1 Es war eine lange Gasse mit niedern Häuschen und Bäumen davor , in der Frau Lobreis wohnte . Am Ende der Gasse stand die alte Kirche mit ihrem etwas schiefen Thurm und der grünlichen Patina auf dem steil abfallenden Dach . Früher , vor Jahrhunderten , war das Kirchlein katholisch gewesen ; jetzt gehörte es den Evangelischen . Alle Sonntage war Gottesdienst . Dann erklang eine alte wundersame Orgel , und der Pfarrer , ein weißhaariger Greis , sprach von der Güte Gottes . Manchmal , wenn die Kirchthüre geöffnet blieb , schlüpfte wohl gar eine Schwalbe in den dämmerigen Gottesraum . Dann kicherten die Kinder und stießen sich verstohlen an . Es war ein stiller Winkel , dieses Sienenthal , und wie für müde Menschen zum Ausruhen geschaffen . Die aber noch nicht müde waren , fanden es unerträglich langweilig . Zu diesen gehörte auch Johanne Grün , die achtzehnjährige Enkelin der Frau Lobreis . Ihre Eltern waren schon vor Jahren gestorben ; sie selbst war damals noch so jung gewesen , daß sie sich ihrer fast nicht mehr erinnerte . Sie lebte mit ihrer Großmutter zusammen . Seit die alte Frau das Gehör verloren hatte , sprachen sie wenig miteinander . Johanne besorgte die kleine Wirtschaft . Das Häuschen enthielt nur drei Stuben , die bald in Ordnung gebracht waren . Ebenso der kleine Garten , in dem sie ihr Gemüse pflanzten . Hie und da erschien ein oder das andere flachshaarige junge Mädchen bei Großmuttern , um Grüße von den Eltern zu bestellen , – die Alte ging nie aus – oder mit Johannen ein Viertelstündchen zu plaudern . Aber das geschah nicht zu häufig . Da wars denn recht ruhig in dem kleinen Haus . Johanne blieb sehr viel sich selbst überlassen . Sie strickte Strümpfe in allen Farben und Längen und beschenkte alljährlich die Großmutter mit verschiedenen » Haussegen « , Nadelkissen und ähnlichen mühsam und zierlich hergestellten Arbeiten . Aber die Zeit wollte ihr trotz des Fleißes nicht schneller vergehen . Manchmal , wenn es ihr gar zu einsam wurde , verließ sie das Haus und besuchte einen der beiden Orte , die ihre einzige Freude bildeten . Da war die Kirche mit ihrer dämmerigen Halle , wo sichs so herrlich träumen ließ , oder der alte Kaffee- und Zuckerladen an der nächsten Ecke , wo man gegen geringes Entgelt auch Bücher zu leihen bekam . Die Bücher , die sie da holte , hatten ebenfalls einen leisen Modergeruch an sich . Es waren verschiedene alte Autoren , die mit fleckig gewordenen Kupfern geziert waren . Fräulein und Frauen im Keifrock mit hohen Frisuren und süßlichem Lächeln , oder Jünglinge mit stolzen Zügen , die irgend eine Heldenthat vollführten , sah man da . Seit der bejahrte Ladenbesitzer gestorben war und eine entfernte Verwandte – man hielt sie wenigstens dafür – das Geschäft übernommen hatte , gabs auch neue Bücher zu lesen . Johanne brauchte keine Leihgebühr zu bezahlen , da sie sämtlichen Hausbedarf in dem Laden kaufte . Die Ladeninhaberin , die aus einer großen Stadt gekommen war , schwärmte mit ihr um die Wette für » interessante Geschichten « . Sie war ein älteres Fräulein , das wenig Aussicht mehr im Leben hatte und deshalb sofort hierhereilte , das Erbe zu übernehmen . Sie lasen Erzählungen von Christoph Schmid und Clauren mit derselben Andacht , sie weinten über das Schicksal der Helden Bulvers , und regten sich über Eugen Sue auf . Am meisten ergriff Johanne in jener Zeit ein Band von der seligen Mühlbach , der » Berlin vor fünfzehn Jahren « hieß und sehr rührselig geschrieben war . Manchmal kamen dann einige moderne Autoren hereingeschneit , die im Auftrage des Fräuleins von den Verwandten in der Stadt für das Geschäft zu billigem Preise eingekauft wurden . Dann saß Johanne halbe Nächte über die Blätter geneigt , das heiße Gesicht in die Hände gestützt , und las . Und die Großmutter schüttelte mißbilligend den Kopf und schalt über den Lichtverbrauch , wenn sie am andern Tag den langen verkohlten Docht in der Oellampe sah . Die Leute im Markte nannten Johanne wegen ihrer Lesewut scherzend : die Märchenprinzessin . Aeußerlich sah sie aber keiner Prinzessin ähnlich . Sie war mittelgroß , besaß ein etwas stumpfes Näschen , einen kindischen Mund , der fast immer ein wenig geöffnet stand , eine schmale , nicht besonders schön geformte Stirne , und reiches braungoldnes Haar , das sie aber recht ungeschickt aufsteckte . Nur eine Schönheit war ihr eigen . Ein Paar großer , lieber , blauer Augen , voll träumender Sehnsucht und Kindergüte . Ueber diesen Augen wölbten sich tiefschwarze Brauen , in schönen Bogen gezeichnet . Der alte Pfarrer pflegte , wenn er die Großmutter besuchte , mit den Fingern über diese Brauen zu fahren . » Wirklich nicht gefärbt ? « sagte er dann jedesmal , die Spitzen seiner Finger aufmerksam betrachtend . Johanne , wurde immer sehr rot und lachte . Einmal , als er kam fand er sie strickend und dabei lesend . » Was liest du denn da ? « fragte er . Sie reichte ihm das Buch hin . Es war ein Roman Walter Scotts . Der Pfarrer sah sie mißbilligend an . Wie kannst du solches Zeug lesen ? Das verdreht dir den Kopf . Du müßtest weniger lesen und mehr im Haus arbeiten « . Solange die Großmutter lebte , ließ sich wenig thun . Abends ging Johanne zu Fräulein Wewerka und klagte ihr , daß der Pfarrer sie ausgescholten hätte . » Ach in einem so langweiligen Nest « meinte das Ladenfräulein , » was soll man denn anders thun als lesen , besonders wenn man so allein steht wie Sie . Lesen Sie nur weiter , das ist kein Unrecht « . Da augenblicklich niemand in den Laden kam , setzten sich die Beiden auf das alte schwarze Ledersopha und plauderten . » Nirgends ists so gemütlich wie bei Ihnen « meinte das junge Mädchen und blickte in dem engen verräucherten Stübchen umher . » Das machen wohl nur die vielen Bücher auf den Wandregalen « sagte Fräulein Wewerka , » mir kommts schrecklich ungemütlich hier vor . Ich bin an die großen Räume in der Stadt gewöhnt , aber was will man machen . Hätte ich das Geschäft verkauft , so wäre ich sicher dabei zu kurz gekommen . So trägt es mir , wenn auch nicht hohen , aber sichern Gewinn , von dem ich später einmal in der Stadt leben kann « . » Also Sie gehen wieder dahin zurück ? « Johanne blickte sie neidvoll an . Ja später , nach einigen Jahren ; sagen Sie es aber noch niemandem « . » Mein Gott , wie schön muß es dort sein « seufzte die Kleine . » Und die vielen berühmten Leute , die in so einer Stadt wohnen , der Kaiser und die Generale , und die Künstler alle « setzte Fräulein Wewerka hinzu . » Mein Bruder ist Redakteur einer Zeitung und selbst Schriftsteller ; alle die bekanntesten Dichter kommen zu ihm und unterhalten sich mit ihm . Auch große Schauspieler und deren Frauen . Das ist herrlich . Da weiß man doch , daß man lebt und auf der Höhe seiner Zeit steht . « » Ach ja , jawohl « die Augen des jungen Mädchens glänzten , » wenn ich doch auch einmal dahin könnte . Aber ich habe keinen einzigen Menschen da « . » O was das betrifft « meinte das alte Fräulein , » ist man erst dort , so macht man genug Bekanntschaften « . In diesem Augenblick ertönte mit dünnem Klang die Ladenklingel . Betty Wewerka erhob sich , um die eintretenden Kunden zu bedienen . Johanne schüttelte ihr die Hand und entfernte sich , das erhaltene Buch sorgsam unter ihrem Tuche verbergend . So wenig inhaltreich das Gespräch war , für Johanne barg es dennoch eine Fülle Stoffes zum Nachdenken . Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen . Sie hatte noch keine große Stadt gesehen , und ihre Phantasie zauberte ihr Bulvers Pompeji vor . Marmor auf den Straßen , herrlich gekleidete Menschen , Häuser aus edlem Gestein , Gärten voll köstlicher Gewächse . Und in dieser prächtigen Umgebung schritten sie dahin , die Berühmten , klassisch schöne Gestalten , denen man es ansah , daß sie wunderbare Bücher schrieben und himmlische Musik machten . » Da weiß man , daß man auf der Höhe seiner Zeit steht « . Ach Gott , ja . Mit einem Seufzer kehrte sich Johanne zum dreißigsten Mal in dieser Nacht in ihrem Bettchen um und entschlief endlich . Am Morgen saß sie verträumt am Herde und bereitete das Frühstück . Drin in der Stube gröhlte die Großmutter , daß der Kaffee so lange auf sich warten lasse . Johanne machte ein Mäulchen . Heute zum ersten Mal fand sie , daß die Großmutter doch gar zu wenig auf sich hielt . Sah sie eigentlich – nicht aus wie eine Hexe in ihrem blauen altmodischen Tuchspenzer über dem schwarzen , kurzen Rock , der die in Filzschuhen steckenden Füße sehen ließ ? Und diese große , schwarze Bänderhaube , die sie wer weiß wie lange schon trug , und aus der ihr verrunzeltes blasses Gesicht fast unheimlich hervorblickte . Auch krochen immer ein paar Büschel fahler Haare aus der Haube an den Schläfen hervor . Und manchmal konnte sie ordentlich wild aussehen , die Großmutter , wenn ihr etwas gegen den Willen geschah , denn sie hatte noch recht lebendige Augen , graue , durchdringende , und es wäre schwer gewesen , sie anzulügen . Freilich , in dieser verblichenen , wenig schönen Hülle steckte ein wackeres , braves Herz , das viel gelitten und viel gekämpft hatte . Während Johanne sie mit weniger zärtlichen Blicken als sonst betrachtete , fiel ihr dies plötzlich ein , und sie trat leise zu ihr und zog ihre Hand an die Lippen . Dann ging sie , um Raupen von den Kohlköpfen zu suchen . – Trotzdem äußerlich alles war wie gestern , innerlich , tief in ihr , drängten sich fremde , neue Bilder . Am Nachmittag besuchten sie zwei junge Mädchen . Sie plauderten wie immer ihre harmlosen Neuigkeiten aus . Nachbar Hausners Hahn war abgestochen worden , weil er von Alter blind war und die Körner im Futtertrog nicht mehr sah . Fiedlers Karl hatte seinen Schuhladen neu angestrichen , und die Bäckerliese hatte endlich das ersehnte kleine Mädchen zu ihren fünf Buben gekriegt . Johanne bemühte sich , ein interessiertes Gesicht zu zeigen . Aber bei sich dachte sie : sonst giebts nichts ? Die