geradeüber , jenseits des Wassers zeigte sich ein großes Mörtelwerk , im Hintergrunde begrenzt von den Rückseiten hoher Miethskasernen , die aus der Entfernung betrachtet , den Eindruck riesiger Bauklötze machten , an denen schwarzgemalte Fenster prangen . Das ganze Bett der Spree aufwärts lag zwischen einem bunten Panorama aneinander geketteter Bilder : Lange Reihen Wohnhäuser , deren Gärten bis zur Spree hinunterliefen und kleine Oasen bildeten , wechselten mit Zimmer- und Holzplätzen , Abladestellen der Flußkähne und Färbereien ab , deren Waschkasten wie schwimmende Holzhäuser im Wasser lagen . Hin und wieder zeigte sich eine Schiffswerft , die langgestreckte Halle einer Badeanstalt und eine auf Pfählen gebaute , in den Fluß ragende Landungsbrücke . Dann die Stätteplätze der Ziegeleibesitzer mit ihrem rothgefärbten Boden , der wie blutgetränkt erschien , die Trockenplätze mit ihren frisch gefallenem Schnee gleichenden Bleichen und die Alles überragenden Schornsteine der Fabriken , die den Rauch immer schwächer und schwächer entsteigen ließen , bis sie gleich „ Obelisken der Arbeit “ dunkel und schweigsam zum Himmel starrten . Herrschte an den Ufern Ruhe , so begann das Leben sich auf dem Wasser zu regen . Unzählige Luftfahr-Boote schwebten gleich Nußschaalen auf dem mattblauen Spiegel , ließen sich gemächlich vom Strome treiben oder schossen pfeilschnell über die Fläche , um in das Fahrwasser eines Dampfers zu ge rathen , der dichtbesetzt mit einer buntschillernden Menge dahergebraust kam und mit seinen Wellenschlägen den Strand erzittern machte . Aus der Ferne klang der Gesang eines Liebespärchens herüber . Waghalsig schaukelte es das Boot , so daß der Rand desselben das Wasser berührte . Das helle Kleid des Mädchens leuchtete wie das Gefieder eines Schwanes . Der männliche Begleiter aber lag ausgestreckt an ihrer Seite , wiegte den Körper nach rechts und links , so daß das Fahrzeug schwankte und ließ sich und sein Liebchen sorglos der Stadt zutreiben . „ Ich weiß nicht , was soll es bedeuten , Daß ich so traurig bin , “ ließ sich deutlich vernehmen , als ein Beweis dafür , daß das Berliner Volk die ernstesten Lieder zu singen pflegt , wenn es am lustigsten ist . War die Luft besonders rein , so erlangte Timpe's Blick eine unbegrenzte Weite . Ueber die Schillings-Brücke hinweg , auf welcher in der Feierabendstunde , begleitet von den vorüber rollenden Pferdebahnwagen und hundert anderen Gefährten , Ameisen gleich ein Strom von Menschen sich bewegte , da , wo das Wasser der Spree wie ein gewundener Silberbarren sich dahinzog , erreichte sein Auge die Oberbaum-Brücke und hinter ihr die ersten Pappeln der Chaussee , die nach Stralau führte . Und über diese Weltstädtische Szenerie , die in Zickzacklinien ins Unendliche sich zu verlängern schien , breitete sich das letzte matte Roth der herniedergesunkenen Sonne aus und hüllte Natur und Menschen in einen warmen , zarten Purpurflimmer . Wie oft hatte sein Auge sich an diesem Bilde gelabt ‚ und wie oft waren die Eindrücke gleich Schemen entschwunden , wenn er sein Gesicht dem Nachbargrundstück zugewendet hatte . Dort der lachende Sonnenschein , die unbegrenzte Freiheit des Blickes , der Reiz einer eigenthümlichen Landschaft und hier Hand in Hand mit dem Zerstörungswerk der Menschen der Aufbau steiler Wände , die das Licht des Himmels nahmen . Im Juli ragte bereits das Fundament der neuen Fabrik über den Erdboden empor . Baum auf Baum war gefallen und mit dem Sturze eines jeden und dem Krachen seiner Aeste , das sich in der Phantasie Timpes wie das Aechzen eines Sterbenden angehört hatte , war den Meister die Empfindung überkommen , als schwände jedes zurückgelegte Jahr seines Lebens