Erstes Kapitel » Sie wird nicht weinen , nein , sie wird nicht weinen , « sagte Arnold von Herebrecht vor sich hin und legte die Faust schwer auf das vor ihm ausgebreitete Schriftstück . Dies trug ein kaiserliches Siegel und die Unterschrift des Marineministers . Der Inhalt des Schreibens kam übrigens dem Empfänger nicht unerwartet ; längst wußte man , daß die Korvette » Maria « im Herbst eine zweijährige Reise anzutreten habe , um die neuen Kolonien zu besuchen , und dort vielleicht so Schutz wie Besitzvermehrung bewirken solle . Auch daß ihn , den Kapitän zur See von Herebrecht , diesmal der Ruf treffen würde , unter den das Schiff begleitenden Offizieren zu sein , hatte er wohl vermutet , aber kein Wort von dieser Voraussicht war ihm seinem Weibe gegenüber von den Lippen gegangen . Jetzt jedoch mußte er ihr die Berufung , der schon nach acht Tagen die Trennung zu folgen hatte , jetzt mußte er sie ihr mitteilen . Er stand langsam auf , das Papier knitterte unter seiner Faust , die er wie zur Stütze beim Erheben auf Schriftstück und Tischplatte belassen . Er besann sich , wie er es ihr sagen solle und was sie antworten würde . » Sie mag es lesen , « entschied er sich endlich . Er fühlte es wohl , daß ihr dann Zeit bleibe , eine höfliche , ja vielleicht eine gütige Antwort zu finden , während dem gesprochenen , raschen Wort » Ich gehe « ebenso rasch ein froher Ruf folgen konnte . Die Thür , welche von dem Arbeitszimmer des Kapitäns in das Wohngemach seiner Frau führte , ging langsam auf , Adrienne , die am Fenster saß und nähte , hob nicht einmal die tief auf die Arbeit geneigte Stirn . Herebrecht stand , am Thürpfosten gelehnt , eine Weile still und überschaute das Bild , das ihm sein Weib , sein Kind und sein Heim so boten . Die Stube hatte zwei Fenster , welche auf eine der engen und überaus geräuschvollen Straßen Kiels sahen ; Sonnenschein fand hier keinen Eingang , denn wenn das Zimmer auch nicht nach Norden gelegen hätte , würde die gegenüberliegende nahe Flucht der hohen Häuser doch jeden Sonnenstrahl abgewehrt haben . Die Möbel , welche durch Form und Ueberzug verrieten , daß sie höchstens zwei Jahre alt sein mochten , waren ebenso weit von Eleganz wie von Dürftigkeit entfernt und zeigten in ihrer ganzen Anordnung jenen erschrecklichen Allerweltsgeschmack , der es verbietet , aus dem Gepräge eines Wohngemachs auf die Liebhabereien der Bewohner zu schließen . An der Hauptwand befand sich ein Sofa , davor auf mäßig großem Teppich ein Tisch mit Decke und epheuumkränzter Alabasterschale , über dem Sofa ein Bild der Königin Luise von Richter ; rechts und links vom Tisch standen zwei nie benützte Lehnstühle ; dann an der einen Wand ein verschlossenes Piano und an der andern ein Damenschreibtisch , dessen Platte jedoch von peinlich symmetrisch geordneten Nippes besetzt war . Die Zwischenräume an den Wänden waren von Stühlen ausgefüllt , die so von allen vier Seiten ihre Sitze und Vorderbeine steif von der Mauer dem Stubeninnern zukehrten wie in einem Wartesaal , weniger zum Sitzen einladend , als ihr vorschriftsmäßiges Dasein zeigend . Auf den beiden Fensterbrettern standen einige blütenlose Topfgewächse ; vor dem einen Fenster , zwischen den weißen Gardinen , saß die junge Frau an einem Nähtischchen und nähte , die Hand wie eine bezahlte Nähterin mit unermüdlicher Gleichmäßigkeit hebend und senkend . Dieses Bild , in immer derselben Färbung des sonnenlosen Lichts auf den graubraunen Möbeln , dem dunklen Frauengewand und dem rötlichen Weiberkopf , sah Arnold von Herebrecht so schon seit zwei Jahren , er mochte eintreten , zu welcher Tageszeit er wollte . Nur einmal hatte es sich verändert : da fehlte die nähende Frau vier Wochen an ihrem Fensterplatz , und als sie ihn wieder einnahm , stand neben ihr eine Wiege mit dem schlummernden Söhnchen . Das war jetzt ein Vierteljahr her . Nun , da ihm dies einförmige Gemälde eines regelmäßigen Frauendaseins vielleicht zum letztenmal vor Augen trat , da vor seinem geistigen Auge schon das farbenspielende Meer und die glühende Tropenwelt aufstiegen , sagte er sich plötzlich : » Es ist wahr , ihre Tage waren unendlich gleichtönig . « » Adrienne , « sprach er , » Du hast so oft eine Veränderung unseres Lebens ersehnt , hier die Kunde einer sehr bedeutungsvollen . « Er trat zu ihr und reichte ihr den Einberufungsbefehl . Sie nahm und las . In ihr feines weißes Gesicht stieg ein Erröten . Es war das einzige Zeichen einer innern Bewegung , denn mit einem ruhigen Aufblick ihrer dunklen Augen reichte sie ihm das Papier zurück . Sie schwieg . Sein männliches Gesicht , das durch einen großen Bart und peinlich straff aus der Stirn gebürstetes Haar ohnehin einen Eindruck von Strenge machte , wurde noch herber , seine kurzsichtigen , scharfen Augen kniffen sich zusammen , wie es seine Art war , wenn er jemand durchdringend ansehen wollte . » Du hast kein Wort ? « » Was soll ich dazu sagen ? « fragte sie entgegen . » Dein Kaiser ruft , es ist Deine Pflicht und Dein Beruf , zu gehorchen . « » Freust Du Dich , daß ich gehe ? « sagte er wider Willen halblaut und mit einem gewissen Drängen in der Stimme . Sie sah ihn traurig an . » Nein , « antwortete sie , » ich freue mich nicht . Wie sollte ich auch ? Während Du hier warst , konnte ich doch hoffen , daß irgend ein Zufall , irgend eine dienstliche oder andere Veränderung in Deinem Dasein auch das meine mit freundlicher gestalten könne . Nun Du gehst , wird meine Abgeschiedenheit vollends zur Klausur werden . « » Liebes Kind , « sagte er mit Milde , » ich will Dir nicht wiederholen , was wir schon bis zum Ueberdruß besprochen haben , daß es nämlich durchaus unnötig , ja , daß es geradezu eigensinnig von Dir war , auf all die kleinen Freuden des Lebens verbittert zu verzichten , die doch auch andere Menschen in gleich unseren bescheidenen oder noch bescheideneren Verhältnissen finden . Eine Aenderung von außen erhoffen , hieße ein Wunder vom Himmel erwarten . « » Ja , « rief sie , während allmälich zwei rote Fleckchen auf ihren Wangen entbrannten , » ja , es war ein Wahnsinn , dergleichen zu hoffen . Unabänderlich – unabänderlich ! Das ist das krächzende Wort , das mir jeder Tag zuschreit . Du wirst in Deiner Berufslaufbahn den Schneckengang , den üblichen , vorwärts gehen , trotz allem Ernst , trotz aller Fähigkeit . Während wir noch jung sind , während wir genießen könnten , heißt es , mit der kleinen Gage reichen und noch davon zu erübrigen , um Deinem Bruder Zuschüsse zu gewähren . Du bist arm , ich bin arm , und von keiner Seite haben wir Erbschaften zu erwarten . Nein , Arnold , ich wollte die kleinen , kargen , lügnerischen , mühselig ersparten Vergnügungen nicht , mit denen andere in solcher Lage das Dunkel ihres Daseins erleuchten wie mit Talglichtern . Ich will ein ganzes , ein helles , großes Glück . « Sie brach in Thränen aus und legte die Stirn auf die Fensterbank . Arnold trat zu ihr und streichelte ihr mitleidig das Haar . » Armes Kind , « sagte er mit seiner tiefen Stimme , » armes , irrendes Kind ! Du liebst mich nicht , deshalb kann Dich auch meine Liebe nicht reich machen . « » Du liebst mich ? « rief Adrienne mit bitterem Auflachen . » Seltsame Art , mir das zu zeigen . Fürwahr , ein strenger , nie befriedigter Erzieher warst Du mir ; von Liebe , von jener heißen , nie ermüdenden Liebe , die ich geträumt habe und in deren Glanz ich auch mit trockenem Brot hätte zufrieden sein wollen , von jener Liebe , die im andern den Gegenstand höchster Anbetung sieht , habe ich nie etwas bemerkt . « » Weshalb hätte ich Dich denn aber zur Gattin gewählt ? « fragte er mit mehr Sanftmut , als ihm sonst bei solchen Scenen eigen war . » Weil Du ein großmütiger Mensch bist und das arme junge Ding Dich dauerte , welches bei Deinem Vorgesetzten die unartigen Kinder beaufsichtigen mußte und sich ihr karges Brot selbst zu verdienen hatte , was ihr auch nicht an der Wiege gesungen worden war . Und diese Deine Großmut blendete mich , ich sah in Dir einen Helden und Gott ... bis ... ja , bis ich in der schnell geschlossenen Ehe erkannte , daß Du ein Pedant bist ... was sag' ich , ein Pedant ? eine Statue ohne Wärme , schön und mannhaft anzuschauen , aber kalt ! « sprach die junge Frau . » Die Liebe eines Mannes , ich habe es Dir oft gesagt , kann sich nicht in steten Versicherungen und Schwüren , nicht in immer neuen Huldigungen und Umwerbungen äußern . Sieh , in unserer eisernen Zeit , in der Ueberfülle von Existenzen , wo immer eine die andere verdrängen möchte , weil ihrer zu viele sind für die Aufgaben der Menschheit , in unserer Zeit der Arbeit ist nur wenigen Männern die Muße vergönnt , die Ritterlichkeit , die auch in ihrer Liebe wohnt , dem Weibe so unermüdlich zu zeigen , wie ihr Geschlecht mit natürlichem Wunsch zu begehren gewohnt ist . Der Mann von heute muß von dem Weib von heute mehr Vertrauen fordern , als unsere Vorfahren zu beanspruchen brauchten . Ihr müßt uns auch ohne immerwährende Beweise glauben , und wir können von euch leichter verraten werden . Bedenke die Einrichtungen des modernen Lebens und gib mir Recht . Ich hatte in meinem angestrengten Dienst und meinen außerdienstlichen wissenschaftlichen Arbeiten keine Zeit , mit Dir zu tändeln , ich mußte auf Dein Vertrauen zu meiner Liebe rechnen . Du aber mußt hinwieder auf mein Vertrauen zu Deiner Liebe zählen , nun , da ich fern bin und Du mir weder Liebe noch Treue augenfällig beweisen kannst . So , Hand in Hand , Vertrauen fest an Vertrauen gefügt , so ist die Liebe der Menschen von heute , so sollte sie sein , und im Getümmel des Daseinskampfes genügt ihr ein treuer Blick als Verständigung . « Auf seinem Gesicht lag ein feierlicher Ernst . Sein Weib neigte das Haupt . Was sollte sie ihm antworten ? Daß er in der Zeit , wo er ihr diese und ähnliche lange , ohne Zweifel kluge und wahre Reden gehalten hatte , sie lieber hätte herzlich küssen und mit ihr scherzen sollen ? Scherzen ? Arnold ? Undenkbare Vorstellung ! Kaum daß sein Ernst je einmal durch ein Lächeln unterbrochen wurde . » Und daß ich Dich häufig tadelte , « fuhr er liebevoll fort , » das , mein Kind , wirst Du mir danken , wenn die ser da , der sein Leben vorderhand noch verschläft , ein erziehungsbedürftiger Mensch wird . Du hattest keine Mutter gehabt seit Deinem zehnten Jahr , Du wuchsest in einer Pension auf , die Dein älterer , reicher Stiefbruder aus Gnade bezahlte , denn auch Dein Vater war verarmt , noch ehe er starb , und das große Vermögen seiner ersten Frau ging auf deren einzigen Sohn über . Das verbitterte schon Deine Kinderseele . Und als dann auch Dein Stiefbruder starb , wolltest Du von seiner Witwe , die ihn beerbte , keinen Heller mehr nehmen . Du , selbst noch unerzogen , gingst schon in die Welt , andere zu erziehen . So fehlten Deinem Wesen überall die letzten weiblichen Abrundungen . Es war meine Pflicht , Dich darauf aufmerksam zu machen . « Ja , « sagte Adrienne mit jener plötzlichen Selbsterniedrigung , die zuweilen weiblichem Trotz folgt und niemals wahrhaftig gemeint ist , » ja , ich bin viel zu dumm und zu jung für Dich , und undankbar obenein . « Er schüttelte wie in Ungeduld verzagend den Kopf . » Vielleicht wird Dir in der langen Trennung begreiflich , « sprach er , » daß wir doch besser für einander passen und glücklicher mit einander sein können , als es jetzt scheinen will . « Beide Gatten schwiegen einige Minuten , dann fragte Adrienne mit ermüdeter und gleichgiltiger Stimme , bis wann Arnold sein Gepäck an Bord haben müsse und ob Joachim vorher noch kommen solle . » Nein , « entschied der Kapitän nach kurzem Bedenken , » abgesehen davon , daß wir in diesem Augenblick unnütze Ausgaben vermeiden müssen , weil ich für Dich und das Kind Umsiedlungspläne habe , zu denen Du Geld brauchst , abgesehen also davon , würde dem guten Jungen nur das Herz schwer werden , wenn er ... « Es wollte nicht heraus , dies : » Wenn er sähe , wie frostig mein Weib mich eine Reise um die Erde antreten läßt . « Adrienne verstand aber die unausgesprochenen Gedanken ihres Gatten . Sie wußte , daß Arnold an seinem jüngeren Bruder mit großer Liebe hing , die dieser mit abgöttischer Verehrung erwiderte . Demütig sagte sie : Du solltest ihn doch kommen lassen . Wenn Du fort bist , kann ich mich leicht noch mehr einschränken und so das Geld , was die Reise kosten wird , schnell wieder sparen . « » Nein , « meinte der Kapitän bedrückt , » lassen wir das ! Es ist mein Wunsch , daß Du während meiner Abwesenheit etwas mehr vom Leben siehst , als es bisher geschehen konnte . Du wirst meine Gage wie jetzt regelmäßig empfangen , die Kommandozulagen , welche wir auf Reisen beziehen , werden für meine Bedürfnisse genügen , Dir bleibt also , nach dem üblichen Abzug für Joachim , mein ganzer Gehalt , was sonst für mich , Dich und Baby reichen mußte , für euch allein , Du kannst Dich einigermaßen rühren . « » O Arnold , « sagte sie traurig , » dann wollen wir doch lieber das , was jetzt weniger gebraucht wird , für Baby zurücklegen . « » Wie Du willst , « sprach er gütig , » aber erinnere Dich , wenn Dir Wünsche erwachen , meiner Einwilligung . « Adrienne brach zum zweitenmal in Thränen aus . » Mir sind ja doch keine Freuden bestimmt , « sagte diese heftige Thränenflut . Arnold glaubte alles gesagt zu haben , was in dieser neuen Wendung ihres Lebens ihren Sinn zufrieden und gerecht machen konnte , und mit einem Seufzer verließ er das Zimmer . Er nahm wieder seinen vorherigen Platz an seinem Schreibtisch ein , legte sich Briefpapier zurecht und begann mit der Unverzüglichkeit , welche vielschreibenden Leuten eigen ist , einen Brief an seinen Bruder ; kaum daß er die Unterschrift darunter gesetzt , schob er den Bogen zurück und setzte die sichere , rasche Feder auf ein zweites Blatt , zu der Anrede » Hochverehrte Frau ! « Der Brief an seinen Bruder lautete : » Mein guter Joachim ! Was wir seit einiger Zeit erwarteten , wird Thatsache werden : in acht Tagen gehe ich mit der › Maria ‹ nach den neuen Kolonien , wahrscheinlich auf zwei Jahre . Ich lade Dich nicht ein , vorher um Urlaub zu bitten , so sehr ich auch wünschte , persönlich von Dir Abschied nehmen zu können . Du verstehst meine Gründe ohne weiteres , wenn ich Dir sage , es ist mein Wunsch , daß Adrienne eine Reise mache . Leider Gottes , mein Junge , haben wir von Jugend auf gelernt , lernen müssen , uns in alles zu finden , was unsere Armut uns verbot . Freilich weigert Adrienne sich vorderhand und zeigt Neigung , in ihrer einem gewissen Trotz gegen die Verhältnisse entsprungenen Apathie zu verharren . Aber dennoch hoffe ich , daß sie , wenn nicht früher , im kommenden Sommer Fanny Förster aufsuchen