Vorwort In drei Romanen wollte ich drei Frauengenerationen des 19. Jahrhunderts schildern , deren Repräsentantinnen , den Durchschnitt zwar überragend , doch Typen ihrer Zeit sein sollten . Ich wollte sie schildern , aufsteigend aus dem ersten Dämmer des Morgengrauens der Erkenntniß bis zum hellen , verheißungsvollem Frühlicht , das den Glanz der Mittagssonne ahnen läßt , die erst über den Frauen des 20. Jahrhunderts aufgehen wird . Der vorliegende Roman » Schicksale einer Seele , « hätte der erste in der Reihenfolge sein müssen . Er erzählt das Leben einer Frau , die heut in den Sechsziger Jahren stehen würde . Er will ihr anfangs noch dunkles , instinktives Ringen um Sein oder Nichtsein ihrer Seele veranschaulichen , und er endet mit einer theoretischen , fruchtlosen Erkenntniß . Fruchtlos , weil der Weg zum Ziel : Befreiung der ureigenen Individualität aus der Vergewaltigung der Jahrhunderte , noch in dämmernde Nebel gehüllt bleibt , weil die Zeit für die Verwirklichung ihrer Ideen noch nicht erfüllt ist . In dem zweiten Roman : » Sibilla Dalmar « ( er ist bereits vor zwei Jahren erschienen ) hatte ich das Lebensbild einer Frau , die heut etwa 40 Jahr alt sein würde , gezeichnet . Der Weg , der zum Ziel führt , liegt schon klar vor den Augen der Heldin , er ist aber uneben , dornig , gefahrvoll , beschreitbar nur für energische Charaktere , denen Schwierigkeiten ein Sporn zum Vorwärtsdringen sind . Diesen sonnenlosen Weg zu gehen war über Sibilla Dalmar's Kraft . Der dritte Roman » Anne Marie Rubens « wird der eben aufblühenden jungen Generation gewidmet sein . Es würden demnach meine drei Frauengenerationen die Lebensbilder von Großmutter , Tochter und Enkelin entrollen . Alle drei Romane dienen der Illustrirung des Pindar'schen Spruches : » Werde , die du bist . « [ Schicksale einer Seele ] Monatelang nun ohne Dich geliebtester Freund ! Freund ! Das Wort klingt fast hart , deckt sich nicht mit dem Begriff . Starkes und Zartes , eine ganze Milchstraße von Sternen ist in dem Begriff . Freundschaft ! Labsal ohne Schaum und Bodensatz . Alles ist Inhalt . Zuerst war ich betrübt , daß ich Dir so ewig lange nicht schreiben sollte ; die gelegentlichen postlagernden Briefchen und Karten in die Ferne hinaus , von Ort zu Ort , in denen nichts intimes stehen durfte , zählen ja nicht . Nun habe ich das Betrübtsein überwunden , da Du ja die Olympierfahrt nach Griechenland – und gewiß gehts bis nach Indien – als ein so großes Glück empfindest , lieber , lieber Idealist Du ! Eine Tempelfahrt zu heiligen Gräbern ! Da dürften nur Gebete Dich begleiten . Sie sollen's auch . Aber nicht wahr , die leise Wehmuth in mir , die Dir nachzieht von Ort zu Ort , weil ich nicht mit Dir ziehen konnte , begreifst Du ? Wegen meines Katarrhs brauchst Du nicht ängstlich zu sein . Die liebe Julie und die gute Philomele , die pflegen mich und sorgen sich um das bischen Husten , als ob er lebensgefährlich wäre . Ein wenig greift er mich wohl an , nicht allzu sehr . Ich bin oft müde , eine angenehme Müdigkeit , in der das Dasein mich wie milde Luft umfließt , lind , einschläfernd . Die Müdigkeit wird mich nicht hindern , mein Versprechen zu halten . Ich werde fleißig sein müssen , sehr fleißig , hurtig , hurtig schreiben ! Drei Monate nur um meine ganze Lebensgeschichte zu Papier zu bringen ! Recht schlicht und einfach soll ich erzählen , wie Du es liebst . Versuchen will ich's ; und laufen mir zu viel Bilder in die Feder , so streiche ich sie wieder aus . Ich weiß wohl , Du hast mir die Aufgabe gestellt , damit ich vor lauter Beschäftigung nicht Zeit haben soll , melancholisch zu werden . Auch darin hast du gewiß recht : das fehlte unserer Intimität , daß Du meine Vergangenheit so wenig kennst . Würdest Du nur nach allem gefragt haben , ich hätte schon geantwortet , aber wir zwei Beide sind wirklich etwas zu diskret , zimperlich diskret . Und jetzt meintest Du , wäre der geeignetste Zeitpunkt für mich rückwärts zu schauen , da ich an einem Wendepunkt meines Lebens stände . Ja , ein Wendepunkt , das hoffe ich . Alles alles muß sich nun wenden . Es wird mir nicht leicht werden dir mein treues Selbstportrait zu zeichnen . Der Kontrast zwischen dem was ich war und wie ich geworden bin , ist zu groß : zwei Seelen , die kaum noch eine leichte Familienähnlichkeit miteinander haben . Ich kann mich nicht zurück denken zu der unschuldigen , mit etwas Romantik versetzten Naivetät meiner jungen Jahre . Du mußt mir nun schon glauben , was ich von mir berichten werde , auch wenn sich meine Worte von heute mit der Marlene , die ich einst war , nicht decken . Als wir uns kennen lernten , fandest Du ja auch noch so vieles in mir , daß Du Dir nicht zusammen reimen konntest . Wenn Du zu Ende gelesen haben wirst , was ich hier schreibe , wirst Du es begreifen wie ich so verblödet , so jeder Individualität bar , so charakterlos und feig und geduckt werden konnte , und dabei so frechen Geistes , so schwer in meinem Denken und Fühlen zu beeinflussen , so ganz mein inneres Leben für mich lebend , selbständig und allein . Ich komme mir selber oft wie eine Schnecke mit Flügeln vor . Sie nützen mir nichts – die Flügel , das Schneckenhaus ist zu schwer . Habe ich eigentlich viel zu erzählen ? Ich werde mir den Kopf zerbrechen müssen um aus der Tiefe meines Gedächtnisses herauszufischen , was etwa auf dem Grunde ruht , schwerlich Perlen – oder doch vielleicht Perlen , wenn es wahr ist , daß sie ein krankhaftes Produkt gesunder Muscheln sind . Bin ich krankhaft ? weiß ich denn so recht wie und wer ich bin ? Vielleicht , wenn ich all meine Erinnerungen nieder geschrieben habe , weißt Du es und Du sagst es mir dann wieder . Tagelang , wochenlang soll ich mich nun mit mir beschäftigen , immerzu ich – ich ! Müßte nicht Feinergearteten eine Art pudeur – mir fehlt im Augenblick das deutsche Wort – überkommen so die Seelenhüllen abzustreifen ? Zu Hause in Berlin hätte ich 's gewiß nicht gekonnt , hier aber , wo die Sonne in jeden Winkel hineinstrahlt und in ihrem Licht marmorne Götter ihre stolze keusche Nacktheit baden , geht es eher . Und wenn schon denn schon . Ich werde selbst vor Eigenlob nicht zurückschrecken , wenn ich auch nicht annähernd so brav bin wie Du es von mir denkst . Anfangen ! anfangen ! Ja , gleich . Am Ende wird mein Geschreibsel eine förmliche , Antobiographie werden . Du hast's gewollt . Ganz am Schnürchen will ich erzählen und mit dem Anfang anfangen . Wir schreiben jetzt 66 . Ich bin 33 Jahre alt . Rechne aus , wann ich geboren bin . Daß es zu Berlin war weißt Du . Daß mein Vater Inhaber einer Kattunfabrik ist , daß ich unter acht Geschwistern das älteste Mädchen war , weißt Du auch . Ich erzählte Dir einmal von meinen Geschwistern , erinnerst Du Dich ? Du sagtest schmeichlerisch : ein Schwan im Ententeich . Ach Du Lieber , eher ein Kukuksei , das im fremden Nest ausgebrütet wurde . Ich bin mit einem rothen Mal auf der Stirn geboren , ob ein stern- oder kreuzartiges , darüber sind die Gelehrten nicht einig . Es entstellt mich nicht , weil es nur sichtbar wird , wenn ich sehr erhitzt bin . Wahrscheinlich hast Du es nie bemerkt . Wie ich zu dem Namen Marlene komme , da doch meine Geschwister alle so hausbackene Namen haben ? Eins meiner Brüderchen erzählte der Mama eines Tages das Märchen vom Marlenechen . Und er soll es so drollig erzählt haben , daß meine Mutter Thränen lachte , und fast unter diesen Lachthränen kam ich zur Welt . Zum Andenken an diese wunderbare Begebenheit wurde ich Marlene getauft . Bis zu meinem sechsten Jahr wohnten wir so gut wie auf dem Lande , in einer feldartigen , abgelegenen Straße , der Hirschelstraße , die nur aus kleinen , weit auseinanderliegenden Gärtnerhäuschen bestand . Jetzt ist sie stattlich bebaut . Alle diese Häuschen hatten große , primitive Gärten , an die sich weite Wiesen schlossen . Die Wiesen wurden durch einen lang sich hinschlängelnden Bach begrenzt , der für uns Kinder die Grenze der Welt bedeutete . Er hieß der Schafgraben . Eine Fülle von Vergißmeinnicht blühte an seinem Rand , und allerhand Bäume , hauptsächlich Pappeln und Weiden umsäumten ihn . Meine Eltern waren auf das Gärtnerhäuschen verfallen der vielen Kinder wegen , die sich da tüchtig tummeln konnten . Das Reisen mit Kindern war damals noch nicht üblich . Meine ersten Kinderjahre haben nicht viel Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen . Nur hier und da , wenn ich nachsinne , tauchen vage Lichter aus dem Nebel auf , kleine Erlebnisse , die besonders stark auf mein Gemüth gewirkt haben müssen . Ich erinnere mich nicht der Zimmer , die wir bewohnten , nicht wie meine Eltern , meine Geschwister aussahen , ich weiß nichts von all den Menschen , die in meinen Gesichtskreis traten . Ich muß ein sehr furchtsames , feiges , kleines Geschöpf gewesen sein ( eigentlich bin ich es ja heute noch ) . Meine ersten Erinnerungen hängen mit Angst und Furcht zusammen . Ein Kettenhund auf dem Hof , der schwarze Nero , eine Frau in einem Laden , bei der das Dienstmädchen , das mich an der Hand führte , einkaufte , und die mir meine schwarzen Kohlen von Augen aus dem Kopfe schneiden wollte , und – meine Mutter ! ich fürchtete mich vor meiner Mutter . So lange ich zurück denken kann , lag diese Furcht wie ein Alpdruck auf meiner Brust . In diese Schatten fiel aber auch Licht , romantisch angehauchtes . » Das rothe Glas – Meerfahrten – die Königbouquets – der Schafgraben « wären passende Titel für diese Lichtstrahlen . Damals kam noch in Zwischenräumen von 4 bis 6 Wochen der Lumpenmatz auf die Höfe , der für ein paar Pfennige ( auch für die Gegenleistung von Lumpen ) allerhand Kram und Trödel an Dienstmädchen und Kinder verkaufte : Ringe , Perlenschnüre , Tüchelchen und ähnliche Kostbarkeiten . Unser Kindermädchen hatte mir vom Lumpenmatz ein Stück rothes Glas gekauft . Eine Zauberwelt erschloß es mir . Stundenlang konnte ich auf der Wiese unter einem Baum liegen – merkwürdiger Weise habe ich behalten , daß es ein Quittenbaum war – und durch das rothe Glas hinausschauen in die Welt – eine glühende , brennende Märchenwelt von unerhörter Pracht . Selbst die Mistbeete , den Kettenhund , den schmutzigen Erdboden an regnerischen Tagen verwandelte das Glas in flammende Visionen . Rief man mich zu Tisch oder zum Vespern , so riß ich mich ungern von meiner Schwelgerei los , und mag dann wohl blöde und verwirrt drein geschaut haben , und ich glaube schon damals entstand die Mythe ( es ist doch eine Mythe – nicht ? ) von meiner Dummheit , eine Meinung , die meine Familie wahrscheinlich bis auf den heutigen Tag festgehalten hat . Und nicht nur meine Familie – – aber ich wollte ja am Schnürchen erzählen . Ich hütete meinen rothen Schatz wie ein köstliches Geheimniß , besonders vor den Geschwistern . Eines Tages war meine Mutter böse und schalt mich , ich weiß nicht mehr weßhalb . Ich konnte der Lust nicht widerstehen sie durch das rothe Glas anzuschauen , das doch alles so wunderbar verschönte . Die Mutter , die natürlich nicht wußte , daß es ein Zauberglas war , schlug es mir aus der Hand . Es zerbrach . Meine vermeintliche Frechheit wurde fürchterlich mit der Ruthe gerochen . Um mein zerrißenes kleines Herz kümmerte sich niemand . Im Frühjahr waren häufig die Wiesen hinter unserm Häuschen überschwemmt . Da hatte nun mein älterer Bruder sich etwas herrliches ausgedacht . Mit aller Anstrengung , deren wir fähig waren , schleppten wir Kinder ein großes Waschfaß auf die überschwemmten Wiesen : das war der Kahn , ein paar Wäschestützen dienten als Ruder , und die Meerfahrt begann . Weit wie das Weltmeer erschienen mir die überschwemmten Wiesen , eine Fülle von Kuhblumen blühten daraus empor . Ich pflückte davon , und warf sie dann wieder in's Wasser zurück , damit wir den Rückweg fänden : eine Reminiscenz aus dem Märchen vom Däumling . Ich kannte schon viele Märchen im sechsten Jahr . Columbus kann bei der Entdeckung von Amerika nicht mehr Entzücken empfunden haben , als wir es bei der Landung an einem benachbarten Grundstück empfanden . Kinder die wir kannten , standen da an der Hecke , und halfen uns beim Landen . Meine Brüder brachten den Kindern Gastgeschenke mit : Schachteln mit Maikäfern . Und dazu sangen sie den populären Vers : » Maikäfer fliege , dein Vater ist im Kriege , deine Mutter ist im Pommerland , Pommerland ist abgebrannt , Maikäfer fliege ! « So oft ich später diese sinnlosen Verse hörte , zog durch mein Gemüth ein wehmüthiges Singen und Klingen von einem verlornen Idyll , eine Sehnsucht nach Kuhblumen und Wiesen , nach