jungen Mädchen fanden sie einsilbig , und sie fand die jungen Mädchen langweilig , und so trennten sie sich zum ersten Mal weniger herzlich als sonst . Als sie fort waren , und die Großmutter wie gewöhnlich in ihrem Sessel schlafend saß , während das Strickzeug müßig in ihrem Schooß lag , zog Johanne ihr Buch hervor . Es waren Gedichte , und der Mann der sie geschrieben hatte , hieß Hans Tage . Johanne las von blauen Lüften mit singenden Sternen , von heimlichen Wäldern mit Vögeln , die träumten und im Schlaf ihr goldenes Gefieder wiegten . Sie las von Menschen , die mit Kronen auf den Häuptern umherschritten und jeden sie Begegnenden » du « und » Bruder « nannten ; von großen Festtafeln , die sich von einem Ende der Stadt zum andern zogen und nie leer wurden , so daß es keinen Hunger mehr im Lande gab . Von köstlichen Spielen , an denen alle , auch die keinen Reichtum besaßen , teilnehmen durften . Von Kraft , Schönheit , Gesundheit , die Jeder haben konnte , der sie begehrte . Sie las und las , und weinte warme , junge Thränen über diese Welt voll herrlicher Güte , die der edle Dichter den Armen schenken wollte , und auch schenkte , wenn auch nur auf den – Buchseiten . Johanne küßte den Namen des Autors und saß , die Hände im Schooß gefaltet , lange Stunden in seligem Rausche da . Was mußte das für ein Mensch sein , der so Herrliches schrieb ? Eine Art Christus , ein ganz Großartiger . Und schön mußte er sein , der so dichten konnte ! Gleich einem Menschen der Vorzeit , mit Schultern stark wie aus Marmor , die mitleidig das ganze Leid der Menschheit auf sich laden wollten ; mit Händen die vor Gnade tropften , mit Augen , leuchtend und groß und blau wie die Südsee . Der stand auf der Höhe seiner Zeit . Wer doch seine Hand berühren , ihm ins begeisterte Auge schauen durfte . Mit ihm sprechen , Geist von seinem Geist empfangen ! ..... Johanne suchte schauernd und glühend ihr Schlafstübchen auf ..... Im Sommer glich Sienenthal einem blühenden Garten , in dem sich die kleinen Häuser wie Lusthäuschen ausnahmen . Auch die » Hauptstraße « , die lange Gasse , in der Johanne wohnte , war voll vom Dufte der Linden , dem Gezwitscher der Vögel . Man konnte sich sehr wohl fühlen in diesen Gäßlein , auf diesen Plätzen wo das Gras zwischen den Steinen wucherte , und Gänse , Enten und gackernde Hühner umherstiegen . Aber im Winter ! Als ob alles ausgestorben wäre ! Selbst der Klang der alten Orgel drang nur spärlich herüber und besaß nicht die Macht , den dicken eisigen Nebel zu durchbrechen , der über der Gegend lagerte . Dann schlichen die Leute in große , grobe Tücher gehüllt umher , und nur ihre vor Kälte bläulichen Nasen guckten aus den Hüllen . Und jeder hielt sich soviel wie möglich im Innern seiner Wohnung auf , und draußen war alles voll unbetretnen Schnees und voll Einsamkeit . Johanne erschienen diese leeren langen Tage und Abende an der Seite der tauben Großmutter unbeschreiblich traurig . Sie saßen dann einander gegenüber , die Alte nickte und die Junge beschäftigte sich mit irgend einer Handarbeit und beobachtete dabei das Gesicht der Greisin . Und dann dachte sie : so werde auch ich einst aussehen wenn ich alt bin ; und sie konnte nicht genug staunen , wie diese Frau mit dem eingetrockneten , fahlen Gesichte einmal rund und rosig und schön war und Liebe und Gefallen erregt hatte . Und doch war ihr oft genug erzählt worden , daß ihre Großmutter die schönste Frau in Sienenthal gewesen sei und ehe sie ihren Mann , den Gemeindeschreiber , geheiratet hatte , von Freiern umlagert war . Einmal sagte der Pfarrer zu Johanne : » Du müßtest frömmer sein , Kind , dann vergingen auch deine schwermütigen Gedanken . Siehst du , wer einen liebenden Vater über sich im Himmel weiß , und ein reines Herz hat , wen keine Sorgen und Krankheiten plagen , der ist doch thöricht , wenn er sich nicht glücklich und zufrieden fühlt « . Der gute Pfarrer ! Das war alles schön und wahr , aber – Wenn doch der liebe Vater im Himmel ein wenig näher gewohnt oder sich manchmal herab bemüht hätte , daß man den Kopf auf seine Füße drücken und ihm hätte sagen können , wie lieb man ihn habe . Johanne sehnte sich leidenschaftlich nach einer blutvollen Wirklichkeit . Und da sie durch ihr beständiges Denken und Grübeln , und durch das viele Lesen über die Interessen junger Mädchen ihres Alters hinausgewachsen war , so blieb ihr nur ein Mensch , mit dem sie sich leidlich unterhalten konnte : das Ladenfräulein an der Ecke . Fast jeden Abend saß Johanne ein Stündchen dort und hörte mit glänzenden Augen den wahren und erdichteten Geschichten zu , die Betty Wewerka ihr erzählte . Manchmal brachte sie auch konfuses Zeug vor , daß das junge Mädchen an ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln begann . Dann rötete sich ihre spitze Nase und die kleinen schwarzen Augen nahmen einen irren unbestimmten Ausdruck an . Aber sie fand sich meist wieder zurecht und ging dann schnell über ihren seltsamen Zustand hinweg . Natürlich bildete die große Stadt den Schauplatz ihrer Erzählungen , und ihr Bruder , der berühmte Schriftsteller war der Held . Johanne kannte bereits jede Straße , jeden Platz , jedes größere Gebäude dieser gerühmten Stadt . Einmal erzählte ihr Betty von den köstlichen Gartenanlagen , die sich dort befänden . » Das muß ja das reine Ninive sein « rief Johanne , die eben einen exotischen Roman las , in dem Frau Semiramis vorkam . Und seit dieser Zeit nannte sie den Schauplatz von Bettys Geschichten scherzend : Ninive . Man wird unwillkürlich zu Uebertreibungen geneigt , wenn man seine Lieblingsstätten jemandem schildert , umsomehr , wenn dieser Jemand gar so wenig mit seiner Verwunderung und naiven Freude geizt wie Johanne . Sie hetzte die Andere förmlich , die Wunder der Großstadt noch wunderbarer zu schildern als sie waren . Und jemehr Johanne mit ihrer Phantasie sich in die Ferne hineinlebte und wünschte , um so entfremdeter wurde ihr die Nähe . Der Ort , wo man nichts erfahren hat , läßt einen kalt , sei er auch noch so schön . Erst das Erlebnis giebt ihm die Weihe , macht ihn lieb , interessant . Johanne hatte hier nichts durchlebt als eine Schulzeit , die ihr heute sehr langweilig erschien , viele , viele mit Handarbeit ausgefüllte Stunden , Nächte , in denen ihr nichts träumte , und Tage , die kein Ende zu nehmen schienen . Ihr war es , als ob drüben in » Ninive « mächtige Ereignisse auf sie warteten , große Wandlungen ihres Lebens ihrer harrten . Ihre junge Seele war überaus hungrig , denn sie war ganz leer , – weder schlecht noch gut , weder zum Höchsten noch zu Niederm geneigt , die Seele eben eines jungen Mädchens , das noch nichts erfahren hat , als den Frieden seines Hauses . Augenblicklich lebte in ihr eine große warme Liebe zu jenen Menschen , deren Werke sie las . Alle zusammen könnte sie persönlich kennen lernen , wenn sie hinüberkäme in die » Wunderstadt « , meinte Betty . Auch Hans Tage lebte dort , der Dichter mit dem weichen , gnädigen Herzen . Eines Tages schob die Großmutter die Suppe mit einer Bewegung des Widerwillens zurück . » Versalzen « . Am andern Tage brummte sie : » Der Kaffee ist verbrannt , er schmeckt gallig « . Am dritten Tage schlief sie immerfort und war kaum zu bewegen , die Augen zu öffnen . Da nahm Johanne die Hände der alten Frau in die ihren und hauchte darauf , denn sie waren eiskalt . Sie sah ratlos im Stübchen umher . Die alten , bräunlichen Möbel in ihrer großen derben Eckigkeit konnten ihr nicht raten . Sie breitete eine gewärmte Decke über die Großmutter und ging zum Arzt . Das war ein alter grober Mann , der schon seit mehreren Dezennien hier Kranke heilte und tötete , wies eben kam . Aber man rief doch lieber ihn , als den modischen Medizindoktor , der einen goldnen Klemmer auf der Nase sitzen hatte , feine gestickte Wäsche trug , und furchtbar über die dummen Sienenthaler schimpfte . Der Doktor verordnete der alten Frau heißen Wein , in den Eierdotter gesprudelt waren , einen warmen Ziegelstein unter die Füße , und wenn dies nicht half , den Pfarrer . Es half wirklich nicht . Sie that immerzu , als schliefe sie , und stand auf nichts Rede und Antwort . Johanne holte ein paar Nachbarinnen , weinte und ging endlich zum Pastor . Der kam , legte seine Hand der Kranken auf die Stirne und sah ihr lange in das wachsfarbene Gesicht . Er sprach auch einige leise Worte zu ihr ; als sie aber regungslos blieb , faltete er die Hände zu einem stummen Gebet und schritt leise hinaus . Draußen stand Johanne zitternd und sah ihn an . Er lächelte mild und nahm ihre Hand in die seine . » Sie schläft hinüber ; sei ganz ruhig und laß sie . Gegen Abend komme ich wieder « . Und als abends die Lichtlein im Orte angezündet wurden und der Hofhund des Nachbars kläglich zu weinen begann , öffnete der Geistliche behutsam die Thür und sah die Großmutter wie nachmittags in ihrem Bette ruhen , aber ein weißes Tüchlein lag auf ihrem Antlitz . – Da nahm er das am Bett schluchzende Kind , das er getauft und konfirmiert hatte , in seine Arme und sagte : » Nun stark sein Kleine . Wir alle haben einen Tag vor uns , da man ein Tüchlein über unser Gesicht breitet « ..... 