nochmals dahin . Was dort fiel , war das alte Berlin , der stete Anblick seiner Kindheit , der Märchenduft seiner Knabenjahre . Und jeder Spatenstich , jeder Axthieb und Hammerschlag bereitete seinem Herzen eine Wunde , die ihm brennende Schmerzen verursachte . Es schien fast , als wäre Meister Timpe der eigentliche Besitzer der neu entstehenden Welt dort drüben — so lebhaft war der Antheil , den er an dem Wachsen und Werden der Fabrik nahm . Mit der Zeit überkam ihn eine Art Idee : er bildete sich ein , daß seine ganze Zukunft von der Vollendung des Riesengebäudes abhängen werde , er fürchtete die Mauern würden , je höher sie rückten , ihn , seine ganze Familie und das Häuschen nach und nach erdrücken . Oefters befiel ihn eine große , ihn unthätig hin- und hertreibende Unruhe . Er vermochte die Zeit nicht zu erwarten , wo die Feierabendstunde schlug und er seinen Auslugplatz auf dem Baume einnehmen konnte . Und schließlich drehte sich den ganzen Tag über , sobald seine Gedanken nicht mit Gewalt von anderen Dingen in Anspruch genommen wurden , sein Interesse nurum den Bau Ferdinand Friedrich Urban's . Die Fabrik , die Fabrik und immer wieder die Fabrik ! Er fand ein besonderes Vergnügen daran , bei jeder Gelegenheit während der Arbeit das Gespräch darauf zu bringen und freute sich , wenn die Gesellen das Thema aufgriffen und mit ihm und seinen Urtheilen über des Nachbars Pläne übereinstimmten . Zuletzt erklärten das die Leute in der Werkstatt für etwas wunderlich und raunten sich zu , daß der Meister sich gegen früher merkwürdig geändert habe und daß ihm „ die Geschichte da drüben “ im Kopfe herumgehe . So kam es denn , daß das neue Unternehmen Urban's schließlich wie eine weltgeschichtliche That betrachtet wurde , die immer auf's Neue angestaunt , bewundert und besprochen werden müsse . Das Leben der Bewohner des kleinen Häuschens , das sich mit der Gleichmäßigkeit eines Perpendikelganges abspann , hatte seine Ruhe eingebüßt und einer fortwährenden Aufregung Platz gemacht , die nur die eine Parole kannte : Herr Urban und seine Fabrik . Hatte Johannes Timpe lange genug auf seiner „ Warte “ gesessen , sich allerlei merkwürdigen Gedanken hingegeben , war er dann langsam und bedächtig hinabgestiegen , so wurde in der kleinen Laube des Gärtchens das Gespräch von Neuem aufgenommen und ins Unendliche gesponnen . Da saß hinten in der Ecke auf einem Rohrsessel Frau Karoline , angethan mit einer durchbrochenen Haube an welcher breite Bänder von zarter Lilafarbe prangten , und einer sauber geplätteten , gestreiften Schürze , auf deren Nettigkeit die Lebensgefährtin des Drechslermeisters sehr viel gab . Das bereits graue Haar war in der Mitte gescheitelt und zog sich wellenförmig bis hinter die Schläfe , so daß das milde Gesicht dem einer ehrsamen Matrone glich , die gewohnt ist , auch noch im Alter den besten Eindruck zu machen . Die Stricknadeln klapperten eifrig und nur hin und wieder ruhten die Hände im Schoß . Dann erhob der Kopf sich die Brille wurde fester gedrückt und die Frage erschallte : „ Kommst Du bald herunter , Vater ? “ Sie sagte zu ihrem Manne nur noch „ Vater “ , seitdem der Großpapa für den „ Alten “ galt . Neben ihr in seinen ausgedienten schwarzledernen Lehnstuhl versunken , den man seinetwegen jeden Tag in's Freie transportirte , saß der dreiundachtzigjährige Greis , theilnahmslos und schweigsam wie immer , aber lauschend auf jedes Wort und Geräusch und nur zum Reden aufgelegt , wenn die Nothwendigkeit ihn dazu zwang . Regelmäßig des Donnerstags gesellte sich auch noch Thomas Beyer zu der Familie . Seit vielen Jahren bereits mußte der älteste Geselle an einem Tage in der Woche sein Abendbrod bei dem Meister einnehmen . Es war das eine schöne Sitte aus jener Zeit , wo der Geselle noch Kost und Wohnung im Hause des Arbeitgebers fand und dadurch zur Familie mitgezählt wurde . Oftmals auch wurde der kleine Kreis durch Krusemeyer vermehrt , der , bevor er seinen Dienst antrat , auf ein Viertelstündchen mit heran kam . Es muß hier gleich bemerkt werden , daß der würdige Beamte seit beinahe zwanzig Jahren zu Johannes Timpe in einem geschäftlichen Verhältniß stand ; nicht in seiner Eigenschaft als Hüter der Nacht , sondern als Fußbekleidungskünstler , dem das Aufbessern und Neugestalten des Schuhwerks der ganzen Familie auvertraut worden war . Und da er eine hübsche Tochter besaß , mit welcher Thomas Beyer durch eine merkwürdige Verkettung von Umständen bekannt geworden war , um schließlich sein Herz an sie zu verlieren , so benutzte auch er mit andauernder Zähigkeit den Donnerstag zu seinen Besuchen , um lebhaften Antheil an der schwebenden Kardinalfrage des Tages zu nehmen . Sein Hauptbestreben ging jedoch darauf hinaus , den aufgeklärten Thomas Beyer durch eingehende Beobachtung und plötzlich angestelltes Kreuzverhör einer Prüfung zu unterwerfen , die es ihm ermöglichte , endlich den Tag zu erfahren , an welchem der Altgeselle Fräulein Helene Krusemeyer als getreue Gattin heimzuführen gedenke . Drehte dagegen das Gespräch sich um Politik , so war es ergötzlich zu vernehmen , mit welcher Glaubensstärke Herr Krusemeyer sich auf die Unfehlbarkeit seines Beamtenthums berief . Seine ständige Redensart war dann : „ Liebegott und ich gehören zur Polizei , und die weiß alles . “ Johannes Timpe sah in der letzten Zeit den Besuchen des Hausschusters und Nachtwächters mit einer gewissen Erwartung entgegen , die ihre Erklärung in den Neuigkeiten fand , mit denen Krusemeyer stets aufzuwarten pflegte ; wußte dieser doch mancherlei über den Bau von Urban's Fabrik zu berichten , da er in einem der kleinen Häuser , welche den Bauplatz am anderen Ende der Straße umschlossen , wohnte und tagtäglich die Vorgänge auf dem Terrain verfolgen konnte . Den Drechslermeister interessirte nun einmal jede Kleinig keit , die sich mit dem Namen des großen Konkurrenten verband . Timpe hätte jedenfalls seine Erkundigung viel besser bei Franz einziehen können , aber dieser war seit jenem Tage , an dem ihm die große Ehre zu Theil wurde , in der Familie seines Chefs beim Weinglase sitzen zu dürfen , merkwürdig schweigsam geworden . Wollte sein Vater die Neugierde bei ihm befriedigen , so kamen allerlei Ausreden zum Vorschein . Er that sehr wichtig , zuckte mit den Achseln und wiederholte immer ein und dieselbe Phrase : „ Das ist Geschäftsgeheimniß , Vater . „ Wir “ Kaufleute haben unsere Prinzipien , von denen wir nicht abweichen dürfen . Ich kann Dir nur sagen , daß große Dinge vorgehen . “ Johannes Timpe drang dann nicht weiter in ihn , freute sich vielmehr in seinem Innern darüber , daß Franz so brav die Interessen Urbans wahrnahm . Es war auch ein gewisses Schamgefühl , das ihn abhielt , immer wieder seinem Sohne gegenüber auf das alte Thema zurückzukommen . Was ihn am Meisten schmerzte , war , daß Franz jetzt fast jeden Abend außerhalb der Familie zubrachte . Kam er nach Hause , so verzehrte er in aller Hast sein Essen und machte sich wieder auf den Weg . Er gebrauchte dann immer die alte Ausrede , Rücksichten gegen den Geschäftsführer und die anderen Kollegen zwängen ihn , mit diesen die Bierlokale aufzusuchen . Oftmals kam er zum Abendessen garnicht nach Hause . Er habe über die Komtorstunden hinaus arbeiten müssen und es vorgezogen , gleich seine Freunde aufzusuchen , meinte er dann zur Entschuldigung . Mit der Zeit gewöhnten Vater und Mutter sich so sehr an sein unregelmäßiges