wird . Du weißt , ich habe die Stiefschwägerin meiner Frau nur ein einzigesmal , gelegentlich meiner Hochzeit , gesehen , allein einen so bleibenden und bedeutenden Eindruck von ihr empfangen , daß ich von dem Verkehr mit dieser Frau eine tiefgehende Wirkung auf Adrienne erhoffe . Um Dir die Wahrheit zu sagen , ist meine Frau nach der Geburt unseres Jungen etwas trübselig geblieben ; Blutarmut und Nervosität haben die ohnehin an ihrem Gemüt hängenden Schwergewichte noch herabziehender gemacht , und ich bin sicherlich zu ernst und zu beschäftigt , um einer so jungen , gedrückten Frauenseele die Munterkeit zurück zu geben . Ich lasse sie so allein zurück , daß mir bangt . Was kannst Du ihr schließlich sein ? Ich bitte Dich wenigstens , schreibe ihr jede Woche und wirke auf sie ein , daß sie zu Fanny Förster geht , der ich noch heute in dieser Angelegenheit schreibe . Ohne allen Zweifel würde , wenn Adrienne nach Mittelbach geht , Fanny Förster Dich einladen , Deinen sonst bei uns zugebrachten Urlaub bei ihr zu verleben . Nimm das ohne Zögern an , Du kannst es , denn auf Mittelbach wird eine so große Gastfreundschaft geübt , daß ein Besuch mehr oder weniger im Jahr nicht ins Gewicht fällt . Adrienne hat in ihrem Herzen jene unpersönliche und doch so persönlich wirkende Verstimmung gegen Fanny Förster , wie arme Verwandte es so oft gegen die nächste Familie hegen , wenn diese reich ist . Kämpfe damit , besiege das , steh ihr im Geiste bei gegen sie selbst . Adrienne wird Dir Deinen Monatszuschuß , wie gewohnt , an jedem ersten schicken . Sollte ihr oder unserem Kind etwas ankommen , nimmst Du Urlaub und eilst zu ihr . Zu diesem Zweck lege ich hier eine längst dafür ersparte Summe bei . Leb wohl , mein Junge ! Ob wir uns wiedersehen , weiß Gott allein . Aber denke nur an mich in Liebe und Freudigkeit , Joachim , denn das kannst Du . Hier zum Abschied will ich 's Dir sagen , daß ich es voll anerkenne und achte , wie Du Dich durch Dein junges Leben wacker geschlagen hast und tapfer an den Versuchungen rechts und links vorbeigingst . Das ist nicht leicht , ich weiß es , denn ich habe es auch durchbeißen müssen . Oft habe ich es bereut , daß ich Dich Landwirt werden ließ , denn bei unserer Vermögenslosigkeit ist keine Aussicht , daß Du zu Eigenem kommst , außer durch eine reiche Heirat , und diese , wenn sie nicht durch tiefste Herzensneigung bestimmt ist , widerrate ich Dir ernstlich . Bleibe , was Du warst : ein Herebrecht , das heißt ein Mann von Ehre . Und wenn ich nicht mehr heimkomme , mache meinen kleinen Joachim auch dazu . Hab mein Weib , Deine Schwester , immer lieb , wenn nicht aus eigener Wahl , so doch um meinetwillen . Im Leben und im Tod Dein Arnold . « Und an Fanny Förster hatte er dann folgendes geschrieben : » Hochverehrte Frau ! Obschon unser ganzer Verkehr sich auf den Austausch von Glückwünschen beim Jahreswechsel und Geburtstagen beschränkte , ein lockerer Verkehr , der nur etwas lebhafter wurde durch die herzliche Teilnahme , welche Sie meiner Frau nach der Geburt des kleinen Joachim bezeigten , richte ich doch eine Bitte an Sie . Nicht weil Sie die einzige Verwandte meiner Frau sind , sondern weil ich erkannt zu haben glaube , daß Sie mehr Verständnis für Situationen und Charaktere haben , als andere Frauen aufzubringen vermögen , bitte ich Sie , nehmen Sie Adrienne für die Zeit meiner Abwesenheit in Ihren Lebenskreis auf . Ich gehe mit der › Maria ‹ nach den Kolonien , es kann zwei Jahre dauern . Sie wissen , daß Adrienne sich innerlich dagegen auflehnte , Ihren verstorbenen Gatten oder Sie zu lieben . Sie wollte nicht dankbar sein . Aber nun , da Adrienne , wenn auch nur die Gattin eines armen Kapitäns , doch immerhin selbständig ist , nun mögen sich leichter freundliche Beziehungen zwischen Ihnen anbahnen . Keineswegs möchte ich Ihnen das Wagnis zumuten , Adrienne in Ihr Haus aufzunehmen ; meine Frau würde eine so lang dauernde Gastlichkeit doch wieder als Almosen empfinden . Aber ich denke , in der Nähe Ihres Gutes mag es irgendwo ein Häuschen oder in einem Pfarrhause ein paar Zimmer geben , wo mein Weib sich mit Kind und Dienerin einmieten kann . So ist sie doch in Ihrem Kreise und wird Ihrem Wesen nahe kommen . Vielleicht auch ergründen Sie , hochverehrte Frau , was es ist , an dem Adriennens Gemüt krankt . Ihnen will ich nicht verhehlen , daß sie von einer Unzufriedenheit niedergedrückt ist , die unmöglich allein aus dem Umstand kommt , daß wir in höchster Sparsamkeit leben müssen . Ich übergebe Ihnen mein Weib in dieser ernsten Stunde . Wenn irgend ein mal in unvorherzusehenden Angelegenheiten Adriennens ein männlicher Rat und Beistand nötig sein sollte , so ist es mein Bruder Joachim , der für sie eintritt . In acht Tagen reise ich ; ich weiß , es wird mit der Erleichterung sein , daß ich vorher Ihre Zusage erhielt . Oder wenn Umstände , die ich respektiren würde , auch ohne daß Sie mir dieselben erklären , Ihnen Adriennens Aufenthalt in Mittelbach nicht ratsam scheinen lassen , so werden Sie mir doch einen bessern Rat , als ich mir selbst wüßte , in Bezug auf Adrienne zu geben wissen . Ich grüße Sie in tiefer Verehrung als Ihr ergebener Arnold von Herebrecht . « Der Kapitän fühlte eine gewisse Erleichterung , nachdem er die beiden Briefe zur Post getragen hatte . Seine Gedanken , die beinahe nur verstohlen bei der Reise selbst zu verweilen gewagt hatten und sich bisher ausschließlich mit den Zurückbleibenden beschäftigten , eilten froh vorwärts . Herebrecht war seinem Beruf mit einer ernsten Leidenschaft ergeben ; er empfand diesen Reisebefehl als freudige Auszeichnung und gehörte überhaupt zu den Menschen , die von einem Unmut gegen sich und die Welt befallen werden , so lange sie einen Teil ihrer Kräfte nicht bis zur höchsten Leistungsfähigkeit anspannen dürfen . Jede neue Aufgabe bringt solchen Naturen eine ihnen sonst nicht eigene Art der Jugendfreudigkeit ; Adrienne , die im sinkenden Februarabend noch an ihrem Fensterplatz saß , über trostlosen Gedanken brütend , war nicht wenig erstaunt , den Gatten bei seiner Rückkehr ein bekanntes Seemannslied vor sich hinpfeifen zu hören . Es war das erstemal , daß sich eine innere Fröhlichkeit bei ihm laut äußerte . Adrienne wollte eine bittere Bemerkung machen , aber ihr Herz schlug in schmerzlicher Aufwallung so heftig , daß ihr die Worte versagten . » So , mein liebes Kind , « sagte er , sich in eine Sofaecke setzend , » an Joachim und Fanny Förster habe ich geschrieben . « » Warum denn an Fanny ? « » Komm hierher . Wir werden nicht lange mehr beisammen sitzen , laß uns ein Wort vernünftig sprechen , « bat der Kapitän mit einem gemütlichen Tonfall der Rede , der ihr auch neu war ; aber die Wendung , » ein Wort vernünftig sprechen « , kannte sie bis zum Ueberdruß , es hieß für sie » eine Strafpredigt « . » Wenn man seine Frau auf zwei Jahre verläßt , « dachte Adrienne , ihre Augen dem Stückchen bleigrauen Himmels zuwendend das oben über den Nachbarhäusern zu sehen war , » wenn man geht , vielleicht auf Nimmerwiederkehr , spricht man von Jammer , von Verzweiflung , aber gewiß nicht ein › vernünftiges ‹ Wort . « » Du antwortest nicht ? Du kommst nicht ? « fragte er sanft . » Laß nur , « murmelte sie , » ich höre ja auch hier . « » Seltsames Weib ! « dachte er ; » eine andere würde sich jammernd an ihren Gatten schmiegen . Sie bleibt steif und stumm am Fenster sitzen . « » Warum nimmt er mich nicht in seine Arme und zieht mich so mit Gewalt an seine Seite ? « dachte sie ; » ach , ihm liegt nichts daran . « Nach der Pause von Minuten , während welcher der schnell hereinbrechende Abend alles im Zimmer schwarzgrau umdüsterte , fragte Adrienne : » Nun – Du wolltest ja ein vernünftiges Wort mit mir sprechen ? « » Ja , ich wollte Dir die Vorteile für Dich auseinandersetzen , die Dir eine Uebersiedlung nach Mittelbach , in Fannys Nähe brächte . « Das Mädchen trat mit der Lampe ein , stellte sie auf den Tisch und sagte , während sie die Alabasterschale zum Piano trug : » Der Kleine schreit , soll ich ihm noch einmal die Flasche geben ? « » Laß nur , « antwortete die junge Frau , » ich thu' es selbst . « Sie erhob sich . Ihre mittelgroße , überschlanke Gestalt bewegte sich in schlechter Haltung , wie die jemandes , der sehr ermüdet und ganz widerstandsunfähig ist . In der Thür wandte sie sich halb um und sagte über die Schulter weg : » Mache Dir keine Mühe ; ich gehe nicht zu Fanny . « Das war nicht der Ton , in dem eine Frau widerspricht , die sich streiten will . Es war der Ton , den nur innere Unmöglichkeit findet . Herebrecht seufzte . » Die Apathie ist die Willensform der Schwachen , « murmelte er vor sich hin , » sie ist schwerer zu brechen als alle Heftigkeit des Denkens und Handelns . « Er beschloß , lieber nicht mehr auf diesen Punkt zurückzukommen , sondern der Einsamkeit und den Briefen Joachims und Fannys überredende Kraft zuzutrauen . Nach drei Tagen kam von Fanny Förster eine Antwort , sie mußte unverzüglich abgefaßt sein , denn das Gut Mittelbach lag in der Mark Brandenburg , zwei Stunden von der nächsten Eisenbahnstation entfernt ; die Postbeförderung geschah nur einmal täglich , so brauchte jeder Brief , wie Arnold aus Erfahrung wußte , anderthalb Tage . Die Schnelligkeit der Antwort erfreute ihn , die Kürze derselben , als er dann das Couvert öffnete , befremdete ihn aber . » Lieber Herebrecht , ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen . Schicken Sie mir nur Adrienne , wann und so lange sie will . Ihre Fanny Förster . « Das war alles . Herebrecht ging an seinen Schreibtisch , in dem auch seine Frau die wenigen Briefe verwahrte , die sie in ihrem Leben überhaupt bekommen hatte oder noch bekam . Da waren die Briefe Försters , des verstorbenen Stiefbruders , so wenige an der Zahl , daß man wohl sah , Förster hatte nur an die kleine Stiefschwester geschrieben , wenn vierteljährlich das Pensionsgeld eingezahlt werden mußte . Da waren auch Fannys Briefe – ein ganzes Paket . Herebrecht löste das umschließende Band und nahm Brief um Brief in die Hand . Die ersten , sehr langen Briefe , von der damals achtzehnjährigen Braut Försters an dessen elfjährige Schwester gerichtet , waren inhaltlich viel zu hochgespannt , verworren und phantastisch für das empfangende Kind gewesen , strömten aber von dem leidenschaftlichen Wunsch über , die Kleine in Liebe zu gewinnen . Jahr um Jahr ging die Korrespondenz fort , Brief um Brief ward klarer , gefaßter , kürzer . Diese Briefe brachten Arnold , der durchaus nicht die Neigung zu bildlichen Vergleichen hatte , dennoch auf eine seltsame Vorstellung : ihm war's , als sähe er eine ganze Schar verschiedener Gestalten auf einer schnurgeraden Allee dahinwandern und sich in der wachsenden , perspektivischen Entfernung mälich zu einer einzigen verschmelzen . Und obschon Fanny Förster in diesen Briefen niemals ein Wort von ihrem Innenleben verlor , soweit wenigstens es von Freuden oder Schmerzen etwa berührt gewesen sein mochte , so ließ sich doch aus all den schriftlichen Aeußerungen ein Schluß auf eine selten gesunde , kraftvolle und zielsichere Charakterabrundung machen . Und so erschien , da seit Jahren Fanny niemals ein Wort mehr als das Wesentlichste geschrieben , auch dieses letzte kurze Briefchen nicht mehr befremdend . » Die Frau sieht auch nicht aus , als ob sie viel weine oder viel grüble ; sie sieht nach Thaten aus , dachte der Kapitän und blätterte sich in einem Album das Bild Fannys auf , um es lange zu betrachten . Beim Mittagessen dieses Tages legte er seiner Frau schweigend das Briefchen hin . Diese las es , ohne eine neuerliche widerstrebende Bemerkung zu machen ; daß Fanny nicht viel bat und überredete , war ihr eine beruhigende Empfindung . Und so kam der Tag der Abreise heran . Das Leben im Hause zwischen den Gatten war bis zur letzten Stunde das gewohnte , schweigsam bedrückte gewesen . Der Kapitän war obenein in erhöhter Weise beschäftigt , teils dienstlich auf der sich zur Afrikareise rüstenden Korvette , teils mit der Ordnung seiner Papiere und seinen literarischen Beziehungen . Er suchte und fand ein großes Blatt , dem er Reisebriefe senden konnte . Diese Nebenbeschäftigung des rastlos thätigen Mannes galt der Sorge für sein Kind , für dessen Erziehung er schon jetzt alles zusammenzusparen begann , was seine Feder ihm einbrachte . Adrienne bemerkte auch , daß ihr Gatte jetzt öfter sinnend an der Wiege des kleinen Weltbürgers stand , schweren Ernst im Gesicht . Sie zwang sich , keine Notiz davon zu nehmen . Aber einmal , es war am vorletzten Tag , als der Kapitän lange stand und in die dunklen , schönen und gleichwohl des lichtesbewußten Ausdrucks noch entbehrenden Kinderaugen sah , schaute Adrienne doch zu ihm hinüber . Arnold hatte seine Hand sorgfältig auf das haarlose Köpfchen gelegt . Er seufzte tief . In seinen Augen war ein feuchter Schimmer . Es war das erstemal , daß Adrienne in diesen ernsten Augen Rührung sah . Ihr Blick verdunkelte sich , ihr Herz klopfte . » Mein Sohn ! « sagte Arnold leise . Und dann wie zu sich selbst lauter : » Kinder brauchen viel Herzenswärme . « Dann ging er schnell hinaus . Sein Weib verstand , was die Betonung auf » Kinder « sagen sollte – es hieß : sie können sich nicht wie ein Mann ohne Herzenswärme behelfen . Ein Vorwurf , wieder ein Vorwurf , immer Vorwürfe und nie die Erkenntnis , daß er kein Echo verlangen könne , wo er keinen Ruf ergehen ließ . Sie weinte – es waren die selbstbetrügerischen Thränen einer sich verkannt und nicht geliebt glaubenden Frau . » Nun , so lebe denn wohl , « sagte der Kapitän am nächsten Morgen , » die Stunde ist da , ich gehe . Gott beschütze euch mir , daß ich Dich und unser Kind wiederfinde , wenn ich heimkehre . « Er war sehr bleich und drückte die Hand seiner Frau mit schmerzhafter Festigkeit . Adrienne war keines Wortes mächtig . » Und wenn er sprechen lernt ... lehr ihn auch Papa sagen , « flüsterte er . Sie nickte heftig . Er umfaßte sie lange , innig . Auf ihre Stirn rann die Thräne eines Mannes . Sie erschauderte . Eine unendliche , fassungslose Bewegung ergriff sie , ihre Lippen lallten . Aber erst . als er schon , sich hastig dieser Qual entreißend , an der Thür stand , kam der Ruf » Arnold ! « aus ihrem Munde . Es war ein Ruf höchster Angst . Er eilte zu ihr zurück , er umfaßte sie noch einmal , und sein Gesicht an ihr Haar drückend , flüsterte er : » Versuche , daß Du mich doch noch lieben kannst . « Dann riß er sich wieder los . Eine Thür fiel ins Schloß , ein Schritt verklang im Korridor , und alles war stumm . Adrienne stand erstarrt . Thränen rannen ihr unbewußt aus ihren weit geöffneten Augen , dabei hatte sie das