2 Johanne erhielt einen Vormund . Es war ein alter Mann , der früher das Schlächtergeschäft betrieben hatte und jetzt in einem kleinen Hause mit seiner kränklichen Frau der Ruhe pflegte . Er war ein guter Freund der Großmutter gewesen , und es schien allen natürlich , daß er die Sorge um das junge Mädchen übernahm . Seltsam , weder die alte Frau noch der Pfarrer , noch Ritter , der Vormund , hatten sich jemals die Frage vorgelegt : was geschieht mit dem jungen Mädchen , wenn es einmal allein in der Welt steht ? Der Verkauf des Häuschens mit dem Garten würde kaum mehr als vier- , fünftausend Mark ergeben haben . Davon konnte aber kein Mensch leben . Also lag es nahe , daß Johanne sich irgendwo als Magd verdingte . Auf dem Lande brauchen sie aber kräftige Dirnen , die gut feldarbeiten können . Und Johanne war eher schwächlich als stark . Außerdem verstand sie gar nichts von der Landwirtschaft . Was sollte man mit ihr beginnen ? Ritter meinte : du bleibst jetzt ruhig bei uns . Das Häuschen suchen wir zu verpachten ; wenn du dich einmal verheiratest , hast dus bequem und kannst dich gleich in dein Eigentum hineinsetzen . Johanne wohnte nun bei den beiden alten Leuten . Die Frau war sehr wunderlich und konnte es nicht leiden , wenn Johanne las oder sich mit feinen Handarbeiten beschäftigte . Sie ließ sie unaufhörlich scheuern und putzen , obzwar alles in Küche und Haus vor Sauberkeit glänzte . Man zeichnete ihr jeden ihrer Schritte vor , und wenn sie etwas länger ausblieb als gewöhnlich , gabs Schelte . Und dabei hatte sie ein kleines unfreundliches Stübchen , in dem sich kein Ofen befand und wo sie Winters frieren mußte . Sie wurde von Tag zu Tag trauriger . Die schöne Welt war nun versunken , die ihr von den Büchern , in denen sie früher lesen durfte , in ihre Einsamkeit gezaubert wurde . Die beiden greisen wunderlichen Leute waren kein Ersatz für die Großmutter . Die Sehnsucht nach jungen Menschen , nach Leben , nach Freude wurde täglich mächtiger in ihr . Da draußen in der Welt wars so herrlich ! und sie in diese schreckliche Wüste verbannt ! Eines Tages lief sie ohne Erlaubnis davon , in den Laden des alten Fräuleins und klagte ihr Leid . Betty strich ihr beschwichtigend über das Haar und zog sie auf das alte Ledersopha im Stübchen neben dem Laden . Wenn ich so ein lieb jung Mädchen wäre wie Sie , ich wüßte wohl , was ich thät . Ich ginge nach › Ninive ‹ , lernte da etwas , z.B. Kindergärtnerei , erhielte eine feine Stellung , machte nette Bekanntschaften , und vergnügte mich « . Johanne faßte die Sprecherin an den Händen . » Ach Gott , könnt ichs doch , könnt ichs doch ! Aber es geht ja nicht . Hab ich doch keine Seele dort , die sich meiner annehmen würde « . » Und wenn Sie jemand dort fänden – ein bischen Geld besitzen Sie ja auch , um sich irgendwo in einem anständigen Hause einzulogieren – würden Sie hinreisen ? « » Und ob , und ob « rief Johanne mit glänzenden Augen . » Dann will ich an meinen Bruder schreiben , er soll etwas für Sie Passendes suchen « . Johanne schrie glückselig auf . » Ach Gott , wird das herrlich , mit ihnen allen , die ich so lieb habe , die meine Freunde sind , in derselben Stadt sein , dieselbe Luft atmen dürfen , Betty , Betty ! « Plötzlich machte sie ein ernstes Gesicht . » Aber der Vormund ? wird ers erlauben , wird er drauf eingehen ? « » Ich rede mit ihm « versprach Betty Wewerka , in deren Interesse es zu liegen schien , Johannes Wunsch zu unterstützen . In Wahrheit befand sich ihr Bruder in mißlichen Verhältnissen , in denen ihm jede , auch die kleinste Einnahme zu gute kam . Erhielt er Johanne in Pension , so flossen ihm ein paar hundert Mark jährlich mehr zu . Fräulein Wewerka bearbeitete nun die beiden alten Ritters , stellte ihnen vor , wieviel gute Anregung Johanne im Haus ihres Bruders empfinge , wie sie in der Stadt tüchtig lernen würde ; es seien dort viele Fortbildungsschulen für junge Mädchen , man dürfe dem » Bildungsdrang « eines jungen Menschen kein Hindernis in den Weg legen u. s.w . Schließlich gaben die beiden Alten nach und willigten in die Uebersiedelung ihres Mündels nach der Stadt ein . Es wurde ein Termin festgesetzt , an dem Johanne reisen sollte . Das junge Mädchen ging wie im Traum umher . Die Seligkeit ließ sie Essen und Trinken vergessen , ließ sie den Bekannten , die sie anhielten , um ihr ein paar freundliche Worte zu sagen , die Antwort schuldig bleiben . Wenn sie an ihrem lieben alten Häuschen , in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte , vorüberschritt , lachte sie heimlich und sagte : du altes schräges Ding , nun werde ich bald anderes als dich zu sehen bekommen . Es war sehr undankbar , aber sie hatte noch kein Leid kennen gelernt , wie sollte sie den Frieden zu schätzen wissen ? Sie nähte sich schnell eine Aussteuer , die ihr großartig erschien . Als sie ein halb Dutzend grober Hemden , etliche Röcke und Leibchen zusammengearbeitet hatte , packte sie alles in einen großen alten Holzkoffer , den sie noch von ihren Eltern besaß , und stellte sich ihrem Vormund als reisefertig vor . Man wartete noch etliche Tage , bis der Brief von Bettys Bruder kam . Er lautete sehr freundlich . Das junge Mädchen möge nur kommen . Er und seine Frau würden es selbst überwachen und ihm hülfreich in seinen Bestrebungen an die Hand gehen . » Und – früher oder später sehen Sie mich auch « sagte Fräulein Wewerka . » Ich warte nur , bis ich eine bestimmte Summe beisammen habe ; dann komme ich für immer nach › Ninive ‹ . « Nun galts noch zwei Besuche . Der eine war schnell gethan . Es war der auf den Kirchhof . Mutter und Vater hörten still und unbekümmert unter ihren Blumenhügeln die Abschiedsworte der Fortziehenden . Die Toten ereifern sich nicht , denn sie wissen vieles , das da kommt . Auch der zweite Abschiedsbesuch verlief friedlich . Er galt dem Pfarrer . » Weißt du « sagte der alte Herr ruhig zu dem jungen Mädchen , » dir abraten , dein Glück in der Fremde zu suchen , würde zu nichts führen . Du gingest doch . Zieh denn . Vergiß nicht dein Abendgebet täglich zu sprechen , und vergiß noch etwas nicht : Du kommst dereinst wieder , Johanne , und dann wirst du kaum erwarten können , diesen alten treuen Boden unter deinen Sohlen zu spüren . Ich werde es vielleicht nicht erleben , aber denke manchmal daran . Es wird dir ein Trost und eine Mahnung sein « . Und dann segnete er sie und entließ sie . Weinend und doch lachend sah sie einige Tage später nach einem langen Abschied von ihren Bekannten die letzten Häuschen ihres Heimatsortes hinter sich entschwinden . Ein Wäglein brachte sie zur Eisenbahnstation . Noch einen letzten Blick auf die beiden Pappeln vor dem Kirchlein , dann verbarg ein Hügel den Ort , der wie eine treue Mutter ihre ersten Schritte bewacht hatte . Aber Kinder entlaufen oft ihren Müttern , um in der Fremde zu weinen ..... 3 Also das ist sie , die heißerträumte , heißerwünschte Stadt der Großen , Ninive ! .... . In die Ecke einer Droschke gedrückt , ihren großen Holzkoffer vor sich , durchsauste Johanne die Straßen , die nach der Wohnung Herrn Wewerkas führten . Sie sah zum ersten Mal drei , vier Stock hohe Häuser , Pferdebahnen , Schutzleute , Reklamewagen , Dampfbahnen , dazwischen ein schwarzes Gewimmel von tausend und abertausend geschäftig hineilenden Menschen . Der Lärm der Großstadt erschien ihr ohrenzerreißend ; die hinfliegenden Wagen , die Reiter , die Dampfbahnen machten sie schwindlig . Sie hatte sich das alles anders vorgestellt , märchenhaft , still , harmonisch ; diese lebenrauchende , brutale Wirklichkeit erschreckte sie . Vor einer riesenhaften Mietskaserne hielt der Wagen . Sie bezahlte und ließ ihren Koffer in den Hausflur stellen ; der herbeieilende Portier versprach , ihn gleich hinauf zu Wewerkas zu schaffen . Dann schritt sie über vier Treppen , die mit einem nicht allzu saubern Läufer bedeckt waren , und klingelte an einer Wohnung . Ein » Ah « , eine Hand , die sie faßte und hineinzog , und das Schicksal schloß hinter ihr die Thür . – Die ersten zehn Minuten war sie so befangen , daß sie nichts sah , als die Frau , die sie neben sich aufs Sopha gezogen hatte und freundlich mit ihr sprach . Frau Wewerka , eine Vierzigerin mit blassem Teint und verschleierten melancholischen Augen , einem schmalen Mund , der das Verschweigen gewohnt schien , war eine nicht unsympathische Person . Ihre Kleidung mochte als nachlässig gelten , nach Johannes Begriffen schien sie sehr elegant . » Meine Schwägerin hat sehr recht gethan , Sie an uns zu adressieren « sagte sie , » wir werden unser Möglichstes für Sie thun . Morgen gleich wollen wir nach dem Fröbelhaus gehn , wo die jungen Mädchen im Unterricht unterwiesen werden . Ich freue mich sehr , Sie bei uns zu haben , ich liebe die jungen Mädchen sehr , bin selbst ziemlich vereinsamt , wir besitzen keine Kinder ; jedenfalls hoffe ich , daß wir manch angenehmes Plauderstündchen miteinander zubringen werden , nichtwahr ? « Durch so viel Freundlichkeit thaute endlich Johannes Verlegenheit hinweg und sie fand einige herzliche Worte . Sie sprach von Sienenthal und wie glühend sie sich hierhergesehnt habe , daß Betty ihr soviel Herrliches von » Ninive « erzählt habe u. s.w . Als bei dem Worte : Ninive Frau Wewerka fragende Augen machte , teilte ihr Johanne mit , wie sie der großen Stadt um ihrer schönen Gärten und Anlagen , um der herrlichen Bauwerke willen , die sich da befinden sollten , den Namen beigelegt habe . » Ich glaube , meine Schwägerin hat sehr übertrieben « lächelte mit ihrem müden Munde Frau Wewerka , » übrigens : Ninive ist gut und – bezeichnend . Wir wollen den Namen beibehalten . Und nun will ich Sie aber in Ihr Stübchen führen , damit Sie sich waschen und umkleiden können « . Sie durchschritten eine Stube , in der viel Schriften und ganze Ballen Papier herumlagen . Ein riesiger Schreibtisch , einige Regale von Büchern vollgepfropft , ein hoher Wandschirm , der irgend etwas verbergen sollte , vervollständigte die Einrichtung dieses Zimmers . Dann folgte ein kleines Gemach , eine Art Eßstube mit Tisch , Stühlen , Büffet , einer Nähmaschine , einem Pianino und endlich das Johanne zugedachte Zimmerchen . » Sehr hübsch « rief das junge Mädchen und sah sich freudig um . Die Wirtin lächelte . » Gefällt es Ihnen ? Das freut mich . Nun machen Sie sichs bequem . In einer Stunde klopfe ich . Wir essen um drei . Ja richtig , Ihren Koffer – « » Der Portier bringt ihn eben « sagte ein älteres Dienstmädchen und öffnete dem unter seiner Last keuchenden Mann die Thür . » Ist das alles ? « fragte Frau Wewerka , während die Magd mit geringschätzigem Blick den alten Holzkoffer musterte . Johanne nickte . » Ja alles « . » Nun