Leben , daß sie es ganz selbstverständlich fanden , wenn er gleich nach dem Abendbrod seinen Hut ergriff und verschwand . Vier Wochen lang schwieg der Großvater , dann aber gab es eines Abends einen bösen Auftritt . Der Greis strengte seine Lunge derartig an , daß man seine Stimme auf der Straße vernehmen konnte . Er wüthete förmlich . Der Stock , der mit seiner Krücke stets am Lehnstuhle hing , fuhr mit der Spitze so rasch und nachdrücklich gegen die Diele , daß er einen förmlichen Wirbel schlug . Das sei nicht mehr auszuhalten ! Was denn auf die Dauer daraus werden solle , wenn ein Mensch in so jungen Jahren in's Bummeln gerathe und den ganzen Abend über bis tief in die Nacht hinein in den Kneipen sich herumdrücke ? Man wisse nicht einmal , in was für einer Gesellschaft ! Das würde nicht der erste verlorene Sohn sein , der seinen Eltern eines Tages schrecklichen Kummer bereite . Ob man vielleicht glaube , daß ein derartiges Leben einem Körper dienlich sei ? Ein Wetter müsse dreinschlagen , wenn da nicht eine Aenderung geschaffen werde . Wenn so ein Bengel nicht gutwillig gehorchen wolle , dann müsse man den Rohrstock nehmen und ihn mit einigen wohlgemeinten Hieben auf die Pflicht des Gehorsams aufmerksam machen ... Sein letztes Wort in dieser Angelegenheit sei das : entweder sorge man dafür , daß Franzens Lebensweise sich ändere , oder er , der Großvater , verlasse noch auf seine alten Tage das Haus . Nach jedem Satze war der Stock gegen den Boden gesaust , als sollten die Worte einzeln festgenagelt werden . Timpe und sein Weib zitterten vor Schreck und wurden blaß . In einer derartigen Verfassung hatten sie den Alten noch niemals gesehen . Mit halb geöffnetem Munde starrten sie zu ihm hinüber . Ein lebendes Bild des Jammers bot sich ihnen dar : der Kopf war auf die Brust gesunken , der Athem ging stoßweise und röchelnd , Hände und Beine bewegten sich wie im Fieber , die ganze Gestalt schien kleiner , zusammengedrückter geworden zu sein . Und dieser gebrechliche , in seiner Hülflosigkeit einem Kinde gleichende Mann sollte das Haus verlassen ? O nein , nein . . . Johannes Timpe fand diesen Gedanken des Großvaters fürchterlich . Von nun an sollten alle Wünsche des Atten erfüllt werden . Während einiger Minuten vernahm man nur die Athemzüge des Greises . Plötzlich zuckte sein Mund . . . Und der ganze Widerstreit der Gefühle , die diesen merkwürdigen Menschen im Augenblick durchtobten , kam in den Worten zum Ausbruch : „ Mein einziger Enkel ! “ Langsam rollten große Thränen über seine hageren Wangen . Es war zum ersten Male , daß er hindurchblicken ließ , wie unter der eisernen Strenge , die er Franzen gegenüber an den Tag legte , eine tiefe Liebe schlummerte . Meister Timpe war tief bewegt , und Frau Karoline nicht minder . Sie überboten sich gegenseitig in Zärtlichkeiten gegen den Alten , streichelten seine welken Hände und versuchten ihn zu besänftigen . „ Rege dich nicht auf , Vater ! Ich verspreche Dir , es soll eine Aenderung eintreten “ , sagte Johannes und zog den Kopf des Alten an sich . Diese Aenderung bestand darin , daß Johannes seinem Sohne das Taschengeld entzog und ihm nur den kleinen Monatsgehalt beließ , den er von Urban bekam . Eine ganze Woche hindurch blieb Franz des Abends zu Hause , aber er sprach während dieser Zeit kein Wort und that so , als existire für ihn Niemand im Hause . Das vermochte sein Vater nicht zu ertragen . „ Ich weiß , was Dich drückt “ , sagte er eines Mittags zu Franz . „ Ich sehe ein , daß der Großvater Dir abermals bittres Unrecht gethan hat . Du bist ein anderer Geist , wie er und ich , Du gebrauchst die Gesellschaft , um nicht zu verbauern . Hier hast Du Dein Taschengeld wieder , aber wir