Gefühl , als könne sie nicht weinen . » Ich will an die Landungsbrücke gehen , « murmelte sie vor sich hin . Langsam kleidete sie sich für den Ausgang an . Durch den kühlen Februarmorgen schritt sie dem Quai zu ; je näher sie dem Hafen kam , um so mehr fand sie sich im Gedränge von Menschen , die dem gleichen Ziele zustrebten . An der Landungsbrücke zeigte es sich , daß diese gesperrt war , da von ihr aus noch durch eine kleine Dampfbarkasse ein letzter Verkehr mit der Korvette stattfand . Adrienne dachte nicht daran , sich als Offiziersgattin bei den wachthabenden Leuten zu melden , um auf der Brücke , wo schon einige andere Damen standen , gleichfalls einen Platz zu finden . Sie blieb im Gedränge eingekeilt stehen ; ein dicker alter Mann hinter ihr , der um jeden Preis vorn am Quairand stehen wollte , weil er einen Sohn dabei habe , wie er jedermann erzählte , drängte und drängte und stieß Adrienne dergestalt mit sich fort , daß sie sich endlich neben dem pustenden und schimpfenden Alten hart am Eisengitter des Quais befand . Zu ihren Füßen schob sich glitzernd Welle um Welle vorbei . Die weite Fläche der Meeresbucht , die sich am Ende der Stadt zum Hafen abrundet , war von zahllosen Fahrzeugen belebt ; kleine Dampfer schossen vom Kieler Ufer nach den Schiffswerften von Gaarden und nach dem Fischerdorf Ellerbeck hinüber . Schwarze Kähne mit geblähten rostbraunen Segeln kreuzten meerwärts ; zwischen den Kolossen der Kriegsschiffe verkehrten Boote und Barkassen , mit Matrosen bemannt ; weit aus der Stirn trugen diese die dunkelblauen Mützen mit dem breiten Randreifen , darauf zu lesen stand : » Kaiserliche Marine « ; von ihrem tief entblößten braunen Halse fiel der blaue , weiß umsäumte Kragen . Und mitten in dem eiligen Leben auf der stahlblau schimmernden Fläche lag die Korvette . Von ihrem Hauptmast wehte das Heimatwimpel , aus ihren Schloten wölkte sich schwarzbrauner Rauch auf , den ein Windstoß zuweilen mit widrigem Kohlendunst landwärts über den menschenbesäten Quai niedersenkte . Hüben und drüben lagen die hügelartig ansteigenden Ufer im kühlen Lichtglanz der Sonne , und dort links hinunter sah das Auge eine blaue , uferlose Ferne sich in einem blauen , leicht umdunsteten Horizont verlieren . Nun scholl von Schiff zu Schiff ein Kommandosignal , Dampfpfeifen kreischten auf . In den Raaen der stationirten Kriegsschiffe ward es lebendig wie in einem Spinnennest . Unzählige schwarze Gestalten kletterten darin umher , bis plötzlich auf ein neues Kommando Mann an Mann dort auf den Tauen in strammer Linie stand , als wäre der feste Boden unter ihren Füßen . So , im lebendigen Ehrenschmuck der Matrosenreihen in ihrem Tauwerk , erwarteten die Schiffe die Abfahrt der Maria . Wieder zerriß ein hohler , langgedehnter Pfiff die Luft – ein Ton , der die Menge am Ufer verstummen machte und für tausend Herzen wie ein Weheruf erklang . Die Korvette schien sich zu bewegen . Atemlose Spannung erfaßte die Menschen , die zuschauend standen . Da sank , langsam wie in wehmutsvollem Hinscheiden , das Heimatwimpel von seiner stolzen Höhe herab ; noch einmal wellte sich der lange Stoffstreifen in der Luft aus , dann glitt er , im Fall sich ballend , am Seil hernieder . Und zugleich sauste stolz , frei die deutsche Flagge empor , und nach scharfem Blitz vom Nachbarschiff donnerten die Salutschüsse über die Bucht , von Ufer zu Ufer widerhallend . Das hohle Krachen verschlang die Abschiedspfiffe der Maria . Langsam und groß fuhr das Schiff davon . Die Matrosen in den zurückbleibenden Schiffen , das Volk am Ufer – alles schwenkte Hüte , Mützen , Tücher . Aus thränengepreßten Kehlen schrieen Tausende Hurra und vermischten das Geschrei mit den Klängen der Nationalhymne , die eine Militärkapelle am Ufer spielte . Ein unermeßlicher Lärm erfüllte eine Minute lang die Lüfte , das Leid , die Freude , den Stolz , die Angst des Einzelnen verschlingend und sich doch vermählend zu einem Ruf , der ins Weltmeer und über alle Lande hinausdonnerte , den die deutsche Flagge da auf dem Ozean predigen wollte : » Mit Gott für König und Vaterland ! « Zweites Kapitel Adrienne war zum erstenmal in ihrem Leben einsam . Ihre frühe Jugend war in einer geräuschvollen Pension verflossen ; inmitten der lärmenden Gefährtinnen hatte sie sich allein gefühlt . Ihre jungen Mädchenjahre verlebte sie in vornehmen Häusern als Gesellschafterin oder Erzieherin ; auch da umgab sie sich mit einer unsichtbaren Mauer und glaubte sich allein , wie sie denn auch fortfuhr , ihr Wesen abzuschließen , sogar noch in der Ehe . Diese Art selbstgeschaffener Einsamkeit , die sie aus Trotz künstlich sich aufrecht erhielt , war ganz verschieden von dem ungestörten Alleinsein , zu dem sie sich jetzt gezwungen sah . Sie konnte ihre Bitterkeit nicht damit sättigen , daß sich der nebenan arbeitende Gatte nicht um sie bekümmerte . Sie konnte niemand auf eine etwaige freundliche Bitte antworten : » Ich danke , ich mag nicht unter so viele Menschen gehen ; « es forderte sie eben niemand zu einem Spaziergang , einem Theaterbesuch , einer Ausfahrt auf . Sie brauchte ihr innerliches Alleinsein von keiner Umgebung mehr abzutrotzen . Die Magd , eine gutmütige , beschränkte Person , waltete ihres Amtes als Köchin und Kindswärterin zugleich in tadelloser Gewissenhaftigkeit . Das Kind lebte sein junges Pflanzendasein in gesunder Regelmäßigkeit weiter , das heißt , es schlief mehr als den halben Tag und ließ sich in seinen wachen Stunden umhertragen , wobei es sich die Welt mit ganz verständnislosen Augen ansah . Neben dieser geringen Arbeit war die sehr vereinfachte Küche bald besorgt . Auch schien es den beiden Frauen nicht der Mühe wert , für sich , in Abwesenheit des Herrn , viel zu kochen . Adrienne fing an sehr schlecht zu leben und der Magd die ganzen Küchenbestimmungen zu überlassen , welche diese nach ihren dörflichen Heimatgewohnheiten traf . Adrienne versuchte es , sich mit dem Kinde zu beschäftigen . Es war ein Vierteljahr alt und begann eben erst zu lächeln , ein Lächeln , welches natürlich bloß physischem Behagen entsprang . Adrienne hatte es sich anders gedacht , » ein Kind zu haben « . Die schönen Redensarten , welche sie in Büchern gelesen und von Frauen gehört , die mit der Mutterliebe kokettirten , von dem ausfüllenden , entzückenden Glück , welches der Besitz eines Kindes gibt , schienen ihr erlogen . Dieses kleine Menschenwesen bedurfte nur einer rein körperlichen Pflege , das Kind hatte seine Mutter , die Mutter hatte das Kind noch nicht in geistigen Besitz genommen , und dieser allein ist es , der Seelenfreuden und Seelensorgen gibt . Wohl ergriff auch ihr Herz bange Furcht , wenn das Kind je zuweilen unruhig oder fieberhaft war , das aber sind die mütterlichen Instinkte , die auch dem Tier nicht fehlen . Manchmal träumte sie sich voraus , in die Zeiten , wo aus dem schlummernden Bündelchen ein denkender Mensch , ein Mann geworden sein würde . Dann ward ihr Herz ergriffen von den bangen und seligen Ahnungen der Mutterlasten . Sie erschauerte unter dem Bewußtsein der tödlich ernsten Pflichten , die ihr denkendes Kind ihr auferlegen würde ; sie sah ihren Sohn im voraus als guten , bedeutenden Menschen oder als mißratene Frucht am Baum des Lebens . Sie schlief nächtelang nicht aus Sorge um ihres Kindes Zukunft ; sie kämpfte mit ihrem Sohn , sie lobte ihn , sie weinte um ihn , fühlte allen Stolz einer glücklichen , alle Schmach einer unglücklichen Mutter . Und dann hielt ihr die Gegenwart nichts entgegen als ein kleines , dummes , unerwachtes Lebewesen , das sich in den Armen der sorglichen , mit Kindern vielgewandten Magd behaglicher fühlte als in den zarten , unsicheren Händen der Mutter . » Nein , « sagte sie sich dann , » das Schönfärben hilft hier nichts : ein so kleines Kind ist nur eine Versprechung auf die Zukunft , und mit Versprechungen füllt man ein einsames Herz nicht aus . « Adrienne war an eine rastlose Thätigkeit gewöhnt . Sie hatte immer fleißig sein müssen , in der Pension , bei fremden Leuten , in ihrer Ehe , denn Arnold sprach viel von dem sittlichen Wert aller Arbeit , auch der Frauenarbeit , was Adrienne als Mahnung zur Unermüdlichkeit aufzufassen sich verpflichtet glaubte . Weil nun so ihre Thätigkeit immer einem gewissen Zwang entsprossen war , hatte sie sich schon von Kindheit an gewöhnt , alle Erholung heimlich zu suchen . In der Pension hatte sie gleich den anderen Mitschülerinnen heimlich gelesen ; in ihrer dienenden Stellung verbarg sie ebenfalls die Neigung ; als Frau hatte sie verstohlen in ein Buch geguckt , wenn Arnold und die Magd ausgegangen waren . Nun hörte mit dem Zwang allmälich auch die Thätigkeit auf . Die immer fleißige Nadel wurde seltener und seltener eingefädelt , aber da niemand ein Verbot oder nur eine Frage über das Lesen an Adrienne richtete , nahm sie auch kein Buch mehr zur Hand . Die Inhaltlosigkeit der Tage und die geringe Nahrung steigerten die Nervenerschlaffung der jungen Frau bis zur brütenden Schwermut . » Ich möchte sterben , « sagte sie eines Abends laut vor sich hin . Der einzige Tag , der neues Leben brachte , war der Sonntag . An diesem traf , seit Arnolds Abreise , regelmäßig ein Brief von Joachim und einer von Fanny Förster ein . Joachim war kein Federheld ; seine Briefe erzählten in einem ungeschminkten , etwas bummeligen Ton allerlei kleine Erlebnisse aus seinem gesellig bewegten Landleben , von denen er immer die Befürchtung aussprach , daß sie Adrienne langweilen möchten . In der That hatte sie auch keinerlei Teilnahme für seine Berichte als die des Neides , der die reicheren Lebenserscheinungen in einem andern Dasein gegen die Armut derselben im eigenen hält . Für diejenigen , welche der Welt absterben , ist Neid der letzte Faden des Zusammenhaltens , der erste , um wieder anzuknüpfen . Fanny Förster schrieb nur immer kurz : » Wann kommst Du ? – Was macht Dein Kind ? – Schreibt Dein Mann , und was ? « Auf diese immer verschieden , aber immer knapp eingekleideten Fragen antwortete Adrienne zuerst : » Vielleicht – im Sommer – oder zum nächsten Winter , « und endlich – es waren inzwischen acht Wochen seit Arnolds Abreise vergangen – » ich komme nicht , ich tauge nicht unter Menschen . « Darauf schrieb Fanny Förster nicht mehr . Aber das bemerkte Adrienne nur am ersten Sonntag . In ihre Verlassenheitsekstase war eine neue Wendung getreten . Ein Brief von Arnold , der erste , lange Brief , war die unmittelbare Veranlassung dazu geworden . Der Kapitän beschrieb die Reise des Schiffes , welches zur Zeit , da er den Brief verfaßte , in Alexandrien vor der Rhede lag . Er erzählte so klar , gefällig und doch gründlich , als sei der Bericht für eine Zeitung bestimmt . Als er von sich und seiner Reise alles Bemerkenswerte mitgeteilt , ging er zu Adrienne und ihrer Einsamkeit über . Er war zu nüchtern und einsichtsvoll , um die Tage seines Weibes durch das Mutterglück ausgefüllt zu denken ; alles , was in dieser Richtung jetzt in Adrienne unter schweren Grübeleien vorging , war für ihn , den Mann , eine einfache und selbstverständliche Thatsache . Er berührte diesen Punkt , ohne zu ahnen , daß er ihr schon zu denken gegeben ; er berührte ihn , um sie auf ihre Pflicht zu verweisen , sich schon jetzt für die Zukunft vorzubereiten . » Man muß seinen Kindern so viel geben , als man im Vermögen hat . Wir können unserem Sohn sehr viel mehr geben , als tausend andere , an Gütern Reichere im stande sind . Wir besitzen eine Bildung des Geistes , die uns gestattet , auch unserem lernenden und erkennenden Sohn noch überlegen zu bleiben . Die fortschreitende Zeit wird freilich auch uns nicht den traurigen Augenblick ersparen , wo wir unser Kind reifer , gebildeter und vielleicht anspruchsvoller sehen , als wir es selbst sind ; aber diesen Augenblick weit , weit hinaus zu schieben und ihn dann von der pietätvollen Erinnerung unseres Sohnes , daß er uns auch geistig alle Fundamente danke , übergoldet zu sehen , das sei unser Bestreben . Werde Du seine erste Lehrerin ; ich rüste mich , sein Mentor zu werden , wenn er Deinem Anschauungskreise entwächst . Zu dem Zweck bitte ich Dich , alle Disziplinen , welche Du in Deinem Lehrerinnenberuf üben mußtest , fortzubilden , Dir das Neue anzueignen , wo es gut ist , Dich auch insbesondere mit den modernen Sprachen zu beschäftigen . Dieses wird zugleich Deine einsamen Tage nützlich und sittlich ausfüllen und Dir innere Zufriedenheit geben . « Adrienne lächelte herbe . Anstatt von Sehnsucht nach Weib und Kind zu sprechen , sandte er ihr vom Bord des Schiffes aus noch Ermahnungen . Das war so seine Art . Aber der stumpfe Gehorsam war Adrienne zur Gewohnheit geworden . Und in der Wollust , aus dem Beschäftigungsrat ihres Gatten eine Quälerei für sich zu gestalten , suchte sie sich zur Uebung dasjenige aus , was ihr in der Schule und als Lehrerin die größten Mühen und Aergernisse gemacht , nämlich das Französische . Sie hatte kein Sprachtalent , und obwohl sie mit einem sich oft bis zur Verzweiflung steigernden Fleiß vollkommen die grammatische Seite der Sprache beherrschen gelernt hatte und fließend las , war ihr das Sprechen und Lehren doch immer eine unendliche Schwierigkeit gewesen . Sie beschloß , sich einige französische Bücher laut zu lesen und zu übersetzen . In Arnolds Bibliothek fanden sich keine vor . Sie schickte die Magd mit einem Zettel zur nächsten Buchhandlung . Als die Magd mit dem Baby auf dem Arm im Laden den Zettel abgab , in welchem Frau Kapitän von Herebrecht einige neue französische Bücher forderte , sagte sich der Commis , daß eine junge Offiziersdame mit dem » neu « ohne Zweifel » pikant « gemeint habe , und packte einige Bücher von Belot , Gyp und Guy de Maupasant ein , nicht ohne auf der begleitenden Nota den Vermerk zu setzen , daß die neue wohlfeile Ausgabe von Zola , oeuvres complètes , durch sie zu beziehen sei . So kam Adrienne zu Büchern , zu einer Lektüre , von deren Dasein sie bisher keine Ahnung gehabt . So schlugen zum erstenmal die Laute aus einer verruchten , zerfallenden Kultur an ihre streng verschlossen gewesenen Ohren . Kein Warner war zugegen , der ihr das erste Staunen , das erste Erröten hätte deuten und ihr sagen können : » Das ist die durch Neugier gemilderte Entrüstung – erkenne dies Gefühl und laß von diesen Büchern ab . « Die peinliche , schamhafte Neugier wandelte sich schnell in ein Gefühl brennender , fast schmerzlicher Spannung . Die Begier , immer weiter sich die Schleier heben zu sehen von Seiten des Lebens , bis zu denen sich nicht einmal ihre Phantasie verirrt gehabt hatte , ergriff ihre ganze Seele . Sie las und las . Bis zum Morgen brannte das Licht vor ihrem Bette . Das Geschrei