Frühlingswinden und Abenteuern in die Ferne hinaus . Vor den Maikäfern aber fürchtete ich mich . Wie meine Brüder das merkten verfolgten sie mich mit den Thieren , setzten sie mir auf die Arme , in den Nacken und amüsirten sich königlich über mein Schreien . Fürchterlich waren mir diese krabbligen , klebrigen , kleinen Käferpfötchen . Auch meine Brüder kamen mir ziemlich gräßlich und gefährlich vor , nur dazu da , mich zu quälen und zum weinen zu bringen ; und hatten sie es erreicht , so trimuphirten sie : » Die Pippe plinzt schon wieder . « Von ihnen stammt wohl diese Verunglimpfung meines Namens . Marlene war zu lang , man kürzte mich in Pippe ab . Unsere Kahnfahrten wiederholten sich öfter , bis man bei der nächsten großen Wäsche das Waschfaß vermißte , und mit Ach und Krach und Prügeln wurde den Meerfahrten ein Ziel gesetzt . Im Herbst florirten die Königbouquets . Ich weiß nicht , ob diese Art von Bouquets eine Mode der Zeit oder ein Privateinfall unseres Gärtners waren . Er nahm Spargelstauden , die hoch in's Kraut geschossen waren , – oft überragten sie meine kleine Person – hier und da rupfte er von den zarten Stenglein das Grünzeug ab , spitzte die Stengel scharf zu , spießte Astern und Georginen daran , und stellte so farbenreiche , blühende Büsche her . Für mich gab 's nichts schöneres als diese Bouquets . Er sagte , sie wären für den König und verwelkten nie . Ich glaubte ihm auf's Wort . Ich hielt ihm das Körbchen , in das hinein er die Blumen sammelte , und durfte dann die blühenden Büsche bis an die Gartenthür tragen . Und von da blickte ich ihm nach mit scheuer Ehrfurcht , bis er meinen Blicken entschwand . Er ging ja zum König . Und nun geschah das Wunderbare , daß der Gärtner mir zu meinem Geburtstag ein solches Königbouquet schenkte – wenn auch nur ein kleines Miniaturding , mit kleinen Asterchen und Georginchen besteckt . Meine große Seligkeit dauerte aber nur bis zum andern Tag . Da war die ganze Herrlichkeit verwelkt . Ja , sagte er , als ich ihm mein Leid klagte , das käme daher , daß ich kein Prinzeßchen wäre . Kein Prinzeßchen sein ! wie traurig ! Aber ich wollte eins werden , ich nahm es mir fest vor . Wenn ich groß geworden , würde ich schon erfahren , wie man es macht um ein Prinzeßchen zu werden . Wir Kinder liefen meist unbeaufsichtigt in Garten und Wiese umher ; von einer Bonne oder einem Fräulein war keine Rede , das Kindermädchen hatte vollauf mit den ganz Kleinen zu thun . Da geschah es einige Male , daß ich – was streng verboten war – über die Wiesen bis hin zum Schafgraben lief , in meiner Vorstellung eine unermeßlich weite Reise in ein fernes Märchenland ; in Wirklichkeit mag die Entfernung von unserm Garten bis zum Schafgraben 15 Minuten betragen haben . Vergißmeinnicht wollte ich dort pflücken , und wohl auch meinen älteren Brüdern imponiren , daß ich schon so weit in der Welt herumgekommen wäre . Und dann der Reiz des Verbotenen , Geheimnißvollen . Das Kindermädchen hatte uns gerade das Mährchen vom blonden Egbert vorgelesen , vielleicht kam mir deßhalb an dem wildwüchsigen Ort alles so verzaubert vor , so gruslich schön . Einen kleinen Sperling , der herumhüpfte hielt ich geradezu für den Wundervogel , der im Märchen so lieblich von der Waldeinsamkeit singt , als ob Waldhorn und Schalmei ineinander spielten , der Wundervogel , der Eier legte von Gold und Edelstein . Edelstein dachte ich mir immer unter der Form der funkelnden Ringe , wie sie der Lumpenmatz verkaufte . Ich suchte in den Büschen nach den goldenen Eiern , bis allmählich das Unheimliche die Oberhand gewann , und ich der Waldeinsamkeit und den goldenen Eiern in rasendem Galopp entlief . Ich glaube mich zu erinnern , daß die unkindlichsten , gar nicht für Kinder geschriebene Märchen , wie Elfriede und der blonde Egbert am stärksten auf mich wirkten . Ich hörte wohl auch die Grimmschen Volksmärchen mit Andacht vorlesen , aber sie gingen mir nicht nach , wie die Märchen in denen Stimmung vorherrschend war , wo eine geheimnißvolle Psyche , in nebelzarten Dämmerungen leise ihre Flügel regt und in endlose Fernen hinausträumt . – Herr Gott mit der Psyche in nebelzarten Dämmerungen habe ich gewiß schon die Grenze der Schlichtheit überschritten . Ich wills nicht wieder thun . Als ich ungefähr sechs Jahre alt war , wurde unser Gärtnerhäuschen niedergerissen . Die Hirschelstraße sammt dem Schafgraben sollten der Kultur gewonnen werden . Meine Eltern bezogen in der Nähe des Halle'schen Thores , in der Friedrichstraße eine geräumige Bel-Etage . In jener Zeit eine stille Gegend ; hinter dem Halle'schen Thor war die Stadt zu Ende , und die weiten Wiesen und Sandflächen des Tempelhofer-Feldes , aus denen der Kreuzberg emporragte , erstreckten sich weit ins Land hinaus . Ein Hauch feiner , patricischer Bürgerlichkeit ruhte auf dem Stadttheil , der mit Vorliebe von Gelehrten , Dichtern , Professoren und höheren Beamten aufgesucht wurde . Berlin W. war im Entstehen . Es gab im Westen schon Häuser und Straßen . In einer Zeit aber , wo die Verkehrsmittel noch nicht einmal beim Omnibus angelangt waren , galt die Gegend für abgelegen . Unser Haus hatte wie die meisten Häuser des Stadttheiles einen großen Garten . Kein Ziergarten . Ein paar Beete mit Levkoien , Nelken und Reseda , dazwischen etwas Petersilie , Salat , Himbeer- und Johannisbeersträucher , und für jeden Miether eine mit Gaisblatt berankte Laube . Nur der hintere Theil des Gartens mit starken , alten Nußbäumen und vielen Veilchen war schön . Er gehörte uns ganz allein , und schloß mit einem Gartenhaus , das aus einem ziemlich großen Saal bestand , ab . Und hier , in dieser Bel-Etage der Friedrichstraße spielte sich seit meinem sechsten Jahr mein Leben bis zu meiner Verheirathung ab . Von meinem 6.-9 . Jahr ist beinah eine Lücke in meinem Gedächtniß . Alles versunken und vergessen . Selbst die ersten verängstigten Tage in der Schule schweben mir nur noch dunkel vor . Unsere Wohnung , wie ich mich ihrer zuerst erinnere ( später wurde sie eleganter ) trug ganz den nüchternen Charakter der meisten Einrichtungen wohlhabender Bürgerfamilien jener Zeit . Eine gute Stube mit rothen Plüschmöbeln . An der Decke ein Glaskronenleuchter . An der Wand , zwischen den Fenstern , ein Trümeau in schwerem broncenen Rahmen , darunter eine Marmorconsole , auf der eine Vase mit künstlichen Blumen stand . Ein paar kleine Tische mit Marmorplatte und vergoldeten Füßen . Und das Prachtstück : eine Servante mit den Familienkostbarkeiten : Silberne Becher , die Pathengeschenke waren , ein halbes Dutzend große Tassen , innen ganz vergoldet , auf der Außenseite seine Miniaturmalerei : einen Napoleon , einen König von Preußen im Schmuck des Lorbeerkranzes , Schäferspiele in Watteau-Art . Eine christallene Zuckerschale , die auf einem silbernen Delphin ruhte , schön bemalte Tellerchen , interessante Gläser mit goldenen Sprüchen u. s.w . Daß wir diese Herrlichkeiten immer nur durch die Glasthüren anschauen durften , gab ihnen in unsern Augen einen besonders vornehmen Charakter , und daß sie nur bei den , in unsrer Familie so häufigen Taufen in Gebrauch genommen wurden , stärkte unseren Glauben an die Heiligkeit der Taufhandlung . Der Kronenleuchter und die Polstermöbel der guten Stube wurden Alltags durch Leinwandhüllen geschützt . Gemüthlicher nahm sich das Wohnzimmer aus mit den tüchtigen bequemen Möbeln und einigen Erbstücken vom Großvater oder Urgroßvater her : ein paar dunkel gebeizte Eichenschränke mit rothseidenen Vorhängen hinter den Glasthürchen , eine altmodische Chiffonniere mit Meßingbeschlägen und einige wirklich werthvolle Kupferstiche . Besonders Sontags hielt ich mich gern im Wohnzimmer auf , wenn der Papa mit den gestickten Pantoffeln , dem Schlafrock von grauem Flausch und dem leicht um den Hals geschlungenen Tuch von gelblicher Seide zwischen den großblumig gestickten Sophakissen behaglich da saß , rauchend und vor sich auf dem großen , runden Tisch die Kaffeemaschine , die so anheimelnd summte . Ganz häßlich war unsere Kinder- und Arbeitsstube mit dem unaustilgbaren Geruch von rindsledernen Knabenstiefeln . Ein großer , mit Wachstuch überzogener Tisch strozte von Tintenklecksen . Ihr einziger Reiz war eine Reihe von Bildern , die die Geschichte Benjamin's darstellten . Oftmals kniete ich auf dem Sopha , über dem sie hingen , und vertiefte mich in diese Geschichten . Und ich war so böse auf Pharao , daß er dem holden , blondlockigen Benjamin einen Diebstahl zutraute , und immer von neuem so froh , als endlich auf dem letzten Bilde seine Unschuld siegte . Später verschwanden die Bilder , ich habe mich immer vergebens bemüht zu erfahren , wo sie hingekommen sind . Meine vier Brüder waren derbe , wilde , gewöhnliche Jungen , die gelegentlich , wenn sie Schaden im Haushalt stifteten , abgeprügelt wurden , was immer die Mutter besorgte . Sonst bekümmerte man sich nicht um sie , weder um ihr Fortkommen in der Schule , noch um ihre sittliche Erziehung . Zwei von ihnen sind als Jünglinge gestorben , die beiden andern leben in subalternen Stellungen an kleinen Orten . Meine drei Schwestern sind sämmtlich gut verheirathet . Ich hatte als Kind keine Fühlung mit meinen Geschwistern . Seitdem ich das elterliche Haus verlassen habe , sind sie mir völlig fremd geworden . Ich glaube nicht , daß Geschwisterliebe ein Naturinstinkt ist ; ich glaube vielmehr , daß sie erst in der gemüthvollen Atmosphäre des elterlichen Hauses großgezogen wird . Eine solche Atmosphäre gab es in unserm Hause nicht . Es gab nur eine große , geräuschvolle Haushaltung mit verschiedenen Dienstboten , mit Gezänk und Gepolter , mit viel Küche , Kohl und Rüben , mit schreienden , kleinen Kindern , und immer Lärm . Alles war derb hausbacken , nüchtern , tüchtig . Ich sehe die Mutter noch vor mir Morgens in der Nachtjacke , mit fliegenden Haubenbändern und rothem Gesicht durch das Haus rasen . Ich sehe sie mit aufgestreiften Aermeln einen Teig einrühren , ich sehe sie bei der Entdeckung von Staub in einem Winkel dem Dienstmädchen das corpus delicti zu Gemüth führen . Immer war sie hinter den Dienstmädchen her . Immer führte sie mit ihnen Krieg bis auf's Messer . Daß sie alle wie die Raben stahlen , war selbstredend . Es gehörte zu ihren Lebensgenüssen , die Auguste oder die Lina mit ihrem Cousin oder Landsmann auf der Hintertreppe , oder beim widerrechtlichen Schmieren ihrer Morgenschrippe zu ertappen . Und jedes Mal wenn ein Mädchen » um sich zu verändern « fortzog , frohlockte sie : Gott sei Dank , daß ich das Geschöpf los bin . Und ich denke mit einem Schauer zurück , wie ich immer auf der Flucht war vor ihr , vor ihrem Klapsen , ihrem Schelten , ihrem rothen Gesicht , ihrer grellen Stimme . Mit Schaudern denke ich auch an die Waschtage zurück . Das ganze Haus wie mit Seifenschaum überschwemmt . Meiner Mutter Haubenbänder flogen noch mehr als sonst , ihr Gesicht war noch röther , ihre Laune noch kriegerischer . An den Tagen gab es immer miserables Essen , alles war für die Waschfrauen berechnet , die wie es schien , feines nicht vertragen können . Und alles roch : die riesigen Butterbröde mit Kuhkäse oder ordinärer Leberwurst , rochen , Mittags der Kohl , der Cichorien , der Kümmel rochen . Meine Mutter hatte eigens eine , wie sie behauptete sehr wohlschmeckende Waschfrauensuppe ersonnen . In eine Casserolle kochenden Wassers wurde eine kleine Quantität Zucker und Butter gethan , und eine größere Quantität in Scheiben geschnittener Semmeln , wohlgemerkt alter Semmeln , und die Suppe war fertig . Als Musterhausfrau war meine Mutter natürlich auch über die Maßen sparsam . Jede alte Semmel schloß sie in ihr Herz und in ihre Speisekammer . Einen wahren Rester-Cultus trieb sie . Niemand verstand wie sie , die Wurst in so durchsichtig dünne Scheibchen zu schneiden , und in der schlauen Kunst aus Fettstückchen , Knorpel , Sehnen und Abfall scheinbar appetitliche Fleischportionen – für die Dienstboten – herzustellen , war sie unnachahmlich . Sie stammte aus einer armen Familie , und blieb ganz kulturfremd . Gerade nur über Volksschulbildung verfügte sie . Das Schreiben ist ihr zeitlebens schwer geworden . Aber rasch und resolut war sie , und ihr Haus hielt sie in musterhafter Ordnung . Außer an den Dienstboten ließ sie die ungeheure Lebhaftigkeit ihres Temperaments auch ein wenig an dem Vater aus . Ich glaube , daß meine Mutter Nachmittags eine sehr hübsche Frau war . Sie selbst behauptete bildhübsch gewesen zu sein . Mein Vater bestätigte es . Erst zur Kaffeestunde gegen 4 Uhr machte sie Toilette . Nach damaliger