wollen die Geschichte jetzt anders machen . Du wirst von jetzt ab in der guten Stube schlafen , da hört der Großvater Dein Nachhausekommen nicht “ . Damit kam man wieder in's alte Geleise . Der Meister hatte wiederum bewiesen , daß er seinem Stammhalter zu Liebe selbst nicht vor einer Lüge seinem Vater gegenüber zurückschreckte . Ja , er spielte eine förmliche Komödie , um Großvater und Enkel das Leben so angenehm als möglich zu machen , ließ den Alten in dem Glauben , daß in Franzens Lebenswandel wirklich eine Aenderung eingetreten sei , rühmte dessen Solidität über die Maßen und wußte es gar so weit zu bringen , daß Gottfried Timpe Franz freundlicher gesinnt wurde , und in der Herzensfreude darüber , daß man diesmal seine Autorität respektirt habe , hin und wieder mit seinem Enkel ein längeres Gespräch anknüpfte und zum Erstaunen Aller ihn sogar aufforderte , zur Abwechslung einmal die alte Gesellschaft aufzusuchen . Als dies Wunder geschah , fühlte Johannes Timpe sich dadurch außerordentlich gerührt . Er wendete sich ab und verließ das Zimmer . Es war ihm peinlich , das spöttische Lächeln seines Sohnes zu beobachten , das fortwährend zu sagen schien : Wenn Du wüßtest , Alter ! Durch seine ewige Nachgiebigkeit erreichte Johannes Timpe weiter nichts , als daß Franz immer mehr den Respekt vor ihm verlor und sich schließlich wie ein selbständiger Mann vorkam , der thun und lassen kann , was er will . Eines Tages trug er sehr auffallend ein Stück bunten Bandes an seiner Uhrkette , einen sogenannten „ Bierknoten “ . Er war nämlich einer Vereinigung von jungen Leuten beigetreten , deren Mitglieder neben vielem Biertrinken das hauptsächlichste Bestreben zeigten , studentische Manieren nachzuahmen . Den Rock weit zurückgeschlagen , die Hände in den Hosentaschen haltend , schritt er in der Mittagsstunde prahlerisch vor den Fenstern der Werkstatt auf und ab , so daß die Gesellen eine neue Veranlassung gefunden hatten , ihre Witze über ihn zu machen . „ Hausaffen tragen gewöhnlich bunte Bänder “ , sagte der kleine Sachse sofort , als er ihn erblickte , worauf der Berliner seinem unvermeidlichen „ Det stimmt “ , diesmal hinzufügte : „ Und was für welche ! “ — eine Bemerkung , aus der man nicht genau entnehmen konnte , ob sie sich auf die Bänder oder Affen beziehe . Selbst der ernste Thomas Beyer konnte sich eines Lächelns nicht erwehren . Franz aber fand durchaus nicht , daß er sich lächerlich mache , sondern blähte sich wie ein Pfau und zog alle zwei Minuten die Uhr hervor , um das Abzeichen seiner neuen Würde erst recht in's Auge fallen zu lassen . Meister Timpe theilte das Urtheil seiner Leute nicht . Als sein Sohn ihm die Bedeutung der Farben auseinandersetzte und dabei fortwährend die Worte „ Student “ und „ Kommilitonen “ im Munde führte , hörte er aufmerksam zu und freute sich darüber , daß sein Einziger in solch' „ gute Gesellschaft “ gerathen sei . „ Das Schönste dabei ist , Vater , daß man mich immer für einen jungen Offizier hält . Sehe ich denn wirklich so aus ? “ Johannes Timpe hatte niemals an einen derartigen Vergleich gedacht , nun aber ließ er seinen Blick mit einer ganz anderen Aufmerksamkeit als sonst über die Gestalt seines Sohnes gleiten und erwiderte schmunzelnd : „ Ein stattlicher Kerl bist Du für Dein Alter , das wird selbst Moltke nicht bestreiten können . Du Tausendsassa , Du ! “ Franz Timpe , stolzerfüllt , zog seine beiden Haarbürsten hervor und begann seine Toilette zu erneuern , diesmal mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit . An einem Donnerstag war man wieder im Garten versammelt . „ Ich werde heute früh schlafen gehen , “ sagte Franz und entfernte sich , während Meister Timpe nickte und