des Kindes , die Fragen der Magd wurden zu Störungen . Die Dezenz des Lasters erscheint den Lasterhaften als der Ersatz für wohlanständige Formen , für die verlorene Sittlichkeit – die Phantasien eines Unschuldigen und bisher auch Unwissenden gehen in das Riesengroße , Unfaßliche und suchen hinter dem , was ihm bekannt wird , noch immer Schrecklicheres . Adrienne zitterte , als seien die Sünden der Welt auf sie gefallen . Sie krankte an der Furcht , daß dies alles Wahrheit sei , und an der Gier , zu erfahren , ob hinter der Wahrheit noch eine andere , noch unmenschlichere sich verberge . Von den durchlesenen Nächten , von steter Spannung aller Nerven wurden ihre Wangen noch schmäler , ihre Augen leuchtender . Kaum nahm sie sich Zeit , sich sorgsam anzukleiden , ja , sie scheute vor dem Spiegel zurück , denn einmal , als sie , ihr schönes Haar kämmend , den zarten weißen Arm erhob , dachte sie : » Wer freut sich daran ? « und bebte vor Scham wegen dieses Gedankens . Einmal an einem der ersten Tage des Mai , der sich mit einer üppigen Schönheit über den deutschen Norden ausbreitete , wie man ihn in dieser Zone selten genießt , einmal versuchte Adrienne , den Folterqualen zu entrinnen , unter denen ihr Wesen bebte . Sie warf das Buch von sich und eilte in die Natur , um in ihre erhitzte Brust reine , frische , weite Atemzüge zu ziehen . Ihr Auge war scheu , ihr Fuß unsicher , sie kam sich vor wie aus einer Haft entlassen und doch noch nicht genug gestraft . Am Ufer der Kieler Bucht standen jetzt die Buchen des Gehölzes von Düsternbrook im jungen Laube . Der Sonnenschein rann durch das noch gelbliche und undichte Blattwerk , so daß die Wege von Licht- und Schattenflecken unruhig gemustert schienen . Rechts vom Wege , vor der steil abfallenden Uferböschung und zum Teil sich an dieser terrassenförmig niedersenkend , befanden sich Gärten und vorn an der Straße in diesen weiße Landhäuser . Das Wasser blitzte in der Tiefe auf . Es war eine Wonne und eine Pracht in dem Bild und in der von Syringenduft durchsättigten Luft , daß Adrienne sich von den Wundern des Frühlings wie betäubt fühlte . Wie selig mußten heute die Menschen sein , die liebten und mit einem frohen Genossen den Durst ihrer Herzen ganz stillen konnten . – Ein Bataillon kam mit klingendem Spiel die Wald-und Villenstraße herabgezogen . Vorauf zahllose Jungen , zu seiten mitmarschirende , lachende Menschen . Adrienne stand auf dem Bürgerstiege still . Die Trompeten schmetterten , die Trommel dröhnte , vom Glockenspiel , das , mit rot-weißem Pferdehaarbusch geschmückt , hinter dem Tambourmajor getragen wurde , fielen einzelne Silbertöne wie Schmuckperlen in die Flut der Töne . Die Militärmusik spielte einen bekannten , sehr flotten , sehr übermütigen Marsch . Die geheimnisvolle Macht , die eine schmetternde , frohe Weise über ein wundes Herz hat , zeigte sich auch hier wieder . Da werden plötzlich tausend unbestimmte Wünsche wach , da fließt jede ungestillte Sehnsucht der Seele in einer unendlichen Wehmut zusammen , da durchwallt das müde Blut ein Bedürfnis nach ungewohnten , berauschenden Freuden . Zu viel , zu viel ! Adrienne fühlte ihr Herz zerreißen . Sie stand und horchte gierig den verhallenden Klängen nach und floh dann durch die Straßen heim . Das Leben war ihr verschlossen – so wollte sie wenigstens ihr Gehirn mit den Erzählungen aus demselben betäuben . Zurück zu den Büchern ! Zu Hause lag ein Brief von Joachim auf dem Tisch . Sie schob ihn fort – er machte ihr Unbehagen . Sie dachte daran , daß auch Joachim ein Mann sei , und schauderte in krankhafter Abneigung . Es war Mittagszeit . Adrienne setzte sich und löffelte mit der Rechten ihre schlechte Wassersuppe aus , während ihre Linke einen französischen Roman hielt , auf dessen Seiten sie eben die frivole Beschreibung eines Champagnerdiners las . Ihre Wangen glühten . In ihrer Seele regte sich , tief , dunkel , wie in gesunde Menschenseelen sich die Sünde schleicht , eine fürchterliche Empfindung : die des Neides auf jene Weiber , von denen sie las . Und dabei dehnte eine unermeßliche Angst ihre Brust . Alle ihre Nerven waren angespannt wie zu einer Katastrophe . In diesem schwülen Augenblick trat die Magd ein . Adrienne erschrak so , daß sie krampfhaft aufschrie . » Draußen ist eine Dame , « sagte die Magd . Adrienne starrte sie mit offenem Mund an . Da erhob sich im Korridor eine sonore , frohe Stimme und rief : » Ich bin es ! « Adrienne kannte die wohltönende Altstimme nicht , aber sie schrie zum zweitenmal auf , als die Dame nun in der Thür erschien . Es war Fanny Förster . Und es war , als hätte jemand in einer dunklen Stube plötzlich Licht gemacht . Fanny breitete die Arme aus , und die unglückliche Frau rettete sich hinein wie in einen Hafen , schmiegte sich an Fanny , als stände hinter ihr jemand , der sie wieder in einen häßlichen Sumpf zurückreißen wolle . » Armes Kind ! « sagte Fanny ; » ich dachte mir so was . « Dabei ging ihr Auge über die Wassersuppe und das sonnenlose Zimmer hin . Adrienne bebte so heftig , daß Fanny sie liebevoll zum Sofa führte , wo sie sich in eine Ecke warf , das Gesicht an den Polstern verbergend . Fanny hob unterdes den herabgefallenen französischen Roman auf , sah hinein , blickte kopfschüttelnd auf Adrienne und klappte das Buch zu . Dann trat Fanny vor den Pfeilerspiegel und nahm ihren schleierumwundenen Reisefilzhut ab . Sie strich mit ihren weißen , wohlgeformten Händen den welligen Scheitel hinunter , doch erwies sich die Bemühung , das glanzlose , lockere Blondhaar zu glätten , als nutzlos ; es war immer ein wenig rauh bis in den dicken Knoten , der in klassischer Weise über dem schlanken Nacken saß . Fanny Förster hatte ein Gesicht mit großen Zügen : eine gebogene Nase , eine breite Stirn , einen großen Mund mit herrlich gezeichneten Lippen und wundervollen Zähnen und ein hellbraunes Auge unter dunklen Brauen , mit einem raschen , klaren Blick . Diesen großen , regelmäßigen Zügen wurde eben durch diesen Blick und ein besonderes Lächeln jede Härte genommen , und wer Fanny Förster zum erstenmal sah , empfing stets den Eindruck , einer sehr schönen und ohne Zweifel bedeutenden Frau gegenüber zu stehen . Ihre Kleidung war von jener ausgesuchten Einfachheit , die bei englischen Herrenschneidern sehr teuer erkauft wird . Trotzdem Fanny geradenwegs von der Bahn und von einer weiten Reise kam , waren ihre Farben frisch , ihr Lächeln munter , ihre Kleider sauber . Sie trat zurück an den Tisch . » Höre , Kind , « sagte sie mit dem unbefangensten Ton von der Welt , » ich habe Hunger , aber trotzdem keinen Appetit auf Wassersuppe . Sei gastlich , lade mich ein , mit Dir irgendwo zu speisen , wo die Sonne uns in die Weingläser funkeln kann . « Adrienne hob ihren Kopf . Hatte Fanny denn kein Auge oder kein Gefühl für ihre sichtliche Verstörtheit ? Desto besser , desto bequemer ! » Wo könnten wir ... wir beiden Frauen ... « stotterte sie . » Wo wir beiden Frauen ohne männlichen Schutz in ein Wirtshaus gehen könnten ? « lachte Fanny . » Ueberall dahin , wo wir uns ladylike benehmen . Setze Dir einen Hut auf , wir nehmen einen Wagen und fahren nach Bellevue . Aber schließe zuvor das Buch da weg . Wie kommst Du auf die Lektüre ? « Durch Zufall ... ich wollte Französisch üben ... « sagte die junge Frau , am ganzen Leibe zitternd . » Pfui Teufel ! « sprach Fanny mit kräftiger Betonung ; » sich seine Phantasie beschmutzen , ist eine größere Unreinlichkeit , als im Feuer der Leidenschaft einen Sündenfleck auf seine Seele machen . « Adrienne verbarg das unglückliche Buch und schlich hinaus , sich ihren Hut zu holen . Unterdes besah Fanny sich alles im Zimmer auf das genaueste . Hiebei entging ihr nicht der verschlossene Brief auf dem Tisch ; sie hielt ihn prüfend zwischen den Fingern , als Adrienne wieder eintrat . » Ist das Deines Schwagers Joachim Handschrift ? Ich sehe das Herebrechtwappen auf dem Couvert . Eine angenehme , schön fließende Schrift . Du scheinst nicht sehr neugierig auf den Inhalt . « » Wir wollen den Brief mitnehmen . In der That interessirt es mich nicht übermäßig , was Joachim mir von seinem Leben erzählt . Wenn es Dich interessirt , kannst Du auch Arnolds letzten Brief lesen , « sagte Adrienne . » Mich interessirt alles , « antwortete Fanny . » Wie kann das nur ? « fragte Adrienne erstaunt ; » mich läßt das Wohl und Wehe fremder Menschen kalt , und trotz unserer Verwandtschaft sind doch wir Dir fremd . « Fanny sah sinnend vor sich hin ; es war ein Blick , wie ihn Menschen zuweilen in ihre reichbewegte Vergangenheit zurückthun . Alles , was gewesen ist , erscheint wie ein Gemälde , nicht in uns , sondern außer uns , und wir , die wir durch die Zeit die richtige Standferne eingenommen haben , betrachten das Gemälde kritisch . » Welche Oede würde mein Leben sein , « sprach sie endlich langsam , » wenn ich mir nicht einen Kreis , einen weiten Kreis von Pflichten zurecht gemacht hätte ! Gott sei Dank , in mir liegen keine Kräfte brach , ich lebe ein gesundes , arbeitsames Leben . « Und heiterer setzte sie rasch hinzu : » Aber daß Du nicht denkst , ich bin eine sentimentale Närrin , voll Welt- , respektive Nächstenbeglückungsduselei . Weißt Du , für Heidenkinder in Afrika stricke ich keine Socken , und wenn irgendwo in Spanien oder Italien ein Unglück passirt , bleibt mein Herz zwar nicht kalt , aber meine Börse zu . Dafür aber gibt 's in meinem Dorfe keine Not und kein Leid außer dem , was der Tod schafft . Ich meine immer , man solle mit seinen Händen nicht weiter greifen wollen , als die Länge der Arme erlaubt . « In Adrienne ging etwas Seltsames vor . Sie umarmte Fanny heftig und rief : » Ich beneide Dich ! « » Um Gottes willen , « sagte Fanny erschreckt , » mich ! Und weshalb ? Mich , die sich erst künstlich schaffen muß , was Du vom Schicksal schon empfingst : liebe Pflichten !? Du hast ein Kind , einen Gatten und obenein einen klugen , guten . « Aber Du brauchst Dich nicht bevormunden zu lassen , Du kennst das Leben , die Welt , Du bist frei , « rief die junge Frau voll Leidenschaft . » Nun , « antwortete die andere , » Du wirst mein Leben kennen lernen und mir erst später sagen , ob Du es mir neidest . Denn Dich zu holen , ist der einzige Zweck meiner Reise . Jetzt komm ins Freie . Nur zuvor einen Blick in die Kinderstube . « In der Kinderstube besah Fanny sich den kleinen Joachim und meinte , ob man von ihr erwarte , daß sie ihn hübsch fände , andernfalls würde sie sich die Freiheit nehmen , zu sagen , er sähe ebenso aus wie alle Babies von sechzehn Wochen . Dann fuhren sie zusammen denselben Weg , den Adrienne vor einigen Stunden in düsterer Stimmung gemacht . Wie anders war ihr jetzt zu Mute : an der Seite einer Frau , die eine sorglose Heiterkeit entweder wirklich besaß oder doch mit unendlicher Anmut zur Schau trug , in einem bequemen Wagen an den Fußgängern vorbei , mit denen sie vorhin selbst im Staube gewandert , in der Gewißheit , ein feines Diner mit interessanten Gesprächen zu genießen . Selbstverständlich beging Adrienne den Irrtum , diesen ganzen Wechsel dem Umstand zuzuschreiben , daß Fanny als reiche Frau sich jede Stunde angenehm machen könne . Aber wenigstens verführte diese Betrachtung sie heute nicht zum Neid . Oben auf der Höhe von Düsternbrook liegt die Seebadeanstalt Bellevue ; der Blick beherrscht von hier aus die Bucht , die Fortifikationen und weit draußen das Meer . Hier saßen die Frauen , und wie Fanny es gewünscht hatte , stahl sich durch die Krone der Linde , unter welcher sie speisten , ein Sonnenstrahl in ihr bernsteinfarbiges Glas , darin Moselwein perlte . Fanny hatte in den Pausen zwischen den Schüsseln Arnolds Brief gelesen und reichte ihn jetzt der jungen Frau zurück . » Das ist ein Mann , « sagte sie aufatmend , » ja , Du kannst glücklich sein . « Voll Widerspruchsgeist bemerkte Adrienne mit einem herben Zug im Gesicht : » Von Liebe steht nicht viel darin . « Fanny ließ die Gabel sinken , die sie eben zum Munde führen wollte , und sah ihr Gegenüber ebenso erstaunt als traurig an . » O , « sagte sie schmerzlich , » das verstehst Du nicht herauszulesen ? Du fühlst nicht , wie Du und die Sorge um Dich ihn ganz beschäftigen ? Armer Arnold ! « Bei diesem Bedauern regte sich in Adriennens Brust ein Gefühl von heftigem Zorn gegen ihren Gatten . Und Fanny , die das auf dem zarten Gesicht kommen und gehen sah wie Wolkenschatten über ein sonniges Blachfeld , Fanny bereute ihre Aeußerung . Sie war zu klug , um nicht zu wissen , daß sie nicht offen auf Arnolds Seite stehen dürfe , wenn sie das ungesunde Gemüt dieser Frau sich erschließen und heilen wollte . » Nun wollen wir aber sehen , was Dein Schwager schreibt ! « sagte sie ablenkend ; » Du siehst , ich bin neugierig wie ein Kind . Darf ich auch lesen ? « » Nur zu ! « sprach Adrienne gleichgiltig ; » Du wirst die Beschreibung einiger Festlichkeiten finden , die auf jenem Gut in ununterbrochener Reihenfolge vor sich zu gehen scheinen , und dann wird Dir der Name Elly zehnmal begegnen – so heißt die Tochter des Hauses – und schließlich wird eine Ermahnung darin stehen , heiter zu sein und Arnold oft zu schreiben . « » Was soll so ein junger Mensch denn auch anderes schreiben , « lachte Fanny gutmütig ; » die soziale Frage kann er nicht mit Dir lösen . Also da ist eine Elly , deren Namen wir auf jeder Seite finden ? Schau , schau ! « » Er ist immer verliebt , « bemerkte Adrienne , eine Mandel zerbrechend . » Liebe Schwägerin , « las Fanny halblaut , » seit meinem letzten Brief – unglaublich eigentlich , daß es erst acht Tage sind – hat sich sehr viel ereignet . Das Wichtigste sei gleich gesagt : Fräulein Elly hat sich verlobt mit einem unausstehlichen Krautjunker , welcher Ellys Papa das Gut abkauft . Natürlich hört damit meine Stellung als Volontär auf , die mir auch ohne den Gutsverkauf sehr verleidet ist . Fräulein Elly sieht nicht sehr glücklich aus . Arme Kleine ! Joachim Herebrecht ist aber ein armer Schlucker , er konnte dir nicht helfen . Nun , liebe Adrienne , gilt es , eine neue Stellung suchen , und zwar endlich eine , wo ich verdiene . Getrost könnte ich auf Grund meiner Kenntnisse die Bewirtschaftung eines großen Gutes selbständig übernehmen ; es fragt sich nur , ob ich einen unserer Standesherren bereit finde , mir eine solche Stellung anzuvertrauen . Mache Dir aber keine Sorgen , schreibe auch Arnold nichts . Ich kann hier bleiben , bis ich etwas anderes habe . Du hast mir lange nicht geschrieben ; laß mich wissen , wie es Dir und dem Kleinen geht und ob Du kürzlich Nachrichten von Arnold hattest . Mit den innigsten Grüßen , Dein Joachim . Frage doch ' mal bei Fanny Förster an , vielleicht weiß