dann , auf Wiedersehen « . Das junge Mädchen trat an das schäbig aussehende Eisengestell mit dem Waschservice , wusch sich , brachte ihr Haar in Ordnung und kauerte sich nieder , den Koffer auszupacken . Sie öffnete die Laden der Kommode . In der einen befanden sich etliche Herrenhemden , doch die andern waren leer . Ihre zwei Kleider hing sie in eine Ecke , vor die ein Vorhang gezogen war , um die Garderobe vor Staub zu schützen . Ein Tisch mit einer verschossenen roten Sammetdecke , zwei Stühle , ein grüner Plüschfauteuil , ein Bett , über das eine bunte Kattundecke gebreitet lag , bildeten das Innere der Stube . Bis gestern hatte es den Gatten als Schlafzimmer gedient , nun hatten sie ihre Betten hinter den Wandschirm in Herrn Wewerkas Arbeitszimmer gestellt , um dieses hier vermieten zu können . Johanne bewunderte die kleinen Gipsbüsten des Kaisers und der Kaiserin an der Wand , erfreute sich an zwei Oeldrucken , die Rotkäppchen und Schneewittchens Abenteuer darstellten , und fand die Aussicht aus der vier Stock hoch gelegenen Wohnung in die breite endlos sich hinziehende graue Straße bewundernswert . Als sie so im Anschauen des ihr fremden Lebens vertieft am Fenster lag , klopfte es . Frau Wewerka und ein Herr traten herein . » Mein Mann möchte Sie gerne begrüßen , Fräulein « . Er schüttelte dem verlegenen jungen Mädchen die Hand und bot ihm den Arm . » Herzlich willkommen . Darf ich Sie zu Tisch führen ? Wir haben nicht weit zu gehen , unsere Wohnung ist klein wie ein Taubenschlag . Hier bitte ! « Er rückte ihr im Nebenzimmer einen Stuhl zwischen sich und seiner Frau zurecht . Das Dienstmädchen stellte mit unfreundlichem Gesicht eine Suppenterrine auf den Tisch . Johanne war sehr verlegen und brannte sich den Mund mit der heißen Suppe . Die Hausfrau gewahrte die Unsicherheit der Kleinen , wandte sich an ihren Mann und begann mit diesem zu plaudern . » Nun und was wars heute ? Wird Lohringer kommen ? « Herr Wewerka , der hastig in seinem Teller herumlöffelte , wischte sich den Mund mit der nicht sehr sauberen Serviette . Keine Rede . Ich sagte dir ja , er hat wieder den Spleen . Seit einer Woche läßt er Niemanden vor ; die leeren Flaschen , die die Dienerin jeden Morgen aus seinem Zimmer nimmt , geben vielleicht die Erklärung dazu « . Die Frau schüttelte den Kopf und warf etliche Worte des Bedauerns über den wunderlichen Menschen hin . Währenddessen betrachtete Johanne Wewerka von der Seite . Er stand ungefähr im gleichen Alter wie seine Gattin . Sein Gesicht war wie tättowiert von hundert Falten und Fältchen , die sich um Augen und Mund zogen . Das fahlblonde Haar , an den Schläfen schon spärlich , fiel glatt aus der hohen , hügeligen Stirn . Seine Mundwinkel waren etwas schlapp und erzählten mancherlei . Er sah Betty Wewerka nicht im geringsten ähnlich . » Sagen Sie mal , Fräulein Grün « wandte er sich plötzlich an seine Beobachterin , » wie findet sich meine Schwester eigentlich in die Rolle einer Kaffee- und Zuckerverkäuferin ? Macht sie Geschäfte oder bleibt man ihr alles schuldig ? « Er lachte , und Johanne bemerkte seine bräunlichen Zähne , die von starkem Nikotingenuß zeugten . » O sie ist nicht gern in Sienenthal , sie – « » Essen Sie zuerst und erzählen Sie dann « . Frau Wewerka legte ihr etwas Gemüse und zwei dünne Scheibchen Hammelfleisch auf den Teller . Johanne aß einige Bissen , dann sagte sie schüchtern : Fräulein Betty will ja auch bald hierherkommen ; nur eine gewisse Summe müßte sie beisammen haben , meint sie « . Das Ehepaar warf sich einen Blick zu . » Es war eine Thorheit « meinte Wewerka , » daß sie das Geschäft nicht gleich verkaufte . Ihr und uns wäre mit dem Gelde gedient gewesen , so hat keiner etwas . Was für ein Mensch war denn eigentlich der alte Nehring , der Besitzer des Geschäfts ? « » O der war ja schon achtzig Jahr alt « versetzte Johanne . Wewerka lächelte . » Das weiß ich . Er hatte einen Sohn , dieser war mit meiner Schwester verlobt . Sie hatten einander schrecklich gerne ; der Alte widersetzte sich aber ihrer Verbindung . Eines Tages gingen die verrückten Liebesleute in den Wald , und er schoß zuerst ihr , dann sich eine Kugel in den Kopf . Er blieb auf der Stelle tot , sie wurde gerettet ; doch trug sie eine große Gedächtnisschwäche davon . Sie lag monatelang im Spital , verlor natürlich ihre Stellung ; sie war Leiterin eines großen Putzgeschäftes hier gewesen . Nun – es war ein Elend « – der Sprecher nahm einen Schluck Wasser aus dem Glase vor sich , » ein Elend . Später wandten wir uns wiederholt an den Alten , daß er doch für das arme Geschöpf etwas thun möge ; zwingen konnte man ihn ja zu nichts . Er setzte aber allen Vorstellungen ein taubes Ohr entgegen . Erst als er starb – Verwandte besaß er nicht – erinnerte er sich der unglücklichen Kreatur , die durch seine Härte um ihr Lebensglück und ihre Gesundheit ge kommen war . Ihre verlorene Jugend und ihren gesunden Verstand hat er ihr aber doch nicht zurückgeben können « . Johanne saß stumm da . Frau Wewerka seufzte und bat dann , fertig zu essen ; das Mädchen müßte sich etwas beeilen , weil heute Waschtag sei . Nach dem Hammelfleisch gabs nichts mehr , als einige Stückchen Konfekt von dem billigen , das arme Leute für die Christbäume ihrer Kinder kaufen . Herr Wewerka plauderte noch ein wenig mit Johanne , dann erhob man sich . Nachmittags wollten sie dem jungen Mädchen die Stadt zeigen . Da sie weder einen Wagen noch eine Pferdebahn benutzten , ermüdete Frau Wewerka bald , überließ Johanne ihrem Mann und kehrte nach Hause zurück . Als die beiden auf ihrem Streifzug eben vor einem glänzenden Schaufenster standen und er meinte , sie schwelge in der Pracht der ausgestellten Juwelen , sagte sie plötzlich , ihm ins Gesicht blickend : » Die Geschichte , die Sie mir heute erzählt haben , ist sehr traurig . Ich kann sie gar nicht loswerden . Nur eins verstehe ich nicht . Wenn Ihre Schwester ihn so lieb hatte , wie kams , daß sie ihn überlebte ? « Er sah überrascht in die großen , warmen Kinderaugen , die sich auf ihn gerichtet hatten . » Wie meinen Sie das , Fräulein ? « » Mein Gott , wenn – wenn man einen so lieb hat und man weiß , daß er – fort ist , für immer – ich hätte mich gleich aus dem Fenster gestürzt « ..... Er lächelte in ihr erregtes Gesicht . » Das sagt man , aber man tötet sich nicht so leicht « . » Aber er thats doch « . Sie gingen ein Stückchen weiter . » Zum Glück giebts nicht viele so entschiedene Naturen da würde die Welt ja nach drei Tagen in Trümmer geschlagen « . Johanne hatte ein Wort auf den Lippen , doch sie sprach es nicht aus . Später zog anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich . Abends war sie müde und ging bald nach dem Nachtmahl , das noch etwas kärglicher als das Mittagessen war , auf ihr Zimmer . Aber Ninive war doch herrlich , trotz allem ! Am andern Tage machte Frau Wewerka verschiedene Gänge mit ihr , zur Vorsteherin und zu den Lehrerinnen des Fröbelhauses , denen sie das junge Mädchen sehr warm empfahl . Johanne erregte in ihrer geschmacklosen , plumpen Kleidung , mit ihrer bäuerlichen Schüchternheit in der Anstalt weder Interesse noch besondere Teilnahme . Man ließ sie ein kleines Aufnahmeexamen machen , in dem sie nur ihre Lese-und Schreibekünste bekunden sollte , und steckte sie dann in die Klasse zu den andern Schülerinnen . Sie verbrachte täglich fünf Stunden in der Anstalt , und die Vorsteherin versprach ihr , wenn sie sich brav zeige , binnen einem Jahre eine Stellung , wenn auch für den Anfang eine sehr bescheidene . Es galt also ein Jahr tapfer auszuhalten . Johanne schrieb ihrem Vormund , und legte einige Zeilen Wewerkas bei . Ritter antwortete ihr , er würde ihr die nötigen Mittel für ein Jahr geben , damit sie den Kursus absolvieren könne . Dann freilich müßte sie für sich selbst sorgen , denn das Häuschen zu verkaufen liege ihm fern . Das könne sie einmal thun , wenns ihr beliebe und sie volljährig sei . Die Stunden , die Johanne nicht im Fröbelhaus verbrachte , war sie zu Hause . Herr Wewerka arbeitete viel auf seiner Stube , indeß seine Frau mit dem Dienstmädchen den kleinen Haushalt besorgte . Dann und wann empfingen sie Besuche . Meist von Herren . Dann wurde laut debattiert , geschrieen , manchmal auch deklamiert . Es waren wohl Kunstangehörige , die so lebhaft sich bejahten . Aber sie gingen nicht in goldenen Gewändern , trugen keine Kränze auf dem Haupt , rochen nicht nach den Gärten der Semiramis . Meist waren sie sogar sehr nachlässig gekleidet und nichts weniger als berückend . Einmal erzählte Johanne bei Tisch , wie sie sich früher Dichter vorstellte . Da brach das Ehepaar in ein nicht endenwollendes Gelächter aus . » Du Cajetan in einem weißen Kleide mit einem Kranz aus Rosen in den üppigen Locken ! « . » Nein , Sie dachte ich mir nie so « meinte Johanne zu Wewerka , » ich weiß nicht , warum « . » Oho « protestierte er scherzend , » das fasse ich als Beleidigung auf , Sie zweifeln an meiner › höheren Veranlagung ‹ . Heute haben Sie ja recht . Ich bin der Redakteur einer kleinen volkswirtschaftlichen Zeitung , der meist über billige Rapskuchenfabrikation , über Molkerei , Pferdeställe und ähnliches schreibt . Aber einst war es anders . Da machte ich Terzinen und Jamben , daß es nur eine Lust war . Sehen Sie , ich habe schon allerlei versucht . Zuerst studierte ich Jura , dann begleitete ich eine naturwissenschaftliche Expedition auf ihrer afrikanischen Reise , dann wurde ich Sekretär eines reichen Grafen , dann erfand ich ein Instrument , ein Besteck , das als Löffel , Gabel und Messer zugleich diente . Auch Schauspieldirektor war ich . « » Nein « rief das junge Mädchen mit glänzenden Augen , » wie klug und gelehrt müssen Sie doch sein ! « » Nichtwahr « meinte er mit Humor , » ein famoser Kerl . Ich habe – « Frau Wewerka warf ihm einen mahnenden Blick zu – » ich habe noch allerhand Interessantes begonnen . Man will eben nicht hungern , man braucht täglich , wenn man auch nur von Brot lebt , einige Groschen . Woher die nehmen und nicht stehlen ? Da wird man schließlich das Mädchen für alles « . » Aber liebten Sie denn nicht von dem Vielen , das Sie begonnen hatten , Eins besonders ? « » Und ob « meinte er . Zum Beispiel Jura . Aber wovon hätte ich leben sollen , bis ich als Professor oder Advokat Geld verdient hätte ? Dann , wie gerne wäre ich der edlen Dichtkunst treu geblieben . Aber der Magen zieht ein Stück Mettwurst dem duftigsten Liebesgedicht vor « . Johanne schüttelte eigensinnig den jungen Kopf . Sie war schon vertrauter mit ihren Wirten geworden . » Ich glaubs nicht , daß Sie Jura besonders liebten . Dann hätten Sie nicht davon lassen können « . » Auch nicht im Verhungern ? « » Auch nicht « . » Donnerwetter ! Aber da wäre ich ja ein Narr gewesen , mein kleines Fräulein ! was denken Sie denn ? Wenn die Welt aus lauter solchen Querköpfen bestünde , würde sie sich das Hirn einrennen « . An diesem Abend , als Johanne zu Bett ging , gelangs ihr nicht , einzuschlafen . Sie mußte immerfort an den Mann denken mit den tausend Fältchen im Gesicht , der alles versucht hatte . Er ist untreu , dachte sie . Er gleicht seiner Schwester ; die wars auch , sonst hätte sie nicht leben können . Diese Beiden – aber die andern Menschen gleichen ihnen wohl nicht . Wie seltsam . Alles ist anders , als ich mir vorstellte , dachte die Kleine , aber so ganz , ganz anders ..... Eines Tages , eben als sie sich zum Mittagessen niederließen , kam Besuch . Es war ein großer junger , aber schon stark gebeugt gehender Mann , der Johanne als Herr Schüler vorgestellt wurde . » Essen Sie mit uns einen Löffel Suppe « sagte die Hausfrau freundlich , ließ noch ein Kouvert auflegen , und rückte ihm einen Platz am Tisch zurecht . » Du machst ein so ernstes Gesicht ? war dein Weg umsonst ? « Wewerka und der Neuangekommene wechselten einen Blick . » Was wars denn ? « Frau Wewerka sah ihren Mann an . » Aber liebes Kind , dränge dich doch nicht – « » Ja ja , euere ewige Geheimniskrämerei , ich glaube du bist Privatdetektiv geworden , und Schüler ist dein Helfer , wie ? « » Erraten , Gnädige , erraten « . Er blickte Johanne forschend an . Frau Wewerka machte einige freundliche Bemerkungen über sie , dann setzte sie munter hinzu : Sehen Sie , Johanne , der ist auch einer von den › Berühmten ‹ , aber er trägt sich ganz simpel , und hat auch keinen Kranz auf , höchstens einen von Dornen , aber den sieht man nicht « . Als Schüler von der Naivität des jungen Mädchens vernahm , brach er in herzliches Lachen aus . » Wir wollen unsere Sache später besprechen « meinte er zu Wewerka und wandte sich Johanne zu . Sie brachte sehr ungeschickte verlegene Antworten vor , und jedesmal , wenn sie eine Dummheit gesagt hatte , machte sie einen trotzigen Mund und verteidigte hartnäckig ihre Meinung . Nach Tisch gingen sie alle vier in Wewerkas Arbeitszimmer , wo die Hausfrau Cigaretten herumreichte . » Wir erlösen euch bald von unserer Gegenwart « scherzte sie . Die Herren protestierten , und Johanne fand endlich Mut , den neuen Bekannten zu mustern . Eine Brille verbarg zum Teil den hungrigen Ausdruck seiner dunklen Augen . Seine Züge waren einnehmend , wenn auch nicht hübsch . Ein schwarzer , kurz gehaltener Bart umrahmte das schmale , blasse Gesicht , dessen Charakteristikum Johanne in dem Worte » übernächtig « zusammenfaßte . Er sah aus wie einer , der nicht zur Ruhe kam – wie ein Gehetzter . Mit achtzehn Jahren hatte er die kleine Summe seines elterlichen Vermögens verausgabt , sein Maturum gemacht , und kam hierher , um philologische Studien an der Universität zu treiben . Er mietete bei einer kleinen Beamtenfamilie ein Stübchen . Die Frau , eine große hagere Blondine , bediente ihn . Sie stand kurz vor ihrem vierzigsten Jahre und schien mit allen Hoffnungen abgeschlossen zu haben . Sie war eine gute Seele , die mit ihrem wortkargen unfreundlichen Mann in stillem Einvernehmen lebte . Er behandelte sie nicht gut , nicht schlecht , er war ein armer Teufel , der rein mechanisch , ohne innere Freude weiterlebte . Weil es ihnen recht knapp ging , vermieteten sie ein Zimmer ihrer kleinen Wohnung . Meist waren es Studenten , die bei ihnen wohnten . Sie hatte immer Glück gehabt und ihre Miete von ihnen pünktlich empfangen . Auch Ernst Schüler bezahlte im ersten Monat . Aber im zweiten verschob er die Zahlung von Tag zu Tag . Er lief ratlos umher , pumpte seine Kollegen an , und brachte es endlich so weit , die Hälfte der Mietssumme aufzutreiben . » Nehmen Sie vorlieb « lachte er verlegen und drückte Frau Wachmann ein paar Markstücke in die Hand , » ich habe beim besten Willen nicht mehr borgen können , schmeißen Sie mich hinaus ..... « Sie hatte Mitleid mit ihm , wie vierzigjährige Frauen mit Jünglingen zu haben pflegen ; er gewahrte seinen Vorteil . Im nächsten Monat bezahlte er weder den Rest der alten , noch die neue Miete . Er sah seine Wirtin treuherzig an . Ich habe nichts , nichts , Frau Wachmann . Aber Sie können meine Uhr versetzen , vielleicht erhalten Sie dafür einen Teil meiner Schuld an Sie , und es giebt überdies noch ein Mittagessen für mich , ich bin seit drei Tagen nüchtern « . Er war es in der That . Er sah jammervoll aus . Sie eilte in die Küche und brachte ihm Suppe und einige Brötchen . Während er hastig aß , rannen ihm zwei Thränen über die Backen . Sie drehte sich um , dann legte sie die Hand auf sein Haar und sagte leise : » nicht verzweifeln ! « Seit diesem Tage nährte sie ihn , und er wohnte bei ihr , ohne einen Heller zu bezahlen . Sie betrog ihren Mann und berechnete ihm alles höher , um das Nötige für Ernst herauszuschlagen . Einmal umschlang er sie mit beiden Armen : » Wenn ich dich nicht hätte ! « Da neigte sie ihren Kopf auf seine Schulter und küßte ihn leise auf den Hals . Seit diesem Tage verlangte er mehr als Kost und Wohnung von ihr , und sie gab ihm alles , was er verlangte . Sie war eine ungeschickte Heuchlerin , und bald hatte ihr Mann alles heraus . Er jagte sie und ihn aus dem Hause . Ernst Schüler nahm die Ratlose , Verzweifelnde an der Hand und sagte ruhig : Geh nur mit mir . Er blieb die ersten Tage bei einem Freunde , der ein Mansardenstübchen bewohnte . » Liebst du sie denn ? « fragte der Student ironisch . » Sie soll dich doch adoptieren , dann ist euch beiden geholfen ; vielleicht nimmt sie ihr Mann dann wieder zurück « . » Ich liebe sie nicht « antwortete Schüler , » aber sie ist grenzenlos gut gegen mich gewesen . Ich werde sie nicht verlassen « . » Dann hast du ihre Güte übel vergolten « meinte der andere . » Heute oder morgen setzest du sie ja doch sicher auf die Straße ; dann kann sie verkommen , denn einen dritten findet die nicht « . Ernst antwortete nicht . Von diesem Tag an besuchte er die Universität nicht mehr . Weder Frau Wachmann , noch der Student , bei dem sie alle beide wohnten , wußten durch etliche Wochen , was er trieb . Dann kam er eines Tages nach Hause . Er sah hohläugig und finster aus , legte aber einiges Geld auf den Tisch . Eine Assekuranzgesellschaft hatte ihn engagiert . Er mietete eine Stube mit einer Küche , setzte seine Freundin in die Stube , wohnte in der Küche , und gab sich als ihr » Zimmerherr « aus . Niemand legte ihnen etwas in den Weg . Herr Wachmann that keinen Schritt , um seine Frau zurückzuholen . Sie führte kein glückliches Dasein . Schüler war jeden Abend von Hause fort . Kam er dann in der Nacht heim , so war er furchtbar aufgeregt . Sie durfte ihn nie fragen , wohin er ging ; dann wurde er grob . Manchmal kamen etliche , meist junge Leute mit ihm . Dann befahl er ihr , unsichtbar zu sein . Sie verkroch sich in einer Ecke der Küche und saß die ganze Nacht halbschlafend da , während von drinnen hitziges Stimmengewirr heraustönte . So gings ein Jahr fort . Schüler war längst nicht mehr in jener Assekuranzgesellschaft , aber was er that , konnte sie nicht herausbringen , und zu fragen getraute sie sich nicht . Manchmal fasteten sie mehrere Tage , oder sie bereitete ihm mit dem kargen Geld , das er ihr brachte , dünne Suppen und mageres Gemüse ; dann scherzte er : » Saperlot , du bist die schlechteste Köchin meines Lebens , Mathilde « . Eines Tages las sie auf allen Plakaten den Namen ihres Freundes . Er sollte am Abend in einer antisemitischen Versammlung das Wort führen . Er kam zwei Tage nicht nach Hause , dann mit heiterem Gesichte und Geld in der Tasche . Er schlug ihr ihre zwei Weingläser entzwei , faßte sie um die Mitte , und tanzte mit ihr . » Miet eine bessere Wohnung , Alte , und setz mir wieder was Ordentliches zu essen vor ; wir werden jetzt reiche Leute « . Es erschienen verschiedene gutgekleidete Herren und sprachen lange in der Stube mit ihm . Einer sagte gar einmal » gnädige Frau « zu ihr , was sie hoch erröten machte . Sie bezogen eine nette kleine Wohnung . Aber die Herrlichkeit war von kurzer Dauer . Eines Tages wurden ihnen ihre Habseligkeiten gepfändet . Nun mieteten sie sich für etliche Wochen in ein kleines Einkehrhaus ein . Sie bekam Schüler selten zu sehen und grämte und ängstigte sich . Einmal erschien er sehr elend aussehend . Er hatte ein dickes Manuskript in der Tasche . » Wenn das nicht zum Helfer in der Not wird , schieß ich mir eine Kugel vor den Kopf « sagte er finster auf das Papier deutend . Er ging aufgeregt die ganze Nacht hin und her . Am Morgen entfernte er sich . Das Papier enthielt eine mühsame Arbeit . Einige jüdische Familien , deren Häupter an der Spitze großer sozialer Unternehmungen standen , wurden darin verschiedener privater Ausschreitungen beschuldigt . Ihre Stellung in der Gesellschaft war gefährdet . Ein ungeheurer Prozeß mit vielen schmutzigen Enthüllungen drohte . Das bekannte Skelett , das ja in jedem Familienhause verborgen sein soll , war hier mit erbarmungslosem Griff ans Licht gezerrt . Es gehörte zähe Ausdauer , ungewöhnliche Orts- und