seinem Sohne einen vielsagenden Blick zuwarf . So pflegte Timpe junior nämlich in der letzen Zeit immer zu sagen , wenn er in Gegenwart des Großvaters einen Vorwand suchte , um das Haus verlassen zu können . Als er fort war , bemerkte Gottfried Timpe : „ Er scheint wirklich in sich zu gehen . Er ist auch gar nicht mehr so vorlaut wie früher . Heute namentlich schien es , als könne er den Mund nicht aufthun . Schadet auch nichts ! Leute , die wenig reden , denken mehr . “ Es hatte nur dieser Anregung bedurft , um Frau Karoline sofort auf das Thema näher eingehen zu lassen , „ Hast Du nicht bemerkt , Vater , wie blaß er aussah ? “ sagte sie zu ihrem Manne . „ So habe ich ihn noch nie gesehen . Ich glaube gar , der arme Junge arbeitet zu viel im Geschäft “ . Der Großvater wollte von dieser Beschäftigung nichts wissen und fiel ein : „ Da haben wir 's ja ! Das ist die moderne Welt : Wenn so ein junger Mensch heute mal ernstlich arbeitet , dann heißt es gleich : er ist krank ; und seine Mutter möchte am liebsten sofort nach dem Doktor schicken : Die Sache kommt mir verdächtig vor : wenn er Euch nur nicht gestern Abend ein Schnippchen geschlagen hat und Heidi ! zu seinen Freunden gegangen ist “ . Meister Timpe begann laut zu husten und versuchte , diesen Verdacht mit gut geheuchelter Entrüstung von Franz abzuwehren . Um in seinen Bemühungen einen Bundesgenossen zu haben , trat er Thomas Beyer aufden Fuß , machte eine Pantomime und fragte : „ Nicht wahr , Sie glauben das auch nicht ? “ „ Niemals würde ich das , Meister . Ich glaube nur das , was ich sehe und weiß . Ueber Glauben und Wissen ließe sich überhaupt so manches sprechen . Da habe ich neulich einen Vortrag gehört — “ Der aufgeklärte Altgeselle saß mit dem Gesicht der Hausthüre zugewendet und erblickte nun Krusemeyer , der mit einem „ Guten Abend , Herrschaften ! “ den Garten betrat und bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend , langsam herankam , als befände er sich auf einem nächtlichen Patrouillengang der keine Uebereilung dulde . So kam es denn , daß Thomas Beyer seinen Satz nicht beendete , sondern sofort aufsprang , um dem Weißbart ein Plätzchen zu verschaffen . Johannes Timpe zeigte sich plötzlich sehr wohlgelaunt . Er hatte dem Hausschuster , der die ausgebesserten Stiefel , die er mitgebracht hatte , noch einmal mit Wohlgefallen prüfte , kaum ein Glas Bier vorgesetzt , als er auch schon fragte : „ Nun , was giebt's Neues ? “ Krusemeyer antwortete nicht , machte aber eine leicht verständliche Geberde : man solle den Großvater entfernen . Das Ehepaar sah sich bestürzt an ; denn wenn Krusemeyer dieses Verlangen stellte , so mußte etwas ganz Besonderes passirt sein . Zum Glück war die Zeit gerade herangerückt , wo der Alte sein Bett aufzusuchen pflegte . Als Frau Karoline ihn fragte , ob man nicht Anstalten machen wolle , in's Haus zu gehen , erhob er sich denn auch , sagte den Uebrigen gute Nacht und wankte , gestützt von der Frau seines Sohnes , der Thür zu . Johannes wurde während dessen von der Neugierde gepeinigt . Krusemeyer befriedigte dieselbe aber erst , als die Meisterin zurückgekehrt war . Dann sagte er plötzlich : „ Wann ist er denn nach Hause gekommen , oder ist er ganz fortgeblieben ? “ „ Wer ? “ „ Nun , Euer Franz — “ Da die drei Anderen ein merkwürdig erstauntes Gesicht zeigten und augenblicklich keine Worte fanden , so führte der Beschirmer der Bürgerruhe das Gespräch allein weiter , und das geschah mit einer Ueberlegenheit , die nur zu deutlich verrieth , wie erhaben er sich in seiner augenblicklichen Rolle finde . So sagte er denn auf's Neue : „ Die Sache ist mit wenigen Worten die : Man hat in der vergangenen Nacht eine Anzahl junger Leute , die lärmend und singend durch die Straßen zogen , dabei überrascht , wie sie allerlei Unfug trieben : an den Klingeln der Aerzte und Hebeammen zogen , die Bewohner aus dem Schlafe klopften und zuletzt sich nicht scheuten , Schilder von den Häusern zu reißen , auf welche sie mit ihren Stöcken paukten , daß es eine Höllenmusik abgab . . . Na , das war ein netter Skandal ! Die Ohren mußte man sich zuhalten ! Es geschah in meinem benachbarten Revier . Ich konnte von der Straßenecke den Vorgang deutlich mit ansehen , dachte aber bei mir : was wirst du dich um die Stunde noch hineinmischen ! Es war nämlich bereits drei Uhr ; und außerdem sagte Liebegott zu mir : „ Laß die nur laufen , denn ehe wir dorthin kommen , sind die längst über alle Berge ! “ „ So stehen wir Beide denn an der Ecke und sehen dem Indianertanz zu und fragen uns gegenseitig immer nur das Eine : Wo mag nur Wenzel stecken ? So heißt nämlich mein Kollege aus dem Revier . Endlich kommt er angeschlurft und gebietet Ruhe . Ja , da war gut Ruhe bieten . Die ganze Gesellschaft umringte ihn , nannte ihn „ Herr Wachtmeister “ , „ Herr Lieutenant “ und „ Herr Polizei-Präsident “ ; zuletzt wollten Alle mit ihm eine Weiße trinken gehen . Dann fragte ihn einer nach seinem Namen und er , gemüthlich geworden durch die Aussicht auf die Weiße , sagte wie er heißt . Nun fingen sie alle an das Lied zu singen : „ Der Wenzel kommt , der Wenzel kommt , der Wenzel ist schon da ! “ Einige pfiffen dabei auf ihren Stöcken , zwei trompeteten laut gen Himmel und die Anderen paukten ruhig weiter auf ihre Schilder . Das war denn doch dem Wenzel zu viel . Er drohte mit dem Arretiren , und als die jungen Herren nun sahen , daß selbst die Anrede „ Herr Oberbürgermeister “ nichts helfe , da wurden sie wieder sehr ungemüthlich , pfiffen und lärmten noch lauter , nannten ihn einen „ Nachtwächter von Mottenburg “ , der niemals in seinem Leben anständig betrunken gewesen sei , und verlangten durchaus von ihm , er solle ihnen den Ort angeben , wo er seinen Spieß gelassen habe , denn ein richtiger Nachtwächter dürfe ohne Spieß nicht ausgehen . . . In seiner Herzensangst ließ der kleine Wenzel — denn er ist nämlich sehr klein und hat bei den „ Maikäfern “ gedient — die Nothpfeife ertönen , und nun konnten wir nicht länger den Dingen ruhig zuschauen . Ich also vorwärts , und Liebegott immer langsam hinterdrein . Von allen Seiten kamen nun die Nachtwächter und Schutzleute herbei , und die ganze Gesellschaft mußte nach der Revierwache . Keiner von ihnen konnte gerade stehen , alle aber wollten durchaus ganz nüchtern sein und immer Recht haben . Dabei berief sich Jeder darauf , daß er Student sei und kein Mensch ihm etwas anhaben könne . Die Titel der Väter spielten dabei auch ein : große Rolle . Wer aber am wenigsten nüchtern war und am lautesten schrie , war Herr Franz . Fortwährend sagte er : haben mir garnichts zu sagen ... Ich bin der zukünftige Schwiegersohn von Herrn Urban , dem reichen Fabrikbesitzer , verstehen Sie ? . . . Der wird Ihnen das schon besorgen “ . . . Ich habe lachen müssen ! Der „ Schwiegersohn “ mußte alle Augenblicke herhalten . Ich habe dann Ihrem Sohne sehr gut zugeredet , aber es half nichts . Im Gegentheil — er fuhr auch mir über den Mund und geberdete sich wie ein Unsinniger . Das hat mir am wehesten gethan . Wie lange er mit den Anderen auf der Wache blieb , das weiß ich nicht ; denn Liebegott und ich sind wieder unserem Berufe nachgegangen . Vielleicht war 's nicht recht , daß ich dies alles erzählt habe ; aber ich sagte mir : Krusemeyer , thue es lieber , es kann mehr nützen als schaden “ . Während Krusemeyer erzählte , hatte das Ehepaar seine Heiterkeit nicht verbergen können .