die eine Vakanz , wo ich einrücken könnte . « Fanny lachte . » Weshalb lachst Du ? « fragte Adrienne ; » ich finde es nicht sehr heiter , daß Joachim ohne Stelle ist . Arnold hätte ihn nicht Landwirt werden lassen dürfen ; es ist so aussichtslos . « » Ich lache , « sagte Fanny belustigt , » weil ich mir aus diesem herzlich unbedeutenden Brief doch den ganzen guten , liebenswürdigen und vielleicht ein bisserl leichtsinnigen Jungen zusammenkonstruire . Dieser Zwischenruf › arme Kleine ! ‹ ist köstlich . Und dann lache ich , weil ihm im Postskriptum Fanny Förster einfällt und weil diese eminent praktische Frau natürlich Rat weiß . « » Wie , Du wüßtest eine Stelle ? « Ich schaffe ihm eine . Meine beiden Güter Mittelbach und Driesa habe ich bislang von Mittelbach aus selbst verwaltet , mit Hilfe meines alten Freundes , des Baron Lanzenau . Mancherlei Umstände , von denen Du schon in Mittelbach Kenntnis erhalten wirst , machen es wünschenswert , daß Lanzenau nach Driesa übersiedelt und sich so wenig wie möglich um Mittelbach kümmert . Weshalb soll ich mir nicht die Bequemlichkeit gönnen , einen Verwalter zu nehmen ? Ich werde an Joachim schreiben . Er kennt mich zwar nicht , aber da Arnold eine gute Meinung von mir hat , hoffe ich , Kredit bei Joachim zu besitzen . Zugleich hast Du ihn , Deinen nächsten Verwandten , dann um Dich , « setzte Fanny voll Eifer auseinander . » Jedes Geschäftsverhältnis zwischen Familienmitgliedern trägt den Keim von Unfrieden in sich , « sagte Adrienne zweifelnd . » O , « sprach Fanny , den Kopf schüttelnd , » ich bin ganz rücksichtslos , immer und überall , denn das ist am bequemsten für andere und mich . « » Daß Du für Joachim erst eine Stellung schaffst , gibt der Sache den Stempel einer Wohlthat , « grollte Adrienne . » Keineswegs , « versicherte Fanny , der alsbald nach dem schnellen Entschluß schon hunderterlei Vorteile der neuen Ordnung einfielen . » Meine Wirtschafterin geht ohnedies , ich nehme keine neue , und anstatt wie bisher immer in den Feldern umherzureiten , finde ich im Hause neue Aufgaben . Ich glaube auch , es wird sparsamer für mein Budget sein . « Fanny verstummte plötzlich , und man sah es ihr unschwer an , daß ihr geschäftiger Geist mit Plänen , Zahlen , Einteilungen eifrig arbeitete . » Wie kann eine Frau , « dachte Adrienne voll Staunen , » die vermöge ihres Reichtums und ihrer Schönheit in der Welt glänzen könnte , sich in einem Leben gefallen , das nicht mehr und nicht weniger ist , als ein Krautjunkertum ins Weibliche übersetzt . « Und sie stand nicht an , mit dem lehrhaften Unfehlbarkeitsgeist , der noch von ihren Erzieherinjahren in ihr lebte , etwas hochmütig auf Fanny herabzublicken . Doch Fanny fuhr mit einer schnellen Frage aus ihren Grübeleien auf , mitten hinein in die überhebenden Gedanken der Schwägerin . » Treibt Joachim irgend eine Kunst ? « » Ich weiß nicht . Ich glaube , er singt , aber weit her wird es wohl nicht sein . Warum ? « » Nun , ich liebe Menschen , die ihre Mußestunden schön auszufüllen verstehen . Ich mag , wenn das Reitkleid und die Wirtschaftsschürze ausgezogen sind , nichts mehr von Rübsaatpreisen und Wollkonjekturen hören . Lanzenau ist musikalisch , ich male etwas , der Pastor und seine Frau haben literarische Interessen , jeder sucht teil an den Freuden des andern zu nehmen . « » So werde ich mich nicht bei Dir langweilen , « sagte Adrienne , eine kleine Beschämung niederkämpfend . Ich hoffe , nein . Doch das liegt durchaus in und an Dir selbst . Die Fähigkeit zur Langeweile ist Naturanlage : mit Menschen , wie immer sie auch sein mögen , langweile ich mich sehr selten , in der Natur nie ; nur wenn ich im Zimmer lange auf mich ganz allein angewiesen bin ; und das ist auch , glaube ich , mehr Ungeduld zur Bethätigung meines Seins , als gerade Langeweile . Du findest nur Durchschnittsmenschen , aber diese in leidlich harmonischem Seelenleben . « » Wann reisen wir ? « fragte Adrienne glücklich . All ihr inneres Widerstreben war schon in der Sekunde erstorben , als Fannys stolze Gestalt heiter über ihre Schwelle trat . » Morgen , « sagte Fanny , » mit dem ersten Zug , dann sind wir mit Einbruch der Nacht in Mittelbach . « Die beiden Frauen stießen fröhlich zusammen an . Und am späten Abend saß Fanny , deren Nerven offenbar keine Ermüdung kannten , noch im Gasthofzimmer am Tisch , um einen ihrer bündigen Briefe zu schreiben . » Mein lieber Kapitän , « schrieb sie , » ich bin in Kiel , um Ihre Frau nach Mittelbach zu holen . An was Adrienne krankt , ist nicht schwer zu sagen . Sie hat in ihrem Leben nur die Arbeit , den Ernst , die Tugend kennen gelernt und sie ist neugierig auf die Kehrseite der Medaille ; sie will den Genuß , den Jugendübermut , die Sünde kennen . Allmutter Eva wird in ihr wach , aber das wird sie in jeder Frau einmal . Ihr Weib ist bei mir , Sie können ruhig sein . Geht solche Krisis gesund aus , kann der Mann nur dabei gewinnen . Ihre Fanny Förster . « Der Inhalt dieser kurzen Zeilen erschien dieser Frau vollkommen genügend , um sie über das Weltmeer zu senden . Jede andere Frau hätte hier acht und mehr Seiten voll geschrieben . Aber Fanny ging mit dem beruhigten Gefühl zu Bett , sich vollständig ausgesprochen zu haben . Drittes Kapitel Auf der Strecke , die der Jagdzug von Hamburg nach Berlin alltäglich mehrmals durchrast , jagt er in stolzer Eile an kleinen Stationen vorbei . Diese , wie Lazarus am Tisch des Reichen , fangen nur die Brosamen vom Weltverkehr auf , und nur die Lokal- und Bummelzüge schleppen Menschen und Güter den Knotenpunkten zu , wo sich die Linien der eisernen Erdstraßen kunstvoll verknüpfen . Hier schüttet ein Zug seinen Inhalt in den andern aus ; hier zerstiebt in alle Windrichtungen , was meilenlang von einem pustenden Dampfroß gemeinsam vorwärts gezogen wurde ; hier rennen Menschen wie Flüchtlinge auseinander , die eben stundenlang eifrig und angenehm zusammen plauderten , sich die Fahrt verkürzend ; hier schlingen ausgehungerte und verdurstete Männer und Frauen heiße , fettig riechende Bahnhofskost , brühheißen Kaffee , schäumendes , überlaufendes Bier hinein ; hier ist ein Rufen , Läuten , Schreien sondergleichen , das Geld klappert auf dem blechernen Wechselbrett der Buffetière ; Qualmgewölk ballt sich unter dem Schutzdach des Perrons . Und wenn endlich der schrille Abschiedspfiff des fertigen Zugs durch die Luft klagt , setzt alles sich erschöpft und befriedigt in seine Coupéecken fest , der Inspektor sieht der dunklen Schlange nach , die mit ihren Gliedern auf dem Geleise dahingleitet , bis sie sich draußen , fern vom Bahnhof , in schwindelnde Eile setzt – dann ist eine Weile Ruhe , bis von der andern Seite der feuerspeiende Kopf einer andern Zugschlange sich in den Perron schiebt . So lärmt und jagt die Menschheit auf ihrem jetzigen Gefährt durch die Lande . Aber die kleinen Stationen stehen an den großen Bahnen wie verschüchtert neugierige Kinder . Von ihnen aus schauen noch sehnsüchtige oder bange Augen auf die Fenster der vorüberfliegenden Eilzugwaggons . Da ist jeder Ankommende oder Abreisende noch ein Ereignis , das in Ursache und Wirkung besprochen wird , und der Wartesaal mit seinem bescheidenen Bierausschank und dem Buffet , wo einige Käsebrote unter einer Glasglocke trocknen , ersetzt den Bewohnern des nahen Städtchens , Fleckens oder Dorfes das Café und die Börse der Großstädter . Die Ankunft eines Zuges zu erwarten , ist Ziel für manchen Erholungsspaziergang . Auf dem Perron einer solchen kleinen Station , die auf sonniger Fläche inmitten märkischen Sandes lag , wanderte ein junges Mädchen hin und her . Die Mittagssonne verkleinerte durch ihren hohen Stand den Schatten , den sonst das rote Backsteingebäude warf , bis zu einem schmalen Strich . In diesem Schattenstrich an der Mauer saß der Bahnhofsinspektor auf der Bank und trocknete eben den innern Rand seiner roten Mütze aus . Die Glasthür , die in den Wartesaal führte , war innen mit einer Filetgardine geschmückt ; zwischen ihr und dem Glas surrten große Brummer auf und ab . Rechts und links vom Gebäude befanden sich in jungen Gebüschanpflanzungen die zum Bahnhof gehörenden Nebenräumlichkeiten ; zwischen diesem Gebüsch und der Mauer des Haupthauses führten die Wege nach hinten , wo die Landstraße zu vermuten war . Wenn das auf und ab wandelnde Mädchen vorbeikam , sah sie immer da hinaus , wo wie im Ausschnitt das Bruchstück einer Equipage zu sehen war . Die Vorderleiber der Pferde verbarg das Haus , die Hinterräder des Wagens das Gebüsch ; man sah den auf seinem Bock schlummernden Kutscher und die Pferdeschweife , die zuweilen aufschlugen , um Fliegen zu verjagen , und hinter dem allem eine endlose Fläche und einen zitternden Dunst unter grell blauem Himmel . Endlich drang durch die Stille des Mittags ein zweitöniges Glockensignal . Der Inspektor sprang auf ; um die Hausecke kam , krummbuckelig , mit müden Knieen , der Perrondiener ; die Wartesaalthür öffnete sich , und die Restaurationsfrau erschien in derselben , auf dem Arm ihr Kind , dem sie gerade das Näschen schneuzte . » Ob die gnädige Frau heute wohl kommt ? fragte der Inspektor , auf das junge Mädchen zutretend . » Sie sind nun schon zum drittenmal hier , Fräulein , und ich fürchte , wieder vergebens , denn eine Depesche haben wir bislang nicht befördert , und Sie wissen doch , wenn Frau Förster von Reisen heimkehrt , telegraphirt sie stets vorher an den Baron Lanzenau . « Der Bahnhofsinspektor hatte zugleich das Amt des Telegraphisten inne und war somit genau über den Depeschenverkehr der Umgegend unterrichtet . Das Mädchen sagte darauf etwas unfreundlich im Ton : » Nun , das Unglück , die Fahrt einigemale vergebens zu machen , ist ja nicht so groß . « Damit wandte sie sich um und setzte ihr Wandern fort , deutlichst zeigend , daß ihr keinerlei Unterhaltung erwünscht sei . Der Inspektor wechselte darauf einen Blick mit der Frau in der Thür , einen Blick , mit dem sie sich darüber verständigten , daß man ein so unhöfliches Benehmen von Fräulein Severina eben gewöhnt sei . Diese ging an das äußerste Ende des Perrons und starrte vor sich hin . Sie sah auf die im Sonnenschein gleißenden Schienen , auf den gelben , grobkörnigen Kies , der zwischen den Schienen die Holzschwellen kaum deckte , und dachte , mit welchen Worten sie Fanny Förster am leichtesten sagen könne , was doch gesagt werden mußte . Severina war ein Mädchen , das niemals durch ihre Schönheit , aber immer durch ihre Gestalt auffallen konnte , die , von mittlerer Größe , Linien von vollendetem Ebenmaß aufwies . Ein reizender Fuß zeigte sich unter dem kurzen Kleid , eine schöne Hand hielt herabhängend ein Paar Handschuhe . Das Gesicht zeigte die Negerlippen eines breiten Mundes . Darüber stand ein aufgestülptes Näschen . Unter der niedrigen weißen Stirn leuchtete ein dunkles , großes Augenpaar ; dunkelbraunes Haar war mit wenig Sorgfalt lose um den kleinen Kopf geordnet ; die starken Backenknochen , die breiten Kiefer gaben dem Gesicht beinahe etwas Tierisches . Die unruhigen Augen sahen nun dem Zug entgegen , der jetzt endlich in großer Kurve sich dem Perron näherte . Richtig , da beugte sich ein Kopf aus einem Coupé , und gleich darauf streckte sich eine Hand heraus und winkte mit dem weißen Taschentuch . Severina lief neben dem Coupé her , bis der Zug endlich stand , gerade am andern Ende des Perrons . Dabei wurde sie seltsam blaß . » So warte doch , so warte doch , « rief Fanny Förster aus dem Fenster . Der Inspektor eilte auch herbei und riß die Thür auf , der Fanny nun rasch entstieg . » Wir haben die gnädige Frau schon gestern abend erwartet , « bemerkte der Inspektor . » Ja , « lachte Fanny , » meine Schwägerin hat nicht meine Nerven . Wir mußten in Hamburg Aufenthalt nehmen . – Gib mir erst das Kind heraus , Adrienne . – Guten Tag , Very . Nun , wo kommst Du denn her ? Ist der Baron gestern abend hier gewesen ? Wie sieht 's in Mittelbach aus , Mädchen ? Deine Eltern wohl ? « Dabei ergriff sie mit der Rechten das Bündel von Tüchern und Schleiern , in welchem der kleine Joachim stak , preßte es gegen sich und reichte die Linke Adrienne hinauf . Diese , überaus blaß und von Hitze ermattet , kletterte herab , die Magd mit sehr vielem Handgepäck folgte , und mit dumpfem Krach flog die Coupéthür wieder zu . Da stand die kleine Gesellschaft nun im Sonnenschein , Adrienne verzagt über die flache , schattenlose Gegend , Fanny ungeduldig , neue Nachrichten von ihrem Heim zu hören , das sie seit fünf Tagen verlassen . » Hier ist Severina , die Pflegetochter unserer Pastorsleute . – Meine Schwägerin , Frau von Herebrecht . Aber nun sage , Very , wie kommt es , daß Du mich abholst ? « » Meine Eltern haben Ihre Rückkunft mit großer Sehnsucht erwartet , « sagte Severina , mit ihren dunklen Augen einen so flehenden , bedeutungsvollen Blick auf Fanny richtend , daß diese augenblicklich fühlte , es sei etwas geschehen , wobei man ihrer bedürfe . Sie drückte Severina stark die Hand . » Gestern abend , « fuhr Severina fort , » fuhr ich mit Ihrem Wagen her ; Sie kamen nicht . Auch der Baron war vergebens hier . Er beschloß , eine Depesche abzuwarten , aber ich bin , Ihre Verzeihung voraussetzend , heute wieder mit Ihrem Wagen gekommen . « » Und das ist ein Glück , « meinte Fanny freundlich , » da wir nun gleich heimfahren können und keinen Wagen aus Mühlen brauchen . Die arme Adrienne hätte auch vielleicht geglaubt , ihre letzte Stunde sei gekommen , wenn sie auf einem Mühlener Bauernwagen durchschüttelt worden wäre . « Mühlen war ein zu Fannys Gütern gehöriges Dörfchen , welches in unmittelbarer Nähe der Station lag . » Komm , « sprach Fanny , den Arm des jungen Mädchens ergreifend , » meine kleine Kalenderheilige muß erst beichten . – Wir nennen Very manchmal so , weil sie einen so furchtbar nach Weihrauch duftenden Namen hat , « erklärte sie Adrienne . » Besteige Du einstweilen den Wagen und installire Dich mit Baby . – Guten Tag , Christian , « grüßte sie den Kutscher . Da Severina schwieg und neben Fanny mit sichtlichem Zögern einherschritt , so fragte Fanny mit einigem Nachdruck : » Nun ? Was ist geschehen ? « » Magnus ... « » Hat Dummheiten gemacht ! « setzte Fanny bestimmt dem von der andern zögernd ausgesprochenen Namen hinzu . Leider gleich zwei auf einmal , « sagte Severina finster , » und Mama und Papa geben nun einander schuld ; Jedes behauptet , der andere habe ihn falsch erzogen . « » Nun , « meinte Fanny , » in dieser Behauptung ist das Recht auf Seite des Vaters . Aber was hat denn unser Doktor Magnus Hesselbarth angestiftet ? « » Er hat – gespielt und dann , es mag in der Leidenschaft des Verlierens oder des Weinrausches gewesen