Personalkenntnis dazu , dies Schriftstück zu verfassen . Es hieß : » Enthüllungen « und war nichts weiter , als die letzte verzweifelte Anstrengung eines zum Schurken gewordenen Menschen , sich Geld zu verschaffen . Nach einigen Tagen kam Schüler heiter und ruhig zurück . Ich habe in der Theresienstraße eine Wohnung gemietet , bin Redakteur am › Tagesbericht ‹ geworden , und bitte dich nun , dir anständige Kleider und anständige Mobilien für unsere Wohnung zu kaufen . Hier hast du Geld « . Er drückte ihr einen Tausendmarkschein in die Hand . Er hatte erreicht , was er wollte . Man hatte ihm eine feste Stellung zugesichert , wenn er – schweige . Er erhielt einen gut bezahlten Posten an einer nicht übel angeschriebenen Zeitung . Nun lebten sie sorgenlos nebeneinander . Er ging täglich nach seiner Redaktion , schrieb wütende Artikel gegen die Antisemiten und gab sich als braven Judenfreund . Er himmelte Baron Hirsch an , und verfaßte ein Adreßbuch der bekanntesten jüdischen Familien . In seinen müßigen Stunden dichtete er auch . Nachdem er zwei Jahre am Redaktionstisch gearbeitet hatte , erzwang er sich einen Urlaub mit guten Diäten . Unter dem Decknamen eines Berichterstatters reiste er ab . Zunächst nach Frankreich . Seine Freundin ließ er zu Hause . Er sandte etliche Reiseberichte an seine Zeitung . Mathilde Wachmann erhielt dann und wann eine Postkarte . Endlich verstummte er ganz . Es vergingen einige Wochen , es verging ein Monat . Eines Tages klingelt es . Frau Wachmann geht zu öffnen . Ernst Schüler , ein junges , schönes Mädchen an der Hand , tritt ein . Hier ist Mathilde Wachmann , meine Wirtschafterin , die mir mehr als Wirtschafterin , die mir Freundin und Beraterin ist . Sei gut gegen sie . Hier meine kleine , süße Frau , die ich deinem Herzen empfehle « . Er warf einen Blick auf die beiden Frauen , die einander anstarrten , und ging hinein , sich seiner Reisekleider zu entledigen . Alice war klein , herzig , neunzehnjährig . Er hatte sie in einem lothringischen Städtchen kennen gelernt , wo er ihren Bruder , einen ziemlich bekannten Schriftsteller , besuchte . Sie besaß nichts als den Anzug , den sie eben trug , ein verschossenes grünes Röcklein mit gelben Seidenrosetten geziert . Er hatte sich rasend in sie verliebt und sie halb zur Kirche geschleppt . Der Bruder war nicht dagegen gewesen , denn die Sorge um den Unterhalt seiner Schwester hatte ihn immer viel beschäftigt . Seine schriftstellerischen Einkünfte waren gering , und außerdem hatte er noch für seine beiden Kinder zu sorgen . Die kleine Alice mit ihrem brauen Lockenköpfchen , ihren sonnigen , großen Augen und wunderbaren Pfirsischfarben lachte gerne , trank mit Vorliebe süße Weine , und brauchte täglich drei Stunden , um ihre Stirnlöckchen vor dem Spiegel zu ordnen . Von Wirtschaft verstand sie nichts . Aber sie kommandierte brav ihre Haushälterin . Das Weib mit den vor Kummer eingefallenen Wangen , den stumm anklagenden Augen , ging wie ein düsterer Schatten im Hause umher . Hätte sie fort sollen ? Wohin ? Jetzt , wo das Alter vor der Thüre stand , wo sie so viel um ihn gelitten , wo sie ihn liebte mit dem Wundgefühl des Weibes , das alles hingegeben hat . Sie blieb und lauschte vor der Schlafzimmerthür den Liebkosungen des jungen Paares . Alice glaubte anfänglich alles , was ihr Mann über Mathilde Wachmann gesagt hatte . Aber eines Tages warf sich die ältere Frau an die Brust der Jungen und schluchzte in herzzerreißendem Jammer : » Nimm ihn mir doch nicht ganz . Laß ihn mir doch auch ein bischen ! « . Da begriff das junge Weib . Von der Zeit an war sie zurückhaltender gegen Ernst . Manchmal , wenn er nach Hause kam , fand er die beiden Frauen Hand in Hand nebeneinander sitzen . Das war ihm nicht recht . Das wollte er nicht . Er verbot seiner Frau den gar zu vertraulichen Umgang mit der andern . » So jag sie fort « schrie sie in Thränen ausbrechend . Das konnte er nicht . Alice stieß ihn , wenn er sie liebkosen wollte , von sich . Es kam eine Zeit , wo er in die mütterlichen Arme Mathildens flüchtete , um das Leid , das ihm sein Weib bereitete , zu vergessen . Die junge Frau weinte sich die Augen rot . Da siegte wieder Mathildens Güte . » Geh zu ihr , versöhne sie ; sie stirbt , oder verläßt dich sonst « . Er warb wie ein Liebhaber um sie . Sie wurde wieder gefügig gegen ihn , aber traurig blieb sie , sehr traurig . Und ihre rosige Schönheit begann zu verbleichen . An einem der Tage in dieser Periode war es , als Schüler zu Wewerka kam . Die beiden hatten immer allerlei geheime Geschäfte miteinander , die meist nicht sehr lauterer Natur waren . Während Ernst mit dem Ehepaare plauderte , aber die warmen neugierigen Kinderblicke Johannens auf seinem Antlitz ruhen fühlte , stieg ein Gedanke in ihm auf . » Fräulein Grün « wandte er sich an sie , » wissen Sie , wem Sie ähnlich sehen ? « Das junge Mädchen lachte . » Einem Mops ; in der Schule in Sienenthal nannten sie mich immer : die Mopsin , weil ich eine so kleine Nase habe « . » Einem Mops ähnlich zu sehen , wäre keine Schande « meinte Schüler ernsthaft , » das ist eine Hunderace , die alle Tage seltner wird , aber leider kann ich die angegebene Aehnlichkeit nicht entdecken , hingegen sehen Sie – meiner Frau ähnlich . Vielleicht macht das , weil ihr beide gleichalterig und von derselben Statur seid « . » Ja Sie haben recht « nickte Frau Wewerka , » sie haben Aehnlichkeit miteinander « . Kann ich nicht finden « meinte der Hausherr . » Na egal , Fräulein Grün ; möchten Sie nicht einmal meine Frau besuchen ? Ihr seid beide fremde , eingewanderte Naturkinder , recht unerfahren und müßtet euch gut verstehen . Hm ? « Johanne dankte erfreut . O ja , sie würde sehr gerne hingehen . Die war so unschuldig , dabei ein herziges , harmloses Ding , die konnte Alice empfangen . Mehrere Frauen seiner Kollegen , bei denen die junge Frau Besuch gemacht hatte , waren so taktlos gewesen , an dem Verhältnis zwischen Mathilde und ihrem Gatten zu rühren . Das hatte sie so in Verlegenheit und Wut versetzt , daß sie nicht mehr zu bewegen war , mit ihnen zu verkehren . So lebte sie ganz einsam dahin . Johanne mit ihrem urwüchsigen Wesen würde ihr sicher Freude machen . Es wurde ein Tag verabredet , an dem Frau Wewerka sie hinausführen sollte . Sie wohnten in einem ziemlich entlegenen Stadtteile . Später nahm die Hausfrau das junge Mädchen bei der Hand . » So , jetzt wollen wir diese beiden Männer ihrem geheimen Komplotte überlassen , kommen Sie Johanne « . Sie entfernten sich . » Die Idee ist gut « sagte Wewerka und zündete sich eine neue Cigarette an , » das Mädel wird deine Frau freuen . Ich habe selten so ein liebes , unschuldiges Ding gesehen « . » Na , sie wird sich schon abschleifen « . Schüler kniff die Augen zu . » Wär schade , wenn sie einem Tölpel in die Hände geriete « . Und er überlegte , daß dieses kleine Mädchen eigentlich ein Kapital sei , aus dem man Nutzen ziehen könnte . Dann rückten die Beiden einander näher und redeten mit gedämpfter Stimme von Dingen , von denen sie nicht wünschten , daß sie ein Anderer höre . Sie waren einander ebenbürtig . Der Kampf ums tägliche Brot hatte sie gemein gemacht , verbrecherisch , ohne daß sie die Kühnheit und den Mut des wirklichen Verbrechers besessen hätten .... 4 Frau Wewerka stellte die beiden jungen Damen einander vor , blieb noch ein Weilchen und empfahl sich mit dem Vorwand , dringende Kommissionen zu haben . Johanne gefiel es sehr gut bei Schülers . Es herrschte im Gegensatz zu Wewerkas eine wohlthuende Ordnung und Sauberkeit da . Hübsche , gutgehaltene , moderne Möbel zierten die freundlichen Räume . Auf einem Sessel in Alicens kleinem Zimmerchen , in das sie zuletzt ihren Gast geführt hatte , saß eine Taube und gurrte . » Das ist meine beste Freundin « sagte die junge Frau , das Tierchen an sich nehmend , » es liebt mich und kränkt mich nie « . Und ihr rosiger Mund preßte sich auf das blaugraue Gefieder . Johanne sah sie zögernd an . Sie hätte gerne gefragt : kann Sie denn jemand kränken , Sie sind ja so lieb und schön . Aber die Zurückhaltung Alicens machte auch sie kälter und zurückhaltender . Frau Schüler , die in ihrem jungen Leben schon so viel Häßliches , Mißtrauenerweckendes gesehen hatte , verlor langsam die herzige Zuthunlichkeit , die junge Frauen und Mädchen so entzückend kleidet . Nachdem sie Johanne mit ein wenig Hausfrauenstolz ihre nette Wohnung gezeigt hatte , setzte sie sich mit großem Ernst an ihr Theetischchen und bereitete Thee . Sie redeten allerlei höchst gleichgültige Dinge . Alice fragte sie , wie ihr die Kindergärtnerei gefiele , und ob sie auch die kleinen unartigen Kinder hauen dürfe . Johanne erzählte von den Eigenarten verschiedener Kleinen ; dann trat eine Pause ein . Sie blickten einander an und wußten nicht weiter . » Sie haben eine reizende Bordure an Ihrer Schürze « stotterte Johanne , um etwas zu reden , » Haben Sie sie selbst gestickt ? « » O nein « Alice sah sie treuherzig an , » ich arbeite nicht gern « . » So ? « Wieder Pause . » Haben Sie diesen Kuchen selbst gebacken ? « » Ja , das heißt nicht ich , unsere Wirtschafterin « . » Aber Ihre Wohnung ist wirklich nett , hier möchte ich auch wohnen ? « » Finden Sie sie nicht klein ? Drei Zimmer nur . Man sagt , hier in der Stadt mieteten die Leute ganze Etagen « . Wewerkas haben auch nur vier Zimmer « . » Ja ? « » Aber nicht so hübsch eingerichtet wie Sie « . » Nein ? « » Die Möbel sind sehr verbraucht « . » Wohl weil sie sehr viele Umzüge mitmachten . Ernst – mein Mann , erzählte es mir . Auch übersiedelt sind sie schon mehrmals « . » So ? « Johanne sah sie fragend an . Sie hätte gern mehr über ihre Hausherren erfahren . Aber die kleine Hausfrau schwieg und sagte nichts mehr . Nun werde ich wohl gehen müssen , dachte Johanne , warum haben mich Wewerkas nur hierhergeschickt . Dieser eleganten jungen Frau bin ich zu bäuerisch . Alice knapperte an ihrem Konfekt und