Mode frisirte sie ihr röthlich lichtbraunes Haar über den Ohren in einer Fülle geringelter Löckchen . Im Sommer trug sie meist weißgestickte Kleider , im Winter seidene . Ich habe meine Mutter nie in Wolle gesehen . Mit dem Negligée wechselte sie auch ihre Laune . Das Zanken und Poltern hörte auf . Und wenn sie im Garten bei der Kaffeemaschine mit einer Handarbeit saß , nahm es sich beinah gemüthlich aus , besonders wenn das Korbwägelchen mit einem Säugling neben ihr stand , und sie mit einer schönen klaren Stimme eines ihr Lieder sang , etwa : » Brüderlein sein , Brüderlein fein , ach es muß geschieden sein oder » was braucht man dann mehr um glücklich zu sein « oder : » wir winden Dir den Jungfernkranz von veilchenblauer Seide « . Dann verlor sich auch meine Furcht einigermaßen , und ich wagte mich in ihre Nähe . Meine Eltern führten eine durchaus glückliche Ehe . Nach damaliger Sitte nannten sie sich Mama und Papa . Der Vater liebte seine Frau , wie sie war . Nur wegen des Wirthschaftsgeldes , mit dem die Mutter nie auskam , entbrannte zuweilen ein Streit , das heißt meine Mutter stritt , mein Vater brämelte nur vor sich hin . Er war ein stiller , furchtsamer Mann , leicht eingeschüchtert , gutmüthig fremden Menschen gegenüber , unbeholfen , ängstlich , eine Null im Hause , ganz von seiner Frau abhängig , gern abhängig . Ich erinnere mich nicht , daß er sich jemals gegen das Joch aufbäumte . Er ging völlig in seiner Fabrik auf , deren Geschäfte er , ohne jede Spur von Produktivität mechanisch abwickelte . Er hatte die Fabrik schon von seinem Vater geerbt . Als 13jähriges Bürschchen hatte man ihn in das Comptoir gesteckt , ohne daß man ihn hätte etwas lernen lassen . Und da ist er bis jetzt geblieben . Und er wird hundert Jahr alt werden , unbekümmert um die ganze Welt , die ihn absolut nichts angeht . Um nicht ungerecht zu sein , will ich aber erwähnen , daß er in jungen Jahren künstlerische Anlagen verrieth . Er zeichnete Portraits . Das Portrait meiner Mutter als Braut , und sein eigenes als Bräutigam , seine letzten künstlerischen Thaten , beweisen ein nicht gewöhnliches Talent . Er dichtete auch Knittelverse , zu Geburtstagen , Taufen u. s.w. und wenn er diese Gelegenheitsgedichte vorlas erglänzten seine freundlichen grauen Augen und seine sonst apathischen Züge belebten sich . Er sah dann aus als wäre er jemand . Sein edelgeschnittenes Gesicht unterstützte ihn dabei . Auch meine Mutter hatte eine Eigenschaft , die mit ihrer sonst derbbürgerlichen Art sonderbar contrastirte . Das war ihr Sinn für Toilette . Dabei streifte sie alles Hausbackene ab ; und ihre Toilettenpassion war nicht etwa auf geschmacklosen Putz gerichtet , im Gegentheil , auf raffinirte und originelle Eleganz . Alles was ihr etwa an Phantasie , an höheren Aspirationen innewohnte , kam in der Toilettenangelegenheit zum Ausdruck . Wir führten einen dürftigen Tisch . Diätfragen waren böhmische Dörfer für meine Mutter . Wenn man nur satt wurde . Sie sparte sich und den Kindern am Munde ab , was sie für Toiletten ausgab . Darum kam sie auch nie mit dem Wirthschaftsgeld aus . Sie hatte aber die Genugthuung , daß , wenn sie mit uns Mädchen im Thiergarten spazieren ging , alle Welt sich nach uns umschaute . Der Vater meiner Mutter war ein Franzose gewesen ; auf dem Durchmarsch nach Rußland hatte er sich mit der Großmutter trauen lassen . Er fand wohl auf den russischen Schneefeldern den Tod , denn sie hat nie wieder etwas von ihm gehört . Ich habe von der Großmutter nicht erfahren können , wer und was dieser Franzose eigentlich war . Vielleicht wars ein Marquis oder er trug wenigstens den Marschallstab im Tornister , und daher der Instinkt meiner Mutter für Vornehmheit der Erscheinung . Dazu paßten ihre aristokratisch schöngeformten , blendend weißen Hände und Füße . Daß ihr der Sinn für Toilette angeboren war , ist sicher . Eine Anregung von irgend einer Seite her war ausgeschlossen . Meine Eltern lebten ganz abseits von dem was man Welt oder Gesellschaft nennt . Ihr ganzer Umgang bestand , so weit ich zurückdenken kann , aus drei Ehepaaren : einem Bauinspektor , dem Hausarzt und einem Polizeihauptmann mit ihren respektiven Gattinnen , einfache Leute , wenn auch an Bildung meinen Eltern überlegen . Uebrigens , wer weiß , vielleicht wäre meine Mutter mit ihrem Temperament , ihrer Lust am Regieren , unter gänzlich andern Verhältnissen eine bemerkenswerthe Persönlichkeit geworden . Da die Fabrik des Vaters ziemlich entfernt von der Privatwohnung lag , kam er Mittags nicht nach Hause . Bald nach acht Uhr Morgens ging er fort und erst zwischen 7–8 Uhr Abends kehrte er wieder heim . Nur des Sonntags gehörte er der Familie . War das Wetter gut , so führte er uns größere Kinder in eine Conditorei , und ein jedes von uns durfte ein Stück Apfelkuchen essen , eine Schwelgerei , auf die wir uns die ganze Woche freuten . Und dieser Apfelkuchen – ach Gott , es klingt so pietätlos , und ich muß doch dabei in mich hineinlachen – war das einzige Gemüthsband zwischen uns und dem Vater . Und so ganz befriedigte mich der Apfelkuchen auch nicht . Gleich überbot ihn meine Phantasie . Ich hätte gar gern zwei gegessen , oder wenigstens den einen mit Schlagsahne . Herrlich , dachte ich müßte es sein , wenn man einmal so viel Apfelkuchen essen könnte als man wollte . Mein Vater hat mich weder je gescholten , noch je gelobt , noch je geliebkost . Ohnehin schweigsam , sprach er mit seinen Kindern eigentlich niemals . Vielleicht wußte er nicht einmal wie wir aussahen . Von unserm innern Leben hat er sicher nicht die leiseste Ahnung gehabt , etwas davon zu erfahren , trug er kein Verlangen . Vater und Mutter hatten für ihre Kinder nur Zärtlichkeit so lange sie klein waren . Ehe mein Vater in die Fabrik ging pflegte er mit den Kleinsten ein Viertelstündchen zu spielen , immer dieselben stereotypen Spiele , mit der Tabaksdose , die er von ihnen auf- und zuklappen ließ , mit der Taschenuhr , die vor ihren Oehrchen Tick ! Tick ! machen mußte . Höchstens brachte er es in seinen zärtlichsten Momenten bis zu einem » Kuckuck – Mummum « . Damit waren seine Vaterfreuden abgethan . Wenn er Abends nach Hause kam schliefen die Kinder schon . Und das waren wohl seine gemüthlichsten Stunden , in dem bequemen Schlafrock , mit Pantoffeln , bei warmen Abendbrot , mit seiner hübschen , plaudersamen Frau . Sobald die Kinder schulpflichtig wurden , waren sie für ihn nur Individuen , für die das Schulgeld pünktlich zu entrichten war , und deren ungeheurer Consum an Stiefeln und Schulbüchern ihn in Erstaunen setzte . Kein Haushalt konnte regelmäßiger und korrekter geführt werden , als der unsrige . Alle sechs Wochen große Wäsche , alle acht Tage kleine Wäsche , und natürlich alles immer im Hause . Alle drei Monate großes Reinmachen , bei dem das ganze Haus auf den Kopf gestellt und die Kinder in allen Winkeln herumgestupst wurden . Bis auf die Menüs erstreckte sich die Regelmäßigkeit . Montags gabs Jahr ein Jahr aus Bouletten ( von den Resten des Sonntags ) mit Milchreis , Donnerstags Erbsen mit Pökelfleisch , Sonnabends Brühkartoffeln , Sonntags aber , da ging es hoch her , da aß der Papa zu Hause ; aber auch an diesen Sonntagen kehrten mit unverbrüchlicher Regelmäßigkeit dieselben Menüs wieder : Kalbsbraten , Plumppudding und Apfelmus , oder Rinderbraten , Bisquit-Pudding und Apfelmus . Nur ab und zu lief ein Huhn oder eine Gans mit unter . Ich gehörte zu den Kindern , die sich nicht besonders viel aus dem Essen machen . Den Bisquitpudding aber , den liebte ich mit Passion . Und da konnte ich recht abgünstig auf den Teller meiner Schwester Alice sehen , die immer ein größeres Stück als ich bekam , und eins mit so schöner brauner Kruste . Meine Eltern führten ganz das halb vegetative Dasein , wie es wohl von jeher , besonders in Zeiten politischer Stagnation , die Mehrzahl der Menschen geführt hat . In eine solchen Periode fiel meine Jugend . Mir ist nachträglich , als wären die Leute damals alle schon ältlich geboren worden . Ein goldenes Zeitalter für Philister und Spießbürger . Charakteristisch dafür waren die gute Stube , das Weißbier , die langjährigen Verlobungen , selten unter zwei Jahren , die nüchterne , dürftige Tracht des weiblichen Geschlechts : lange Schneppentaillen , enge Aermel , kurz und glatt weggezogene Scheitel . Die Haustöchter nähten emsig in Wolle und Perlen , mit Vorliebe Tragbänder in Perlenstickerei für Papa , Bruder oder Bräutigam . Es war die Zeit , wo an den Winterabenden die Mama's strickten , während die Papa's im Schlafrock und gestickten Pantoffeln die Vossische oder die Spener'sche Zeitung lasen , und wo im Sommer große Landparthieen auf gemeinschaftliche Kosten in großen Kremsern unternommen wurden , hin an Orte , wo es zuletzt immer durch tiefen Sand ging , und wo Familien Kaffee kochen können . Der Kuchen wurde dazu mitgebracht . Und an Ort und Stelle spielte dann die Jugend mit so viel Vehemenz Fanchonzeck , Blindekuh , Katz und Maus , pflückte Blumen , und die Verliebten gaben sich alle Mühe sich ein bischen im Walde zu verlaufen , aus welchem Dickicht sie dann durch Hornsignale zur Moral zurückgeblasen wurden . Und zum Abendessen gab es immer Aale und Gurkensalat . Am schönsten war die Heimfahrt , wo man so grenzenlos traurige Lieder sang , am liebsten mit Ade ! Ade ! und dabei ruckte man so nah aneinander und schwärmte den Mond und die Sterne an . Besonders geistreich und vornehm waren ja diese Lustbarkeiten nicht , aber anspruchslos , billig und jung , so jung . Erst das Jahr 48 schlug eine Bresche in die Zäune dieser bequemen Weideplätze der Bourgeoisie . Meine Eltern merkten auch davon kaum etwas . Genau in den Geleisen , die ihnen die Verhältnisse und die herrschenden Anschauungen vorzeichneten , bewegten sie sich , von keines Gedankens Blässe angekränkelt , keine erobernde Lust im Gemüth , die von Seiten meiner Mutter über die Erwerbung eines Hausgeräths oder eines Kleides , von Seiten meines Vaters über die eines neuen Kattunmusters hinausgegangen wäre . An den Tod nicht denkend , kaum an ihn glaubend , immer gesund , waren sie der Ansicht , daß auch innerhalb des Hauses alles von selbst fein gerade gehen müsse . Und es ging auch nicht allzuschlecht . In Betreff der Kinder kannten sie keine Vorsorge für die Zukunft , keine Aengstlichkeit für die Gegenwart , keine Verantwortlichkeit für ihre geistige und moralische Erziehung . So viel Lärm und Arbeit es auch in unserm Hause gab , es war nur Gekräusel auf der Oberfläche . In der Tiefe – Stille , Unbewegtheit . Meine Eltern – soll ich sagen die Glücklichen ? – kannten eines nicht , den Schmerz . Selbst der Tod eines Kindchens , das bald nach seiner Geburt starb , rief keine bemerkenswerthe Erregung hervor . Ich war neugierig ob die Mutter weinen würde . Nein , sie weinte nicht . Ich versuchte aus dem Vorfall ein Gedicht zu machen : » Die Mutter die nicht weinen kann . « Inhalt : das todte Kind , das ( umgekehrt wie im Märchen von dem Thränenkrüglein ) im Grabe nicht eher Ruhe findet , als bis die Mutter seinen Hügel mit Thränen begießt . Wessen Erbe war ich denn ? – Vielleicht des Großvaters ? Der soll etwas besonderes gewesen sein . Im Wohnzimmer hing ein feines Pastellbildchen von ihm , ein wundervoller alter Kopf , mit vollem weißen Haar und feurigen , schwarzen , geistsprühenden Augen . Die Pastellbilder sind aber so verlogen , sie idealisiren so sträflich . Ich war wohl schon acht Jahr , als er starb , er hat aber nie den Fuß über unsere Schwelle gesetzt , weil er dem Sohn wegen seiner Heirath mit meiner Mutter zürnte . Fehlte in unserer Familie das tiefere Gemüthsleben , so gab es aber auch keine Heuchelei , keine Lüge , keine Masken . Meine Mutter handelte ganz impulsiv und redete , wie ihr der Schnabel gewachsen war . Mein Vater konnte die Fabrik , die er blühend übernommen hatte nicht heben , weil er es nicht über sich gewann , günstige Conjekturen benutzend , Waaren auf Credit zu nehmen . Wir Kinder hatten von der Wesensart unserer Eltern den Vortheil , daß bei unserer Erziehung ( eigentlich Nichterziehung ) jede Dressur fehlte . Auch den Vortheil , daß wir uns körperlich abhärteten . Winter und Sommer gingen wir mit denselben Fähnchen und Röckchen , wir Mädchen kurzärmlich , den Hals frei . Ob wir mit nassen Füßen durch Schnee und Regen patschten , oder uns von der Sonne braten ließen , niemand fragte darnach . War auch nicht nöthig . Wir verdankten unsern kerngesunden Eltern ein unschätzbares Gut : den widerstandsfähigen Körper . Warum meine Brüder nichts