sein , dann hat er ein Duell provozirt und ausgefochten , welches seinem Gegner eine Stirnwunde und ihm einen Schuß im linken Arm einbrachte . Nun ist er heimgekommen wie ein Flüchtling . Die Wunde will die Pflege der Mutter schon ausheilen , aber die Spielschuld kann die Cassa des Vaters nicht decken , « berichtete das Mädchen . » O weh , « rief Fanny , » das mag stürmische Zeit bei euch gegeben haben ! « » Ich bin ja da , alles auszubaden , « sagte Severina mit großer Bitterkeit . » Pfui , Very ! « schalt Fanny , über deren Gesicht sich die Schatten sorgenvoller Gedanken gebreitet hatten , » in solchen Tagen sucht der Sorgende sich eben gern einen Blitzableiter für die üble Laune . Das ist menschlich , das solltest Du verzeihen . « » So ? « fragte das Mädchen . » Diese Menschlichkeit passirt doch nicht allen Menschen . Als im vorigen Frühling die Elbe austrat und Ihnen die mühsam kultivirten Fichtenschonungen verschlammte und versandete , Ihnen die Mühe und Kosten von Jahren zerstörend , da hat kein Mensch ein ungeduldiges Wort von Ihnen gehört . Aber freilich , meine Pflegemutter ist auch eine fromme Christin , sie muß in jedem Unglück das Strafgericht Gottes oder die Versuchung Satans beklagen . « » Was die Natur uns zufügt , zwingt uns unsere Ohnmacht , mit Geduld zu tragen . Geduld mit Menschen haben , ist tausendmal schwerer , « sprach Fanny milde . » Aber nun komm , mein Kind , laß meine Schwägerin nichts von irgendwelcher Verstimmung merken . Sie bedarf der Heiterkeit und soll nicht gleich herausfinden , daß wir in Mittelbach so wenig gegen Sorge und Leid versichert sind wie die Menschen anderswo . « Sie schritten beide auf den Wagen zu , in dessen einer Ecke Adrienne schon lag , den aufgespannten Sonnenschirm über sich , die müden Augen auf den fernen Horizont gerichtet , zu dessen blauender Waldlinie eine endlose , pappeleingefaßte Chaussee lief . » Müssen wir bis dahin fahren ? « fragte sie . » Gewiß , meine Welt liegt , wie die Königreiche im Märchen , hinterm Wald . Diese Roggen- und Hafergefilde , welche Dir ohne Zweifel sehr eintönig vorkommen , sind Driesaer Grund und Boden , die Gruppe von Häusern und Baumkronen da rechts am Ende der Sehweite ist Dorf und Schloß Driesa . Mein Mittelbach fängt hinter dem Wald an und geht bis an die Elbeufer . Mein Reich ist nicht klein . Joachim wird zu thun bekommen . « Der Wagen setzte sich in Bewegung ; Adrienne war zu erschöpft , Severina nicht gewohnt zu sprechen ; die Magd surrte ein Schlummerlied mit geschlossenen Lippen und wiegte dabei das Kind im Arm . Lautlos gingen die Räder im Sande ; Lerchen stiegen mit zwitscherndem Gesang in die Höhe . Fanny , die lange still nachdachte , fuhr plötzlich wie erwachend empor , sah Severina an , nickte ihr heiter zu und begann mit dem Kutscher ein Gespräch , welches sich zum Entsetzen Adriennens um das Befinden einer zum Kalben stehenden Kuh und eines krank gewesenen Pferdes drehte . Eine Fahrt von zwei Stunden , davon die letzte halbe Stunde sie durch einen schönen Eichenwald führte , brachte sie nach Mittelbach . Adrienne war noch nie auf dem Lande gewesen , sonst würde ihr die Sauberkeit und Behäbigkeit aufgefallen sein , welche selbst die kleinsten Anwesen hier umgaben . Das Dorf gruppirte sich um eine Kirche , die aus einem von blühendem Hollunder und breitkronigen Linden überschatteten Kirchhof aufragte . Nahe dem Kirchhof befand sich im bunt blühenden Garten das Pastorenhaus . Nur ein weißer Spitz stand hinter der hölzernen Gitterpforte und bellte durch die Trallen den vorüberfahrenden Wagen an . Sonst schien das Haus von Bewohnern verlassen . Neben dem Pastorengarten bog eine tiefschattige Ulmenallee von der Dorfstraße ab und führte geradewegs in fünf Minuten auf das Schloß zu . Das Schloß verdiente im Grunde diesen stolze Baulichkeiten versprechenden Namen keineswegs . Es war ein großes , breites Haus , das über dem Parterre ein Stockwerk und einen zweifensterigen Erker trug . Vor der grün angestrichenen Hausthür befanden sich ein Beischlag , dessen Bänke je von einer Linde überschattet waren , die wie zwei Schildwachen rechts und links vor der grau getünchten Hausmauer standen . » Schön ist er nicht , der alte Kasten , « sagte Fanny mit einem Seufzer , » und ich liebe so die Schönheit . Aber um das Idealschlößchen herzubauen , von welchem ich träume , fehlt mir immer das Geld . « Adrienne lächelte ; sie glaubte nicht anders , als daß dieser Seufzer ein gewisses Kokettiren mit Sparsamkeit sei , denn daß eine reiche Frau wie Fanny ihren Wünschen Grenzen ziehen müsse , schien ihr undenkbar . » Da ist die ganze Gesellschaft , « sprach Severina . Auf den Bänken im Beischlag saßen drei Männer und eine Frau . Sie sprangen auf , als der Wagen hielt , und wollten alle zugleich den Schlag öffnen . Der großen , übermäßig mageren Frau gelang es , die erste zu sein . Sie ergriff mit ihren starkknochigen Händen Fannys Rechte und sagte : » Nein , so konnte Gott uns auch nicht strafen , er durfte Sie nicht länger fernhalten ! « Liebe Frau Pastorin , « sprach Fanny , ihr die mageren Wangen streichelnd , die aus einer unter dem Kinn geschlossenen schwarzen Tüllhaube hervorsahen , » liebe Frau Pastorin , ich bin zum Glück ja noch zur rechten Zeit gekommen , Ihnen Ihre Sorgen abzunehmen . – Grüß Gott , Herr Pastor . Ah , da ist ja auch unser junger Doktor Magnus . – Und Sie , Lanzenau , Sie sagen gar nichts ? « » Kann ich denn dazu kommen , die liebe Hand zu küssen ? « fragte der Baron Lanzenau lächelnd . Adrienne saß unterdessen ruhig im Wagen und beobachtete diese Menschen , mit denen sie nun leben sollte . Vor allem fiel ihr der Baron Lanzenau ins Auge , ein Mann , der seine Hünengestalt in ein enges Tricotjaquet und ganz enge Beinkleider gesteckt hatte . Um seinen auffallend hohen und blendend weißen Halskragen schlang sich eine blauweiß getupfte Krawatte , die in breiten Flatterenden über dem dunklen Jaquet herabhing . Sein Diplomatengesicht trug die Zier eines spitz gedrehten Schnurrbartes , sein dunkles Haar war äußerst glatt und auf jene altmodische Art frisirt , welche in die Schläfen gesichtwärts je eine Haarlocke vorschiebt . » Das ist also der Mann , welcher seit meines Bruders Tod Fannys rechte Hand war ? Merkwürdig , er scheint doch noch in den Jahren , wo eine Heirat mit Fanny ihm natürlich sein mußte ! « dachte Adrienne . Die hagere Pastorin mit den Leichenbittermienen und dem tragischen Blick , der rundliche , weißhaarige Pastor mit dem rosigen Gesicht , schienen Adrienne nicht sehr bemerkenswert , wohl aber blieb ihr Auge auf dem jungen Doktor Magnus Hesselbarth , dem Pastorensohn , haften . Dieser hielt sich sehr im Hintergrund und schaute sich seinerseits Adrienne neugierig an . Er hatte die Figur und Züge seiner mageren dunklen Mutter ; was jedoch bei ihr grob erschien , wurde bei ihm zur männlichen Schönheit . Vor seinen dunklen Augen saß ein Kneifer ohne Band , sein schwarzes Haar war kurz geschoren und stand wie eine Bürste über der Stirn auf , in welche es in einer Schneppe hineinwuchs . Erst als Fanny alle begrüßt hatte , machte sie Adrienne mit ihren Freunden bekannt . Jeder sagte ihr ein Wort des Willkommens . » Ich freue mich , daß Fanny endlich einmal die Nähe eines Familienmitgliedes genießt , und hoffe , Sie werden sich lieb haben , « sagte Lanzenau . » Der Herr war mit Ihnen , als Sie den Entschluß faßten , den Versuchungen der Welt zu entfliehen und hieher zu kommen . Denn einer geht umher wie ein brüllender Löwe und suchet , wen er verschlinge , « sprach die Pastorin mit einem Seitenblick auf ihren Sohn . Dieser Sohn begnügte sich , Adrienne die Hand zu küssen , sich zu verneigen und zu versichern : » Sehr erfreut , gnädige Frau ! « Der alte Pastor aber drückte ihr fest die Hand und sprach : » Willkommen , herzlich willkommen ! « » Ach , « rief Fanny , » wie ist das Heimkehren schön , und dabei habe ich nicht einmal Mann noch Kind ! Was muß Arnold empfinden , wenn er von der Stunde seiner Heimkehr träumt ? « Adrienne fühlte sich immer unangenehm berührt , wenn ihr Gatte von Fanny erwähnt wurde . Sie sah stets eine Mahnung , einen Vorwurf darin . Und der Ausdruck von Verstimmung , der deswegen über ihre Züge kam , entging in diesem Augenblick dem jungen Doktor nicht , der die bleiche Frau fest im Auge behalten hatte . » Deine Zimmer sind bereit , ich werde Dich hinbringen ; aber ehe ich dann die meinigen aufsuche , möchte ich mit Ihnen , Pastor , und Ihrer Frau sprechen , « sagte Fanny , erst zu ihrer Schwägerin und dann zu dem Ehepaar gewandt . » Alle Verhandlungen werden bis nach Tisch verschoben , « bestimmte Lanzenau ; » wir wünschen vorerst die Festtafel gewürdigt zu sehen , die wir vorbereiteten . Wenn die Damen Toilette machen wollen , finden Sie uns nachher im Speisesaal . « » Fügen wir uns , « sagte Fanny heiter und nahm die junge Frau bei der Hand , um sie in ihr Haus zu führen . » Die Freude , Dich wieder zu haben , leuchtet selbst von den Gesichtern Deiner Dienstboten , « bemerkte Adrienne , als sie an Fannys Arm die Treppe hinauf und den langen Korridor entlang schritt ; » wie hast Du es angefangen , so geliebt zu werden , und wie glücklich mußt Du in dieser Liebe sein ! « » Stille ! « gebot Fanny hastig ; » wie ich es anfing und ob ich glücklich darin bin , das ist die Geschichte meines Daseins , und das bespricht sich nicht zwischen Thür und Angel . Hier ist Dein Reich . Lebe zufrieden darin , das ist mein einziger Wunsch . « Die Frauen umarmten einander voll Herzlichkeit . Eine scheinbar grundlose Rührung übermannte beide . » Und Du , kleiner Schelm , « sagte Fanny , dem Kinde , das die Magd ihnen nachgetragen , in die Backen kneifend , » Du schreie mir die Wände aus keiner andern Veranlassung an , als um Lungengymnastik zu treiben . « » Wie schön es hier ist ! « rief Adrienne , die drei Zimmer durchschreitend , welche Fannys Güte ihr auf das wohnlichste geschmückt . Das Wohnzimmer war offenbar ganz neu eingerichtet ; es zeigte dunkelblaue Farben und in allen Möbelstücken strenge , geradlinige Formen ; eine Unzahl von kleinen , bunten Nippes und Luxusgegenständen übergoldete den ernsten Charakter des Gemaches mit dem Zauber der Behaglichkeit . Eine breite Glasthür führte auf einen Balkon , der , an der Rückseite des Hauses gelegen , einen weiten Ausblick über Park und Gegend gewährte . Ich dachte mir so , daß zu der blassen , rothaarigen Frau ein Zimmer im Renaissancegeschmack gehöre , « scherzte Fanny und eilte hinaus , sich dem Dank zu entziehen . Adrienne trat auf den Balkon . Zu ihm hinauf ragten weitästige Lindenkronen , von rechts und links hemmte dunkles Baumgewipfel den Blick , geradeaus schweifte das Auge über weite Rasenflächen , die von einem Weiher unterbrochen wurden . Und jenseits des Parkes , der im englischen Geschmack angelegt war , blinkte ein breites , stahlglitzerndes Band auf , das sich hinauf und hinab in sanften Windungen durch goldgelbe Saatbreiten zog , so weit das Auge reichte . Es war die Elbe , die da ihre mächtige Straße , vom Riesengebirge kommend , meerwärts zog . Die friedvolle und reiche Landschaft , überzittert von der Mittagsglut eines verfrühten Sommertages , verführte zum Träumen , und Adrienne stand so lange gedankenlos dort , bis die dumpfen Schläge des Tam-Tam sie weckten . Es war das Signal zum Mittagessen . Aber der unmusikalische , lang nachdröhnende Ton dieses asiatischen Signalinstrumentes erinnerte sie plötzlich auch an Arnold : er hatte Fanny Förster das von früheren Reisen mitgebrachte Ding geschenkt . Immer er , auf allen Wegen er , kein Gedanke ohne ihn – setzte sich die Abhängigkeit von ihrem Herrn und Erzieher denn ewig fort ? Mit finsterem Gesicht ging sie hinab , wo in dem großen Saal , der gerade unter ihren Zimmern lag und sich auf eine Terrasse parkwärts öffnete , schon die ganze Gesellschaft versammelt war . Fanny sah mit mißbilligendem Erstaunen , daß ihre junge Schwägerin nicht die mindeste Bemühung gemacht hatte , ihr schlecht sitzendes , zerdrücktes Reisekleid zu wechseln oder ein wenig aufzuputzen . » Sie ist ganz apathisch , « sagte sie leise zu Lanzenau , » wir müssen ihre Jugend aufwecken . « Das Mahl verlief so heiter , als befänden sich hier nicht Menschen , deren Existenz auf dem Spiel stand . Die Pastorsleute fühlten sich ihrer Sorgen ganz ledig : Fanny war da und hatte Hilfe versprochen . Doktor Hesselbarth fühlte sich nicht im mindesten vor Fanny genirt : sie kannte die Welt und verzieh wohl eine schwache Stunde . Selbst Severina , die im Wagen schweigsam und verbittert erschienen war , antwortete auf die jeweiligen Neckereien des Barons mit jäh aufsprühendem , schlagfertigem Witz , versank aber freilich ebenso rasch wieder in ihre Stummheit , wenn ein Blick aus den großen Augen der Pastorin sie traf . Lanzenau hielt sogar eine Rede , eine wohlgesetzte , etwas umständliche Rede , die Fannys Wiederkehr und die neue Hausgenossin feierte . Man trank das Wohl der beiden Damen in Sekt , Fanny rief über das Gläserklingen hinweg : » Aber daß wir auch des fernen Gatten nicht vergessen : Der Kapitän lebe hoch ! « Der Doktor , sich an Adriennens mißbehagliches Gesicht erinnernd , welches sie vorhin bei der Erwähnung Arnolds gemacht , streifte mit schnellem Blick die junge Frau , und unangenehmerweise bemerkte sie es . Ein helles Rot stieg ihr rasch ins Gesicht . Das reichliche Mahl von vielen Schüsseln , der starke Wein , die Aufwartung durch die beiden weißbehandschuhten Bedienten , dies alles drückte Adrienne nieder , und sie dachte an die Wassersuppe , bei welcher Fanny sie getroffen . Schließlich bemerkte sie auch , daß sie noch einfacher angezogen war als selbst Severina , deren dunkelblaues Perkalkleid wenigstens durch den tadellosen Sitz und die äußerste Sauberkeit schmuck aussah . Auch hatte das Mädchen in den Gürtel , der ihre wundervolle Taille eng umspannte , einen frischen Rosenstrauß gesteckt . Adrienne hätte weinen mögen . » Fanny wird sich meiner schämen , « dachte sie verzweifelt . Sie beschloß , sich nach Tisch zurückzuziehen und aus sich noch zu machen , was ihr Kleidervorrat irgend gestattete . Dieser Entschluß , sich zurückziehen zu wollen , paßte in die Hausordnung , die Fanny alsbald verkündete . » Nach Tische , « sagte sie , » bin ich in meinem Arbeitszimmer ; wenn jemand mich zu sprechen wünscht , findet er mich dort . Im übrigen : allgemeine Siesta . « Lanzenau wußte , daß dies für die Pastorenfamilie gesagt war , und begab sich alsbald auf die Terrasse , wo er in einem Schaukelstuhl zwischen einer Epheuwand und einer Palmengruppe sein Schläfchen zu halten pflegte . Severina kehrte in das Pfarrhaus zurück , nicht ohne daß