Erster Teil Der fremde Jüngling In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen , der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab . Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren . Niemand wußte , woher er kam . Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen , denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind ; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen , und diese wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge , bald klagend , bald freudig , als wenn kein Sinn dahintersteckte und sie nur unverstandene Zeichen seiner Angst oder seiner Lust wären . Auch sein Gang glich dem eines Kindes , das gerade die ersten Schritte erlernt hat : nicht mit der Ferse berührte er zuerst den Boden , sondern trat schwerfällig und vorsichtig mit dem ganzen Fuße auf . Die Nürnberger sind ein neugieriges Volk . Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg hinauf und erklommen die zweiundneunzig Stufen des finstern alten Turmes , um den Fremdling zu sehen . In die halbverdunkelte Kammer zu treten , wo der Gefangene weilte , war untersagt , und so erblickten ihre dicht gedrängten Scharen von der Schwelle aus das wunderliche Menschenwesen , das in der entferntesten Ecke des Raumes kauerte und meist mit einem kleinen weißen Holzpferdchen spielte , das es zufällig bei den Kindern des Wärters gesehen und das man ihm , gerührt von dem unbeholfenen Stammeln seines Verlangens , geschenkt hatte . Seine Augen schienen das Licht nicht erfassen zu können ; er hatte offenbar Furcht vor der Bewegung seines eignen Körpers , und wenn er seine Hände zum Tasten erhob , war es , als ob ihm die Luft dabei einen rätselhaften Widerstand entgegensetzte . Welch ein armseliges Ding , sagten die Leute ; viele waren der Ansicht , daß man eine neue Spezies entdeckt habe , eine Art Höhlenmensch etwa , und unter den berichteten Seltsamkeiten war nicht die geringste die , daß der Knabe jede andre Nahrung als Wasser und Brot mit Abscheu zurückwies . Nach und nach wurden die einzelnen Umstände , unter denen der Fremdling aufgetaucht war , allgemein bekannt . Am Pfingstmontag gegen die fünfte Nachmittagsstunde war er plötzlich auf dem Unschlittplatz , unweit vom Neuen Tor , gestanden , hatte eine Weile verstört um sich geschaut und war dann dem zufällig des Weges kommenden Schuster Weikmann geradezu in die Arme getaumelt . Seine bebenden Finger wiesen einen Brief mit der Adresse des Rittmeisters Wessenig vor , und da nun einige andre Personen hinzukamen , schleppte man ihn mit ziemlicher Mühe bis zum Haus des Rittmeisters . Dort fiel er erschöpft auf die Stufen , und durch die zerrissenen Stiefel sickerte Blut . Der Rittmeister kam erst um die Dämmerungsstunde heim , und seine Frau erzählte ihm , daß ein verhungerter und halbvertierter Bursche auf der Streu im Stall schlafe ; zugleich übergab sie ihm den Brief , den der Rittmeister , nachdem er das Siegel erbrochen , mit größter Verwunderung einige Male durchlas ; es war ein Schriftstück , ebenso humoristisch in einigen Punkten wie in andern von grausamer Deutlichkeit . Der Rittmeister begab sich in den Stall und ließ den Fremdling aufwecken , was mit vieler Anstrengung zustande gebracht wurde . Die militärisch gemessenen Fragen des Offiziers wurden von dem Knaben nicht oder nur mit sinnlosen Lauten beantwortet , und Herr von Wessenig entschied sich kurzerhand , den Zuläufer auf die Polizeiwachtstube bringen zu lassen . Auch dieses Unternehmen war mit Schwierigkeiten verknüpft , denn der Fremdling konnte kaum mehr gehen ; Blutspuren bezeichneten seinen Weg ; wie ein störrisches Kalb mußte er durch die Straßen gezogen werden , und die von den Feiertagsausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spaß an der Sache . » Was gibts denn ? « fragten die , welche den ungewohnten Tumult nur aus der Ferne beobachteten . » Ei , sie führen einen betrunkenen Bauern « , lautete der Bescheid . Auf der Wachtstube bemühte sich der Aktuar umsonst , mit dem Häftling ein Verhör anzustellen ; er lallte immer wieder dieselben halb blödsinnigen Worte vor sich hin , und Schimpfen und Drohen nutzte nichts . Als einer der Soldaten Licht anzündete geschah etwas Sonderbares . Der Knabe machte mit dem Oberkörper tanzbärenhaft hüpfende Bewegungen und griff mit den Händen in die , Kerzenflamme ; aber als er dann die Brandwunde verspürte , fing er so zu weinen an , daß es allen durch Mark und Bein ging . Endlich hatte der Aktuar den Einfall , ihm ein Stück Papier und einen Bleistift vorzuhalten , danach griff der wunderliche Mensch , und malte mit kindisch-großen Buchstaben langsam den Namen Caspar Hauser . Hierauf wankte er in eine Ecke , brach förmlich zusammen und fiel in tiefen Schlaf . Weil Caspar Hauser , so wurde der Fremdling von nun ab genannt , bei seiner Ankunft in der Stadt bäurisch gekleidet war , nämlich mit einem Frack , von dem die Schöße abgeschnitten waren , einem roten Schlips und großen Schaftstiefeln , glaubte man zuerst , es mit einem Bauernsohn aus der Gegend zu tun zu haben , der auf irgendeine Weise vernachlässigt oder in der Entwicklung verkümmert war . Der erste , der dieser Meinung entschieden widersprach , war der Gefängniswärter auf dem Turm . » So sieht kein Bauer aus « , sagte er und deutete auf das wallende hellbraune Haar seines Häftlings , das etwas nicht ausdrückbar Unberührtes hatte und glänzend war wie das Fell von Tieren , die in Finsternis zu leben gewohnt sind . » Und diese feinen weißen Händchen und diese sammetweiche Haut und die dünnen Schläfen und die deutlichen blauen Adern zu beiden Seiten des Halses , wahrhaftig , er gleicht eher einem adligen Fräulein als einem Bauern . « » Nicht übel bemerkt « , meinte der Stadtgerichtsarzt , der in seinem zu Protokoll gegebenen Gutachten neben diesen Merkmalen die besondere Bildung der Knie und die hornhautlosen Fußsohlen des Gefangenen hervorhob . » So viel ist klar « hieß es am Schluß , » daß man es hier mit einem Menschen zu tun hat , der nichts von seinesgleichen ahnt , nicht ißt , nicht trinkt , nicht fühlt , nicht spricht wie andre der nichts von gestern , nichts von morgen weiß , die Zeit nicht begreift , sich selber nicht spürt . « Die hohe Polizeibehörde ließ sich durch ein solches Urteil nicht aus dem vorgesetzten Gang der Untersuchung lenken ; es bestand der Verdacht , daß der Stadtgerichtsarzt durch seinen Freund , den Gymnasialprofessor Daumer , beeinflußt und zu diesen Überschwenglichkeiten verführt worden sei . Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt , den Fremdling insgeheim zu belauern . Er spähte oft durch das verborgene Loch in der Türe , wenn sich der Knabe allein wähnen mußte ; aber es war immer derselbe traurige Ernst in den bald schlaffen und beklommenen , bald wie durch den Anblick eines unsichtbaren Furchtgebildes verzerrten und zerrissenen Zügen . Es war auch vergeblich , nachts , wenn er schlief , an sein Lager zu schleichen , hinzuknien , auf den Atem zu horchen und zu warten , ob er verräterische Worte aus dem Innern auf die Lippen trug ; Leute , die Übles im Schild führen , pflegen nämlich aus dem Schlaf zu reden , auch schlafen sie eher bei Tag als bei Nacht , wo sie ihren Gedanken und Entwürfen nachhängen ; aber diesen umfing der Schlummer , sobald die Sonne sank , und er erwachte , wenn sich der erste Morgenstrahl durch die verschlossenen Läden zwängte . Es konnte Argwohn wecken , daß er jedesmal zusammenzuckte , wenn die Tür seines Gefängnisses geöffnet wurde ; wahrscheinlich jedoch gab sich darin nicht die Angst eines schuldbewußten Gemüts zu erkennen , sondern vielmehr eine übermäßige Erregbarkeit der Sinne , denen jeder Laut von außen zu qualvoller Nähe kam . » Unsre Herren auf dem Rathaus werden noch viel Papier beschmieren müssen , wenn sie auf dem Weg weiterkommen wollen « , sagte der gute Hill eines Morgens , es war der dritte Tag der Haft Caspar Hausers , zu Professor Daumer , der den Fremdling besuchen wollte ; » ich kenne gewiß alle Schliche des Lumpenvolks , aber wenn der Bursche ein Simulante ist , will ich mich hängen lassen . « Hill sperrte auf , und Professor Daumer trat in die Kammer . Wie gewöhnlich erschrak der Gefangene , aber als der Ankömmling einmal im Raum war , schien ihn Caspar Hauser nicht mehr zu gewahren und schaute , bezaubert im dumpfen Nichtwissen , still vor sich nieder . Da geschah es , als Hill den Fensterladen geöffnet hatte , daß der Knabe , vielleicht wie nie zuvor in seinem Leben , den gefesselten Blick erhob , ihn von der schweigenden , gleichmäßigen Furcht wegkehrte , die das Innere seiner Brust beherbergen mochte , und ihn durchs Fenster hinausschweifen ließ in das besonnte Freie , wo Ziegeldach an Ziegeldach sich steil und glühend rot auf einem Hintergrund von bläulich dämmernden Wiesen und Wäldern malte . Er streckte seine Hand aus ; Überraschung und freudloses Staunen verzog seine Lippen , zögernd griff er mit dem Arm in das funkelnde Gemälde , als ob er das bunte Durcheinander draußen mit den Fingern anfassen wolle , und als er sich überzeugt hatte , daß es nichts war , etwas Fernes , Trügerisches , Ungreifbares , da verfinsterte sich sein Gesicht , und er wandte sich unwillig und enttäuscht ab . Am selben Nachmittag kam der Bürgermeister Binder in Daumers Wohnung und teilte im Verlauf eines Gesprächs über den Findling mit , daß die Herren vom Stadtmagistrat eher feindlich und ungläubig als wohlwollend gegen diesen gestimmt seien . Ungläubig ? « entgegnete Daumer verwundert , » in welcher Beziehung ungläubig ? « » Nun ja , man nimmt an , daß der Bursche sein Gaukelspiel mit uns treibt « , versetzte der Bürgermeister . Daumer schüttelte den Kopf . » Welcher Mensch von Verstand oder Geschicklichkeit wird sich aus purer Heuchelei dazu herbeilassen , von Brot und Wasser zu leben , und alles , was dem Gaumen behagt , mit Ekel von sich weisen ? « fragte er . » Um welches Vorteils willen ? « » Gleichviel , « antwortete Binder unschlüssig ; » es scheint eine verwickelte Geschichte . Da niemand sagen noch vermuten kann , worauf das Spiel hinaus will , ist Vorsicht um so mehr geboten , als man durch leichtsinnige Gutgläubigkeit den gerechten Hohn der Urteilsfähigen herausfordert . « » Das klingt ja beinahe , als ob nur die Zweifler und Neinsager urteilsfähig heißen könnten « , bemerkte Daumer stirnrunzelnd . » Von der Gilde haben wir leider genug . « Der Bürgermeister zuckte die Achseln und blickte den jungen Lehrer mit jener milden Ironie an , welche die Waffe der Erfahrenen gegenüber den Enthusiastischen ist . » Wir haben eine neuerliche Untersuchung durch den Gerichtsarzt beschlossen « fuhr er fort . » Der Magistratsrat Behold , der Freiherr von Tucher und Sie , lieber Daumer , sollen dieser Untersuchung kommissarisch beiwohnen . Der aufzunehmende Akt wird dann , zusammen mit den bereits vorhandenen , polizeilichen Protokollen , der Kreisregierung überschickt . « » Ich verstehe : Akten , Akten « , sagte Daumer spöttisch lächelnd . Der Bürgermeister legte ihm die Hand auf die Schulter und erwiderte gutmütig : » Seien Sie nicht so überlegen , Verehrter ; unsre Welt schmeckt nun einmal nach Tinte , und daran habt ihr Bücherwürmer doch wahrlich nicht die wenigste Schuld . Übrigens « , er griff in die Rockbrust und brachte ein zusammengefaltetes Stück Papier zum Vorschein , » als Mitglied der Kommission werden Sie gebeten , Einblick in ein wichtiges Dokument zu nehmen . Es ist der Brief , den unser Gefangener beim Rittmeister Wessenig abgegeben hat . Lesen , Sie . « Das mit keiner Namensunterschrift versehene Schreiben lautete : » Ich schicke Ihnen hier einen Burschen , Herr Rittmeister , der möchte seinem König getreu dienen und will unter die Soldaten . Der Knabe ist mir gelegt worden im Jahre 1815 , in einer Winternacht , da lag er an meiner Tür. Hab selber Kinder , bin arm , kann mich selber kaum durchbringen , er ist ein Findling , und seine Mutter hab ich nicht erfragen können . Hab ihn nie einen Schritt aus dem Haus gelassen , kein Mensch weiß von ihm , er weiß nicht , wie mein Haus heißt , und den Ort weiß er auch nicht Sie dürfen ihn schon fragen , er kann es aber nicht sagen , denn mit der Sprache ist es noch schlecht bei ihm bestellt . Wenn er Eltern hätte , wie er keine hat , wär was Tüchtiges aus ihm geworden . Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen , da kann er es gleich . Mitten in der Nacht hab ich ihn fortgeführt , und er hat kein Geld bei sich , und wenn Sie ihn nicht behalten wollen müssen Sie ihn erschlagen und in den Rauchfang hängen . « Als Daumer gelesen hatte , gab er dem Bürgermeister das Schriftstück zurück und ging mit ernster Miene auf und ab . » Nun , was halten Sie davon ? « forschte Binder ; » einige unsrer Herren sind der Ansicht , der Unbekannte selbst könne den Brief geschrieben haben . « Daumer hielt mit einem Ruck in seiner Wanderung inne schlug die Hände zusammen und rief : » Ach , du himmlische Gnade ! « » Dazu ist natürlich gar kein Grund vorhanden « , beeilte sich der Bürgermeister hinzuzufügen . » Daß bei der Abfassung des Schreibens eine zweckvolle Tücke gewaltet hat , daß es dazu bestimmt ist , Nachforschungen zu erschweren und irrezuführen , ist offenbar . Es ist eine schnöde Kaltherzigkeit im Ton , die mir von Anfang an den Verdacht erregt hat , daß der Jüngling das unschuldige Opfer eines Verbrechens ist . « Eine mutige Meinung , in welcher der Bürgermeister durch einen Vorgang sehr bestärkt wurde , der sich ereignete , kurz nachdem die Herren von der Kommission am folgenden Morgen das Gefängnis Caspar Hausers betreten hatten . Während der Wärter damit beschäftigt war , den Knaben zu entkleiden , ließ sich drunten in einer Gasse am Burgberg eine Bauernmusik hören und zog mit klingendem Spiel an der Mauer vorüber . Da lief ein grauenhaft anzuschauendes Zittern über den Körper Hausers , sein Gesicht , ja sogar seine Hände bedeckten sich mit Schweiß , seine Augen verdrehten sich , alle Fibern lauschten dem Schrecken entgegen , dann stieß er einen tierischen Schrei aus , stürzte zu Boden und blieb zuckend und schluchzend liegen . Die Männer erbleichten und sahen einander ratlos an . Nach einer Weile näherte sich Daumer dem Unglücklichen , legte die Hand auf sein Haupt und sprach ein paar tröstende Worte . Dies wirkte beruhigend auf den Jüngling , und er wurde stille ; nichtsdestoweniger schien der ungeheure Eindruck des gehörten Schalls seinen Leib von innen und von außen verwundet zu haben . Tagelang nachher zeigte sein Wesen noch die Spuren der empfundenen Erschütterung ; er lag fiebernd auf dem Strohsack , und seine Haut war zitronengelb . Teilnahmsvollen Fragen gegenüber war er allerdings herzlich bewegt , und er suchte nach Worten , um seine Erkenntlichkeit zu beweisen , wobei sein sonst so klarer Blick sich in dunkler Pein trübte , besonders für den Professor Daumer , der zwei- bis dreimal täglich zu ihm kam , legte er eine zärtliche Dankbarkeit , schweigend oder stammelnd , dar . Bei einem dieser Besuche war Daumer mit dem Knaben ganz allein , und das zum erstenmal ; der Wärter hatte auf seine Bitte das untere Tor abgesperrt Er saß dicht neben dem Gefangenen , er redete fragte , forschte , alles mit einem vergeblichen Aufwand von Innigkeit , Geduld und List . Zum Schluß beschränkte er sich darauf , das Tun und Lassen des Jünglings voll Spannung zu beobachten . Plötzlich stieß Caspar Hauser seine verworrenen Laute aus : er schien etwas zu fordern und spähte suchend herum . Daumer erriet bald und reichte ihm den gefüllten Wasserkrug , den Hill auf die Ofenbank gestellt hatte – Caspar nahm den Krug , setzte ihn an die Lippen und trank . Er trank in langen Schlücken , mit beseligter Gelöstheit und einem begeisterten Aufleuchten der Augen , wie wenn er für den kurzen Zeitraum des Genusses vergessen hätte , daß das dämonisch Unbekannte auf allen Seiten ihn bedrängte . Daumer geriet in eine seltsame Aufregung . Als er nach Hause kam , durchmaß er länger als eine halbe Stunde mit großen Schritten sein Studierzimmer . Gegen acht Uhr pochte es an der Tür , seine Schwester trat ein und rief ihn zum Abendessen . » Was glaubst du , Anna « , rief er ihr lebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu , » zwei mal zwei ist vier , wie ? « » Es scheint so « , erwiderte das junge Mädchen , verwundert lachend , » alle Leute behaupten es . Hast du denn entdeckt , daß es anders ist ? Das sähe dir ähnlich , du Aufwiegler . « » Nicht gerade das hab ich entdeckt , aber doch etwas der Art « , sagte Daumer heiter und legte den Arm um die Schulter der Schwester . » Ich will einmal unsre braven Philister tanzen lassen ! Ja , tanzen sollen sie mir und staunen . « » Betrifft es etwa gar den Findling ? Hast du was mit ihm vor ? Sei nur auf der Hut , Friedrich , und laß dich nicht in Scherereien ein , man ist dir ohnedies nicht grün . « » Gewiß « , gab er , rasch verstimmt , zur Antwort , » das Einmaleins könnte Schaden leiden . « » Nun , weiß man noch gar nichts über den Sonderling ? « fragte bei Tisch Daumers Mutter , eine sanfte , alte Dame . Daumer schüttelte den Kopf . » Vorläufig kann man nur ahnen , bald wird man wissen « , entgegnete er mit starr nach oben gerichtetem Blick . Am folgenden Tag brachte die » Morgenpost « einen Artikel , der die Überschrift trug : Wer ist Caspar Hauser ? Wenngleich auf diesen Appell keiner der Leser eine Antwort zu erteilen vermochte , wurde der Zudrang der Neugierigen so groß , daß das Bürgermeisteramt sich genötigt sah , die Besuchsstunden durch eine strenge Vorschrift zu regeln . Bisweilen standen die Leute Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefängnisses , und in allen Gesichtern war die Frage zu lesen : Was ist es mit ihm ? Was ist es für ein Mensch , der die Worte nicht versteht und dennoch sprechen kann , die Dinge nicht erkennt und dennoch sehen kann , der zu lachen vermag , kaum daß sein Weinen zu Ende , der arglos scheint und geheimnisvoll ist und hinter dessen unschuldig leuchtenden Augen vielleicht Übeltat und Schande verborgen sind ? Sicherlich spürte der Gefangene , spürte es schmerzlich , was die lüstern auf ihn gerichteten Blicke begehrten , und der Wunsch , ihnen zu willfahren , erzeugte möglicherweise die erste erhellende Dämmerung , welche ihm selbst die Vergangenheit langsam begreiflich machte , so daß er in beunruhigter Brust nach dem Gewesenen tastete , ein Gewesenes erst fühlte und die Gegenwart damit verband , im tiefsten schaudernd an der Zeit messen lernte , was sie verändernd mit ihm getan , und was er sah , mit dem verglich , was er ehedem gesehen . Er begriff das Fordernde der Frage und ward des Mittels inne , die verlangenden Mienen zu befriedigen . Mit durstigen Sinnen suchte er das Wort . Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem sprechenden Mund der Menschen . Hier war Daumer in seinem Element . Was keinem andern , dem Arzt nicht , dem Wärter nicht , dem Bürgermeister nicht , den Protokollanten erst recht nicht gelingen wollte , das vermochte nach und nach seine Behutsamkeit und zweckvolle Geduld . Die Person des Findlings beschäftigte ihn aber auch dermaßen , daß er seiner Studien und privaten Obliegenheiten , ja beinahe seines öffentlichen Amtes darüber vergaß , und er erschien sich wie ein Mann , den das Schicksal vor das ihm allein bestimmte Erlebnis gestellt hat , wodurch sein ganzes Sein und Denken eine glückliche Bestätigung erfährt . Unter seinen Notizen über Caspar Hauser lautete eine der ersten wie folgt : » Diese in einer fremden Welt hilflos schwankende Gestalt , dieser schlafumfangene Blick , diese angstverhaltene Gebärde , diese über einem etwas verkümmerten Untergesicht edel thronende Stirn , auf welcher Frieden und Reinheit strahlen : es sind für mich Zeugen von unbesiegbarer Deutkraft . Wenn sich die Vermutungen bewahrheiten , mit denen sie mich erfüllen , wenn ich die Wurzeln dieses Daseins aufgraben und seine Zweige zum Blühen bringen kann , dann will ich der stumpf gewordenen Welt den Spiegel unbefleckten Menschentums entgegenhalten , und man wird sehen , daß es gültige Beweise gibt für die Existenz der Seele , die von allen Götzendienern der Zeit mit elender Leidenschaft geleugnet wird . « Es war ein schwieriger Weg , den der eifervolle Pädagoge ging . Da , wo er zu beginnen hatte , war die menschliche Sprache ein wesenloses Ding , Wort um Wort mußte erst seinem Sinn angeheftet , Erinnerung erst erweckt , Ursache und Folge in ihrer Verkettung erst entschleiert werden . Zwischen einer Frage und der nächsten lagen Welten des Begreifens , ein Ja , ein Nein , oft hilflos hingeworfen , galt noch nichts , wo jeder Begriff erst aus der Dunkelheit erstand und die Verständigung von Vokabel zu Vokabel stockte . Und doch schien ein Licht wie aus weit entfernter Vergangenheit den Geist des Jünglings viel rascher zu beflügeln , als selbst der hoffnungsselige Daumer zu erwarten gewagt hatte . Es war erstaunlich , mit welcher Leichtigkeit und Kraft er einmal Gesagtes festhielt und wie er aus dem Chaos unlebendiger Laute das für ihn Lebendige und Bedeutungsvolle bildvoll hervorzauberte , so daß es Daumer zumute war , als hebe er bloß Schleier von den Augen seines Schützlings , als spiele er die Rolle des Lauschers bei den langsam hervorquellenden Erinnerungen . Er hielt den Körper , indes der Geist des Knaben zurückkehrte in den Bezirk , von wo er kam , und eine Kunde brachte , dergleichen kein Ohr je vernommen . Bericht Caspar Hausers , von Daumer aufgezeichnet Soweit Caspar sich entsinnen konnte , war er immer in einem dunkeln Raum gewesen , niemals anderswo , immer in demselben Raum . Niemals den Menschen gesehen , niemals seinen Schritt gehört , niemals seine Stimme , keinen Laut eines Vogels , kein Geschrei eines Tieres , nicht den Strahl der Sonne erblickt , nicht den Schimmer des Mondes . Nichts vernommen als sich selbst , und doch nichts von sich selber wissend , der Einsamkeit nicht innewerdend . Das Gemach muß von geringer Breite gewesen sein , denn er glaubte , einmal mit ausgestreckten Armen zwei gegenüberliegende Wände berührt zu haben . Vordem aber schien es unermeßlich groß ; angekettet an ein Strohlager , ohne die Fessel zu sehen , hatte Caspar niemals den Fleck Erde verlassen , auf dem er traumlos schlief , traumlos wachte . Dämmerung und Finsternis waren unterschieden , so wußte er also um Tag und Nacht ; er kannte ihre Namen nicht , allein er sah die Schwärze , wenn er einmal in der Nacht erwachte und die Mauern entschwunden waren . Er hatte kein Maß für die Zeit . Er konnte nicht sagen , wann die unergründliche Einsamkeit begonnen hatte , er dachte zu keiner Stunde daran , daß sie ein mal enden könne . Er spürte keinerlei Verwandlung an seinem Leibe , er wünschte nicht , daß etwas anders sein solle , als es war , es schreckte ihn kein Ungefähr , nichts Künftiges lockte ihn , nichts Vergangenes hatte Worte , stumm lief die regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens , stumm war sein Inneres wie die Luft , die ihn umgab . Wenn er am Morgen erwachte , fand er frisches Brot neben dem Lager und den Wasserkrug gefüllt . Bisweilen schmeckte das Wasser anders als sonst ; wenn er getrunken hatte , verlor er seine Munterkeit und schlief ein . Nach dem Aufwachen mußte er dann das Krüglein sehr oft in die Hand nehmen , er hielt es lange an den Mund , doch floß kein Wasser mehr heraus ; er stellte es immer wieder hin und wartete , ob nicht bald Wasser komme , weil er nicht wußte , daß es gebracht wurde ; hatte er doch keinen Begriff , daß außer ihm noch jemand sein könne . An solchen Tagen fand er reines Stroh auf seinem Bette , ein frisches Hemd am Körper , die Nägel beschnitten , die Haare kürzer , die Haut gereinigt . All das war im Schlaf geschehen , ohne daß er es gemerkt , und kein Nachdenken darüber umflorte seinen Geist . Ganz allein war Caspar Hauser nicht ; er besaß einen Kameraden . Er hatte ein weißes Pferdchen aus Holz , ein namenloses , regungsloses Ding und gleichwohl etwas , in dem sein eignes Dasein sich dunkel spiegelte . Da er die lebendige Gestalt in ihm ahnte , hielt er es für seinesgleichen , und in den matten Glanz seiner künstlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren Welt gebannt . Er spielte nicht mit ihm , nicht einmal lautlose Zwiesprach hielt er mit ihm , und obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern stand , dachte er nie daran , es hin und her zu schieben . Aber wenn er sein Brot aß , reichte er ihm jeden Bissen hin , bevor er ihn selbst zum Mund führte , und bevor er einschlief , streichelte er es mit liebkosender Hand . Das war sein einziges Tun in vielen Tagen , langen Jahren . Da geschah es einst während der Zeit des Wachens , daß sich die Mauer auftat , und von draußen her , aus dem Niegesehenen , erschien eine ungeheure Gestalt , ein Niegesehener , der erste Andre , der das Wörtchen Du sprach und den Caspar deshalb den Du nannte . Die Decke des Raumes ruhte auf seinen Schultern , etwas unverständlich Leichtes und Veränderliches war in der Bewegung seiner Glieder , ein Lärm war um ihn , der das Ohr füllte . Laut um Laut floß rasch von seinen Lippen , zu atemlosem Hören zwang das Leuchten seiner Augen , und an seinen Kleidern hing das Draußen als ein betäubender Geruch . Von den vielen Worten , die aus dem Munde des Du kamen , verstand Caspar zunächst keines , aber durch tieferregtes Aufmerken begriff er allmählich , daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle , daß das Ding , das seine Einsamkeit geteilt , den Namen Roß trug , daß er andre Rosse erhalten werde und daß er lernen solle . » Lernen « , sagte der Du immer wieder , » lernen , lernen . « Und wie um klarzumachen , was das heiße , stellte er einen Schemel mit vier runden Füßen vor ihn hin , legte ein Blatt Papier darauf , schrieb zweimal den Namen Caspar Hauser und führte beim Nachschreiben Caspars Hand . Dies gefiel Caspar , weil es schwarz und weiß aussah . Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel und sprach , auf die winzigen Zeichen deutend , die Worte vor . Caspar konnte sie alle wiederholen , ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben . Auch andre Worte und gewisse Redensarten plapperte er nach , die ihm der Mann vorsagte , zum Beispiel : » Ich möcht ein solcher Reiter werden wie mein Vater . « Der Du schien zufrieden ; jedenfalls um ihn zu belohnen , zeigte er ihm , daß man das Holzpferd auf dem Boden hin und her rollen könne , und damit vergnügte sich Caspar , als er am andern Morgen erwachte . Er schob das Rößlein vor seinem Lager auf und ab , wobei ein Geräusch entstand , das den Ohren wehe tat ; deshalb ließ er es wieder und begann dafür mit dem Pferd zu reden , indem er die unverständlichen Laute aus dem Munde des Du nachahmte . Es war eine wunderliche Lust für ihn , sich selbst zu hören , er hob die Arme und füllte den Raum mit seinem freudigen Gelall . Seinen Kerkermeister mochte dies verdrießen und beunruhigen , er wollte ihn zum Schweigen bringen : auf einmal sah Caspar einen Stab über seine Schulter sausen und spürte zugleich einen so heftigen Schmerz auf dem Arm , daß er vor Schrecken nach vorn fiel . Mitten in der Angst machte er die erstaunliche Wahrnehmung , daß er nicht mehr ans Lager angebunden war . Eine Zeitlang verhielt er sich ganz stille , dann versuchte er , vorwärts zu rutschen , aber ihm graute als er mit seinen bloßen Füßen die kalte Erde berührte . Mit Mühe erreichte er sein Lager und versank sofort in Schlaf . Es wurde dreimal Nacht und Tag , ehe der Du wiederkam und versuchte , ob Caspar noch seinen Namen schreiben und die Worte aus dem Buch lesen konnte . Er verbarg nicht seine Verwunderung , als der Knabe dies mühelos vermochte . Er wies auf Dinge rings im Raum und nannte ihre Namen ; er redete langsam , Aug in Aug mit Caspar , und hielt ihn dabei an der Schulter fest ; durch seine Blicke , seine Gebärden , das Verzerren seiner Züge hindurch ahnte Caspar , was er sagte , und ihn schauderte , während seine stotternde Zunge dem Mann gehorsam war . In der folgenden Nacht wurde er aus dem Schlaf gerüttelt . Lange und mit Qual spürte er es und konnte doch nicht ganz erwachen . Als er endlich die Augen aufschlug , war die Mauer geöffnet , und ein purpurroter Schein floß in den Raum . Der Du war über ihn gebeugt und sprach leise , vielleicht um Caspars Furcht zu stillen . Er richtete ihn empor und bekleidete . ihn mit Hosen , mit einem Kittel und mit Stiefeln , dann stellte er ihn auf die Füße , lehnte ihn gegen die Wand und kehrte sich mit dem Rücken gegen ihn . Er umfaßte seine Beine , hob ihn auf , Caspar umschlang mit den Armen seinen Hals , und nun ging es hinauf , einen hohen Berg hinauf , so schien es Caspar ; in Wirklichkeit war es wahrscheinlich die Treppe des unterirdischen Verlieses . Furchtbar dröhnte der Atem des Mannes , etwas Kühles und Feuchtes schlug Caspar ins Gesicht , setzte sich in seinen Haaren fest , die sich von selbst zu bewegen anfingen , und klammerte sich an seine Haut . Plötzlich wich die Schwärze , sie rauschte auf den Boden nieder ; alles wurde weit , weich und blieb doch dunkel ; in der Tiefe , in der Ferne wuchteten fremde große Dinge ; von oben brach ein blauer Strahl und verlor sich wieder , das Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der Kleider , durchdringende Gerüche wogten umher , Caspar begann zu weinen und schlief auf dem Rücken des Mannes ein . Beim Erwachen lag er auf dem Boden , das Gesicht zur Erde gekehrt , und von unten strömte Kälte in den Leib , Der Du richtete ihn auf . Die Luft brannte sonderbar , und ein unerträglich heller Schein flirrte vor den Augen . Der Du machte ihm begreiflich , daß er gehen lernen müsse ; er zeigte ihm , wie er gehen solle , er hielt ihn von hinten unter den Armen und stieß seinen Kopf gegen die Brust , ihm so befehlend , daß er auf den Boden sehen solle . Caspar gehorchte wankend und zitternd , die Luft und der Schein brannten ihm die Augenlider , die Gerüche machten ihn schwindeln , die Sinne vergingen . Er schlief wieder ; wie lange , das wußte er nicht . Auch wußte er nicht , wie oft er zu gehen probiert hatte , als es wieder dunkel wurde . Vielleicht glaubte er , es sei Nacht geworden , während sie sich nur in einem Wald befanden . Den Weg gewahrte er nicht , er konnte nicht sagen , ob es aufwärts oder abwärts ging . Ob Bäume oder Wiesen oder Häuser da waren , wußte er nicht . Bisweilen schien ihm alles ringsum in rote Glut getaucht , aber wenn das Weiche , Dunkle kam , dehnten sich Luft und Erde bläulich und grün . Ob Menschen vorübergingen , konnte er nicht sagen , er gewahrte nicht den Himmel , er sah nicht einmal das Gesicht des Mannes . Einmal fiel Wasser von der Höhe ; er dachte , der Du schütte ihn mit Wasser an , und beklagte sich , doch jener entgegnete , er schütte ihn nicht an , er deutete in die Luft und rief : » Regen ! Regen ! « Wie lange er so unterwegs gewesen , wußte er nicht . Ihm dünkte , jedesmal wenn er sich , erschöpft vom Gehen , zur Ruhe niedergelegt , sei ein Tag vergangen . Furcht zog ihn hin und bemeisterte seine Müdigkeit , sie spannte seine Gelenke und riß sein Haupt nach oben , indes die Augen unaufhörlich zur Tiefe starrten . Der Du gab ihm dasselbe Brot zu essen , das er im Kerker genossen , und ließ ihn Wasser aus einer Flasche trinken . Caspars Erschöpfung und seine Angst , wenn der Wind durch die Büsche sauste , oder wenn ein Tier schrie , oder wenn das Gras um seine Füße klirrte , suchte er durch das Versprechen schöner Pferdchen zu besiegen , und als Caspar endlich längere Zeit allein gehen konnte , sagte er , nun seien sie bald da . Er wies mit dem Arm in die Ferne und sagte : » Große Stadt . « Caspar sah nichts , taumelnd tappte er vorwärts ; nach einer Weile hielt ihn der Du bei den Armen zum Zeichen , daß er stehenbleiben solle , gab ihm einen Brief und sagte , den Mund nahe an Caspars Ohr : » Laß dich weisen , wo der Brief hingehört . « Caspar machte noch ein paar Schritte , und als er sich dann umsah , war der Du verschwunden . Er spürte plötzlich Steine unter den Füßen , er tastete nach allen Seiten , um sich zu halten , er sah Steinmauern , die im Sonnenlicht feurig lohten , aber Entsetzen packte ihn erst , als er Menschen gewahrte , erst einen , dann zwei , dann viele . Grauenhaft nah kamen sie heran , umstanden ihn , schrien ihm zu , einer ergriff ihn und schleppte ihn vorwärts , alles ringsumher war Lärm und Getöse ; er begehrte zu schlafen , sie verstanden ihn nicht ; er sprach von seinem Vater , von den Rossen , sie lachten und verstanden ihn nicht ; er jammerte über seine wunden Füße , sie verstanden ihn nicht ; er schlief im Stall des Rittmeisters , dann kamen wieder andre Gestalten , um , kaum daß sie sich gezeigt , mit unbegreiflicher Hast wieder zu fliehen , die Luft war schwer und kaum zu atmen , die gewaltigen Dinge , als welche ihm die Häuser erschienen , drängten sich an ihn an , und auf der Wachtstube erschreckten ihn die wilden Mienen und Gebärden der Leute so , daß er zu Tränen seine Zuflucht nahm . Wiederum schlief er lange , und danach wurde er auf den Turm gebracht . Der Mann , der ihn die große Stiege hinaufführte , sprach mit starker Stimme und öffnete eine Tür , die einen besonderen Hall von sich gab . Kaum hatte er sich auf dem Strohsack niedergelassen , so begann die Turmuhr zu schlagen , worüber Caspar in unermeßliches Erstaunen geriet . Er lauschte angestrengt , aber nach und nach hörte er nichts mehr , seine Aufmerksamkeit verlor sich , und er fühlte nur das Brennen seiner Füße . In den Augen hatte er keine Schmerzen , da es dunkel war . Er setzte sich auf und wollte nach dem Krüglein langen , um seinen Durst zu stillen . Er sah kein Wasser und kein Brot , anstatt dessen sah er einen Boden , der ganz anders beschaffen war als dort , wo er früher gewesen . Nun wollte er nach seinem Pferdchen greifen und mit ihm spielen , es war aber keines da , und er sagte : » Ich möcht ein solcher Reiter werden wie mein Vater . « Das sollte heißen : Wo ist das Wasser hin und das Brot und das Pferdchen ? Er bemerkte den Strohsack , auf dem er lag , betrachtete ihn mit Verwunderung und wußte nicht , was es sei ; mit dem Finger darauf klopfend , vernahm er dasselbe Geräusch wie von dem Stroh , das sonst sein Lager gewesen . Dies erfüllte ihn mit Beruhigung , so daß er wieder einschlief und erst mitten in der Nacht vom oftmals wiederholten Ton der Glocke erwachte . Er lauschte lang , und als der Schall verklungen war , sah er den Ofen , der eine grüne Farbe hatte und einen Glanz von sich gab ( denn Caspar vermochte selbst in tiefer Dunkelheit die Farben zu unterscheiden ) . Er blickte sehr angespannt hinüber und murmelte wieder : » Ich möcht ein solcher Reiter . werden wie mein Vater . « Das sollte heißen : Was ist denn dieses , und wo bin ich denn ? Auch drückte er damit sein Verlangen nach dem glänzenden Ding aus . In der Frühe öffnete der Wärter die Fensterläden , das helle Tageslicht tat Caspars Augen wehe ; er fing zu weinen an und sagte : » Hinweisen , wo der Brief hingehört « , und damit wollte er sagen : Warum tun mir die Augen weh ? Tu es weg , was mich brennt , gib mir das Pferdchen zurück und plag mich nicht so . Denn er sprach im Geiste mit dem Du , von dem er glaubte , daß er Abhilfe schaffen könnte . Er hörte die Uhr wieder schlagen , das nahm ihm die Hälfte der Schmerzen , und indes er horchte , kam ein Mann und stellte allerhand Fragen , aber Caspar gab keine Antwort , weil seine Aufmerksamkeit auf den verhallenden Klang gerichtet war . Der Mann faßte ihn am Kinn , hob seinen Kopf in die Höhe und redete mit starker Stimme . Jetzt hörte Caspar zu und sagte all seine gelernten Worte her , aber der Mann verstand ihn nicht . Er ließ seinen Kopf los , setzte sich neben Caspar und fragte immerfort ; als nun die Uhr wieder tönte , sagte Caspar : » Ich möcht ein solcher Reiter werden wie mein Vater . « Das sollte bedeuten : Gib mir das Ding , das so schön klingt . Der Mann verstand ihn nicht und redete weiter , da fing Caspar an zu weinen und sagte : » Roß geben « , womit er den Mann bat , er möge ihn nicht so quälen . Er saß dann lange Zeit allein . Aus weiter Ferne klang ein Trompetenschall aus der Kaiserstallung , und als ein andrer Mann eintrat , sagte Caspar die Redensart mit dem Brief ; das sollte heißen : Weißt du nicht , was das ist ? Der Mann brachte den Wasserkrug und ließ Caspar trinken , danach ward es ihm leicht zumute , und er sagte : » Möcht ein solcher Reiter werden wie mein Vater « . Das bedeutete Jetzt darfst du nicht mehr fortgehen , Wasser . Bald erklang wieder die Trompete , und Caspar lauschte freudig ; er dachte , wenn sein Pferdchen käme , würde er ihm erzählen , was er gehört . An diesem Tag aber begann schon die Peinigung , die er von den vielen Menschen auszustehen hatte . Eine hohe amtliche Person wird Zeuge eines Schattenspiels Natürlich hatte es wochenlang gedauert , bis Professor Daumer einen so vollständigen Einblick in die Vergangenheit des Jünglings gewonnen hatte . Dies alles ans Licht zu bringen , kündbar , greifbar , hatte Ähnlichkeit gehabt mit der Arbeit eines Brunnengräbers . Was anfangs ein Fiebertraum geschienen , besaß nun die Züge des Lebens . Daumer verfehlte nicht , der Behörde den Sachverhalt in einer gewissenhaften Niederschrift vorzulegen . Die Folge davon war , daß sich der Magistrat entschloß , die Bahn förmlicher Verhöre zu verlassen und in eine vertrautere Beziehung zu dem Unglücklichen zu treten . Die auffälligen Besonderheiten seines Wesens sollten noch einmal überprüft werden , hieß es in einer der gerichtlichen Noten , deshalb wurden Ärzte , Gelehrte , Polizeibeamte , scharfsinnige Juristen , kurz unzählige Personen , die an seinem Schicksal freien Anteil nahmen , zu ihm auf den Turm geschickt . Es war ein endloses Schnüffeln und Debattieren , Zweifeln und Staunen , doch die verschiedenen Erklärungen liefen alle auf eins hinaus , und die bloße Kraft des Augenscheins mußte den Daumerschen Bericht bestätigen . Wenige Tage später , gegen Anfang Juli , veröffentlichte der Bürgermeister einen Aufruf , der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte . Zunächst wurde darin das Erscheinen Caspar Hausers geschildert , und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichster Ausführlichkeit wiedergegeben war , beschrieb der Verfasser diesen selbst . Er sprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben , in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun , im Gefühl der Erlösung , mit Innigkeit seines Unterdrückers gedenke ; von seiner rührenden Ergebenheit an diejenigen , die häufig mit ihm umgingen , von seiner unbedingten Willfährigkeit zum Guten , die mit der Ahnung dessen verbunden sei , was böse ist , ferner von seiner außerordentlichen Lernbegierde . » Alle diese Umstände « , fuhr der beredsame Erlaß fort , » geben in demselben Maß , indem sie die Erinnerungen des Jünglings bekräftigen , die Überzeugung , daß er mit herrlichen Anlagen des Geistes und des Herzens ausgestattet ist , und berechtigen zu dem Verdacht , daß sich an seine Kerkergefangenschaft ein schweres Verbrechen knüpft , wodurch er seiner Eltern , seiner Freiheit , seines Vermögens , vielleicht sogar der Vorzüge hoher Geburt , in jedem Fall aber der schönsten Freuden der Kindheit und höchsten Güter des Lebens verlustig geworden ist . « Eine kühne und folgenschwere Vermutung , die eher dem mitleidigen Gemüt und dem romantischen Geist als der behördlichen Vorsicht eines hohen Bürgermeisteramtes zur Ehre gereichte . » Zudem beweisen mancherlei Anzeichen « , hieß es weiter , » daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden , wo der Jüngling der Sprache schon einmal mächtig gewesen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war , die gleich einem Stern in finsterer Nacht aus seinem Wesen hervorleuchtet . Es ergeht daher an die Justiz- , Polizei- , Zivil- und Militärbehörden und an jedermann , der ein menschliches Herz im Busen trägt , die dringende Aufforderung , alle , auch die unbedeutendsten Spuren und Verdachtsgründe bekanntzugeben . Und nicht etwa deswegen , um Caspar Hauser zu entfernen , denn die Gemeinde , die ihn in ihren Schoß aufgenommen , liebt ihn , betrachtet ihn als ein von der Vorsehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe , das sie ohne gültigen Beweis der Ansprüche andrer nicht abtreten wird , sondern nur , um die Übeltat zu entdecken und den Bösewicht samt seinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern . « Wahrscheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifest geknüpft , aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Verlauf und bereitete den Nürnberger Herren mancherlei Verlegenheiten . Zunächst lief eine Menge unsinniger und verleumderischer Bezichtigungen ein , durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in aristokratischen Kreisen dem Gerede ausgesetzt wurden : Kindesmord , Kindesraub , Kindesunterschiebung waren nach Ansicht des gemeinen Volks Verbrechen , welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen . Schlimmer war es , daß die magistratische Bekanntmachung dem Appellhof des Rezatkreises auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam . Irgendein grimmiger Hofrat am selben Gerichtshof erließ alsogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreisregierung in Ansbach , worin erstlich die Publikation des Nürnberger Bürgermeisters als vorschriftswidrig , zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde , und worin drittens der lebhafte Tadel darüber ausgedrückt war , daß durch das verfrühte Preisgeben wichtiger Umstände eine Kriminaluntersuchung wenn auch nicht vereitelt , so doch sehr erschwert worden sei . Der ergrimmte Hofrat ersuchte daher die Regierung , den Magistrat zu strenger Rechenschaft zu ziehen und zu befehlen , daß die den Fall behandelnden Polizeiakten unverzüglich anher zu senden seien . Die Regierung ließ sich das nicht zweimal sagen . Sie sendete ein Reskript an den Stadtkommissär von Nürnberg und äußerte sich dahin , daß die erzählte Lebensbeschreibung des Findlings so viele grobe Unwahrscheinlichkeiten enthalte , daß der Gedanke an eine ärgerliche Täuschung nicht abzuweisen sei . Gleichzeitig wurden die noch vorhandenen Exemplare des » Intelligenzblattes « und des » Friedens- und Kriegskuriers « , in welchen Zeitungen der Aufruf erschienen war , beschlagnahmt . Dies wurde dem Appellhof ordnungsgemäß mitgeteilt und die Erwägung daran geknüpft , ob die strafrechtliche Verfolgung des Häftlings einzuleiten sei oder nicht . Den Magistratsherren fuhr ein heilloser Schrecken in die Glieder . Schleunigst ließen sie die Aktenfaszikel zusammenpacken und schickten sie mit Eilpost nach Ansbach hinüber . Vielleicht wähnten sie , daß nun alles gut sei aber der grimme Hofrat dort selbst erhob alsbald wieder seine Stimme . » Die Verhöre mit dem Häftling und die Zeugnisse über ihn sind aktenmäßig nicht einwandfrei « , zeterte er ; » es sind keineswegs alle Personen , die zuerst mit ihm in Berührung getreten sind , polizeilich vernommen worden ; ferner hätte der Professor Daumer , um der öffentlichen Bekanntmachung des Magistrats eine rechtliche Basis zu geben , seine Gespräche mit dem Findling zu den Akten legen sollen . « Die Regierung , um ein übriges zu tun , warnte den Magistrat vor einseitigem Verfahren . Darauf erwiderte der Magistrat in einem Anfall von Trotz und Entrüstung : ja , aber in den Maßregeln , wie ihr sie verlangt , liegt Gefahr , die Entdeckung zu hemmen , welche Anklage die vorgesetzte Behörde mit zorniger Energie zurückwies . Holt eure Versäumnisse nach , diktierte sie , protokolliert Verhöre , schickt Akten , Akten , nichts als Akten . Mit innerer Wut hatte der Professor Daumer diese Vorgänge verfolgt . Er bezeichnete das Treiben der Ansbacher Behörde als widerwärtige Federfuchserei und hatte allen Ernstes die Absicht , seinem Unmut in einer geharnischten Epistel an die Regierung Luft zu machen . Mit Mühe hielten besonnene Freunde ihn davon zurück . » Aber es muß doch etwas geschehen ! « warf er ihnen voll Empörung entgegen , » man ist ja auf dem besten Weg , einen Justizmord zu begehen , und soll ich dazu die Hände in den Schoß legen ? « » Das ratsamste wäre « , antwortete der Freiherr von Tucher , der bei diesem Auftritt anwesend war , » sich persönlich an den Staatsrat Feuerbach zu wenden . « » Das hieße also , nach Ansbach reisen ? « » Gewiß . « » Aber nehmen Sie denn an , daß er , als Präsident des Appellgerichts , von den Maßnahmen seiner untergebenen Beamten nicht schon unterrichtet ist und sie etwa gar mißbillige ? « » Gleichviel , ich verspreche mir etwas von einer mündlichen Auseinandersetzung ; ich kenne Herrn von Feuerbach , er ist der letzte , der einer gerechten Sache sein Ohr verschließt . « Die Reise wurde beschlossen . Daumer und Herr von Tucher bei an den sich am andern Tag schon in Ansbach . Unglücklicherweise war der Präsident Feuerbach gerade auf einer Inspektionsreise durch den Bezirk , sollte erst am fünften Tag zurückkommen , und die beiden Herren , sofern sie das vorgesetzte Ziel erreichen wollten , mußten ihren Aufenthalt in der Kreishauptstadt über Gebühr verlängern . Mittlerweile hatte der Findling eine gar böse Zeit . Sein Turmgefängnis wurde das Ziel aller Müßiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt . Man lief hin wie zu der Ausstellung einer unterhaltsamen Rarität , denn der magistratische Erlaß hatte ihn zu einem öffentlichen Gegenstand gemacht . Seine bisherigen Beschützer waren ein wenig zurückhaltender geworden , denn man wußte ja nicht , wie die Geschichte enden würde und ob nicht ein hochweises Appellgericht ihn zum gewöhnlichen Schwindler stempeln würde . Der Turmwächter durfte der allgemeinen Volksbelustigung nicht steuern , der Bürgermeister selbst hatte die früheren Befehle aufgehoben , weil es zweckmäßig schien , daß möglichst viele Leute den Fremdling sahen . Oft erbarmte ihn der wehrlose Knabe , doch schmeichelte es anderseits seiner Eitelkeit , Herr über ein solches Wunderding zu sein , auch spazierte nebenbei mancher Groschen in den Beutel . Brach der Morgen an und Caspar Hauser erhob sich vom Schlaf , seltsam müde , mit den Augen das Licht meidend ; saß er traurig stumm in der Ecke , während Hill den Strohsack aufschüttelte und Wasser und Brot brachte , dann erschienen schon die ersten Besucher , die berufsmäßigen Frühaufsteher : Straßenkehrer , Dienstmägde , Bäckergesellen , Handwerker , die zur Arbeit gingen , auch Knaben , die auf dem Weg zur Schule einen ergötzlichen Abstecher machten , sogar einige höchst unbürgerliche Erscheinungen , die die Nacht im Stadtgraben oder in einer Scheune verbracht hatten . Mit dem Verlauf des Tages wurde die Gesellschaft vornehmer ; es kamen ganze Familien , der Herr Rendant mit Weib und Kind , der Herr Major a. D. , der Schneidermeister Bügelfleiß , Graf Rotstrumpf mit seinen Damen , Herr von Übel und Herr von Strübel , die ihre Morgenpromenade zum Zweck einer Besichtigung des kuriosen Untiers unterbrachen . Es war ein heiteres Treiben ; man konversierte , wisperte , lachte , spottete und tauschte Meinungen aus . Man war freigebig und brachte dem Jüngling allerlei Geschenke die er ansah wie ein Hund , der noch nicht apportieren gelernt hat , den fortgeworfenen Spazierstock seines Herrn ansieht . Man legte Eßwaren vor ihn hin , um seinen Appetit zu reizen ; so schleppte zum Beispiel die Kanzleirätin Zahnlos einmal eine ganze Schinkenkeule herauf , die allerdings am andern Tag verschwunden war – wohin , das wußte niemand ; doch zog man bedeutsame Schlüsse daraus . Vor allem hieß es : zeigt uns das Wunder , das angepriesene Wunder ! Aber da der schweigsame , sanftherzige Knabe nichts von alledem tat , was sie in ihrer lüsternen Erwartung sich eingebildet , so begannen sie entweder zu schimpfen , als ob sie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum betrogen worden wären , oder stellten die erstaunlichsten Torheiten an . Indem sie ihn fortwährend mit Fragen quälten , woher er komme , wie er heiße , wie alt er sei und ähnliches kamen sie sich sowohl witzig wie überlegen vor . Sein flehentliches Kopfschütteln , sein ungereimtes Nein oder Ja , das wie aus Kindermund frohbereitwillig und furchtsam zugleich klang , sein Gestotter , sein gläubiges Lauschen , alles das erregte ihr Behagen . Einige brachten ihr Gesicht ganz nah an seines und waren höchst vergnügt , wenn er vor ihren Starrblicken sichtlich bis ins Innerste erschrak . Sie befühlten seine Haare , seine Hände , seine Füße , zwangen ihn , durchs Zimmer zu spazieren , zeigten ihm Bilder , die er erklären sollte , und taten zärtlich mit ihm , während sie einander listig zuzwinkerten . Aber die Harmlosigkeit solcher Versuche ward den unternehmenderen Geistern bald überdrüssig . Man wollte sich doch überzeugen , ob es seine Richtigkeit damit hatte , daß der Gefangene jede Nahrung außer Brot und Wasser verschmähe . Man hielt ihm Fleisch und Wurst , Honig oder Butter , Milch oder Wein vor die Nase und amüsierte sich köstlich , wenn der Knabe vor Ekel förmlich außer sich geriet . » Ei , der Komödiant « , kreischten sie dann , » tut , als ob er unsre Leckerbissen verachte ! Hat sich wahrscheinlich mal in eines großen Herrn Küche überfressen ! « Einen Hauptspaß gabs , als einmal zwei junge Meister der Goldschlägerinnung Schnaps herbeibrachten und sich verabredeten , dem Hauser das Getränk mit Gewalt aufzunötigen . Der eine hielt ihn , der andre wollte ihm das volle Glas zwischen die Lippen schütten . Doch konnten sie ihren Plan nicht ausführen , weil ihr Opfer durch den bloßen Geruch , der aus dem Gefäß strömte , das Bewußtsein verloren hatte . Sie waren einigermaßen verdutzt und wußten mit dem Ohnmächtigen nichts anzufangen ; zum Glück sahen sie ihn atmen und hatten weiter keine Furcht . » Glaubt ihm doch seine Kniffe nicht « , meinte ein stutzerhaft gekleidetes Bürschlein , das bisher gelangweilt dabeigestanden , » ich will ihn schon wieder munter kriegen . « Sprachs , zog lächelnd die goldene Schnupftabaksdose und steckte eine volle Prise unter die Nase des vermeintlichen Simulanten , dessen Gesicht sogleich von heftigen Zuckungen bewegt wurde , worüber alle drei in Gelächter ausbrachen . Als dann der Wärter kam und sie derb zur Rede stellte , zogen sie schimpfend ab und räumten den Plan einem gravitätischen älteren Herrn , der den langsam zum Leben , zurückkehrenden Caspar von vorn und hinten beschnüffelte , den Finger an die Stirn legte , sich räusperte , den Kopf schüttelte , erst Französisch , dann Spanisch , dann Englisch auf den Jüngling einredete , mit dem Wärter tuschelte , kurz von Wichtigkeit förmlich barst . Caspar jedoch sah ihn immer nur an und sagte in jämmerlichem Ton : » Heimweisen . « » Warum spielst du nicht mit dem Rößlein ? « fragte , als die wichtige Person gegangen war , der Wärter . Man verständigte sich mit Caspar noch immer mehr durch Gesten als durch Worte , und er selbst las , was Worte ihm nicht mitteilen konnten , von den Augen und den Händen der Menschen ab . Er blickte auch Hill lange an und sagte : » Heimweisen . « » Heimweisen ? « antwortete der Wärter , halb verdrießlich , halb mitleidig . » Wohin denn heim ? Wo bist du denn daheim , du Unglückswurm ? In dem unterirdischen Loch vielleicht ? Nennst du , das daheim ? « » Der Du soll kommen « , sagte Caspar klar , langsam und hell . » Der wird sich hüten « , versetzte Hill , bärbeißig lachend . » Der Du kommt , bald kommt « , beharrte Caspar , und er schaute mit einem Ausdruck feierlicher Inbrunst gegen den abendlichen Himmel , als sei er überzeugt , daß der Du durch die Lüfte schreiten könne . Dann erhob er sich in seiner mühevollen Weise , nahm sein Spielpferdchen und versuchte es zu tragen , denn dies allein wollte er von den Gegenständen , die er geschenkt erhalten , mitnehmen , wenn der Du käme , sonst nichts . Hill begriff sein Vorhaben . » Nein , Caspar « , sagte er , » jetzt mußt du schon in dieser Welt bleiben . Daß sie dir nicht gefallen mag , versteh ich wohl . Mir gefällt sie auch nicht , aber dableiben mußt du . « Caspar , wenngleich er den Worten nicht ganz folgen konnte , erfaßte doch den unabänderlichen Beschluß , den sie enthielten . Er begann an allen Gliedern zu beben , laut weinend warf er sich zu Boden , aber auch später , als es dem bestürzten Hill gelungen war , ihn zu trösten , schien es , wie wenn er vor Kummer sein Herz verhauche . Die Traurigkeit seines Gemüts überflutete das kindhafte Gesicht wie ein dunkler Schleier , und am Morgen waren seine Lider durch die während des Schlummers vergossenen Tränen verklebt . Er wollte zum erstenmal nicht mehr mit dem Pferdchen spielen , sondern kauerte stundenlang ohne Regung auf einem Fleck . Bei jedem Krachen der Treppe schüttelte es ihn , und er schauderte , wenn sich wieder und wieder ein neues Gesicht über der Schwelle zeigte . Zitternd sah er die Menschen an , der Geruch ihres Atems war ihm eine Pein und unerträglich , wenn sie ihn berührten . Am meisten Furcht hatte er vor ihren Händen . Zuerst sah er immer die Hände an , merkte sich ihre verschiedene Gestalt und Farbe , und ehe er sie an seiner Haut spürte , erschrak er schon , denn sie erschienen ihm wie selbständige Geschöpfe , kriechende , klebrige , gefährliche Tiere , deren Tun von einem Augenblick zum andern gar nicht abzuschätzen war . Nur Daumers Hand , die einzige , deren Berührung angenehm war , war verschwunden . Warum ? dachte Caspar , warum war dies alles ? Warum das seltsame Getöse von früh bis spät ? Woher kamen die fremden Gestalten , warum so viele , und warum war ihr Mund und ihr Auge böse ? Das frische Wasser schmeckte ihm nicht mehr , auch hungerte ihn nicht mehr nachdem gewürzten Brot . In seiner Erschöpfung dünkte ihm mitten am Tage , es sei Nacht geworden , und das Heißgleißende , funkelnde , von dem man ihm gesagt , daß es der Schein der Sonne sei , wurde vor seinen müden Augen zu purpurnem Dunst . Es beängstigte ihn das Geräusch des Windes , denn er verwechselte es mit den Stimmen der Menschen . Er sehnte sich in die Einsamkeit seines Kerkers zurück ; heimweisen war sein einziger Gedanke . Es war ein Sonntag . Spätnachmittags waren Daumer und Herr von Tucher aus Ansbach wieder angelangt , und in ihrer Begleitung befand sich der Staatsrat von Feuerbach , der sich entschlossen hatte , den Findling selbst zu besuchen und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hinundher von Akten und Erlässen zu bringen . Nachdem er im Gasthof zum Lamm Quartier gemietet hatte , ließ sich der Präsident von den beiden Herren sogleich zur Burg und auf den Turm führen . Es hatte schon neun Uhr geschlagen , als sie dort ankamen . Groß war ihre Überraschung , als sie das Zimmer Caspars leer fanden ; die Frau des Wärters erklärte verlegen , ihr Mann sei mit Caspar ins Wirtshaus zum Krokodil gegangen . Der Rittmeister von Wessenig habe nämlich einigen seiner von auswärts zugereisten Freunde den Findling zu zeigen gewünscht , habe heraufgeschickt und befohlen , daß man Caspar bringe . Daumer war erbleicht und schaute , Schlimmes ahnend , finster zu Boden ; Herr von Tucher vermochte seinen Unwillen kaum zu bemeistern , und über die bartlosen Lippen des Präsidenten huschte ein halb mokantes , halb verächtliches Lächeln ; seine gebietende Haltung erinnerte an einen durch Pflichtversäumnisse vielfach beleidigten Fürsten , als er sich mit der schroffen Aufforderung zu seinen Begleitern wandte : » Führen Sie mich zu diesem Wirtshaus ! « Die Dunkelheit war eingebrochen , über dem Dach des Rathauses stand fahlleuchtend der Mond . Schweigend schritten die drei Männer den Berg hinab , und kaum waren sie , das winklige Gassengewirr verlassend , auf den Weinmarkt getreten , als Daumer stehenblieb und mit erregter Stimme flüsterte : » Da ist er . « In der Tat sahen sie Caspar , der gleich einem zu Tod Erkrankten am Arme Hills aus dem Tor des Krokodilwirtshauses wankte . Der Präsident und Herr von Tucher blieben ebenfalls stehen , und sie bemerkten jetzt , daß der Jüngling plötzlich innehielt , zurückschauderte und , ein maßloses Staunen in den vor Angst weit aufgerissenen Augen , zu Boden starrte . Die drei Männer näherten sich eilig , um zu erfahren , was es sei . Sie sahen nichts weiter als die Mondschatten des Jünglings und seines Begleiters auf dem Pflaster . Caspar wagte nicht mehr sich zu regen , weil er jede Bewegung seines Körpers nachgeahmt sah von dem unbegreiflichen Ding . Seine Lippen waren wie zum Schrei geöffnet , seine Wangen schneeweiß und die Knie schlotterten ihm . War es doch , als ob alles Grauenhafte und Geheimnisvolle einer Welt , in die ein Ungefähr ihn geschleudert , sich zu dem seltsam zuckenden Gebild am Boden verdichtet habe . Daumer , Herr von Tucher und der Wärter bemühten sich um ihn , der Präsident stand wortlos daneben . Als er emporblickte , bemerkte Daumer , der ihn heimlich und gespannt beobachtete , in seinem strengen Gesicht eine unverstellte Erschütterung . Es fehlte nicht viel , so wäre Hill , den der Zorn des Präsidenten am ersten traf , noch am selben Abend aus seinem Amt gejagt worden ; nur die mutige Fürsprache des Herrn von Tucher rettete ihn und lenkte das Gewitter auf schuldigere Personen ab , denn die Vernachlässigung , die der Gefangene erlitten , war allzu offenbar . Seiner ungestümen Art gemäß suchte der Präsident sogleich den Bürgermeister Binder auf , dem er die heftigsten Vorwürfe machte . Herr Binder konnte nicht umhin , dem Präsidenten kleinmütig beizupflichten ; die Entschiedenheit , mit der er den Gegenstand behandelt sah , übte tiefen Eindruck auf ihn , und er mußte einen kaum wiedergutzumachenden Fehler vor sich selber eingestehen . Von seiner Seite war nur Lauheit im Spiel gewesen , die Scherereien mit der Regierung hatten ihn verdrossen , jetzt auf einmal , da der mächtige Mann seine Stimme für den Findling erhob , wurde er sich seiner Bereitwilligkeit bewußt , alles Fördernswerte für Caspar Hauser zu tun , und er erklärte sich ohne weiteres einverstanden , als Herr von Feuerbach verlangte , der Knabe müsse seiner bisherigen Lage entrissen werden . » Er soll in eine geordnete Pflege kommen « , sagte der Präsident , » Professor Daumer hat sich freiwillig erboten , ihn zu sich ins Haus zu nehmen , und ich wünsche nicht , daß dieser Schritt im geringsten verzögert werde . « Binder verbeugte sich . » Ich werde morgen mit dem frühesten die nötigen Anstalten treffen « , antwortete er . » Nicht , bevor ich selbst mit dem Knaben gesprochen « , versetzte der Präsident hastig ; » ich werde um zehn Uhr auf dem Turm sein und bitte , daß man mich eine Stunde lang mit dem Gefangenen allein lasse . « Auch Daumer war ziemlich erregt heimgekommen . Kaum daß er , nach tagelanger Abwesenheit , Mutter und Schwester ordentlich begrüßte . » Die Herrschaften müssen artig gewütet haben « , grollte er , indem er unaufhörlich durch das Zimmer wanderte , » der Knabe ist ja ganz verstört . Das heiß ich menschlich sein , das heiß ich Einsicht haben ! Barbaren sind sie , Schlächter sind sie ! Und unter solchem Volk zu leben bin ich gezwungen ! « » Warum sagst du es ihnen nicht selbst ? « bemerkte Anna Daumer trocken . » Hinter deinen vier Wänden zu schimpfen fruchtet wenig . « » Sag mal , Friedrich « , wandte sich nun die alte Dame an ihren Sohn , » bist du denn wirklich fest davon überzeugt , daß du dein Herz nicht wieder einmal an einen Götzen wegwirfst ? « » Aus deiner Frage erkennt man , daß du ihn noch , immer nicht gesehen hast « , antwortete Daumer fast mitleidig . » Das wohl ; es war mir ein zu groß Gerenne . « » Also . Wenn man von ihm spricht , kann man nicht übertreiben , weil die Sprache zu ärmlich ist , um sein Wesen auszudrücken . Es ist wie eine uralte Legende , dies Emportauchen eines märchenhaften Geschöpfs aus dem dunkeln Nirgendwo ; die reine Stimme , der Natur tönt uns plötzlich entgegen , ein Mythos wird zum Ereignis . Seine Seele gleicht einem kostbaren Edelstein , den noch keine habgierige Hand betastet hat ; ich aber will danach greifen , mich rechtfertigt ein erhabener Zweck . Oder bin ich nicht würdig ? Glaubt ihr , daß ich nicht würdig bin dazu ? « » Du schwärmst « , sagte Anna nach einem langen Stillschweigen fast unwillig . Daumer zuckte lächelnd die Achseln . Dann trat er an den Tisch und sagte in einem Ton , dessen Sanftheit gleichwohl einen gefürchteten Widerstand im voraus zu bekämpfen schien : » Caspar wird morgen in unser Haus ziehen ; ich habe Exzellenz Feuerbach darum angegangen , und er hat meiner Bitte willfahrt . Ich hoffe , daß du nichts dawider einzuwenden hast , Mutter , und daß du mir glaubst , wenn ich versichere , es ist eine Sache von großer Bedeutung für mich . Ich bin höchst wichtigen Entdeckungen auf der Spur . « Mutter und Tochter sahen erschrocken einander an und schwiegen . Am nächsten Morgen um zehn fanden sich Daumer , der Bürgermeister , der Stadtkommissär , der Gerichtsarzt und einige andre Personen im Burghof vor dem Gefängnisturm ein und warteten dritthalb Stunden auf den Präsidenten , der bei dem Findling oben war . Daumer , der Gespräche mit andern vermeiden wollte , stand fast ununterbrochen an der Umfassungsmauer und blickte auf das malerische Gassen- und Dächergewirr der Stadt hinunter . Als der Präsident endlich unter den Wartenden erschien , drängten sich alle mit Eifer heran , um die Meinung des berühmten und gefürchteten Mannes zu hören . Doch das Gesicht Feuerbachs zeigte einen so düsteren Ernst , daß niemand ihn mit einer Anrede zu belästigen wagte ; sein machtvolles Auge blickte brennend nach innen , die Lippen waren gleichsam aufeinander geballt , auf der Stirn lag eine von Nachdenken zitternde senkrechte Falte . Das Schweigen wurde vom Bürgermeister mit der Frage unterbrochen , ob Exzellenz nicht geruhen wolle , das Mittagessen in seinem Haus zu nehmen . Feuerbach dankte ; dringende Geschäfte nötigten ihn zu sofortiger Rückkehr nach Ansbach , entgegnete er . Darauf wandte er sich an Daumer , reichte ihm die Hand und sagte : » Sorgen Sie sogleich für die Übersiedlung des Hauser ; der arme Mensch braucht dringend Ruhe und Pflege . Sie werden bald von mir hören . Gott befohlen , meine Herren ! « Damit entfernte er sich in raschen , kleinen , stampfenden Schritten , eilte den Hügel hinab und verschwand alsbald gegen die Sebalderkirche . Die Zurückbleibenden machten etwas enttäuschte Mienen . Da sie alle überzeugt waren , daß der Scharfsinn dieses Mannes ohne Grenzen sei und daß kein andres als sein Auge das Dunkel durchdringen könne , welches über Untat und Verbrechen brütete , waren sie verstimmt über eine Schweigsamkeit , die ihnen beabsichtigt und planvoll erschien . Am Abend befand sich Caspar in der Wohnung Daumers . Der Spiegel spricht Das Daumersche Haus lag neben dem sogenannten Annengärtlein auf der Insel Schütt ; es war ein altes Gebäude mit vielen Winkeln und halbfinstern Kammern , doch erhielt Caspar ein ziemlich geräumiges und wohleingerichtetes Zimmer gegen den Fluß hinaus . Er mußte sogleich zu Bett gebracht werden . Es zeigten sich jetzt mit einem Schlag die Folgen der jüngst durchlebten Zeit . Er war wieder ohne Sprache , ja bisweilen ohne Gefühl des Lebens . Auf den ungewohnten Kissen warf er sich fiebernd herum . Wie jammervoll , ihn bei jedem Knacken der Dielen erschaudern zu sehen ; auch das Geräusch des Regens an den Fenstern versetzte ihn in aufgewühlte Bangnis . Er hörte die Schritte , die auf dem weiten Platz vor dem Haus verhallten , er vernahm mit Unruhe die metallenen Schläge aus einer fernen Schmiede , jeder Stimmenlärm brachte auf seiner eingeschrumpften Haut ein Zeichen des Schmerzes hervor ; und von Moment zu Momentvertauschten seine Züge den Ausdruck der Erschöpfung mit dem gepeinigter Wachsamkeit . Drei Tage lang wich Daumer kaum von seinem Bett . Diese Opferkraft und Hingebung erregte die Bewunderung der Seinen . » Er muß mir leben « , sagte er . Und Caspar fing an zu leben . Vom dritten Tag ab besserte sich sein Zustand stetig und schnell . Als er am Morgen erwachte , lag ein besinnendes Lächeln auf seinen Lippen . Daumer triumphierte . Du tust ja , als ob du selbst dem Kerker entronnen wärst « , meinte seine Schwester , die nicht umhin konnte , an seiner Freude teilzunehmen . » Ja , und ich habe eine Welt zum Geschenk erhalten « , antwortete er lebhaft ; » sieh ihn nur an ! Es ist ein Menschenfrühling . « Am andern Tag durfte Caspar das Bett verlassen . Daumer führte ihn in den Garten . Damit das grelle Tageslicht seinen Augen nicht schade , band er ihm einen grünen Papierschirm um die Stirn . Späterhin wurden die Dämmerungszeit oder die Stunden bewölkten Himmels für diese Ausgänge vorgezogen . Es waren ja Reisen , und nichts geschah , was nicht zum Ereignis wurde . Welche Mühe , ihn sehen , ihn das Gesehene nennen zu lehren . Er mußte erst zu den Dingen Vertrauen gewinnen , und ehe nicht ihre Wirklichkeit ihm selbstverständlich ward , machte ihn ihre unvermutete Nähe bestürzt . Als er endlich die Höhe des Himmels und auf der Erde die Entfernung von Weg zu Weg begriff , wurde sein Gang ein wenig leichter und sein Schritt mutiger . Alles lag am Mut , alles lag daran , den Mut zu kräftigen . Das ist die Luft , Caspar ; du kannst sie nicht greifen , aber sie ist da ; wenn sie sich bewegt , wird sie zum Wind , du brauchst den Wind nicht zu fürchten . Was hinter der Nacht liegt , ist gestern ; was über der nächsten Nacht liegt , ist morgen . Von gestern bis morgen vergeht Zeit , vergehen Stunden , Stunden sind geteilte Zeit . Dies ist ein Baum , dies ist ein Strauch , hier Gras , hier Steine , dort Sand , da sind Blätter , da Blüten , da Früchte ... Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs das Wort . Die Form wurde einleuchtend durch das unvergeßliche Wort . Caspar schmeckt das Wort auf der Zunge , er spürt es bitter oder süß , es sättigt ihn oder läßt ihn unzufrieden . Auch hatten viele Worte Gesichter ; oder sie tönten wie Glockenschläge aus der Dunkelheit ; oder sie standen wie Flammen in einem Nebel . Es war ein langer Weg vom Ding bis zum Wort . Das Wort lief davon , man mußte nachlaufen , und hatte man es endlich erwischt , so war es eigentlich gar nichts und machte einen traurig . Gleichwohl führte derselbe Weg auch zu den Menschen ; ja , es war , als ob die Menschen hinter einem Gitter von Worten stünden , das ihre Züge fremd und schrecklich machte ; wenn man aber das Gitter zerriß oder dahinter kam , waren sie schön . Hatte es am Morgen neu geklungen , zu sagen : die Blume , am Mittag war es schon vertraut , am Abend war es schon alt . » Dies Herz , dies Hirn , zur Fruchtbarkeit aufbewahrt durch lange Zeiten , treibt wie vertrockneter und endlich befeuchteter Humus Sprößlinge , Blüten und Früchte in einer Nacht « , notierte der fleißige Daumer ; » was dem matten Blick der Gewohnheit unwahrnehmbar geworden , erscheint diesem Auge frisch wie aus Gottes Hand . Und wo die Welt verschlossen ist und ihre Geheimnisse beginnen , da steht er noch seltsam drängend und fragt sein zuversichtliches Warum . Nach jedem Schall und jedem Schein tappt dies zweifelnde , erstaunte , hungrige , ehrfurchtslose Warum . « Es ist nicht zu leugnen , Daumer war oft erschreckt durch das Gefühl eignen Ungenügens . Heißt das noch lehren ? grübelte er , heißt das noch Gärtner sein , wenn das wilde Wachstum sich dem Pfleger entwindet , das maßlos wuchernde Getriebe keine Grenze achtet ? Wie soll das enden ? Zweifellos bin ich hier einem ungewöhnlichen Phänomen auf der Spur , und meine teuern Zeitgenossen werden sich herbeilassen müssen , ein wenig an Wunder zu glauben . Noch immer war es die liebste Vorstellung Caspars , einst heimkehren zu dürfen ; » erst lernen , dann heim « , sagte er mit dem Ausdruck unbesiegbarer Entschiedenheit . » Aber du bist ja zu Hause , hier bei uns bist du zu Hause « , wandte Daumer ein . Aber Caspar schüttelte den Kopf . Bisweilen stand er am Zaun und sah in den Nachbargarten hinüber , wo Kinder spielten , deren Wesen er mit komischem Befremden studierte . » So kleine Menschen « , sagte er zu Daumer , der ihn einmal dabei überraschte , » so kleine Menschen . « Seine Stimme klang traurig und höchst verwundert . Daumer unterdrückte ein Lächeln , und während sie zusammen ins Haus gingen , suchte er ihm klarzumachen , daß jeder Mensch einmal so klein gewesen , auch Caspar selbst . Caspar wollte das durchaus nicht zugeben . » O nein , o nein « , rief er aus , » Caspar nicht , Caspar immer so gewesen wie jetzt , Caspar nie so kurze Arme und Beine gehabt , o nein ! « Dennoch sei dem so , versicherte Daumer ; nicht allein , daß er klein gewesen , sondern er wachse ja noch täglich , verändere sich täglich , sei heute ein ganz andrer als der Hauser auf dem Turm , und nach vielen Jahren werde er alt werden , seine Haare würden weiß sein , die Haut voller Runzeln . Da wurde Caspar blaß vor Furcht ; er fing an zu schluchzen und stotterte , das sei nicht möglich , er wolle es nicht , Daumer möge machen , daß es nicht geschehe . Daumer flüsterte seiner Schwester etwas zu , diese ging in den Garten und brachte nach kurzer Weile eine Rosenknospe , eine aufgeblühte und eine verwelkte Rose mit herauf . Caspar streckte die Hand nach der vollblühenden aus , wandte sich aber gleich mit Ekel ab , denn so sehr er die rote Farbe vor allen andern liebte , der heftige Geruch der Blume war ihm unangenehm . Als ihm Daumer den Unterschied der Lebensalter an Knospe und Blüte erklären wollte , sagte Caspar : » Das hast du doch selbst gemacht , es ist ja tot , es hat keine Augen und keine Beine . « » Ich habe es nicht gemacht « , entgegnete Daumer , » es ist lebendig , es ist gewachsen : alles Lebendige ist gewachsen . « » Alles Lebendige gewachsen « , wiederholte Caspar fast atemlos , indem er nach jedem Wort pausierte . Hier drohte Verwirrung . Auch die Bäume im Garten seien lebendig , sagte man ihm , und er getraute sich nicht , den Bäumen zu nahen , das Rauschen ihrer Kronen machte ihn bestürzt . Er fuhr fort zu zweifeln und fragte , wer die vielen Blätter ausgeschnitten habe und warum ? Warum so viele ? Auch sie seien gewachsen , wurde geantwortet . Aber mitten auf dem Rasen stand eine alte Sandsteinstatue , die sollte tot sein , trotzdem sie aussah wie ein Mensch . Caspar konnte stundenlang die Blicke nicht davon wenden , Verwunderung machte ihn stumm . » Warum hat es denn ein Gesicht ? « fragte er endlich , » warum ist es so weiß und so schmutzig ? Warum steht es immer und wird nicht müde ? « Als seine Furcht besiegt war , ging er heran und wagte die Figur zu betasten , denn ohne zu tasten , glaubte er nicht dem , was er sah . Er hatte den heftigen Wunsch , das Ding auseinandernehmen zu dürfen , um zu wissen , was innen war . Wie viel war überall innen , wie viel steckte überall dahinter ! Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein Stück des abschüssigen Weges entlang . Daumer hob ihn auf , und Caspar fragte , ob der Apfel müde sei , weil er so schnell gelaufen . Mit Grauen wandte er sich ab , als Daumer ein Messer nahm und die Frucht entzweischnitt . Da ward ein Wurm sichtbar und krümmte seinen dünnen Leib gegen das Licht . » Er war bis jetzt im Finstern gefangen wie du im Kerker « , sagte Daumer . Das Wort machte Caspar nachdenklich ; es machte ihn nachdenklich und mißtrauisch . Wie vieles war da im Kerker , wovon er nicht wußte ! Alles Innen war ein Kerker . Und in wunderlicher Verworrenheit knüpfte sich an diesen Gedanken die Erinnerung an den Schlag , den er damals erhalten , nachdem ihn der Du gelehrt , wie man das Pferdchen frei bewegen könne . In allen fremden Dingen lauerte der Schlag , in allen unbekannten wohnte Gefahr . Eine gewisse strahlende Heiterkeit , die allmählich Caspars Wesen entströmte und die das Entzücken seiner Umgebung bildete , war daher stets an jene erwartungsvolle , ahnungsvolle Bangigkeit gebunden . Nach regnerischen Stunden mit Daumer aus dem Tor tretend , gewahrte Caspar einen Regenbogen am Himmel , Er war starr vor Freude . Wer das gemacht habe , stammelte er endlich . Die Sonne . Wie , die Sonne ? Die Sonne sei doch kein Mensch . Die natürlichen Erklärungen ließen Daumer im Stich , er mußte sich auf Gott berufen . » Gott ist der Schöpfer der belebten und unbelebten Natur « , sagte er . Caspar schwieg . Der Name Gottes klang ihm seltsam düster . Das Bild , das er dazu suchte , glich dem Du , sah aus wie der Du , als die Decke des Gefängnisses auf seinen Schultern ruhte , war unheimlich verborgen wie der Du , als er den Schlag geführt , weil Caspar zu laut gesprochen . Wie geheimnisvoll war alles , was zwischen Morgen und Abend geschah ! Das Regen und Raunen der Welt , das Fließen des Wassers im Fluß , das Ziehen luftig-dunkler Gegenstände hoch in der Luft , die man Wolken nannte , das Vorübergehen und Nichtwiederkommen undeutbarer Ereignisse , und vor allem das Flüchten der Menschen , ihre schmerzlichen Gebärden , ihr lautes Reden , ihr sonderbares Gelächter . Wie viel war da zu erfahren und zu lernen ! Es schnürte Daumer das Herz zusammen , wenn er den Jüngling in tiefem Nachdenken sah . Caspar schien dann wie erfroren , er hockte zusammengekauert da , seine Hände waren geballt , und er hörte und spürte nicht mehr , was um ihn vorging . Ja , es war zu solchen Zeiten eine vollständige Dunkelheit um Caspar , und nur , wenn er lange genug versunken war , hüpfte aus der Tiefe etwas wie ein Feuerfunken , und in der Brust begann eine undeutlich murmelnde Stimme zu sprechen . Wenn der Funken wieder verlosch , tat sich die äußere Welt wieder kund , aber eine schwermütige Unzufriedenheit hatte sich Caspars bemächtigt . » Wir müssen einmal mit ihm hinaus aufs Land « , sagte Anna Daumer eines Tages , als der Bruder mit ihr darüber gesprochen . » Er braucht Zerstreuung . « Er braucht Zerstreuung « , gab Daumer lächelnd zu , » er ist zu gesammelt , das ganze Weltall lastet noch auf seinem Gemüt . « » Da es sein erster Spaziergang sein wird , wäre es gut , die Sache möglichst still zu unternehmen , sonst sind wieder alle Neugierigen bei der Hand « , meinte die alte Frau Daumer . » Sie schwatzen ohnehin genug über ihn und über uns . « Daumer nickte . Er wünschte nur , daß Herr von Tucher mit von der Partie sei . Am ersten Feiertag im September fand der Ausflug statt . Es war schon fünf Uhr nachmittags , als sie vom Haus aufbrachen , und da sie auf Caspars langsame Gangart Rücksicht nehmen mußten , gelangten sie erst spät ins Freie . Die begegnenden Leute blieben stehen , um der Gesellschaft nachzuschauen , und oft hörte man die staunenden oder spöttischen Worte : » Das ist ja der Caspar Hauser ! Ei , der Findling ! Wie fein ers treibt , wie nobel ! « Denn Caspar trug ein neues blaues Fräcklein , ein modisches Gilet , seine Beine staken in weißseidenen Strümpfen , und die Schuhe hatten silberne Schnallen . Er ging zwischen den beiden Frauen und hatte sorgsam acht auf den Weg , der nicht mehr wie ehedem vor seinen Blicken auf- und abwärts schwankte . Die Männer schritten in gemessener Entfernung hinterdrein . Plötzlich erhob Daumer den rechten Arm nach vorn , und gleich darauf blieb Caspar stehen und sah sich fragend um . Erfreut in liebevollem Ton rief ihm Daumer zu , weiterzugehen . Nach ein paar hundert Schritten hob er wieder den Arm , und abermals blieb Caspar stehen und blickte sich um . » Was ist das ? Was bedeutet das ? « fragte Herr von Tucher erstaunt . » Darüber gibt es keine Erklärung « , antwortete Daumer voll stillen Triumphes . » Wenn Sie wollen , kann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen . « Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele sein « , meinte Herr von Tucher ein bißchen ironisch . » Hexerei ? Nein . Aber wie sagt Hamlet : Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde– « » Also sind Sie schon an den Grenzen der Schulweisheit angelangt ? « unterbrach Herr von Tucher noch immer mit Ironie . » Ich für meinen Teil schlage mich zu den Skeptikern . Wir werden ja sehen . « » Wir werden sehen « , wiederholte Daumer fröhlich . Nach oftmaligem kurzen Rasten ward am Rand einer Wiese haltgemacht , und alle ließen sich im Gras nieder . Caspar schlief sogleich ein ; Anna breitete ein Tuch über sein Gesicht und packte sodann einige mitgebrachte Eßwaren aus einem Körbchen . Schweigend begannen alle vier zu essen . Ein natürliches Schweigen war es