lernten , weiß ich nicht . Sie besuchten gute Gymnasien oder Realschulen . Der Begabteste kam glücklich bis Tertia . Warum wir Mädchen nichts lernten , weiß ich . Es wurde eben in den damaligen Mädchenschulen kaum etwas gelehrt , was über die Elementarkenntnisse hinaus ging . Die Knaben hatten es gut . Sie turnten , sie exercirten . Sie durften sich auf Straßen und Plätzen in Freiheit tummeln . Ihnen gehörte Schnee und Eis im Winter , das Wasser im Sommer . Wir Mädchen turnten nicht , wir schwammen nicht und ruderten nicht . Wir durften uns nicht mit Schneebällen werfen , ja , nicht einmal schlittern . Denke doch , der Strickstrumpf florirte noch . Die beneidenswerthen Jungen , die brauchten auch bei der großen Wäsche nicht die Strümpfe umzukehren , nicht auf die kleinen Geschwister aufzupassen , nicht nähen zu lernen . Nichts brauchten sie , sie thaten immer wozu sie Lust hatten . Von Knaben hatte ich damals die Vorstellung , daß sie rechte Rüpel seien , und sich nicht wuschen , und daß ihnen das Lernen in der Schule furchtbar sauer würde . Erzähle ich schlicht genug ? Schläfst Du dabei vor Langerweile ein ? es geschieht Dir recht . Du hasts gewollt . Ich war gewiß noch ganz klein , etwa 4–5 Jahr , als die Mutter mir das Amt übertrug , die kleinen Brüderchen oder Schwesterchen zu wiegen . Das Wiegen der Kinder , das heut für schädlich gilt , war damals etwas Selbstverständliches . Die Wiege stand im Schlafzimmer der Eltern . Abends wurde das Zimmer von einer Nachtlampe schwach erhellt . In der ersten Zeit faßte ich dieses Amt als eine Strafe auf , und weinte still in mich hinein . Ich glaube selbst ein Kind fröhlichen Temperaments wäre bei diesem stundenlangen einförmigen Wiegen im Halbdunkel , kopfhängerisch geworden , wie viel mehr ich , die ich allem Anschein nach schon als Traumbündel zur Welt kam . Allmählich aber gewöhnte ich mich an das Wiegen , und nahm es als etwas Unabänderliches hin . Und dann kam die Zeit , wo ich mit Ungeduld darauf wartete , daß man mich zum Wiegen rufen sollte . Warum die Mutter gerade mir dieses Amt übertrug ? – weil sie es für ein sehr unangenehmes hielt . Meine Mutter – Du hast es wohl schon zwischen den Zeilen gelesen – konnte mich nicht leiden . Alles an dieser Frau war impulsiv . Sie folgte nur ihren Instinkten , und ihre Instinkte waren gegen mich , ja ihre Lieblosigkeit mir gegenüber steigerte sich oft bis zu einem an Haß grenzendem Gefühl . Ich merkte bald , daß sie eine geheime Lust empfand , wenn sie mir weh thun konnte . Und doch war sie weder boshaft noch grausam . Ich wüßte nicht , daß sie jemals irgend einem Menschen positiv Böses zugefügt hätte . Sie hatte wohl auch kaum ein Bewußtsein von dem bitteren Leid , daß mir durch sie geschah . Da ich ein sehr hübsches und sehr artiges Kind war , ( nach dem eigenen späteren Zeugniß meiner Mutter ) würde ich mir vielleicht heute noch den Kopf über die Ursache ihrer Abneigung zerbrechen , wenn sie selbst mich nicht darüber aufgeklärt hätte . Eines Tages war eine Dame bei ihr zum Besuch , als ich aus irgend einem Grund ins Zimmer trat . Der Dame gefiel ich augenscheinlich . » Die Kleine ist gewiß Ihr Liebling « – sagte sie zu meiner Mutter . Meine Mutter lachte . » Aber nein im Gegentheil « . Die Dame wunderte sich , weil ich doch gar so niedlich wäre . Nun erklärte ihr die Mutter , daß ich – ihr drittes Kind – das erste gewesen wäre , das sie nicht selbst nähren konnte . Und da hätte nun der kleine lieblose Balg nichts von ihr wissen wollen , hätte in seiner Gier immer nur nach der Amme verlangt , und wie am Spieß geschrieen , wenn sie , die Mutter , mich hätte nehmen wollen . » Und da kann man denn natürlich – schloß sie ihre Erklärung – so ein kleines Ekelbiest ( sie nannte mich oft so ) nicht leiden . « Meine Mutter sagte das ganz einfach und laut vor mir . Es kam ihr nicht in den Sinn , daß sie damit dem zehnjährigen Kind bitterweh that . Daß die Anhänglichkeit des Säuglings an die Amme naturgemäß ist , begriff sie nicht . Mein Abwenden von ihr schien ihr etwas durchaus Böses . Die ersten Eindrücke zu überwinden war sie außerstande , von Selbstbeherrschung und Selbstverantwortlichkeit wußte sie nichts . Es gab aber noch andere Gründe für ihre Abneigung . Meine Schwester Alice , ihr Ebenbild äußerlich und in der Wesensart , war ihr Liebling . Und um dieser Alice willen , war sie eifersüchtig auf mich . Ich war sehr viel hübscher als die Schwester und kam in der Schule schneller vorwärts . Noch maßgebender aber für ihre Abneigung mag der Antagonismus unserer Naturen gewesen sein . Größere Gegensätze als zwischen meiner Mutter und mir sind kaum denkbar . Dazu kam meine offenbare Scheu und Furcht vor ihr , die sie beleidigten . Sie dichtete mir Fehler an , die ich nicht hatte , vielleicht um ihre ungerechte Härte vor sich selber zu beschönigen . War von einer Leckerei etwas genascht worden , so wurde ich der That beschuldigt und leugnete ich , so war ich eine Lügnerin . Ich wurde geschlagen , damit ich gestehen sollte . In den Familien ist die Folter noch nicht abgeschafft . In gut bürgerlichen Häusern wurde damals viel geprügelt . Jedenfalls haftete mir als Kind der Ruf an eine verstockte Lügnerin zu sein , so daß ich später oft darüber sann , ob ich nicht wirklich gelogen , und es nur dann vergessen hätte . Wir hatten eine alte , grimmig häßliche , unangenehme Tante . Es verging kaum ein Tag , ohne daß ich hören mußte : » die Pippe wird der Tante Berthel von Tag zu Tag ähnlicher . « Und ich glaubte es , und ich weinte heimliche Thränen über meine Scheußlichkeit . Hätte ich nicht mit der Zeit eine so große Virtuosität erlangt meiner Mutter aus dem Wege zu gehen , ich wäre eins der meistgeprügelten Kinder gewesen . Meine bloße Anwesenheit schon reizte die Mutter zu Aeußerungen der Abneigung . » Glotze mich nicht so impertinent an , « fuhr sie mich an . Ich hatte natürlich keine Ahnung , daß ich impertinent glotzte . Saß ich still mit niedergeschlagenen Augen da , so sah ich blödsinnig dumm aus . Sie brauchte grobe Ausdrücke . Wenn sie mich anschrie : » Halts Maul ! « oder : » Dumme Gans ! « so zog ich unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern als schlüge man mich , und ich schämte mich , daß es meine Mutter war , die so redete . Ich zitterte , sobald ich nur ihren Schritt oder ihre Stimme im Corridor hörte , und oft zog ich dann hurtig die Schuhe aus , und tappte leise die Hintertreppe herab , um in den Garten zu entkommen . Hatte ich dazu nicht mehr Zeit , so lauschte ich gespannt , wohin sie ihre Schritte lenken würde , und ging sie an meiner Thür vorbei , so athmete ich befreit auf . Eine ihrer Härten bestand darin , daß sie mich zu essen zwang , was ich nicht mochte , während sie bei den Idiosynkrasien meiner Geschwister ein Auge zudrückte . Bis zum Rand füllte sie mir den Teller mit Speisen , die mir verhaßt waren . Ach ihr guten Erbsen und ebenso guten Brühkartoffeln , mit wie viel Thränen habe ich euch heruntergewürgt ! Die wohlhabendsten Bürgerfrauen gingen damals selbst auf den Markt , auch wohl mit einem Fischnetz und einem Körbchen für Obst . Eines Tages hatte meine Mutter mich mit auf den Markt genommen . Sie hatte Aale gekauft , und ich sollte sie im Netz nach Hause tragen . Andromache kann , als sich ihr der Drachen nahte um sie zu verschlingen nicht mehr Entsetzen empfunden haben , als ich bei der Vorstellung , daß ich diese glibbrigen , eklen Thieren berühren sollte . Ich , sonst der Gehorsam selbst , weigerte mich die Aale zu tragen , und als meine Mutter darauf bestand , gerieth ich so außer mir , und stieß einen so wilden Schrei aus , daß sie einen Auflauf befürchtend , das Netz selbst in die Hand nahm . Ich wäre eher ins Wasser gesprungen , als daß ich die Aale getragen hätte , und die Prügel , die ich zu Hause für meine Renitenz erhielt , und daß ich von den gekochten Aalen nicht essen durfte , hat die Thierliebe in mir nicht großziehen können . Sonderbar meine Abneigung gegen Thiere , nicht ? Ich weiß selbst keine Erklärung dafür . Jede , auch die geringfügigste Quälerei eines Thieres kann mich zu hellem Zorn reizen , ich mag mich aber selbst mit dem niedlichsten Thierchen nicht abgeben , vor der Berührung einer kalten Hundeschnauze schaudere ich zurück . Vielleicht wirkt bei dieser Antipathie mein feiner Geruchsinn mit , der schon durch den Dunstkreis eines Vogelkäfigs unangenehm afficirt wird . Du kannst es glauben , Arnold , ich litt herzzerreißendes in meinen Kinderjahren . Der Schmerz des Kindes ist oft tiefer , trostloser als der des Erwachsenen . Es ist immer gleich ganz Nacht in der kleinen Seele , ohne Hoffnung auf Morgenröthe . Man sagt wohl , daß so ein Kinderschmerz nur ein Momentbild sei . Ist aber ein Kind besonders weich und eindrucksfähig , und wiederholen sich unablässig die schmerzlichen Einwirkungen , so schließen sich die Wunden nie ganz und bluten bei der leisesten Berührung . Es giebt Kinder , die gleichsam gepanzert zur Welt kommen , Dickhäuter , von denen alle Pfeile abprallen , Kinder mit starken Instinkten der Selbsterhaltung . Andere aber sind wehrlos geboren mit so dünner Seelenhaut , daß schon ein Hauch sie verletzt . Ich war ein geistiger Bluter . Man spricht so viel von dem großen Glück des Kindes , das die Mutterliebe ihm giebt , man spricht von dem trauervollen Geschick der Kinder , die früh die Mutter verloren . Aber man spricht nicht von dem viel größeren Unglück des Kindes , das eine Mutter hat , die keine Mutter ist . Ich weiß nicht ob mein Schicksal ein Ausnahmeschicksal war . Ich glaube kaum . Ich errinnere mich mit absoluter Sicherheit , daß in meiner Kindheit kein einziger Tag verging , ohne daß ich weinte . Es waren keine kindischen Thränen , ich weinte mit Bewußtsein , wie ein Erwachsener , über das was mir geschah , Thränen , die vergiften , Thränen , die für immer Spuren in der Seele hinterlassen . Daß mein Gedächtniß so wenig Thatsächliches aus den Kinderjahren festgehalten hat , liegt wohl daran , daß ich mich immer vor der Wirklichkeit zu verkriechen suchte , daß mein eigentliches Wesen durch die rauhe Verständnißlosigkeit meiner Umgebung erstickt wurde , oder doch nur latent in mir fortlebte . Nur nicht bemerkt werden . Bemerkt werden und verwundet werden , war eins für mich . Ungeliebt , ungehegt und gepflegt schmachtete ich nach Liebkosungen , und da ich in der Wirklichkeit keine fand , erträumte ich sie mir , wie der Hungrige im Traum in leckern Speisen schwelgt . In instinktiver Schlauheit erzwang ich mir einen außergewöhnlichen Zugang zum Lebensgenuß , da mir die gewöhnliche Thür verschlossen wurde . Es war eine völlige Umkehrung des realen Daseins . Der Traum war das Leben , das Leben ein wesenloses Hindämmern . Meine Mutter sah ich im Licht einer Märchen-Stiefmutter . Bis in meine Backfischjahre hinein trug ich mich mit der Hoffnung , daß ich ein angenommenes , ein Findelkind sei , und ich wartete eigentlich immer auf die eigentliche Mutter . Darauf hin spann ich lange Romane , die immer damit endigten , daß ich endlich , endlich meine Mutter entdeckte , die mich nun natürlich ganz unsinnig liebte . Ich hätte so sehr gern meine Mutter » Sie « genannt . Eine kleine Wohnung auf der andern Seite unsers Flur's hatte ein altes Fräulein mit ihrer Jungfer inne . Das alte Fräulein war eine Dichterin , eine berühmte , sagte man mir . Man sprach von ihr im Hause mit einer gewissen neugierigen Ehrerbietung . Daß sie von altem Adel war , erhöhte das Interesse für sie . Schon ihr Vorname » Elfriede « übte eine geheimnißvolle Anziehung auf mich aus . Die Stimmung des Tiek'schen Märchens » Die Elfen « , war noch in meinem Gemüth lebendig , ein Abglanz davon fiel auf die Dichterin . Sie war sehr lang und sehr dünn , und kleidete sich eigenthümlich , mit weiten dunklen Umhängen , und nie habe ich sie ohne einen langen , wehenden , grünen Schleier und ohne Halbhandschuh gesehen . So wandelte sie im Garten auf und ab , in der Hand ein Büchelchen und einen Bleistift haltend . Ein Duft wie von Lawendel und Veilchen ging von ihr aus . Oft stand ich am Fenster des Berliner-Hinterzimmers , und wartete bis die Liebliche sich zeigte und mit ihren zarten Fingern den Vorhang zurückschob ; er war auch grün . Wie früher der verschlossene Bücherschrank , so zog mich jetzt dieses vergilbte Fräulein an . Sah ich sie in den Garten gehen , so lief ich auch schnell hinab , und herzklopfend strich ich so nah wie möglich an ihr vorüber , damit sie mich bemerken sollte . Allgemach spielte sie eine Rolle in meinen wachen Träumen . Ich ersann eine