sah forschend das junge Mädchen an . Endlich blieb ihr Blick an den plumpen genagelten Schuhen ihres Gegenüber hängen . Johanne errötete und zog schnell den Fuß zurück . Dann stand sie auf . » Entschuldigen Sie , daß ich Sie belästigt habe « . Sie schüttelten einander die Hände . » Es hat mich sehr gefreut « . Draußen zog sie rasch ihr Jaket an und eilte die Treppe hinab . Man hatte noch kein Gas angezündet ; es war fast dunkel . Als sie auf dem letzten Treppenabsatz stand , hörte sie von oben leise hastige Schritte und fühlte eine Hand auf ihrer Schulter . Kommen Sie bald wieder , ja ? « » O ! « mit einem freudigen Ausruf wollte sich Johanne umwenden ; doch die andere war schon oben verschwunden . Wie lieb von ihr ! Das junge Mädchen trat lächelnd auf die Straße . Alice war ihr überaus sympatisch gewesen , nur hatte deren Kälte sie ein wenig verwirrt . Freilich , wie hätte sie auch gleich das erste Mal anders sein sollen ? Sie kannte Johanne noch gar nicht . Aber von Glück hatte man wenig auf ihrem Gesicht gelesen . Sollte Schüler nicht gut gegen sie sein ? Das war doch gar nicht zu denken . Sie war in Gedanken versunken und verlangsamte ihre Schritte . Plötzlich tauchte ein Mann an ihrer Seite auf . » So allein , schönes Kind ? « Er trug einen Cylinder und sah sehr vornehm aus . Johanne blickte ihn erschrocken an und beschleunigte ihren Gang . Aber das störte ihn nicht . » Gehen Sie weit ? « Er wollte nach ihrem Arm fassen . Sie blieb stehen . » Ich weiß nicht ... Sie sind sehr komisch ... ich ... kenne Sie doch gar nicht « . Ihre erschreckten Augen schienen ihm zu gefallen . » Allerliebster Balg , nun sagen Sie aber – haben wir noch weit zu gehen ? « » Wir ? Wohnen Sie denn bei mir im Hause ? « Er lachte auf . » Das wohl kaum . Aber ich werde vielleicht oft zu Ihnen kommen , wenn wir einander gefallen « . Ihr Gesicht färbte sich glühend . » Was fällt Ihnen eigentlich ein , Sie – « » Pst , pst « er legte den Finger an den Mund , » nicht so laut , machen Sie doch keine so langen Geschichten , und kommen Sie . – « Da fuhr ihre Hand blitzschnell in sein Gesicht . Sie wußte einen Augenblick nichts von sich ; erst als jemand ihren Arm ergriff und festhielt , kam sie zur Besinnung . » Oho , Madamchen , was treiben Sie denn da ? « Ein Mann mit einer Pickelhaube stand vor ihr . » Der , der – der Freche dort « – sie wandte sich suchend um , entdeckte aber nur ein paar fremde Menschen , die sie lachend umstanden , » er wollte mit mir gehen « ... » Na , das wird Ihnen nicht zum ersten mal passiert sein « meinte der Wächter des Gesetzes . » Was ? « ... Zornbebend trat sie ihm einen Schritt näher und hätte sich wer weiß wozu in ihrer Unerfahrenheit hinreißen lassen , wenn nicht der Schutzmann , den die ehrliche Entrüstung der Kleinen aufklärte , grob ausgerufen hätte : » Wenn Sie sich solchen Angriffen nicht aussetzen wollen , wählen Sie keine berüchtigten Gassen zu Ihrem Spaziergang , verstanden ? « Sie begriff nicht ganz , was er meinte ; dunkel aber dämmerte es in ihr , daß sie eiligst diese Gegend verlassen müsse . Laufenden Schrittes machte sie sich davon . Zu Hause berührte sie mit keinem Wort ihr häßliches Abenteuer . Als sie in ihrem Stübchen war , drückte sie das brennende Gesicht in die Hände und weinte . Zum ersten mal in ihrem Leben hatte eine schmutzige Hand in ihre junge , reine Seele gegriffen ... Das war Ninive , die Stadt der Herrlichen ! Wo waren die doch ? Wo war das , was sie erträumt hatte ? Mehrere Tage lang fühlte sie sich sehr gedrückt und hätte am liebsten das Haus nicht verlassen . Eines Nachmittags jedoch , als die Schule zu Ende war , schlug sie , einem innern Wunsche gehorchend , den Weg zu Schülers ein . Er würde wie immer wohl in der Redaktion sein , und Alice war allein . Die Mutmaßung traf zu . Die blasse , verhärmt aussehende Frau , die ihr öffnete , sagte , Frau Schüler sei anwesend . Alice kam ihr freundlich entgegen . Sie hatte ihr Täubchen im Arme . » Das ist nett von Ihnen . Sehen Sie , eben habe ich mit meiner Freundin gespielt . Nun kann ich sie ja wieder zurücktragen « . Sie lief mit dem Tierchen davon , kehrte schnell wieder zurück , zündete den Docht unter ihrer Theemaschine an und zog Johanne neben sich auf das kleine Sopha neben dem Theetisch . » Was machen Sie immer ? Ich langweile mich so sehr . Sie auch ? « » Ich – weiß nicht « , Johanna sah still vor sich hin , » ich langweile mich nicht , aber ich bin gar nicht so froh , wie ich geträumt habe , daß ich es hier sein müsse « . Alice ergriff sie beim Arm . – » Auch Sie ? Sehen Sie , mir gehts ebenso . Ganz genau so . Woran liegt das ? « » Bei Ihnen begreife ichs nicht « meinte Johanne . » Sie müssen doch sehr glücklich sein : Sie haben einen lieben Mann , ein reizendes Heim « . Alice legte ihre Hand auf Johannens Mund . » Seien Sie still « . Das junge Mädchen sah sie erstaunt an . » Wie ? « . . . » Haben Sie auch Geschwister ? « fragte Alice , hastig weiter plaudernd . » Ich wohnte bei meinem einzigen Bruder . Er ist Schriftsteller in einem kleinen lothringischen Städtchen an der französischen Grenze . Ich war nicht gerade glücklich , aber doch zufrieden bei ihm . Er hatte nämlich ein Verhältnis und zwei Kinder , die sich den ganzen Tag bei uns aufhielten . Ich liebte sie nicht diese Kinder . Sie waren schmutzig und ungezogen . Und sie erst . Eine Hallendame sag ich Ihnen . Aber trotz allem , ich wollte , ich wäre dort geblieben . Wir hatten ein kleines Gärtchen vorm Haus ; da gabs Flieder und Jasmin « – sie stockte und schwieg . » Warum hat er sie nicht geheiratet ? « fragte Johanne leise . » Ach , dazu war sie ihm zu ungebildet « . Das junge Mädchen schüttelte den Kopf . » Ich weiß nicht , es ist alles so ... so ... halb « . Endlich hatte sie das Wort gefunden . » Lauter Halbes , wohin man schaut . Keiner giebt sich ganz , jeder nur einen Teil , und begehrt auch wieder nur einen Teil vom Andern . Welch seltsame Welt ! « » Haben auch Sie schon Erfahrungen gemacht ? « Alice blickte sie mit wachsender Teilnahme an . » Ich glaube wir sind gleich alt . Nicht ? « » Ich bin bald neunzehn « . » Und ich war vor etlichen Tagen zwanzig « . » Sie sind auch schon Frau « . » Sie werden es wohl bald ; oder kennen Sie keinen Mann , den Sie heiraten möchten ? « » Ich kenne überhaupt nur vier Männer « lachte Johanne , » unsern Pastor , meinen Vormund , Herrn Wewerka und Ihren Mann . Nein , unsern alten Doctor in Sienenthal , den ja auch « setzte sie hinzu . Das harmlose , schlichte , ehrliche Wesen des jungen Mädchens gefiel Alice immer besser . Es strömte etwas Gesundmachendes , Kraftvolles aus ihrer Nähe . Sie war so sauber ; ihr roter Mund mit seinen prächtigen , schneeweißen Zähnen glich einer silberklaren Quelle , die nur Reines ans Licht trägt . Sie traten einander immer näher . Bei einem der nächsten Besuche , den Johanne ihr machte , erfuhr sie alles . Ihre Hände waren eiskalt , als sie zum Abschied sie in die ihrer neuen Freundin legte . – » Daß wir uns nach dem heutigen Tag nicht mehr Sie sagen können , begreifst Du « meinte die junge Frau , sich die letzten Tropfen aus den Augen wischend . » Ich will Dir auch eine treue Freundin sein , zähle auf mich « sagte Johanne ernst . » Ich hab viel gelesen in früheren Jahren , aber so Trauriges nicht , wie ich hier täglich sehe und höre . Sag mir nur , glaubst Du , daß alle Menschen unrein sind ? Vielleicht haben wir eben nur solche kennen gelernt ; wir müssen uns umsehen und suchen , damit wir nicht verzweifeln . Diese Frau Wewerka scheint auch eine dunkle Vergangenheit zu haben . Jüngst stritten sich die Beiden im Speisezimmer , ich wohne nebenan und vernehme jedes Wort . Ihr Mann sagte : Angenehm kann es mir ja nicht sein , mit Deinem früheren Anbeter zu verkehren ; aber wenn seine Lage wirklich so glänzend geworden ist , laß ihn immerhin herkommen , vielleicht erweist er sich nachträglich dankbar gegen dich « . Alice preßte die Zähne auf die Lippen . Hast Du Deinen Mann lieb ? « fragte Johanne , als sie schon an der Thür war . Die junge Frau sah auf die Spitzen ihrer winzigen Lackschuhe und errötete . » Er kann – so süß sein . Man schmilzt in seinen Armen dahin . In diesen – solchen Momenten liebe ich ihn ; aber dann , wenn wir beide nüchtern sind , bei Tage , oder unter fremden Leuten , möchte ich ihn oft anspeien vor Verachtung . Sie hat mir noch viel anderes von ihm erzählt « ... » Sie ists doch , die mir immer die Thüre öffnet ? « » Ja , die « . » Uralt ! Wie kann er die nur lieben ? « » Es ist ja blos Mitleid « . » Er ist doch aber kein guter Mensch « . » Gott , gut ! So 'n bischen weich « . » Ja , ja . Halb . Nicht kräftig genug zu etwas Ganzem . Nicht dich verlieren , nicht die Andere verlieren « . An diesem Abend geschah etwas Seltenes . Johanne , die sonst keine besondere Freundin des Betens war , warf sich vor dem Schlafengehen auf die Kniee und betete innig . Sie betete , daß Gott ihr und ihrer jungen Freundin gute , reine Menschen entgegenführen möge , an denen sie sich halten und stützen könnten . Sie war erst wenige Monate da und schien innerlich um Jahre gealtert . Sie erfuhr mit jedem Tage Neues vom Leben . Ihre kindliche Bewußtseinsdämmerung war einer grellen blendenden Ahnung gewichen . Das Pflaster ihres Ninive schien von Thränen heiß zu sein und von fiebernden Sohlen , die über ihm hinwegschritten . – Manchmal ging sie nach der Kirche und hörte eine Predigt an . Aber die geistreichen , eiskalten Tiraden dieser eleganten Priester machten sie nicht froher . Ihr inneres Leid , zusammen mit der schlechten , wenig gesunden Nahrung , ließ sie rasch abmagern und nahm ihrem Gesichte die rosige Farbe . Sie glich jetzt den anderen Großstadtmädchen mit heißen , überwachten Augen und fahler Haut . Am Abend fiel sie immer totmüde ins Bett . Die Schule lag weit weg von hier , und sie mußte täglich viermal den Weg zu Fuß zurücklegen . Auch gestand sie sich ehrlich , daß