Fanny ihr nachgerufen hätte , sie werde zum Abend wieder hier erwartet , und so sah die Hausherrin sich mit der Familie Hesselbarth allein , die ihr in der komischen Gefolgschaft des Gänsemarsches , eines hinter dem andern , ins Arbeitszimmer folgte . Dieses Zimmer , nach vorn hinaus gelegen , war von den an der Hausfront stehenden Linden so tief verschattet , daß allezeit ein grünes Dämmerlicht herrschte . An den vier Wänden , die einen großen , ganz quadratischen Raum umschlossen , standen Bücherregale und Schränke . Nahe dem einen Fenster befand sich der Schreibtisch , ein vierbeiniger , schmuckloser Tisch , mit einem Riesentintenfaß , einer Schreibmappe und einem Haufen Haushaltungsbücher belastet . Vor dem andern Fenster auch ein Tisch , auf dem allerlei Säckchen und Schälchen mit Getreide- und Hülsenfruchtproben standen . Außerdem gab es noch ein halbes Dutzend Rohrstühle in der Stube , darin der weiße Fußboden mit Sand bestreut war . Fanny nahm auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz , die drei Hesselbarths setzten sich im Halbkreis ihr zur Seite . Der Pastor faltete seine Hände über dem Bäuchlein ; ach , nach einem so guten Essen und nach einem so ausgezeichneten Bordeaux war es wahrlich schwer , sich die ganze Sündenfälligkeit des leichtsinnigen Sohnes ins Gedächtnis zu rufen . Die Pastorin hatte auf den gelben Wangen rote Flecke . Ihre Gedanken jagten wie ein Wirbelwind in ihrem Kopf umher , sie zürnte dem Sohn , dem sie diese schwere Stunde verdankte . Sie wollte Fanny beweisen , daß der Sohn eigentlich bloß das Opferlamm eines Mächtigeren sei , sie wollte dem Gatten nochmals zu Gewissen bringen , daß seine Erziehung an allem schuld sei . Aber aus ihrem von Gedanken kreisenden Kopf gebar sich kein gesammeltes Wort ; der Sohn hob statt ihrer an , Fanny geradeaus ansehend : » Severina wird Ihnen das Geschehene angedeutet haben , Frau Förster . Ich sitze nicht hier , um mich zu entschuldigen , und die Hilfe , die wir von Ihnen erbitten wollen , denke ich nicht dadurch zu erschleichen , daß ich mich als Opfer unglücklicher Verkettungen darstelle . Ich habe gefehlt ; jugendlich , verzeihlich vielleicht , würde man sagen , wenn ich einen reichen Vater hätte , der die paartausend Mark Spielverlust ohne Empfindlichkeit zahlen könnte . Aber da ich wußte und immer dessen hätte eingedenk bleiben sollen , daß mein Vater nicht im stande ist , mir dergleichen Schulden zu bezahlen , so wäre mein Vergehen unverzeihlich , wenn ich nicht den Willen und die Fähigkeit hätte , den pekuniären Schaden und den , welchen ich in Ihrer Achtung erlitt , gut zu machen . « Der Pastor seufzte zustimmend . Die Pastorin , die ihre Hände im Schoß gefaltet hielt , sagte schnell : » Gewiß , Magnus , Du hast gefehlt wider besseres Erkennen und Wollen . Der Versucher kam über Dich , und Du mußtest ihm gehorchen . Das ist der Fluch , der seit dem ersten Sündenfall auf uns allen ruht . Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms , den ... « » Liebe Pastorin , « sagte Fanny mit feinem Lächeln , » Sie hörten , Magnus lehnt es von vornherein ab , unter dem Druck jener mysteriösen force majeur gehandelt zu haben , die Sie seit seinen Knabenjahren immer als Entschuldigung für alle seine Thorheiten citirten . Wir haben schon an den alltäglichen kleinen menschlichen Unvollkommenheiten unserer Charaktere genug Stoff , um Adam und Eva verantwortlich zu machen ; suchen wir mit den Hauptnummern unseres Sündenregisters niemand zu belasten als unsere eigene Willensschwäche . « Magnus lächelte Fanny an . Der Pastor seufzte zum zweitenmal zustimmend . » Es war am Abend meines Doktorschmauses , « begann Magnus ; » wir hatten stark getrunken , erst so stark , wie es solche Gelegenheit in studentischen Kreisen mit sich bringt , und dann noch stärker , als mitten in unsere Fröhlichkeit hinein mir ein Brief der großen X.schen Verlagsbuchhandlung kam , die mit mir fest kontrahirt über eine von mir zu liefernde Uebersetzung und Bearbeitung mehrerer griechischen Autoren zum Zweck einer Volksausgabe . Dies Ereignis ... « » Magnus , « rief die Pastorin fieberhaft , » und davon hast Du bislang geschwiegen ?! Diesen Trost , diese Entschuldigung uns vorenthalten ! Was hab' ich immer gesagt ; wer hat nun recht ? « » Dieser Umstand hätte Dich vielleicht dahingeführt , liebe Mutter , mein Vergehen als Verdienst aufzufassen , und das ging doch angesichts des Umstandes nicht an , daß Frau Förster uns helfen muß , soll kein Unglück , kein Skandal geschehen , « sprach Magnus mit jener liebevollen Lehrhaftigkeit , die erwachsene Männer den Schwächen der Mutter gegenüber annehmen . Die roten Flecken auf den Wangen der Pastorin wurden dunkler . Ihr Herz schlug heftig . Der Ton – der Ton von ihrem Magnus ! Und von und mit Fanny sprach er so voll Ehrfurcht ! O , wenn sie doch unermeßlich reich wäre , um alle Sorgen selbst dem Sohn aus dem Weg zu schaffen , ihm alle Freuden der Welt zu ermöglichen ! Diese Wonne Fanny überlassen zu müssen ! « » Und weiter ? « fragte Fanny . » Meine Fröhlichkeit wurde Uebermut ; ich sah mich schon berühmt als unerreichten Uebersetzer , ich sah mich schon im Besitz der als Honorar für die in zwei Jahren zu liefernde Arbeit bedungenen fünftausend Mark . Als die Freunde Bank auflegten , verschmähte ich zum erstenmal nicht , daran teilzunehmen . Mein Verlust wuchs , meine Besinnung schwand . Endlich gab es Streit . Am andern Mittag hatte ich die Wunde im Arm und fünftausend Mark Spielschulden . « Ach , « sagte die Pastorin und sah ihren Sohn bewundernd an , » was mögen das für Aufregungen gewesen sein ! « » Wenn Sie uns , teure Frau , die Summe vorstrecken wollen und sie mir allmälich am Gehalt abziehen ... « , begann der Pastor , der mit einer unüberwindlichen Sehnsucht nach seinem Lehnstuhl kämpfte . » Halt , « rief Fanny , » Magnus soll sich allein aus der Klemme ziehen , in die er sich hineingebracht . Er erhält die fragliche Summe von mir und verschreibt mir dafür sein Honorar . Und damit er nicht durch abermalige schwache Stunden in noch Aergeres gerät , schlage ich vor , daß er seine Arbeit im Elternhause vornimmt ; da wird er billiger und ruhiger leben als in Berlin . « » Bravo ! « rief der Pastor erleichtert , weil die Sorge und die Unterredung bald ein Ende hatten . Magnus ergriff die Hand Fannys und drückte sie mit wortloser Dankbarkeit . Im Herzen der Mutter wallte neben der Freude , den Sohn bei sich zu behalten , schnell der eifersüchtige Gedanke auf , daß Fanny am Ende ein besonderes Interesse für Magnus habe . Daß die Dinge etwa anders werden konnten , als wie Fanny sie ordnete , fiel überhaupt niemand ein . Was sie sagte , geschah immer . Hier trat ein Diener ein und meldete , daß Wenzel und Riggers bäten , vorgelassen zu werden . Ah , « sagte Fanny , » da soll ich wohl den Schiedsrichter spielen wegen der strittigen Wiese ? « » Die Bauern bitten darum , « antwortete der Diener ; » und hier , diese Depesche ist eingelaufen . « Fanny nahm die Depesche vom Tablet , erbrach und las sie , lächelte , wandte sich zum Diener und sagte : » Die Bauern können gleich vor . Ich rufe . « » Schnell , Magnus , « mahnte sie dann , » ich schreibe Ihnen einen Check für mein Berliner Bankhaus , morgen fahren Sie hin , ordnen Ihre Sachen und kehren übermorgen zurück . Ist vom Duell etwas ruchbar geworden ? « » Nein . « » Um so besser . Hier unterschreiben Sie den Schein . « Magnus unterschrieb ein Papier , auf welchem Fanny Förster sich das Honorar zueignete , das er von der Firma Soundso erhalten solle . Dagegen empfing er einen Check , lautend auf fünftausend Mark . Unmittelbar nachdem die Familie Fannys Zimmer verließ , drängten sich die zwei Bauern hinein , und auf dem Flur warteten noch weitere Leute . » Ja , ja , die Frau ist ein Segen , « murmelte der Pastor . » Leider fehlt es ihr an der rechten Frömmigkeit , « sagte die Pastorin klagend . Als sie sah , daß Magnus vom Zeugständer auf dem Flur seinen Hut nahm , fragte sie hastig : » Wo willst Du hin ? Wir sind eingeladen , den Tag hier zu bleiben . « » Nur dies zu Hause in meine Kommode schließen und mir ein Buch holen . « » Laß nur . Ich gehe eben , « rief die Pastorin , der einfiel , daß Magnus gestern geäußert habe , Severina besitze jene eigentümliche , temperamentvolle Häßlichkeit , die gefährlicher sei als manche Schönheit . Und Severina war allein in der Pfarre . So ging sie denn , und Vater und Sohn gesellten sich dem Baron auf der Terrasse zu . Viertes Kapitel Es war am Abend dieses Tages . Adrienne saß mit einem Buch in der Hand auf der Terrasse , wo Fanny mit dem Pastorenehepaar und Lanzenau schon seit sieben Uhr Whist spielte . Die junge Frau begriff Fannys Geduld nicht ; sie ihrerseits fühlte sich schon nach einer Stunde so nervös vom Zusehen , daß ihr das Aufstoßen der Karten auf die Tischplatte , wenn die Spieler ihre Stiche zusammennahmen , jedesmal einen leichten Schreck verursachte . Und diese im Text sich ewig gleichenden Bemerkungen der Spieler über Bilder , Renoncen , Tricks und Rubber ! Adrienne schielte zuweilen über ihr Buch hinweg zum jungen Doktor Hesselbarth hinüber , der am andern Ende der Terrasse lesend saß . Doch schien diesen das einförmige Geräusch nicht zu stören . Er las mit einer Vertiefung , als befände er sich etwa allein in seinem Studirzimmer . Jedermann schien überhaupt in diesem Hause die unbegrenztesten Freiheiten zu genießen , mit Ausnahme von Fanny , die offenbar ihre Aufgabe darin fand , sich von den anderen ausnützen zu lassen . Nun , die Gründe für diese unbegreifliche Lebensgestaltung würden sich ihr schon allmälich enthüllen , dachte Adrienne und erhob sich endlich , als sie fühlte , daß ihre Ungeduld über die Ausdauer der Spieler sich bis zum Aerger darüber steigerte , daß niemand sich um sie bekümmerte . Wenn doch wenigstens Severina dagewesen wäre , allein diese war von der Pastorin mit dem Bedeuten weggeschickt , sie müsse zu Hause einhüten , weil die Magd einen Abendurlaub erbeten . Als Adrienne am Kartentisch vorbei ins Haus ging , nickte Fanny ihr zu und fragte ausspielend : » Willst Du nach Baby sehen ? Küß es zur Nacht von mir . « In der That hatte Adrienne ihr Kind aufsuchen und zusehen wollen , ob es schlafe . Eine dunkle Sehnsucht war in ihr Herz gekommen , das Wesen zu liebkosen , das einzige , welches ihr zu eigen gehörte . In Fannys Frage fand sie aber den Vorwurf , daß sie sich den ganzen Tag nicht um den Kleinen bekümmert habe , und ging nun trotzig nicht hinauf , sondern durch den Saal über den Flur , vorn hinaus und setzte sich da in den Beischlag . Aber sie fand es bald langweilig , auf den nun am Abend ganz unbelebten Hof zu sehen oder die dunkle Ulmenallee entlang zu gucken , wo sich doch nichts Lebendes zeigte . Die Bauern lieben nach der sauren Tagesarbeit im Freien , sich in Stube und Tenne auszuruhen . Spazierengehen in würziger Abendluft gehört für sie zu den unbegriffenen Luxusbedürfnissen des Städters . Adrienne ging um das Haus und durch schmale Seitenwege parkeinwärts . Der Abend fing an , sich grau unter Stämmen und Buschwerk auszubreiten ; als Adrienne , schon fern vom Hause , einen das Rasenparterre durchschneidenden Pfad verfolgte , sah sie auf der Terrasse Windlichter aufblitzen : offenbar setzten die Kartenspieler ihre öde Thätigkeit nun bei Beleuchtung fort . Die junge Frau hatte von der Ausdehnung des Parks und der Verschlungenheit seiner Wege keine rechte Vorstellung . Sie glaubte , daß alle Wege sie wieder dem Hause zuführen müßten , und ging langsam weiter und weiter . Plötzlich sah sie nahe vor sich das Gebüsch breit auseinander weichen , der Weg trat in ein Halbrund ein , und dieses war abgeschnitten durch ein breites Wasser . Nahe am Ufer , das von jungem Röhricht eingefaßt war , stand ein Holztisch und davor zwei Bänke ; Tisch und Bänke von jener einfachsten Art , die auf vier dünne Baumstämmchen ein paar dürftig behobelte Bretter nagelt . Adrienne ging durch das feuchte Gras und setzte sich auf eine Bank , die Ellenbogen auf den Tisch , das Kinn auf die gefalteten Hände stützend . Die flache , weite Gegend war nun ganz verschattet , rings um den Horizont stand es wie eine Dunstmauer . Die Elbe schob Welle um Welle in sanfter Bewegung vorwärts , im Schilfrohr am Ufer raschelte es zuweilen , ein Frosch sprang auf und plumpste ins Wasser , sonst waren alle Töne des Lebens nah und fern erstorben . Adrienne war von namenloser Furcht ergriffen . Hinter ihr der Park stand zwischen ihr und der Welt wie eine schwarze Mauer , die zu durchbrechen sie sich um keinen Preis getraut hätte . Vor ihr hemmte der breite Strom die Flucht . Das gegenüberliegende Ufer , am Tag ein harmloses Rapsfeld , erschien jetzt wie ein düsteres Land , aus dem jede Minute unbekannte Schrecknisse hervorbrechen konnten . Nun erschien dort rechts hinauf über dem Horizont , dessen Grenze übrigens schon längst mit dem Lande in einer schwarzen , untrennbaren Finsternis sich vermengt hatte , ein breiter roter Schein ; – kein Schein eigentlich , denn die kupferglänzende , schräg abgeflachte Scheibe , die da gespenstisch schnell emporrückte , warf keine Strahlen . Wie ein umqualmter Feuerbrand ging der Mond am schwarzen Himmel empor . Er erschien der geängsteten Frau wie ein großes , strafendes Auge , ausschließlich auf sie gerichtet . Sie fürchtete sich wie ein kleines Kind allein im Dunkeln und schrie gell auf , als plötzlich ein fester , rascher Schritt ihr nahe schon ertönte . » Hallo – ist da jemand ? « fragte eine Stimme , welche Adrienne , erlöst aufatmend , für die von Magnus erkannte . Ich bin es , « sagte sie schüchtern . Aber auch der Doktor hatte , näher kommend , an dem hellen Gewand und den schmalen Umrissen Fannys Gast erkannt . » Bewundern Sie auch den Mondaufgang , gnädige Frau ? « fragte er . » Ach nein , « sprach sie weinerlich , » ich habe mich nur hieher verirrt . Bitte , bringen Sie mich zurück . « » Ich rate Ihnen , noch eine Viertelstunde auszuhalten . Wie der strahlenlose Feuerball sich allmälich in lauter Silberglanz wandelt , das ist ein überherrliches Schauspiel . « Er setzte sich Adrienne gegenüber ; es war klar , er war hergekommen , dies Schauspiel zu genießen , und ängstlich blieb die junge Frau sitzen . Sie war nicht gewohnt , die Natur zu beobachten und zu genießen , und jene hundertfältigen Schönheiten blieben ihr verborgen , die geschulte , schauensfreudige Augen sehen , die gesammelte Sinne empfinden . Sie merkte jetzt nur , daß es feucht aus dem Rasen aufstieg und daß es kühl wurde . Er aber sah auf dem dunkeltönigen Bilde , das mälich von weißlichen Lichtern überhellt wurde , ein junges , schönes Weib , welches in