phantastische Combination : Sie war meine leibliche Mutter . Eine magische Verkettung hatte uns in demselben Haus zusammen geführt , und eines Tages entdeckte sie an einem geheimen Mal , – etwa an dem kreuzartigen rothen Mal auf meiner Stirn – ihre Mutterschaft mir gegenüber . Von dem Augenblick an liebte sie mich rasend , mußte es aber vor der Welt geheim halten . Ueber das Warum dieser Geheimhaltung ließ ich mir keine grauen Haare wachsen . Im Gartensaal gaben wir uns zahlreiche Rendez-vous , und zerflossen dabei in Zärtlichlichkeit und Thränen . So zur fixen Idee wurde diese Vorstellung , daß ich ein paar Mal , wenn sie im Garten war , mich durch schnelles Laufen in der Sonne zu erhitzen suchte , damit das Mal zum Vorschein kommen sollte . Meist aber , wenn ich an ihr vorüberging war sie so in sich versunken , daß sie mich gar nicht bemerkte . Nur ein einziges Mal sprach sie mich an , streichelte mich , und gab mir aus einer eleganten Bonboniere ein Chokoladenplätzchen . Als sie nach einem Jahr auszog , empfand ich es wie einen Schicksalsschlag , die Stimmung des Tiek'schen Märchens , nachdem die Elfen ihren Wohnort verlassen kam über mich . Zwar winselten keine Klagetöne durch die Luft , noch zitterte der Erboden unter den Rädern des Möbelwagens , der ihr Hausgeräth davon trug , der Garten aber kam mir doch eine Zeitlang entzaubert vor . Nicht mehr wehte der grüne Schleier durch das dürre braune Herbstlaub , und nicht mehr stand ich im Berliner-Zimmer bis die Liebliche sich zeigte . Mit Elfriede war mir ein Stück Romantik entschwunden , eine meiner heißersehnten Mütter zu Wasser geworden . Uebrigens war meine gequälte Kinderseele durchaus nicht frei von Rachegefühlen meiner Mutter gegenüber . Aber nie hätte ich ihr ein Leid anwünschen , geschweige denn ihr eins anthun mögen . Im Märchen muß die böse Stiefmutter auf glühenden Pantoffeln sich zu Tode tanzen . Glühende Kohlen spielten auch in meinen Rachegedanken eine Rolle , aber ich wollte sie auf das Haupt meiner Mutter sammeln , sie mit Beschämung strafen . In besonders trübseligen Stimmungen nahm ich mir fest vor schmerzlich zu Grunde zu gehen , um das Herz meiner Mutter durch mein tragisches Geschick mit Reue zu zerfleischen . Immer war ich in meinen Traumphantasien zuerst ein verelendetes , geknicktes Geschöpf , bis ein Zauber oder ein großes Schicksal etwas außerordentliches aus mir machten . Immer hatte meine Mutter mich aus dem Hause gestoßen , oder ich war davon gelaufen . Mich hungerte . Ich war in Lumpen gekleidet . Da ging ich auf die Höfe und sang . Irgend jemand hörte meine herrliche Stimme , war entzückt davon , ließ mich zur Sängerin ausbilden . Und ich wurde die erste Sängerin der Welt . Und eines Tages fuhr ich in der Friedrichstraße bei meiner Mutter in einem vergoldeten Wagen mit vier Pferden – nein mit 6 weißen Roßen – vor , so daß die ganze Friedrichstraße Kopf stand . Und neben mir im Wagen saß ein Prinz . Das war mein hoher Gemahl . Und zu spät sah meine Mutter ein wie sehr sie mich verkannt hatte . Die » dumme Gans « kam als Schwan daher , wohnte in einem Palast und war weltberühmt . Furchtbar wars , wenn meine Mutter mich mit einem Rohrstock schlug , was ab und zu vorkam . In eine wilde tödtliche Aufregung gerieth ich dann . Die glühende Kohlen der Beschämung genügten mir nicht mehr , nicht mehr die Traumbestrafungen . In düsterem Pathos mischte ich Traum und Wirklichkeit . An eisigen Winterabenden , ehe ich ins Bett ging , stellte ich mich im Hemde ans offene Fenster , und entblößte meine Brust , sie der Kälte preisgebend . Ja , ich wollte mir eine tödtliche Krankheit zuziehen , und auf dem Todtenbett , im Fieberparoxismus , wollte ich der unnatürlichen Mutter zurufen – nein nicht zurufen – dazu war ich zu schwach , mit einem Finger wollte ich ihr das Kainszeichen auf die Stirn malen : Mörderin ! Und mit wahrer Wollust malte ich mir ihre Gewissensqualen aus . Oder ich siechte langsam an gebrochenem Herzen dahin . Ich lag auf der Todtenbahre , ( Bett ein zu prosaisches Wort ) ein Kranz von weißen Rosen auf dem gelösten rabenschwarzen Haar , marmorweiß das Gesicht . Ich sah so wunderschön aus und so furchtbar traurig , daß ich über mich selbst laut weinte . Und mein Bild als Todte , würde fortan das Leben meiner Mutter vergiften . Kindskopf , der ich war . In Wirklichkeit würde die robuste Frau mich in wenigen Wochen vergessen haben . Aber die eisigste Kälte schadete mir nicht . Gott ! war ich gesund ! Meine Phantasie feierte wahre Orgien der Traurigkeit , in denen Tod und Wahnsinn , weiße Lilien und rothes Blut und nächtliche Kirchhöfe wild durcheinander spukten . Nichts konnte mir schaurig genug sein . Mit Vorliebe sah ich mich als Wasserleiche im rauschenden Strom dahintreiben , meine Rabenlocken das Bahrtuch , das mich einhüllte . Und Goldfische ( die ja eigentlich in rauschenden Strömen selten vorkommen ) und Delphine zogen mir nach auf der dunklen Spur . Ueber mir große Vögel , die Flügel ausgebreitet , lautlos schwebend – ein feierlicher Leichencondukt . Und auf meiner Stirn brannte in mystischem Licht das rothe Mal . Eine Zeitlang stand ein gutes und kluges älteres Kindermädchen bei uns im Dienst , die mich lieb hatte . Das war die erste Person , die überhaupt merkte , daß ich zu meiner Mutter niemals Mutter , oder wie meine Geschwister » Mama « sagte . Das gute Mädchen redete mir ins Gewissen . Sie stellte mir eindringlich vor , daß eine Mutter kein Herz zu einem Kinde fassen könne , daß so halsstarrig wäre , sie nicht Mama nennen zu wollen , und gewiß hielte sie mich darum für bös und trotzig . Und mit so klugen , liebevollen Worten drang sie in mich , daß ich ihr versprach meinen Trotz ( es war ja kein Trotz ) abzulegen . Aber ach , vom Entschluß zur That war noch ein weiter Weg . Ich hatte mir das » Muttersagen « nicht so schwer gedacht . Ich wollte nämlich gar nicht erst Mama , sondern gleich Mutter sagen . Das gefiel mir besser . In keinem meiner Märchen oder Träume gab es Mama's . Tagelang , wochenlang kämpfte ich mit meiner Schüchternheit und einer herzbeklemmenden Angst , die mich jedesmal überfiel , wenn ich einen Anlauf zu der heroischen That nahm , und ich hätte sicher den Mut dazu verloren , wenn das Kindermädchen nicht auf ihren Schein bestanden hätte . Sobald ich in dieser Zeit meine Mutter nur zu Gesicht bekam , stieg mir alles Blut ins Gesicht . Im Garten stellte ich Vorübungen an : » Mutter ! liebe Mutter ! « und es klang so zärtlich , so überwältigend , es rührte mich tief . Inzwischen phantasirte ich wieder eine bewegliche Geschichte zusammen , über das , was nach vollbrachter That geschehen würde . Zuerst würde die Mutter , sobald das inhaltsschwere Wort gefallen , wie von einem elektrischen Schlag getroffen , sprachlos dastehen . Dann würde sie in Thränen ausbrechen , mich in ihre Arme pressen und mit Liebkosungen überschütten . Und von dem Augenblick an war ich ihr erklärter Liebling . Ich würde eine Mutter haben , eine Mutter ! mein Herz jauchzte . An einem Nachmittag mußte der verwegene Plan ins Werk gesetzt werden . Vormittags , da war die Mama ja nicht angezogen und schlechter Laune und ganz Wirthschaftsdrachen . Die ersten Anläufe , die ich in einer Aufregung nahm als handle es sich um Tod und Leben , verliefen resultatlos . Einmal traf ich Alice bei ihr . Ein ander mal fuhr sie mich gleich , als ich eintrat , unsanft an . Endlich kam ein günstiger Moment . Sie war im Schlafzimmer bei dem kleinen Brüderchen , und ich hörte sie mit ihrer hellen Stimme eines ihrer hübschen Lieder singen : » Brüderlein fein , Brüderlein fein , ach es muß geschieden sein . « So lange meine Mutter sang , vergaß ich das Stiefmütterliche in ihr . Und nun wußte ich auch einen Vorwand um einzutreten . Ich begreife heute noch nicht , daß sie nicht an meinem glühenden Gesicht , an meiner bebenden Stimme merkte , daß etwas Außerordentliches geschehen sollte . » Mama « , sagte ich mit fliegendem Athem ( ganz gegen meinen Vorsatz hatte ich das Wort » Mutter « nun doch nicht über die Lippen gebracht ) » Mama soll ich nicht Fritzchen wiegen ? « Eine Bergeslast fiel mir von der Brust . Es war vollbracht . » Komm in einer halben Stunde wieder « sagte meine Mutter nicht unfreundlich , aber ganz gleichgültig . Sie spielte mit dem Kinde weiter . Ich stand noch ein paar Minuten und wartete – wartete ! Es mußte doch etwas geschehen ! es mußte doch . Als sie sich nach einiger Zeit umwendete , und mich noch immer dastehen sah , sagte sie schon etwas schärfer : » Aber so geh doch « – » Ja Mama . « Und ich ging langsam , ganz langsam , zögernd hinaus , immer noch hoffend – immer noch hoffend ! Nichts geschah . Nichts. O Gott , meine Mutter hatte es gar nicht bemerkt , daß ich nie Mama zu ihr gesagt und sie hatte auch jetzt nicht bemerkt , daß ich es that . Ich legte diese tiefe , bitterste Enttäuschung zu den übrigen und weinte mich am Halse des Kindermädchens aus . Seitdem habe ich oft Mama gesagt , aber ohne Hoffnung und Erregung . Wie wenige Eltern wissen etwas von der Psyche ihrer Kinder . Wer hat sich je um das , was in mir vorging , gekümmert ? Weil ich verblödet war , mußte ich dumm sein . Meine Wortkargheit war Trotz . Mein Fernstehen von den Geschwistern – Herzlosigkeit . Die Mama war ja selbst in ihrer Jugend von ihrer Mutter tüchtig geknufft worden , und sie hatte sich nichts daraus gemacht , und nicht im entferntesten daran gedacht es ihr nachzutragen . Unsere Großmutter . Wie sich meine Eltern dieser Großmutter gegenüber verhielten , ist auch eine Illustration zu ihrer naiven , culturfremden Art und Weise . Die Mutter meiner Mutter , eine sehr einfache arme Frau , bewohnte im Norden Berlins vier Treppen hoch , ein kleines Stübchen , Sie webte und strickte für Geld . Der Zuschuß , den sie von meinen Eltern erhielt – zehn Thaler monatlich – reichte nicht ganz für ihre Existenz aus . Sie war ein kleines , behäbiges , runzliches Altchen mit freundlichen blauen Augen und einer schwarzen Hornbrille . Meine Mutter hatte ihr ein schönes Kleid geschenkt von blaugrüner Changeant-Seide . Das blieb aber bei uns im Schrank hängen , und wenn sie uns besuchte – es geschah alle vier Wochen – so zog sie das dürftige Wollenkleid , mit dem sie kam , aus , und das seidene an , und wenn sie ging fand ein abermaliger Kleideraustausch statt . Ebenso wurde es mit einer stattlichen Haube gehalten . Großmutter saß bei uns den ganzen Tag strickend , und behaglich auf einem Lehnstuhl , und Mittags gab es jedes Mal Gänsebraten , weil sie den so gern aß , und Abends wurde ihr das Gerippe von der Gans mit einem Töpfchen Gänseschmalz in einem Korbe mitgegeben , weil sie das zu gern aß . Und sie freute sich so über das Gerippe , besonders wenn noch viel daran war . Einmal im Jahr , zu ihrem Geburtstag im Dezember , besuchte meine Mutter sie und nahm uns ältere Kinder mit . Wir freuten uns immer sehr auf diesen Ausflug , einmal weil unser Weg uns über den Weihnachtsmarkt führte , und dann – es war eine so neue , fremde Welt für uns , das Stübchen in der entlegenen Gegend mit dem Blick auf irgend einen verwilderten Garten , und die Hühnerstiege , die hinaufführte . Es war ein richtiges Abenteuer . Und riesig nett war der große schwarze Kachelofen und die Bunzlauerkanne mit dem heißen Kaffee , der für uns in der Röhre bereit stand . Und der Webstuhl ! Wir brachten immer einen großen , eigengebackenen Napfkuchen mit , und ohne den kleinsten Skrupel aßen wir selber diesen Kuchen bis auf das letzte Krümchen zum Kaffee auf . Heute noch könnte ich darüber weinen , wie wehmüthig nach unserm Fortgehen , die alte Frau auf den leeren Teller geblickt haben mag . Du mußt nun nicht etwa glauben , daß meine Eltern aus Geiz oder Hartherzigkeit das Altchen in so dürftiger Lage ließen . Meine Mutter gab sogar sehr gern . Ich bin überzeugt , sie glaubten vollauf ihrer Pflicht zu genügen . Hätte die alte Frau mehr verlangt , sie würden es ihr sicher gegeben haben . Und die Großmutter selbst habe ich nie anders als heiter und rosig gesehen , dankbar für das kleinste Geschenk und völlig zufrieden mit ihrem Schicksal . Von der Zeit an , wo ich fließend lesen konnte , las ich mit Leidenschaft . Ich verschlang jedes Buch , dessen ich habhaft werden konnte , gleichviel ob Schauerroman und Räubergeschichte , ob Schiller oder Goethe , ob eine Nieritz'sche Erzählung für die Jugend , oder ein lüsterner Liebesroman . Leider befanden sich im Bücherschrank Wieland's Werke . Ich glaube ich habe die meisten davon vor meinem elften Jahr gelesen . Daß ich dieser Leidenschaft