ihr die Pädagogik nicht das geringste Interesse abgewann . Sie lernte ohne Freude , ohne Hoffnung . Aber beharrlich , wie sie war , kam es ihr nicht in den Sinn , an einen anderen Beruf für sich zu denken . Einmal sagte sie zu Alice : » Weißt Du , es ist auch trostlos . Die ewige Schule , Herr und Frau Wewerka ! Wenn ich Dich nicht hätte ! « ... » Und Du hast doch so wenig von mir « meinte Alice . » Aber weißt Du , mir ist jüngst ein Einfall gekommen . Ich will Ernst bestimmen , daß er nette Leute zu uns bringt . Was meinst Du ? Leide ich nicht ebenso wie Du unter dem Einerlei ? Den ganzen Tag fast allein , das traurige Gesicht Mathildens vor mir ... Immer kann man auch nicht lesen . Wir wollen uns ins Leben stürzen , willst Du ? « Johanne lächelte . » Aber wie fängt man das an ? « 5 Eines Tages sagte Herr Wewerka bei Tisch : » Fräulein Johanne , Ende dieser Woche werden wir einige Gäste bei uns sehen . Auch Ihre Freundin Alice mit ihrem Mann . Es ist Ihnen doch nicht unangenehm « . » O ich freu mich darauf « sagte Johanne überrascht ; dann grübelte sie , ob die kleine Frau das so eingefädelt hatte , und warum sie nicht bei sich , wo es doch viel hübscher war , die Gäste empfinge . Sollte etwa Mathildens Gegenwart daran schuld sein ? Schämte Alice sich , die Gäste von ihr bedienen zu lassen ? Der Sonnabend kam heran . Johanne hatte sich auf Frau Wewerkas Rat ein einfaches Kleidchen machen lassen , das ihre schöne , schlanke Gestalt vorteilhafter hervorhob , als die plumpen Nähkünste von Sienenthal es thaten . Frau Wewerka lieh sich aus einer Anstalt das nötige Service aus und bestellte die bekannte Kochfrau . Das unfreundliche Dienstmädchen machte zum erstenmal ein etwas heiteres Gesicht . Sie hoffte auf Trinkgelder . Die ersten Gäste , die eintrafen , waren Schülers . » Frau Borstig hat abgesagt , aber ihr Mann kommt « sagte die Hausfrau . » Sie hat wohl ihr gutes Kleid versetzt « meinte Schüler boshaft . Dann machte er Johanne den Hof . Alice sah reizend aus in ihrem dekolletierten blauen Kleidchen und dem hochfrisierten Haar . Es war nicht zu leugnen , ein wenig kokottenhaft sah sie aus ; aber jede Französin , wenn sie nicht alt und häßlich ist , sieht geputzt so aus . Man saß einige Zeit im Wohnzimmer , wo Frau Wewerka zum erstenmal Johanne empfangen hatte . In der Abendbeleuchtung machte es sich ganz elegant . Die Nippessachen aus dem Fünfzig-Pfennigbazar , die auf Konsolen und Schränken umherstanden , verloren an Wertlosigkeit unter dem verklärenden Licht der rotbeschirmten Lampen . Man erwartete zehn Gäste . Frau Borstig hatte abgesagt , also kamen nur Herren . Kurz nach der anberaumten Stunde stellten sich die Geladenen ein . Herr Borstig und Herr Berner , Herr Doctor Lang und noch andere Namen klangen an Johannes Ohren . Sie war verlegen und hielt sich beharrlich an Alices Seite . Man redete zu ihr , sie antwortete zerstreut ; endlich trat ein Herr zu ihr und bat um die Ehre , sie zu Tisch führen zu dürfen . Johanne sah ihn ratlos an . Ob er sich ihrer Verlegenheit erbarmen würde ? Er that es . Gnädiges Fräulein sind wohl erst kurze Zeit hier , ich hatte noch nirgends das Vergnügen , Ihnen zu begegnen « . Er war ein hochaufgeschossener junger Mensch mit einem Durchschnittsgesicht und einem faden Lächeln um den süßlichen Frauenmund . Johanne sah ihn heimlich an und bemühte sich , aus seinem Aeußern zu erkennen , welchen Standes oder wes Geistes Kind er sei . » Ja , ich bin noch nicht lange hier « sagte sie unbeholfen . » Und gefällt es Ihnen bei uns ? « » Mit jedem Tage weniger « gestand sie . » Warum ? « fragte er ein wenig interessiert . » Es ist sehr öde in dieser Stadt « . » Oede « lachte er , » eher alles , als das . Vielleicht leben Sie nicht , wie man in einer solchen Stadt leben muß , um sie kennen und lieben zu lernen « . » Ich wüßte nicht , wie ich anders leben sollte . Ich studiere hier « . » Ah ! Gehen Sie auch in Gesellschaften , Theater ? « Sie schüttelte den Kopf . » Dieses ist die erste Gesellschaft , die ich mitmache « . Ein geringschätziges Lächeln zuckte um seinen Mund . » Wewerkas führen ein sehr zurückgezogenes Leben . Früher traf man öfters mit ihnen zusammen « . » Sind Sie befreundet mit ihnen ? « » Gewiß « . Er sah sie ironisch an . » Wir sind alle befreundet hier « . In diesem Augenblick gab die Hausfrau ein Zeichen . Es entstand ein fröhlicher Tumult . Da die Damen in der Minderheit vorhanden waren , faßten sich etliche der Herren scherzend unter den Arm und führten einander zu Tische . Plötzlich hörte sie hinter sich flüstern : » Machen Sie mir das Kind nicht verrückt « . Sie sah sich um und blickte in Schülers lächelndes Gesicht . Bei Tisch saß ihr gegenüber Alice , deren Nachbar Johannes Begleiter verständnisvolle Blicke zuwarf . Während die Andern durcheinander schwatzten und schrieen , sagte Johanne leise : » Ich habe Ihren Namen vergessen , entschuldigen Sie « . Ihr Nebenmann lachte . » Das zeigt mir , wie wenig berühmt ich noch bin , sonst hätten Sie ihn im Gedächtnis gehabt , noch bevor Sie mich persönlich kannten . Ich heiße Babinsky « . Sie sah ihn fragend an . » Sind Sie Künstler , weil Sie vom Berühmtsein sprechen ? « » Ach , gnädiges Fräulein « – » O bitte , lassen Sie das : gnädig , ich bin ein einfaches Mädchen « . » Ich bin Schriftsteller ; ob ichs schon zum Künstler gebracht habe , weiß ich nicht . Die Welt behauptet es « . Er schluckte ein großes Stück Fleisch hinab . » Aber ich – ich bin natürlich unzufrieden mit mir , wie es alle bedeutenden Geister mit sich sind . Haben Sie auch von meinem Freund Mink noch nichts gehört ? « Er deutete auf Alicens Tischnachbar hinüber . » Was ist er ? « Sie schämte sich innerlich über ihre Unwissenheit . » Der größte Lyriker der Gegenwart « sagte Babinsky nachlässig . » Ich habe es mindestens neulich in meinem Essay ausdrücklich betont « . » Ah , Sie sind auch Redakteur ? « » O nein « sagte er , sich in die Brust werfend , » ich bin dramatischer Dichter , aber nebenbei schreibe ich auch Kritiken . Ich wohne mit Mink zusammen . Wir ergänzen uns trefflich . Braucht er praktische Winke , irgend eine Handlung , eine besonders drastische Szene , so wendet er sich einfach an mich ; bedarf ich einer weichen , lyrischen Stimmung , eines besonders zarten Bildes , ist er mir behülflich « . » Das ist rührend « sagte Johanne . » Und in welchem Theater , hier giebts ja so viele , werden Ihre Stücke aufgeführt ? « Der große Dichter leerte sein Glas in einem Zuge und lehnte sich behaglich zurück . » Bis jetzt habe ich nur eins aufführen lassen , das närrischste . Die Zeit ist noch nicht reif für meine Ideen . Uebrigens behauptete mein Freund neulich in seiner Abhandlung über mich als Dramendichter , daß die Aufführung meiner Stücke eine andere Szene als die auf unsern Theatern übliche erheischt « . Herr Mink schreibt über Sie und Sie über Herrn Mink , wie komisch ! « Das junge Mädchen lachte . » Was ist da Komisches dabei ? « meinte Babinsky achselzuckend . » Sehen Sie den Herrn dort unten am Ende des Tisches , der eben mit Wewerka spricht ? « Johanne beugte sich vor . » Der mit der großen Nase und dem langen Haar ? « » Ja , ja , der ! Nun sehen Sie , der schreibt , er ist Romandichter , beständig über sich selbst Kritiken , weil kein Kritiker es thut « . » Aber nein « rief Johanne , » lachen denn die Leute nicht darüber ? « » Die wissen ja nicht , daß die großen Lobeserhebungen , die er sich zollt , von ihm selbst geschrieben sind « . » Prosit Babinsky ! « riefs von gegenüber . » Prosit Mink ! « Die Freunde tranken einander zu . Alice nickte freundlich zu Johanne hinüber . » Wenn das doch mir gälte « scherzte Babinsky . » Kennen Sie sie ? Sie ist noch nicht lange hier « . » Ich hörte viel von ihr , gesehen hatte ich sie bis heute noch nicht . Sie ist ein reizendes Weib « . » Sie ist meine Freundin « sagte Johanne ernsthaft , ohne zu wissen warum . » Gratuliere ! « Babinsky verneigte sich vor Johanne . » Ist er auch Ihr Freund ? « Kennen Sie ihn ? « fragte das junge Mädchen , ohne vom Teller aufzusehen . » Wie meine Westentasche . Sehen Sie , er verdreht sich eben den Hals nach Ihnen ; ich glaube , er ist verliebt in Sie « . » Wer ist der Herr , der neben ihm sitzt ? « fragte Johanne kühl . » Das ist der bekannte Marschner , ein Verleger « . » Weshalb ist er bekannt ? « Das junge Mädchen sah auf den ältlichen Mann mit der emporstrebenden Nase und den herabhängenden Mundwinkeln , der immerfort Frau Wewerka anstierte . » Erstens weil er die Kunst versteht , von den Schriftstellern das höchste Honorar herauszuschlagen – « . » Sie von ihm , meinen Sie « . » Nein , Fräulein , er von ihnen . Es giebt Dichter , ich natürlich gehöre nicht zu diesen – die den Verleger gut bezahlen , wenn er sie druckt . Sodann ist er der Mann der größten Auflagen . Er beginnt nämlich gleich mit der zwölften Auflage eines Dichtwerkes in seinem Verlage ; auch versteht er es gut , Titelauflagen unters Publikum zu schmuggeln ; aber pardon , das werden Sie kaum verstehen ; endlich – Danke , gnädige Frau , ich komme gleich nach « . Er verneigte sich gegen die Hausfrau , die ihm zutrank . » Von wem sprach ich doch ? Ja richtig : endlich hat er neulich eine Erbschaft gemacht und ist augenblicklich im beneidenswerten Besitze eines hübschen Mammons . « Johannes Brauen runzelten sich leicht , und sie preßte die Zähne auf die Lippen . » Was ist Ihnen ? « Babinsky sah sie verblüfft an . » O nichts « sagte sie und suchte den feuchten Glanz ihrer Augen zu verbergen . Dann blickte sie auf Frau Wewerka und den Alten . » Wissen Sie , ich würde wahnsinnig werden , wenn ich ewig hier bleiben müßte « . » O « rief Babinsky , » wahrhaftig ? warum ? Und wohin wollen Sie denn ? « » Mein Jahr hier studieren , ein Examen machen und dann in eine Provinzstadt in Stellung gehen . Das ist ja schrecklich in diesem Ninive « . Sie bemühte sich , ihre Erregung zu verbergen und zu scherzen .