seiner überzarten Erscheinung wie die passendste Staffage in die Mondnacht gesetzt war . Der Mondschein spielte um ein weißes Gesicht , aus dem ein Paar großer Augen unsäglich trostlos himmelwärts schauten . Ueber dem Flußbett schwebten weißliche Nebel , die dampfend von der Wasserfläche aufstiegen . Auf dem feuchten Rasen , auf dem Laub der nächsten Büsche lag jener kalte Glanz , den das Nachtgestirn um sich verbreitet , und in Schatten flog es zuweilen wie ein Demantschimmer schnell vorüber : Johanniswürmchen begannen da ihre Nachtlust . » Nicht wahr , « sagte Magnus , » es ist schön ? « Sie nickte nur . » Die Schönheiten unserer Gegend sind wie die Schönheiten eines tiefsinnigen Werkes : man erfaßt sie erst durch Studium , « sagte er . » Ja , « antwortete sie . » O weh , « dachte Magnus , » das schöne Bild deckt eine Oede zu ! Ich habe den ganzen Tag kein Wort gehört , das auch nur auf die notdürftigste Gedankenvegetation schließen ließe . Hinter der weißen Stirn und dem rötlichen Haar scheint steriler Boden . « Dabei sah er unwillkürlich sein Gegenüber ungenirt forschend an . Dieser Blick war Adrienne unbehaglich , sie sagte mit einer gewissen Schärfe : » Ich bin kein tiefsinniges Werk . « So schnippisch kann nur eine unreife und unerfahrene Frau sein , deshalb freute er sich der Antwort , denn ihm wohnte , wie den meisten jungen Gelehrten , den Frauen gegenüber ein Gefühl der Ueberlegenheit , um nicht zu sagen Ueberhebung , inne . » Verzeihen Sie , « sprach er lächelnd , » aber ich bin kurzsichtig , und da erscheint mein Blick gleich unbescheiden , wenn ich jemand nahe ansehe . « » Haben Sie jetzt den Mond genug bewundert ? « Er sprang auf . » Sie wünschen heimzukehren ? Ich stehe zu Befehl ! « Adrienne ging hastig voran , aber kaum traten von rechts und links die dichten Baumschläge an den engen Weg , als sie sich in so offenbarer Furcht nach Magnus umwandte , daß dieser ihr den Arm anbot . » Ob wir Fanny noch bei dem schrecklichen Whist finden ? « sagte Adrienne . » Pünktlich um halb zehn hört er auf . Fanny verliert immer ihr Geld , nie ihre Geduld dabei ; man spielt um ein Geringes , aber Lanzenau und meine Mutter sind verstimmt , wenn sie verlieren . Ihnen ist dies Spielchen Erholung , Vergnügen , mein Vater und Fanny bringen ein Opfer . « » Ums Himmels willen , Fanny scheint aller Welt Opfer zu bringen ! « rief Adrienne . Dann zuckte sie zusammen : im Gebüsch hatte es geraschelt . Magnus zog ihren Arm zur Beruhigung fest an sich . » Fanny ? Ich weiß nicht , ob man Thaten , die einem seelischen Bedürfnis entspringen , noch Opfer nennen kann . Freilich , das Kartenspiel ist ein kleines – aber sie bringt es Lanzenau , « sagte Magnus . » Lanzenau ? Das sagen Sie mit einer Betonung , als wäre er für Fanny der Gegenstand höchster Güte , « bemerkte Adrienne ; » man sieht es nicht im freundlichen Verkehr zwischen beiden . Aber dennoch frage ich mich , weshalb heiraten sie einander nicht , und ist es möglich , daß Fanny , so in ihren besten Jahren , niemals den Wunsch haben sollte ... ich meine ... ich wollte sagen ... warum sie wohl Witwe bleibt ? « » Da fragen Sie mich zu viel . Seit ich ein Junge von zwölf Jahren bin , war ich von der Schule , dann von der Universität immer nur zum Besuch hier . Herrn Försters erinnere ich mich kaum , doch Sie wissen , man gewinnt mit der Zeit so was wie ein retrospektives Verständnis , und so verstehe ich auch jetzt , daß mit den Jahren die Lebensbilder , die ich hier im Ausschnitt sah , immer heiterer und friedlicher wurden . Lanzenau war schon immer eine stehende Figur darin , auch zu Försters Zeiten . Damals gehörte ihm Driesa . « » Ah , « sagte Adrienne mit dem Ausdruck unaussprechlichen Verlangens in Stimme und Antlitz , » wenn ich Fanny wäre , lebte ich anders . « » Wie denn ? « fragte Magnus , der von diesem Ausdruck gepackt wurde . » Ich weiß nicht , wie , « flüsterte sie , » nur müßte jeder Tag eine neue Wonne , ein anderer Genuß sein . « Magnus schwieg mit einigem Herzklopfen . Das also , das stand hinter der weißen Stirn ! Die schönen Lippen waren nur so schweigsam , weil der Durst sie zusammenpreßte ! Es fiel Adrienne nicht auf , daß er ganz verstummte . Sie hatte so viel zu denken , daß sie seiner Unterhaltung nicht bedurfte . So kamen sie vor der Terrasse an . Dort räumte gerade ein Diener den Kartentisch ab , aus dem Gartensaal brach ein Lichtstrom , man sah mitten in demselben Fanny und Lanzenau stehen , Lanzenau schien aus einem Zeitungsblatt eine Notiz zu lesen . Magnus' Eltern waren nicht mehr da . » Ich habe mich schon vorhin von Fanny verabschiedet und gehe nicht mehr hinein . Gute Nacht ! « » Gute Nacht ! « sagte Adrienne und legte ihre kalte Hand in seine warme . Sie standen am Fuße der wenigen Stufen , die zur Terrasse emporführten ; im Schein des Lichts , das vom Hause kam , sah Adrienne die braunen Augen Magnus ' mit jenem zudringlichen feurigen Blick auf sich gerichtet , den Männer schnell für eine schöne Frau haben , die ein Bedürfnis oder den Wunsch nach » Trost « gezeigt hat , – dem Blick , den Wegelagerer auf eine scheinbar wenig verteidigte Beute richten . Adrienne erzitterte – so hatte sie noch kein Mensch angesehen , und ihr blieb auch alles Unbescheidene in dem Blick verborgen , sie bemerkte nur das Feuer , und das genügte , sie fliehen zu lassen . Mit eilenden Füßen lief sie über Treppe und Terrasse in den Gartensaal . » Gute Nacht , Fanny ! « sagte sie und wollte ihr im Vorübergehen die Hand reichen . Fanny hielt sie fest , zog eine Depesche aus der Tasche , gab sie Adrienne und machte : Pst ! Lesen , aber nichts sagen . « Adrienne las , was da der Blaustift des Bahnhofinspektors auf das Depeschenformular hingeschrieben : » Ich komme an dem gewünschten Tag . Joachim von Herebrecht . « » Ein Geheimnis vor mir ? « fragte Lanzenau , scherzhaft drohend . » Ja , « sagte Fanny , » das Geheimnis einer Verschwörung . Aber nun geh schlafen , armes Kind , Du siehst ganz bleich und übernächtig aus . Ich bin auch müde , aber ich habe noch einiges mit Lanzenau zu besprechen , wozu der Tag uns keine Muße gab . « Adrienne murmelte etwas davon , daß sie in der That sehr abgespannt sei , und war froh , sich von beiden verabschieden zu können . » Kommen Sie , « sprach Fanny ; » was wir uns zu sagen haben , können wir uns draußen sagen . Die Nacht ist so wohlig kühl . « Sie ging auf die Terrasse hinaus und setzte sich in einen leichten Schaukelstuhl ; sie stemmte die Arme auf seine Seitenlehnen und die gekreuzten Füße auf einen Schemel . Den Kopf weit zurücklegend gegen die Holzeinfassung der rohrgeflochtenen Lehne , schaute sie zu dem neben ihr stehenden Lanzenau empor und fragte : » Nun ? « Lanzenau , der die Rechte sehr nahe an Fannys Kopf auf die Stuhllehne gelegt hatte , strich mit der Linken seine Haarlocke gesichtwärts glatt . Fanny wußte ganz genau , daß das bei ihm nervöse Aufregung bedeutete . » Wollen Sie nicht rauchen ? « fragte sie . » Also ich werde eines Beruhigungsmittels bedürfen ? « fragte er mit einem schwachen Lächeln entgegen . » Nein , Fanny , ich will keines , sondern ich will meinem Henker – wenn er wirklich als solcher vor mir sitzt – fest in die Augen sehen ; in diese grausamen , schönen Augen , die immer klar bleiben wie ein Himmel , über den nie ein Gewitter zieht . « Er schob das Windlicht auf dem Tisch neben Fannys Stuhl etwas weiter fort , nahm sich einen Sessel und setzte sich Fanny so nahe gegenüber , als es ihre jeweiligen schaukelnden Bewegungen nur irgend erlaubten . Mit vorgebeugtem Oberkörper faltete er seine Hände zwischen seinen Knieen , sah Fanny eindringlich an und sagte : » Dreimal , liebe Fanny , haben Sie seit dem Tode Ihres Gatten meine Werbung um Ihre Hand abschlägig beschieden , aber jedesmal hat die Art der Abweisung , hat Ihre liebevolle Güte nachher neue Hoffnung in mir genährt . Die Jahre sind darüber hingegangen , ich habe keine mehr zu verlieren in dem Kampf um Glück ; jetzt muß es mein werden oder ich muß für immer verzichten . « » Ja , « seufzte Fanny , » wir sind darüber alt geworden . « » Nicht Sie , nicht Sie ! Sie sehen aus , als zählten Sie fünfundzwanzig Jahre . « Sie wissen doch , Lanzenau , wenn man einer Frau von dreißig und darüber sagt , sie sähe aus wie fünfundzwanzig , so involvirt das Kompliment das Geständnis , daß ihre dreißig Jahre ein Verbrechen sind . « » Fanny , « sagte er ungeduldig , » Sie wissen , diese Spitzfindigkeit ist mir gegenüber nicht am Platz . « » Sie sagen mir im Tone des Vorwurfs , « knüpfte sie mit plötzlichem Ernst an seine Eingangsworte an , » daß mein Wesen Ihnen immer neue Hoffnung gegeben . Wie , sollte es immer die bittere Folge eines abgewiesenen Antrags sein , daß man einen lieben , unentbehrlichen Freund aus seinem Leben verliert ? Könnten Sie mich je , könnte ich je Sie entbehren , so wie unser Dasein sich nun einmal gestaltet hat ? Lieber Lanzenau , als Sie das erstemal um mich warben , war Ihre Aussicht die größte ; ich schwankte . Und heute ist sie die geringste , denn heute wird mein › Nein ! ‹ ein ganz bestimmtes sein . Ich hätte es Ihnen schon vor meiner Abreise geben können , aber Sie selbst baten um Antwort erst nach der Rückkehr . Glaubten Sie wirklich , ich hätte der fünftägigen Ueberlegung bedurft ? « » Darf ich Sie bitten , mir klar zu machen , wie unsere gegenseitige Unentbehrlichkeit mit Ihrer Abneigung , mich zu heiraten , in Einklang zu bringen ist ? « fragte der Baron mit einer traurigen , mutlosen Stimme . Da es doch eine Zeit gab , wo keinerlei Abneigung bestand ? « setzte Fanny leise hinzu . » Ja , so hätten Sie vollenden dürfen ; daß Sie den Gedanken , die peinliche Mahnung verschwiegen , ritterlich und großmütig wie immer , das legt mir die Pflicht auf , selbst daran zu rühren . « Er machte eine abwehrende Handbewegung . » Nein , « sagte sie hastig , » einmal , einmal muß alles vom Herzen herunter . « Ihre Augen bohrten sich in das nächtige Dunkel des Parkes , und sie sprach , in Unbeweglichkeit verharrend , langsam und leise in die Nacht hinein , als säße kein Zuhörer ihr nahe gegenüber , der mit scharfen , klugen Augen ihr jedes Wort von den Lippen las . » Ich weiß es noch wie heute , als Sie zuerst dies Haus betraten . Es war nach dem Tode Ihres Vaters , der Ihnen Driesa in höchster Unordnung hinterlassen . Sie waren aus einem glänzenden , arbeitslosen Kavalierleben hieher geeilt , um Ihr Erbe zu ordnen . Es fand sich , daß der einzige Weg dazu der Verkauf des Familiengutes war . Mein Mann wollte es erwerben , aber Ihr Wunsch , das geringe Vermögen , welches Ihnen blieb , als Hypothek auf Driesa sicher zu stellen , scheiterte an dem Eigensinn meines Mannes , der in diesem Ihrem Wunsch die geheime Hoffnung Ihrerseits fand , eines Tages wieder Besitzer werden zu können . Ich verstand , daß Sie sich bloß fürchteten , Ihr Restchen Eigentum in wenig Jahren zu vergeuden und daß Sie den eigenen Grandseigneurangewohnheiten einen gewaltsamen Zügel anlegen wollten ; denn eine unkündbare Hypothek sicherte Ihnen zeitlebens einen kleinen Zins , genügend für ein bescheidenes Junggesellenleben , aber sie verbot Ihnen jede Verschwendung . « » Und dies Ihr Verstehen führte uns zuerst zusammen . Ich sehe die junge Priesterin der Vernunft noch vor mir , wie sie mir mit leuchtenden Augen und beredten Lippen meinen Vorsatz lobte , wie sie mir versprach , bei dem Gatten für mich zu wirken , « setzte Lanzenau warm hinzu . » Ja , ich ereiferte mich für Sie und Ihre Sache . In meinen inhaltslosen Tagen war es der erste Gegenstand , für den ich wirken konnte . Sie gaben mir zu thun , und Sie , aus dem rauschenden Leben in diese unerträgliche Stille versetzt , Sie fühlten es als Ihr Herrenrecht , der jungen , ungestümen Frau – die Cour zu machen . Wir kokettirten mit einander , ohne das allergeringste für einander zu fühlen , – nur so faute de mieux . « » O Fanny , wie hart ! « » Ja , « sagte sie herbe , » wir wollen ganz wahr sein . Gott sei Dank , daß wir es können , und daß , wenn wir uns die Masken vom Gesicht nehmen , nur menschliche Irrtümer , menschliche Flecken zu sehen sind , keine teuflischen Häßlichkeiten . Wir redeten uns ein , in einander verliebt zu sein , und das kam so : Ich war ein Kind , als ich Förster heiratete , ein unfertiges Kind , das Herz voll überspannter Gefühle , den Kopf voll übertriebener Ideen . Ich wollte lieben und geliebt sein wie eine Julia , ich wollte arbeiten und schaffen als die gleichberechtigte Genossin meines Mannes . Für den ernsten , älteren , vielbeschäftigten Förster sollte ich aber nur das liebenswürdige Aufheiterungsmittel der Erholungsstunden sein . Das war mir zu wenig . Ich war überzeugt , eine Frau werde entmündigt , wenn man sie nicht als Wirkerin und Richterin in den großen Fragen der Zeit heranzöge . Den Wust von ungeordneten Gedanken , der hinter meiner achtzehnjährigen Stirn umherwühlte , nahm ich für das Zeugnis bedeutender Anlagen , die zu erkennen Förster nicht im stande sei . Manch wirklich vernünftiger Wunsch erschien ihm thöricht , weil die Form , in welcher ich ihn vortrug , zu anspruchsvoll war . Vielleicht daß ihm in der That die Fähigkeit oder die Geduld abging , mich zu erziehen , zu verstehen – kurz , ich war bald ein Musterexemplar von jener Gattung , die man › unverstandene Frauen ‹ nennt , also ein unnützliches , unausstehliches Geschöpf . Für solche Frauen sollte im Strafgesetzbuch ein besonderer Paragraph stehen . Denn sehen Sie , bin ich , die ich hier sitze – eine ziemlich vernünftige Frau , die in mannigfachen Pflichten heiter ist und das Unvollkommene , das jegliches Dasein schließlich hat , gleichmütig erträgt – bin ich nicht dieselbe Fanny , die auch damals hätte schon Freude am Leben haben können und auch anderen hätte zu machen vermögen ? Das bißchen Vernunft , das heute zu Wort gekommen ist , saß doch schon immer in mir , weshalb hatte ich es damals nicht ausgegraben ? « » Liebste Fanny , « sprach Lanzenau , » der Wahn , nicht verstanden zu sein , ist bei den jungen Frauen ein Durchgangsstadium , wie bei den Kindern das Ausfallen der Milchzähne . Zum Durchbeißen der härteren Lebenskost wächst dann ein neues Gebiß . « » Mag sein . Nur hat der arme Förster gewiß viel zu leiden gehabt . Mißverstehen Sie mich nicht , ich verliere mich nicht in falsche Reue , denn mit ehrlichem Herzen habe ich auch damals ihn glücklich machen wollen ; daß ich in den Wegen dazu irrte , ist Jugend schuld gewesen . Mangel an Erkenntnis entlastet vor jedem Richter . Aber dann kamen Sie . Die unverstandene Frau bekam ihr naturnotwendiges Attribut : den Tröster . Es mag eine Komödie zum Lachen gewesen sein mit uns beiden , Lanzenau .