nur verstohlenerweise nachgehen durfte , steigerte sie ins Krankhafte . Mit völligem Unverstand hatte mir meine Mutter das Lesen ein für allemal verboten , wahrscheinlich nur , weil es mir Freude machte . Ein erzieherischer Gedanke hat bei dem Verbot nicht mitgewirkt . Von Erziehung hatte die Mutter keinen andern Begriff , als daß die Kinder für begangene Unarten abzuprügeln seien , je nach der Schwere der Unart mit leichten Streichen bis zu einer herzhaften Rohrstock-Exekution . Wenn meine Eltern , was nicht allzuoft geschah , Sonntags in's Theater gingen , freute ich mich unsinnig darüber . Unvergessen bleibt mir einer dieser Abende . Ich hatte ein Buch angefangen , ein himmlisches . Es hieß » Veronika oder der Blutschleier « . Wahrscheinlich stammte es von einem unsrer Dienstmädchen . Den Inhalt hab ich vergessen . Dem Titel nach muß es etwas ganz blutrünstig mysteriöses gewesen sein . In erwartungsvollem Entzücken schlug mein Herz , als meine Eltern sich zum Ausgang rüsteten . Kaum hatte die Thür sich hinter ihnen geschlossen , so stürzte ich auf das Buch , jedes Wort mit grenzenloser Gier verschlingend . Ich sah nichts , ich hörte nichts , ich empfand nicht die Flucht der Stunden , bis ich plötzlich mit einem Schrei aufsprang . Jemand hatte mir das Buch aus der Hand gerissen , und schlug es mir um die Ohren : meine Mutter . Ich habe das Buch gesucht , tagelang , wochenlang , mit dem Heißhunger einer Verschmachtenden . Es blieb verschwunden . Lange , lange hat der Gram um Veronika mit dem Blutschleier an mir genagt , bis allmählich andere Bücher die Erinnerung an den Blutschleier verdrängten . Im Wohnzimmer stand der mit Glasthüren versehene Bücherschrank , auch ein Erbstück vom Großvater ; meine Eltern hätten sich schwerlich jemals Bücher angeschafft . Gewöhnlich war der Schrank verschlossen . Eines Tages aber hatte man den Schlüssel stecken lassen . Durch die Thüren hatte ich längst die Titel der Bücher gelesen . Zwölf Bände , in blauen Pappedeckeln geheftet , hatten meine Neugierde gereizt : » Tausend und eine Nacht . « Es waren die Originalmärchen , nicht eine für die Ingend bearbeitete Ausgabe . Ich nahm eins der Bücher heraus , zog den Schlüssel ab , und versteckte ihn , ebenso erfolgreich wie das Buch selbst . Das Abenteuer mit Veronika hatte mich gewitzigt . Ich las drauf los , in den Zwischenstunden in der Schule , im Haus , im Garten , sobald ich nur vor den Argusaugen meiner Mutter sicher zu sein glaubte . Die Kindermädchen , die mich immer gern hatten , leisteten mir Vorschub dabei . Mehr und mehr versank die wirkliche Welt vor mir . Und das war die Zeit , wo ich mit Ungeduld darauf wartete , daß man mich zum Wiegen der kleinen Geschwister rufen sollte . Lesen konnte ich da freilich nicht , aber schwelgen im Nachgefühl der süßen Märchen voll schimmernder Pracht , und Variationen dazu konnte ich ersinnen . Ich trug die Nachtlampe ins Nebenzimmer , so daß es im Schlafzimmer geheimnißvoll schummrig wurde , und nur der Laternenschein von der Straße her zitternde Schatten an Decken und Wände malte . Es ist ein Instinkt der menschlichen Natur den Schmerz abzustoßen . Ich suchte und fand das Heilmittel in meiner Einbildungskraft , eine glühende , blühende , nie rastende , immer schaffende . Je rauher die Wirklichkeit , je intensiver je leidenschaftlicher meine Träume . Sie saugten meine ohnedies schwache Willenskraft ganz auf . Ich wurde lässig , träge . Ich konnte stundenlang auf dem Rücken liegen , zur Zimmerdecke emporstarrend , am liebsten im Dunkeln . Im Sommer , wenn wir Kinder zum Zubettgehen gerufen wurden , versteckte ich mich , und lag dann auf einer Gartenbank , unter dem Sternenhimmel , träumend – träumend – träumend ! Ich habe vor einiger Zeit einen englischen Roman gelesen , in dem , vermittelst eines Zaubertrank's , ein und derselbe Mensch in zweierlei Gestalt auf Erden wandelt : als kleiner , krüppelhafter Bösewicht und als schöner , edelgesinnter Jüngling . So bestand ich eigentlich auch aus zwei Hälften . Mit dem Zaubertrank der Traumwelt war ich ein wundervolles Geschöpf , ohne den Trank ein armseliges Aschenputtel , das Erbsen lesen mußte – unter Thränen . Vor allen Lebendigen , Menschen und Thieren , hatte ich Scheu und Furcht . Nie vor Naturvorgängen , auch vor den wildesten nicht . Ich liebte den Sturm , der durch die Bäume rauscht und rast , Donner und Blitz liebte ich und Wolkenbrüche und blutrothe Sonnenuntergänge . Das waren ja Märchen in Bildern , in Tönen , in Farben . Ich liebte aber auch den Mond , ihn vor allem . Mit dem hatte ich ein intimes Verhältniß . Oft wenn er schien , stand ich auf aus dem Bett , um zu schauen , wie er so eilig , eilig durch die Wolken dahinfuhr , Wolken , die als formlose phantastische Ungeheuer sich über ihn hinwälzten ; und wenn er dann aus all dem wilden Spuk in großer , stiller Silberpracht wieder emportauchte , war ich förmlich stolz auf meinen lieben Mond . Ich wäre so sehr gern mondsüchtig gewesen . Entzückend dachte ich es mir , ganz triefend von Mondlicht mit geschlossenen Augen , über die Dächer , in einem langen weißen Nachthemd mit himmelblau seidenen Bändern , hinzugleiten . Keine Hoffnung . Ich war kerngesund . Nur traumtrunken . Es gab Tage wo ich gar nicht nüchtern wurde . Ich versuchte auch ab und zu meinen Traumgeschichten Form und Gestalt zu geben . Im Garten wußte ich ein verstecktes Plätzchen mit Bank und Tisch . Dahin trug ich Blumen , Gräser , Steine und Sand . Aus Sand und Steinen baute ich eine Burg , um die ich von Buchsbaum eine Mauer pflanzte . Drinnen hauste ein böser Zauberer , ( eine haarige Distel ) der hielt ein Königskind , die Prinzessin Vergißmeinnicht , gefangen . Zwei Hofdamen , Nelke und Tulpe , bewachten sie . Um die Burg herum grub ich einen Graben , den ich mit Wasser füllte . Im Wasser schwamm eine ausgehöhlte Kastanie , das war der Nachen . Im Nachen saß Prinz Rittersporn . Der wollte das Königskind befreien . Aus Gräsern hatte ich ein Leiterchen geflochten . Auf dem Leiterchen stieg kühnlich , nächtlicherweile , der Prinz hinauf zum Schloß am Meer , und leis und süß in der Nacht sang er ein lockend Lied . Und schon wollte das Prinzeßchen in seine Arme fliegen , da erschienen die Hofdamen mit dem bösen Zauberer , und der Zauberer berührte den Prinzen mit seinem Stab , und der Prinz rief : wehe ! wehe ! und stürzte hinab und ertrank . Und Prinzeßchen Vergißmeinnicht klomm hinauf in den höchsten Thurm , sang hoch oben noch ein Schwanenlied , so furchtbar patetisch , daß ich ganz heiser davon wurde , und sie rief auch wehe ! und stürzte auch hinab und ertrank auch . War ich besonders heiter gestimmt , so ließ ich die Liebenden wohl auch , vermittelst des Kastanien-Kähnchens entkommen , und der Zauberer und die Hofdamen büßten ihre Unthat als Wasserleichen . Das waren meine Sommer- und Gartenmärchen , die immer in unendlichen Variationen dasselbe Thema behandelten . Im Winter hatte ich ein anderes Spiel . Eine eiskalte Kammer , neben dem Zimmer wo ich mit meinen Schwestern schlief , war der Schauplatz meiner Thaten . Ich schnitt mir die Figuren aus allerhand Bilderbogen aus , wie sie gerade in meinen Besitz gelangt waren , die Figuren aus Wilhelm Tell , den Hugenotten , Don Carlos , Egmont u. s.w. Entweder waren es auch wieder Märchen , die ich mit ihnen aufführte , oder ich spielte Schule mit ihnen . Ich hatte Lieblinge unter ihnen , und auch solche die ich nicht leiden mochte . Ich hielt aber streng auf Gerechtigkeit . Ein höchst albernes Spiel , das ich ersann , betrieb ich mit Leidenschaft . Ich breitete in bunter Reihe die Figuren auf dem Tisch aus , und dann nahm ich irgend ein Gedicht vor , etwa : » ich weiß nicht was soll es bedeuten , daß ich so traurig bin , « und auf welche Figur ein Wort mit einem » a « traf , die durfte sich hinaufsetzen . » Ich weiß nicht was « – – Du Prinzessin Eboli-erste ! » soll es bedeuten , daß « – – Du Egmont zweiter u. s.w . Und ich war ganz betrübt , wenn auf meine Lieblinge kein » a « traf , und sie immer tiefer bis zu den untersten Plätzen herabrutschten , mannhaft aber widerstand ich der Lust zu mogeln . Die Kammer war mein Tabernakel , nur lebte ich in steter Angst , daß die Mama oder die Geschwister hinter mein Geheimniß kommen könnten . Und richtig , der Verräther schlief nicht , vielleicht war meine Mutter auch von selbst auf mein häufiges Verschwinden in die Kammer aufmerksam geworden . Eines Tages wurde plötzlich die Thür aufgerissen , und Mama ertappte mich en flagranti . Sie hatte einen Stock in der Hand , und ich glaube heute noch , daß es ihr leid that keinen Grund zu finden mich abzuprügeln . Sie mochte geglaubt haben , daß ich heimlich entwendete Näschereien in der Kammer verzehrte oder sonst einen verbotenen Schmuggel darin trieb . Eine peinliche Durchsuchung der Kammer fand statt . Meine schönen Bilderbogen und Figuren wurden als alter Plunder ins Feuer geworfen . Um den Herzog Alba oder den Tyrannenknecht Geßler hätte ich mich nicht sonderlich gegrämt , dem Marquis Posa aber , dem Clärchen und manchen Andern weinte ich bittere Thränen nach . Von der Kammer wurde der Schlüssel abgezogen . Ach ja Arnold , ganz wie Mignon hatte ich oft genug mein Brot mit Thränen gegessen , ich hatte die kummervollen Nächte weinend auf meinem Bett gesessen ! Ich machte sogar ein Gedicht auf meine Thränen . Willst Du es hören ? Ach weh' , ich arme kleine Marlene , Schuf denn der Herr für mich allein die Thräne ? Was that ich , daß er nimmer mag vergeben , Daß immer – immerzu ich weinen mußte ! Verweinen so ein ganzes , langes Leben . ( Ich war 11 Jahre alt . ) Als ich , ein Kind , in sehnsuchtsvoller Liebe Die Arme nach den Mutterarmen streckte , Da – nicht aus fremden , nein aus Mutteraugen Des Hasses tödtlich kalter Blick mich schreckte . Da war vollbracht der große Riß im Herzen Gesunden kann ich nie von diesen Schmerzen . Den Morgen grüßt ich stets mit feuchten Augen , Den Sternen sagt ich Lebewohl in Thränen Und Nachts in düstren Träumen wähnt ich An eis'gen Marmor meine Stirn zu lehnen . Ach keiner zählt sie , meine heißen Thränen . Sie rinnen – rinnen bis zum Meer sie schwellen Und in den bitt'ren Schmerzenswellen Ertrinkt mein Herz . Mit den Reimen , da haperte es ; immer sind sie mir schwer geworden . Die Versfüße aber flossen mir wie Wasser von den Lippen . In meinen Gedichten – komischen Angedenkens – schrack ich vor nichts zurück , selbst nicht vor einem Prometheus , mit dem ich mich kühnlich verglich , unverzagt meine Leber dem Geier preisgebend . Lange Zeit hatte ich einen heißen Wunsch : ich wollte in eine Pension kommen . Es war die Sehnsucht nach einem Zuhause , das ich im elterlichen Hause nicht fand . So leidenschaftlich wurde mit der Zeit dieser Wunsch , daß ich mir ein Herz faßte , und ihn meinem Vater vortrug , an einem Sonntag Vormittag bei dem Apfelkuchen ohne Schlagsahne . » Ja , warum denn nicht ? sagte er gleichmüthig , ich werde mit Mama darüber reden . « Er redete auch wirklich mit Mama darüber , in meiner Gegenwart . » Die Marlene möchte gern in eine Pension « sagte er ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen . Ihre einzige Antwort war : » Die Pippe ist wohl ganz verdreht geworden . « Damit war die Sache abgethan . Mit etwas Zähigkeit und Energie hätte ichs wahrscheinlich durchgesetzt , mit Schmeicheln sicher . Alice setzte ja alles durch , was sie wollte . Mir fehlte gänzlich der Instinkt der Selbsterhaltung , der Instinkt mich durchzusetzen . Ich senkte nur immer den Kopf , und » die Pippe plinzt schon wieder « , lachten meine Brüder . Hin und wieder gab es aber doch , selbst in unserm gemüthlosen Daheim freundlich stimmungsvolle Momente . Wenn an Festtagen der Duft des eigengebackenen Kuchens durch das Haus zog , wenn zu Pfingsten die frischen Birkenreiser über alle Räume sonnige Heiterkeit verbreiteten . Und die ersten Veilchen im Garten ! Und die Nußernte im Herbst von unsern Nußbäumen . Und Sonntags die weißen Kleider , und der Bisquitpudding mit Apfelmus , Speisen , die Niemand so zu bereiten verstand wie meine Mutter . Und Weihnachten ! Da wurde ja die Wirklichkeit mit ihren Geheimnissen , mit den seligen Schauern der Erwartung geradezu ein Märchen . Der Weihnachtszauber bewährte sich sogar an meiner Mutter . Einkaufen , immer kaufen , das war ihre größte Lust . Und darum war ihr Wesen in der Weihnachtszeit wie ausgetauscht . Selbst für ihre Feinde , die Dienstboten kaufte sie mit Lust ein . Und wie sie die Weihnachtstafel zu arrangieren verstand ! Mit einem Dekorationstalent ohne gleichen wußte sie die billigsten Ausverkaufsstoffe zu Prachtgewändern aufzubauschen . Und immer war es in meiner Erinnerung weiß zu Weihnachten , weiß von Schnee . Ich meine es schneit jetzt nicht mehr so viel wie früher . Der Schnee gehörte dazu , und die Kurrendeschüler auch . Jetzt ist ja auch Weihnachtszeit , und während ich am offenen Fenster sitze und schreibe , flöten unten auf der Straße ein Paar Pifferari auf ihren seltsamen Instrumenten . Wehmuth und Plaisir ist in ihren Tönen , viel Schelmerei und etwas Herzweh . Dazu die lustige , enge Straße , auf der es von Menschen und Fuhrwerk kribbelt und krabbelt , und auf dem Pflaster der gleißende Sonnenschein , und die mit Flitter , Lammfellen und Lumpen bunt ausstaffirten Knaben . Wie anders die Kurrendeschüler ; die kamen meist in der Dämmerung , und zogen singend von Hof zu Hof , und in ihren weiten schwarzen Mänteln mit den großen Kragen , wirkten sie fremdartig , geheimnißvoll , als wären's Abgesandte aus dem Stall von Bethlehem . Und der Schnee , der auf sie nieder rieselte – wenn es gerade schneite – schien sie langsam einzusaugen , während ihr : » Heilige Nacht ! stille Nacht « ferner und ferner erklang ( von den Nachbarhöfen her ) bis es allmählig verhallte . Trotz der vielen Geschwister und trotz der Schule war ich ein einsames Kind , krankhaft scheu , ob von Natur oder durch die Verhältnisse so geworden , ich weiß es heut noch nicht . Die Schule war es , die mich zeitweise aus meiner Versunkenheit weckte , wenigstens dann , wenn die Unterrichtsstunden nur einige Anregung boten . Das Bewußtsein , dumm zu sein , das man mir so energisch beigebracht , hätte mich vielleicht noch tiefer deprimirt , wenn die Schule nicht gewesen wäre . Da galt ich merkwürdigerweise für sehr begabt . Von Kindern , die später hervorragende Persönlichkeiten wurden , weiß man meist Excentrisches , Kampflustiges zu erzählen , und wie sie über die Stränge schlugen . Ich schäme mich fast zu gestehen , daß ich kaum je über die Stränge schlug , daß ich im Ganzen ein kreuzbraves , kleines Mädchen war . Aber warte einmal – einiger Frevel entsinn ich mich doch . An einem Abend , an der Wiege meines Brüderchens war's . Von der Straße her fiel der Laternenschein auf etwas Gelbes , daß in dem nischenartigen Doppelfenster des Schlafzimmers stand : der Rest des sonntäglichen Bisquitpuddings . Eine unwiderstehliche Begierde nach dieser Leckerei packte mich . Vielleicht war ich gerade hungrig . Hätte ich nur ein Messer oder einen Löffel gehabt , um etwas davon abzuschneiden , so fein glatt , damit die Mutter es nicht merken konnte . In die Küche gehen , und unter irgend einem Vorwand ein Messer holen , das wagte ich nicht . Da – eine teuflische Einflüsterung . Ich zog eine Haarnadel aus meinem Zopf , und ritsch , ratsch , ein tüchtiges Stück fiel mir in die Hand . So köstlich hat mir kaum je etwas gemundet , wie dieses Stück Pudding , das ich in der Mitte des Zimmers stehend , die Augen starr auf die Thür gerichtet , in Angst und Hast , unter Gewissensbissen , verschlang . Merkwürdigerweise galten die Gewissensbisse mehr der Haarnadel , mit der ich so unästhetisch in den Pudding gefahren war , als der That selbst . Mein Verbrechen blieb unbemerkt , aber nicht ungerochen . Einige Tage darauf hatte eine Schulbekannte , Klärchen Buschberg , mich zu einer Kindergesellschaft eingeladen . Klärchen hielten wir alle für sehr vornehm , weil sie ein goldenes Armband trug . In Wahrheit war sie die Tochter eines Destillateurs . Zum Abendessen gab es eine süße Speise , die noch viel wunderbarer schmeckte als unser Pudding , so prachtvoll wie ich nicht gedacht hätte , daß es irgend etwas in der Welt gäbe . Theils aus Schüchternheit , theils um den Genuß in die Länge zu ziehen , aß ich langsam , langsam , immer nur ein halbes Löffelchen in den Mund schiebend , und dabei schielte ich mit Begierde auf den zurückgeschobenen Teller meiner Freundin Pauline , der die Speise zu süß war , und dachte : ach könnte ich doch nachher diesen zweiten Teller auch haben . Da wendete sich plötzlich die Hausfrau zu mir : » Quäle Dich doch nicht mit der Speise , Kleine , ich sehe ja , sie schmeckt Dir nicht , sie ist auch wirklich zu süß . « Sagt 's und zieht mir den Teller fort . Mit Mühe hielt ich meine Thränen zurück , wagte aber doch nicht den Irrthum aufzuklären . Im Leben ist mir keine Speise zu süß gewesen . Das war die Sühne für meine Genäschigkeit . Und wenn ich gerade an diesem Tage einen neuen Frevel verübte , so wirkte vielleicht ein instinktives Rachegefühl wegen der mir so grausam entrissenen Speise mit . Wir schwätzten von Schulangelegenheiten . Frau Buschberg fragte halb scherzhaft wie viele Tadel wohl ihr Klärchen in der letzten Woche erhalten habe . Aus ihrem Ton hörte man heraus , daß sie nur an Lobe dachte . » Die meisten in der Klasse , « antwortete ich , unbesonnen ; und gleich einem Rad , das einmal angestoßen nicht mehr aufzuhalten ist , fuhr ich fort Klärchens sämmtliche Schulsünden zu enthüllen , und es war eine hübsche Quantität . Ich schwelgte förmlich in ihrer Herzählung . Erst das allgemeine Stillschweigen , Klärchens Thränen , und daß mich meine Freundin Pauline unter dem Tisch derb auf den Fuß trat , brachte mich zum Bewußtsein meiner Abscheulichkeit , die ich heute noch nicht begreifen kann , denn das mit dem instinktiven Rachegefühl ist Unsinn . Eher hatte ich aus jener geistigen Schlaffheit herausgeschwatzt , die ebensowenig zur rechten Zeit ein Wort finden , als es zur rechten Zeit unterdrücken kann . Es war als gehorchte ich einem mechanisch mich zwingenden Vorgang im Gehirn . Kann ich nicht auch heute noch plötzlich und unzeitig geschwätzig werden , trotz meiner gewöhnlichen Schweigsamkeit ? Die Erynien folgten meiner fluchwürdigen That auf dem Fuße . Frau Buschberg gab mir beim Abschied nicht die Hand , Klärchen weinte immerfort , und Paulinchen war böse mit mir . Ich kam mir entehrt , gemein vor . Ich hätte gern mit Blut die Schande abgewaschen . Ich faßte darnach eine Abneigung gegen Klärchen . Es irritirte mich schon , wenn ihr Armband klirrte . Und daß ihr Vater nur Destillateur war , trug ich ihr auch hinterher nach . Dieser Seitensprung ins Böse paßte so gar nicht zu meiner sonstigen Bravheit . Selbst harmlose Ungezogenheiten pflegten mir Gewissensbisse zuzuziehen . Da hatten wir einen affektirten Lehrer , der einmal sagte , die gelbe Farbe sei ihm zuwider , weil gelb die Farbe des Neides sei . Die Schülerinnen verabredeten , am andern Tag sammt und sonders mit einer großen , gelben Blume im Gürtel zu erscheinen . In der einen Hand brachte ich nun zwar eine gelbe Georgine mit – ich kann ja nie nein sagen – in der andern aber hatte ich ein heimliches Veilchensträußchen , das ich dem Lehrer aufs Pult legte . Und als er die Veilchen nahm , sah er mich an . Er hatte errathen . Das machte mich froh . Ein anderer Lehrer , der den französischen Unterricht gab , hatte eingeführt , daß bei der Versetzung in eine höhere Klasse , die Versetzten zum Abschied ein beliebiges französisches Gedicht aufzusagen hätten . Die argen Mädchen kamen überein , alle dasselbe Gedicht zu deklamiren , ich glaube es hieß » Der Abschied der Maria Stuart « und endigte mit den Worten : » Te quitter ( unter dem te war Frankreich verstanden ) c'est mourir « . Sämmtliche Schülerinnen betonten nun mit verhimmelnder Gebärde das » te « , es auf den Lehrer beziehend ! Ich zog mich aus der Affaire , indem ich zwar das » te « betonte , das » quitter « aber nicht minder , und überhaupt das ganze Gedicht mit tiefgefühltem Pathos vortrug . Nachher fragte mich der Lehrer , ob ich etwa Schauspielerin werden wollte ? Der Gedanke war mir noch nicht gekommen . Schauspielerin werden ! Herrlich wär 's gewesen . Ich dachte aber in der Folge nicht ernstlich daran . Die Mama würde es ja doch nie erlauben . Seitdem aber deklamirte ich alle möglichen klassischen Monologe in Grund und Boden . Alles was in der Schule zu lernen war , lernte ich spielend . Es war so wenig . Die Lehrer waren zum größten Theil Seminaristen die selber nur über Elementarkenntnisse verfügten . In den oberen Klassen gab es allerdings 2–3 studierte Lehrer , meist alte Herren , die ich heut noch im Verdacht habe , daß man sie – als eine Art Altersversorgung und weil sie unzulänglich für Knabenschulen waren – den belanglosen Mädchenschulen überwiesen hatte . Frei von Leiden war aber auch die Schule für mich nicht . Es gab da einige Lehrer , die sich ungebührlich betrugen , unter andern der Schreiblehrer , ein ältlicher , blasser , fetter Herr , den wir durch alle Klassen mitschleppen mußten . Wenn er die Schrift der Schülerinnen verbesserte , oder ihnen auf die erste Seite eines neuen Schreibheftes in schönen Schnörkeln einen Schwan zeichnete – die Schwäne waren wirklich reizend – pflegte er sich , da der Platz für zwei zu eng war , dicht an die Schülerin anzupressen , indem er seinen linken Arm um ihre Taille schlang , und sie dabei scherzhaft in die Seite kitzelte . Da ich einer seiner Lieblinge war , wurde ich besonders oft und lebhaft gekitzelt , und ich ängstigte mich schon immer , wenn er in meine Nähe kam . Eines anderen Gebahren war noch unziemlicher – und mein Klavierlehrer – und der alte Geheimrath , unser Hausarzt – – widrige Bilder . Eine Abwehr kam mir gar nicht in den Sinn , nur ein instinktiver Schauder ließ mich vor frechen Berührungen zurückbeben . Viel , viel später erst kam mir die Gewissenlosigkeit solcher Ungebühr zum Bewußtsein , und mit Staunen erinnerte ich mich , daß diese ältlichen Herren gute respektable Familienväter von bestem Rufe waren . Die Gesittung unserer Zeit ist noch immer so barbarisch , daß selbst die sorgsamste , zärtlichste , wissendste Mutter ihr Kind nicht vor derartigen Widrigkeiten schützen kann . Außer dem Unglück mit der nie ganz verschmerzten , blutschleierigen Veronika verdankte ich meiner Lesepassion auch in der Schule ein böses Abenteuer . Eugène Sue beherrschte in jener Zeit die Literatur . Es war von nichts anderem als von den Geheimnissen von Paris die Rede . Es scheint , daß selbst meine Mutter sie las . Den Märchen war ich , die Elfjährige , entwachsen . Die Geheimnisse von Paris fielen mir in die Hände ; ich las sie , wo möglich mit noch brennenderer Leidenschaft als früher Tausend und eine Nacht . Wie der alte Professor und Direktor unserer Schule darauf verfiel , an die Schülerinnen die Frage zu richten , wer von ihnen die Geheimnisse von Paris gelesen habe , ist mir räthselhaft . Aber er stellte die Frage und meine Brust schwoll vor Stolz , als ich – nach damaligem Brauch den Zeigefinger hoch emporhebend – mich meldete , die einzige aus der Klasse . Sehr sonderbar sah mich der Professor an , und bestellte mich nach Schulschluß ins Conferenzzimmer . Ahnungslos betrat ich es . Und nun brach es los , das siedende Donnerwetter . Ich erfuhr , daß ich durch ein schweres , kaum fühnbares Vergehen meine Seele beschmutzt habe , und daß nur Gottes Gnade sie wieder reinwaschen könne . Er , der Professor würde sich eher beide Hände abhacken lassen , als einem Kinde ein solches Schandwerk in die Hände geben . Ich hatte nur Thränen und Schluchzen als Antwort , muß aber doch zum Lobe meiner Instinkte sagen , daß ich keine besondere Reue empfand , und mich auch nicht besserte . Dieses brutale , gewissermaßen mit den Fäusten moralisieren , hatte mich nur betäubt . Derartige Romane warfen mir einen zu großen Genuß ab . Kurz darauf las ich den » ewigen Juden « von Sue , mit der gleichen fieberhaften Spannung wie die Geheimnisse , würde mich aber vorkommenden Falles wohl gehütet haben den Rückfall in mein Verbrecherthum dem Direktor zu melden . Gewiß waren diese Bücher so unangemessen wie möglich für Kinder . Ich war doch aber schuldlos daran , daß niemand sich um meine Erziehung bekümmerte . Ich schöpfte aus diesen Büchern weder Weltnoch Menschenkenntniß . Daß irgend ein Zusammenhang bestehen könne zwischen den Romanen und der Wirklichkeit kam mir nicht in den Sinn . Ich saugte nur Nahrung für mein Phantasieleben daraus . Ich hatte auch gar keine Zeit das Gelesene auf mich wirken zu lassen , darüber nachzudenken oder zu grübeln . Kaum war ein Buch zu Ende gelesen so hatte ich schon ein anderes beim Wickel , und immer noch las ich verstohlen und in wilder Hast . Siehst Du , siehst Du , und daher kommt es , was Du mir so oft vorgeworfen hast , daß ich auch heut noch nicht zu lesen verstehe ; nichts halte ich fest , nichts prägt sich mir ein . Was für sonderbare Widersprüche eine Menschenseele birgt . Trotz meiner Verträumtheit und Weltfremdheit war ich ein so verliebtes kleines Geschöpf . Eigentlich schwärmte ich jeden meiner Lehrer an , der mich nur einigermaßen für seinen Unterricht zu interessiren verstand , vielleicht eine unbewußte Dankbarkeit für die Stillung eines geistigen Hungers . Oder klang vielleicht doch eine kleine Note der ersten erwachenden jungen Sinnentriebe mit ? Ein leises Sehnen war dabei , mich dem Angeschwärmten anzuschmiegen , mich liebkosen zu lassen . Sicher hatte auch die Lektüre so zahlloser Liebesgeschichten , besonders Wielands , meine Phantasie nach dieser Richtung hin beeinflußt . Die Hauptsache aber war , daß all die zurückgestaute Zärtlichkeit meiner Kindheit in mir rumorte ; die wollte an den Mann gebracht sein , ja – an den Mann . Etwas beschämt gestehe ich , daß ich geradezu eine Abneigung gegen den Austausch von Zärtlichkeiten mit meinen Schulfreundinnen hatte , und diese Abneigung gegen weibliche Liebkosungen ist mir geblieben . Meine erste Verliebtheit – ich war gerade elf Jahre alt – galt unserm Tanzlehrer . Ach Gott , der Tanzlehrer war ein armer Wurm vom Corps de Ballet , noch ganz jung , schlank und biegsam wie ein Rohr , mit langem schwarzem Gelock , schwarzen Augen und bleichem Gesicht , der reine Roman-Vampyr . Wahrscheinlich wurde er auf der Bühne vorzugsweise für junge Teufel oder Erzengel verwandt . Er erschien stets im Frack , weißer Binde , Lackschuhen und gestickten Strümpfen ; unter dem Arm die Geige . Wunderschön fand ich ihn , märchenprinzenhaft . Und wenn er mit mir tanzte , mich mit dem einen Arm umschlingend , mit dem andern die Geige hochhaltend , war mir ganz erzengelhaft zu Muthe . Unterhalten haben wir uns nicht miteinander . Nur einmal sagte er : » Schade Fräulein Marlenchen , daß Sie schon so alt sind . « Er meinte zu alt um Tänzerin zu werden . Im Stillen wunderte ich mich , daß er nicht das kleinste Wörtchen von Entführung fallen ließ . Ein Wink , ein Wort und ich wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt . Meine Gefühle schweiften immer gleich ins Schrankenlose , und ich bin überzeugt , es waren nur glückliche Zufälle , die mich vor nicht wieder gutzumachenden Thorheiten bewahrten . Ich meine noch heute , je unschuldiger und phantasievoller ein Mädchen ist , je wehrloser ist es , nicht nur anderen gegenüber , sondern auch gegen sich selbst . Nur ein Unrecht , das begriffen wird , vermeidet sich leicht . Der Kinderball mit dem die Tanzstunde schloß , kostete mir wieder Thränen . Alice und ich , wir hatten weiße Mullkleider bekommen . Alice trug dazu eine rosenrothe Schärpe und Achselschleifen von derselben Farbe , im Haar Rosenknöspchen . Ich mußte mich mit einer Schärpe und mit Bändern von unbestimmter , murkliger Farbe begnügen , aufgefärbtes Zeug . Und richtig – der treulose Tanzlehrer tanzte mehr mit Alice als mit mir , was ich natürlich auf ihre rosenrothe Garnitur schob . Als die Tanzstunde aufgehört hatte , vergaß ich den jungen Corps de Ballet-Gott in wenigen Wochen . Meine zweite Liebschaft fand kein so harmloses Ende . Er hieß Wilhelm , war 15 Jahre alt , und der Freund des Bruders einer Schulbekannten . Ich hatte ihn einige Male im Hause der Schulfreundin getroffen . Er besuchte das Gymnasium , das in unmittelbarer Nähe unserer Mädchenschule lag . Wir begegneten uns täglich , er sprach mich aber niemals an , bestritt vielmehr seine Huldigungen mit tiefen Bücklingen und noch tieferen Blicken . Einmal waren wir zusammen in einer Kindergesellschaft bei der Freundin . Die Pfänderspiele mit der Auslösung der Pfänder durch Küsse , waren damals ungemein beliebt . Und wenn nun Wilhelm » Schinken schneiden « mußte , und » winken wen er lieb hatte « winkte er mir , und wenn er » in den Brunnen fallen « mußte , ließ er sich von mir erlösen , wie es die Spielpflicht gebot , immer durch Küsse . Ich gab sie mit völliger Gleichgültigkeit . Nämlich : ich konnte meinen Wilhelm eigentlich nicht leiden , aber gar nicht . Der Junge war ja noch blöder als ich selber . Daß er nie mit mir sprach , war zu langweilig . Trotzdem nahm der Roman seinen Fortgang . Er bat mich um eine Locke . Ich konnte niemals » Nein « sagen . Einer meiner Brüder war mit dem Sohn eines Blumenfabrikanten befreundet ; er hieß Eduard , und liebte mich auch . Diesem Eduard übergab ich ein Haarsträhnchen von mir mit der Bitte daraus eine Locke zu formen und sie mit einem künstlichen Vergißmeinnicht zu schließen . Es war so hübsch wie wir die Köpfe zusammensteckten und intriguirten und wisperten und geheim thaten . Und Eduard , der so großmüthig war , daß er ohne mit der Wimper zu zucken , die Vergißmeinnicht-Locke so wunderschön für seinen Nebenbuhler herrichtete ! In der Folge aber erwies er sich doch nicht ganz so edel wie ich ihn taxiert hatte . Er hatte nämlich aus der Haarsträhne zwei Locken mit zwei Vergißmeinnicht verfertigt , und die größte Locke für sich behalten . Mein Bruder verrieth es mir . Die Locke wurde Wilhelm durch die vermittelnde Freundin heimlich zugestellt , zugleich erbat ich mir eine Gegenlocke . Wieder ein feuriges Briefchen von ihm : er könne an sein Glück gar nicht glauben , und bäte nur um eine einzige Zeile , die ihm sagen solle , ob er daran glauben dürfe . Und flugs antwortete ich ihm , und die Antwort schrieb ich in einer Schulstunde . Eingeäzt in meinem Gedächtniß stehen diese Zeilen : » Ich kann Ihnen versichern , daß es mein innigster Wunsch ist eine Locke von Ihnen zu besitzen , und wie glücklich Sie mich durch die Erfüllung meines Wunsches machen würden . « Der schöne Brief gelangte nie in Wilhelm's Hände . Herr Schulze , der Lehrer trug uns gerade die französische Revolution vor . Er war so loyal . Jedesmal , wenn der Kopf der blonden Prinzeß Lamballe auf der Pike in Sicht kam , öffneten sich die Schleusen seines zornigen Schmerzes , und sämmtliche Mädchen zogen ihre Taschentücher heraus , um mitzuschneutzen . An diesem Tag aber ließ er plötzlich das fürstliche Haupt mit der Picke im stich , und – ritsch , ratsch riß er mir das Papier aus der Hand . Er hatte gemerkt , daß ich Allotria trieb . Mir brach fast das Herz vor Entsetzen . Mit zitterndem Zorn denke ich noch heut an die Art und Weise wie man diese Kinderei ahndete . Meine Mappe wurde einer Durchsuchung nach weiteren Schandthaten unterworfen . Man fand , außer einem Apfel , nichts als eine Copie des Göthe'schen Verses : » Nur wer die Sehnsucht kennt , weiß was ich leide . « Mit einem » Aha ! « wurde es conficirt . Unglaublich aber wahr , Herr Schulze hielt mich für die Verfasserin des Gedichts , und bezog die Sehnsucht auf den Adressaten meines Briefes . Warum er auch den Apfel einzog weiß ich nicht . Wieder mußte ich in das Conferenzzimmer kommen , und wieder erging eine donnernde Rede über meine frühzeitige Verderbtheit , und der Lehrer legte mir Gedanken und Gefühle unter , von denen nicht der leiseste Hauch in mir war . O , diese Folterknechte , der Kinderseele ! Das Schlimmste aber war , daß er mir drohte meine Eltern von dem Frevel in Kenntniß setzen zu wollen . Meine Eltern , das hieß meine Mutter , denn mein Vater bekümmerte sich um interne Angelegenheiten absolut nicht . Die nächsten Tage verbrachte ich in nicht auszudenkender Qual . Wird Schulze kommen ? Wird er nicht kommen ? Und diese Folter dauerte drei Tage . Ein junges Weib das Ehebruch verübt hat , und vor der Entdeckung steht , kann nicht verzweifelter sein , als ich es war . Ich sehe mich noch in den rauhen Herbsttagen ruhelos im Garten umherlaufen , mit gerungenen Händen : » Gott , Gott wenn es möglich ist , laß diesen Kelch an mir vorübergehen . « Der Kelch ging nicht vorüber , Schulze kam . Eine furchtbare Viertelstunde für mich , während er drinnen mit meiner Mutter sprach . Im Garten war zum Glück kein Teich , ich hätte mich sicher ertränkt . Was auf die Petzerei dieses feinfühligen Pädagogen folgte , blieb hinter meinen blutrünstigen Phantasien zurück . Was waren die paar Püffe im Vergleich zu der vorangegangenen Seelenqual . Und daß ich wirklich , wie meine Mutter behauptete , Schande über die Familie gebracht habe , leuchtete mir nicht ein . Die tragische Begebenheit befreite mich nebenbei von dem langweiligen Wilhelm , was ich einige Wochen später als eine Wohlthat empfand . Auf dem Heimweg von der Schule geschah es , daß ich mich abermals verliebte , an der Ecke der Friedrich- und Kochstraße . Ich schlenderte , mit der Schulmappe baumelnd , gedankenlos dahin . Als ich einmal aufsah , ging eben ein hochgewachsener Mann an mir vorüber . Er trug einen weiten , grauen Mantel mit Kragen , hatte einen röthlich blonden Vollbart und blaue Augen , wunderbare , strahlende . Sein Mantel streifte mich , er sah an mir vorüber in die Ferne hinaus . Ich blieb wie angewurzelt stehen , und starrte ihm nach . Das war er ja , er , die Verkörperung all meiner Träume . Ich liebte ihn sofort , ich liebte ihn unaussprechlich . In abergläubischen Momenten glaube ich auch heute noch , das war der mir von der Vorsehung bestimmte Gatte , meine Ergänzung . Und er war an mir vorübergegangen . Und ich habe ihn nicht wieder gesehen – nie . Viele Wochen blieb ich täglich auf dem Heimweg , an der Ecke der Koch- und Friedrichstraße stehen , und wartete , wartete – ich wartete eigentlich immer auf ihn , bis ich Dich fand . Und wer weiß , vielleicht habe ich mich später in meinen Mann verliebt , nur weil er , als ich ihn zum er sten Mal sah , einen weiten , grauen Mantel trug , wie jener geheimnißvolle Fremde . Ich hatte nur übersehn , daß dieser Mantel über dem großen Kragen noch einen kleinen schwarzen Sammetkragen hatte – und daher vielleicht – – ach Unsinn – – – In meinem elften Jahr war ich ganz erwachsen , und doch noch ganz ein Kind , ein weltfremdes . Ueber die Entwicklungsjahre kam ich ohne jede physische Störung fort . Es gährte in mir von strotzend frischer Jugendkraft . Zuweilen spielte ich mit den Geschwistern Räuber und Prinzessin , Blindekuh oder der Plumpsack geht herum , aber ohne rechte Lust . Ich drückte mich immer so bald ichs konnte . Und blieb ich in der Dämmerung eine Weile im Garten allein , dann brach es los in mir , eine zitternde , brausende , entzückende Daseinslust . Ich raste , tanzend , springend , mit ausgebreiteten Armen durch den Garten bis ich über und über glühte . Ich streifte die Aermel auf , warf das Halstuch ab , und mit meinen nackten Armen umschlang ich die Bäume ; und schien gar der Mond , mein süßer Mond , so schwebte und schwärmte ich sommernachttraumtrunken , elfenreigenhaft , puckartig durch die Gartengefilde , obwohl Salatköpfe und Petersilie sich auf die » Gefilde « nicht recht reimten . Immer mußte ich zu Aeußerungen meines Innenlebens allein sein , ganz allein . Kam jemand dazu , verstummte gleich alles in mir . In dieser Zeit geschah etwas Schreckliches , Schicksalsvolles . In der zweiten Etage unseres Hauses wohnte eine Offiziersfamilie . Ein Verwandter oder Freund der Familie , ein Dragonerlieutenant kam öfter in den Garten . Ich bemerkte , daß er mich , wenn ich in seinen Gesichtskreis trat , auffallend fixirte . Warum thut er das nur ? dachte ich . Ich fragte das Kindermädchen darnach . Wenn ich irgend etwas wissen wollte , waren es immer die Kindermädchen , an die ich mich wandte . » O Kind , Kind , sagte sie , nimm Dich in acht , das ist ein Mädchenjäger . « Was ist denn das ein Mädchenjäger ? fragte ich gespannt . Sie wollte nicht mit der Sprache heraus . Ich trug das Wort mit mir herum , grübelte darüber , und stellte mir allmählich unter einem Mädchenjäger eine Art Rattenfänger von Hameln vor – jedenfalls etwas wildschreckliches , basiliskenartiges , das arme Vögelchen ins Verderben lockt . Aber gerade das reizte mich . Ich setzte mich jetzt zuweilen absichtlich den Blicken des Dragoners aus , in banger Neugierde auf irgend etwas romantisch Schauriges , das geschehen würde . Der Lieutenant pflegte immer nur Nachmittags in den Garten zu kommen . An einem Abend aber , in tiefer Dämmerung , als ich wie ein Nachtfalter umherschwirrte , kam er mir entgegen . Ich – im vollen Lauf , hatte keine Zeit mehr ihm auszuweichen . Er fing mich in seinen Armen auf , und – küßte mich . Es muß ein abscheulicher Kuß gewesen sein . Er erschütterte mich bis auf den Grund . Er nahm mir Die Unschuld der Sinne . In wilder Flucht lief ich davon . Ich schlich mich oben ins Kinderzimmer , drehte die Lampe aus , wickelte mich , obgleich es warm war , in ein Tuch , und lag lange , lange , fiebernd im Dunkeln auf dem Sopha . Nur im Dunkeln bleiben , nicht ins Helle kommen !