nicht : der lieblich vergehende Tag , das sommerliche Blühen forderten eher zu heiteren Gesprächen auf , aber um den Schläfer lag ein eigner Bann , jeder spürte die Gegenwart des Jünglings jetzt stärker als vorher , und es hatte bei einigen gleichgültigen Redensarten sein Bewenden , die leiser klangen als selbst die Atemzüge des Schlummernden . Weit und breit war kein Mensch zu sehen , da man absichtlich einen selten begangenen Weg gewählt hatte . Die Sonne war am Sinken , als Caspar erwachte und , sich aufrichtend , die Freunde der Reihe nach dankbar und etwas beschämt anblickte . » Sieh nur hinüber , Caspar , sieh den roten Feuerball « , sagte Daumer ; » hast du die Sonne schon einmal so groß gesehen ? « Caspar schaute hin . Es war ein schöner Anblick : die purpurne Scheibe rollte herab , als zerschnitte sie die Erde am Rand des Himmels ; ein Meer von Scharlachglut strömte ihr nach , die Lüfte waren entzündet , blutiges Geäder bezeichnete einen Wald , und rosige Schatten bauschten langsam über die Ebene . Nur noch wenige Minuten , und schon zuckte die Dämmerung durch den sanften Karmin des Nebels , in den die Ferne getaucht war , einen Augenblick lang bebte das Gelände , und grünkristallene Strahlenbündel schossen über den Westen , der versunkenen Sonne nach . Ein geisterhaftes Lächeln glitt über die Züge der beiden Männer und der zwei Frauen , als sie Caspar mit einer Gebärde stummer Angst hinübergreifen sahen gegen den Horizont . Daumer näherte sich ihm und ergriff seine Hand , die eiskalt geworden war . Caspars Gesicht wandte sich erzitternd ihm zu , voller Fragen , voller Furcht , und endlich bewegten sich die Lippen , und er murmelte schüchtern : » Wo geht sie hin , die Sonne ? Geht sie ganz fort ? « Daumer vermochte nicht gleich zu antworten . So mag Adam vor seiner ersten Nacht im Paradies gezittert haben , dachte er , und es geschah nicht ohne Schauder , nicht ohne seltsame Ungewißheit , daß er den Jüngling tröstete , ihn der Wiederkunft der Sonne versicherte . » Ist dort Gott ? « fragte Caspar hauchend , » ist die Sonne Gott ? « Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum und er widerte : » Alles ist Gott . « Indessen mochte ein solches Diktum pantheistischer Philosophie für die Auffassungsgabe des Jünglings ein wenig zu verwickelt sein . Er schüttelte ungläubig den Kopf , dann sagte er mit dem Ausdruck dumpf-abgöttischer Verehrung : » Caspar liebt die Sonne . « Auf dem Heimweg war er ganz stumm ; auch , die übrigen , selbst die immer wohlgelaunte Anna , waren in einer wunderlich gedrückten Stimmung , als wären sie nie zuvor durch einen spätsommerlichen Abend gewandert , oder als fühlten sie den Auftritt voraus , der ihnen das Beisammensein dieser Stunden unvergeßlich machen sollte . Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna stehen und deutete mit einem Zuruf an alle in das herrlich gestirnte Firmament . Auch Caspar blickte hinauf , er erstaunte maßlos . Kleine , jähe , wirre Laute eines leidenschaftlichen Entzückens kamen aus seinem Mund . » Sterne , Sterne « , stammelte er , das gehörte Wort von Annas Lippen raubend . Er preßte die Hände gegen die Brust , und ein unbeschreiblich seliges Lächeln verschönte seine Züge . Er konnte sich nicht sattsehen ; immer wieder kehrte er zum Anschauen des Glanzes zurück , und aus seinen seufzerartig abgebrochenen Worten war vernehmbar , daß er die Sterngruppen und die ausgezeichnet hellen Sterne bemerkte . Er fragte mit einem Ton des Außersichseins , wer die vielen schönen Lichter da hinaufbringe , anzünde und wieder verlösche . Daumer antwortete ihm , daß sie beständig leuchteten , jedoch nicht immer gesehen würden ; da fragte er , wer sie zuerst hinaufgesetzt , daß sie immerfort brennten . Plötzlich fiel er in tiefe Grübelei . Er blieb eine Weile mit gesenktem Kopf stehen und sah und hörte nichts . Als er wieder zu sich kam , hatte sich seine Freude in Schwermut verwandelt , er ließ sich auf den Rasen nieder und brach in langes , nicht zu stillendes Weinen aus . Es war weit über neun Uhr , als sie endlich nach Haus gelangten . Während Caspar mit den Frauen hinaufging , nahm Herr von Tucher am Gartentor von Daumer Abschied . » Was mag in ihm vorgegangen sein ? « meinte er . Und da Daumer schwieg , fuhr er sinnend fort : » Vielleicht spürt er schon die Unwiederbringlichkeit der Jahre ; vielleicht zeigt ihm die Vergangenheit schon ihre wahre Gestalt . « » Ohne Zweifel war es ihm ein Schmerz , das beglänzte Gewölbe zu schauen « , antwortete Donner ; » nie zuvor hat er den Blick zum nächtlichen Himmel erheben können . Ihm zeigt die Natur kein freundliches Antlitz , und von ihrer sogenannten Güte hat er wenig erfahren . « Eine Zeitlang schwiegen sie , dann sagte Daumer : » Ich habe für morgen nachmittag einige Freunde und Bekannte zu mir gebeten . Es handelt sich um eine Reihe von höchst interessanten Erfahrungen und Beobachtungen , die ich an Caspar gemacht habe . Ich würde mich freuen , wenn Sie dabei sein wollten . « Herr von Tucher versprach zu kommen . Zu seiner Verwunderung ward er , als er am andern Tag etwas verspätet erschien , in eine vollständig verfinsterte Kammer geführt . Die Produktion hatte schon begonnen . Von irgendeinem Winkel her vernahm man Caspars eintönige Stimme lesend . » Es ist eine Seite aus der Bibel , die der Herr Stadtbibliothekar aufgeschlagen hat « , flüsterte Daumer Herrn von Tucher zu . Die Dunkelheit war so groß , daß die Zuhörer einander nicht gewahren konnten , trotzdem las Caspar unbeirrt , als ob seine Augen selbst eine Quelle des Lichtes seien . Man war erstaunt . Man wurde es noch mehr , als Caspar in der gleichen Dunkelheit die Farben verschiedener Gegenstände unterscheiden konnte , die bald der eine , bald der andere von den Anwesenden , um jeden Verdacht einer Verabredung oder Vorbereitung auszuschließen , ihm auf eine Entfernung von fünf oder sechs Schritte vorhielt . » Ich will jetzt die Weinprobe machen « , sagte Daumer und öffnete die Läden . Caspar preßte die Hände vor die Augen und brauchte lange Zeit bis er das Licht ertragen konnte . Jemand brachte Wein im undurchsichtigen Glas , und Caspar roch es nicht nur sogleich , sondern es zeigten sich auch die Merkmale einer leichten Trunkenheit : seine Blicke flimmerten , sein Mund verzog sich schief . Konnte das mit rechten Dingen zugehen ? War solche Empfindlichkeit denkbar oder möglich ? Man wiederholte den Versuch zweimal , dreimal , und siehe , die Wirkung verstärkte sich . Beim viertenmal wurde draußen Wasser ins Glas gegossen , und nun sagte Caspar , er spüre nichts . Doch viel wunderbarer war zu beobachten , wie er sich gegen Metalle verhielt . Ein Herr versteckte , während Caspar das Zimmer verlassen hatte , ein Stück Kupferblech . Caspar ward hereingerufen , und alle verfolgten mit Spannung , wie er zu dem Versteck förmlich hingezogen wurde ; es sah aus , wie wenn ein Hund ein Stück Fleisch erschnuppert . Er fand es , man klatschte Beifall , man achtete nicht darauf , daß er blaß war und mit kühlem Schweiß bedeckt . Nur Herr von Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben . Es hatte natürlich nicht bei diesem einen Mal sein Bewenden . Die Sache redete sich schnell herum , und das Haus wurde zum Museum . Alles , was Namen und Ansehen in der Stadt hatte , lief herzu , und Caspar mußte immer bereit sein , immer tun , was man von ihm haben wollte . Wenn er müde war , durfte er schlafen , aber wenn er schlief , untersuchten sie die Festigkeit seines Schlafes , und Daumer schwamm in Glück , wenn der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete , eine derartige Versteinerung des Schlummers habe er nie für möglich gehalten . Selbst gewisse krankhafte Zustände seines Körpers gaben Daumer Anlaß zur Vorführung oder wenigstens zum , Studium . Er suchte durch hypnotische Berührungen und mesmeristische Streichungen Einfluß zu nehmen , denn er war ein glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theorien , die mit der Seele des Menschen hantierten wie ein Alchimist mit dem Inhalt einer Retorte . Oder wenn auch dies nichts half , wandte er Heilmittel von einer besonderen Kategorie an , erprobte die Wirkungen von Arnika und Akonitum und Nux vomica ; immer beflissen , immer erfüllt von einer Mission , immer mit dem Notizenzettel in der Hand , immer in rührender Obsorge . Was für seriöse Spiele ! Welch ein Eifer , zu beweisen , zu deuten , das Sonnenklare dunkel zu machen , das Einfache zu verwirren ! Das Publikum gab sich redliche Mühe im Glauben , nach allen Windrichtungen wurden die anscheinenden Zaubereien ausposaunt , nicht zum Vorteil unseres Caspar , keineswegs zu seinem Heil , wie sich bald herausstellen sollte , aber leider gibt es überall verwerfliche Kreaturen , die noch zweifeln würden und wenn man ihnen die Skepsis überm Essenfeuer ausräuchern würde . Vielleicht wollten sie jedesmal etwas Neues vorgesetzt bekommen , schraubten ihre Erwartungen zu hoch und fanden , daß der Wundermann nur in seinen eingelernten Paradestückchen exzellierte , in denen er allerdings , so drückten sie sich aus , etwas von der Fertigkeit eines dressierten Äffchens an den Tag legte . Mit einem Wort , das Programm wurde einförmig , höchstens Neulinge konnten ihm noch Geschmack abgewinnen . Die andern erblickten in Daumer etwas wie einen Zirkusdirektor oder einen Literaten , der seine Freunde mit der beständig wiederholten Vorlesung eines mittelmäßigen Poems langweilt , während über Caspar sich zu amüsieren sie immerhin noch Gelegenheit fanden . Oder war es nicht amüsant , wenn er zum Beispiel einen hohen Offizier tadelte , daß sein Rockkragen bestäubt war ; wenn er mit dem Finger das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdirektors berührte und mitleidig-verwundert sagte : » Weiße Haare , weiße Haare ? « Wenn er während der Anwesenheit einer vornehmen Standesperson nur darauf achtete , wie diese den Stock zwischen den Fingern baumeln ließ und es auch so machen wollte ; wenn er seinen Ekel gegen den schwarzen Bart des Magistratsrats Behold äußerte oder sich weigerte , einer Dame die Hand zu küssen , indem er sagte , man müsse ja nicht hineinbeißen ? Durch solche kleine Zwischenfälle hielten sie sich für belohnt . Wenn man lachen konnte , war alles gut . Hingegen Daumer ärgerte sich darüber und suchte ihm die Pflichten der Höflichkeit begreiflich zu machen . » Du vergißt stets , die Ankömmlinge zu begrüßen « , sagte Daumer . In der Tat blickte Caspar , in ein Buch oder Spiel versenkt , erst empor , wenn man ihn anrief , bisweilen , wenn er ein bekanntes oder liebgewordenes Gesicht sah , mit einem berückend schelmischen Lächeln , und fing dann ohne Einleitung an zu fragen und zu plaudern . Mochten noch so wichtige Personen zugegen sein , er verließ nie seinen Platz , ohne alle Dinge , mit denen er beschäftigt gewesen , sorgfältig in Ordnung zu bringen und mit einem kleinen Besen den Tisch von Papierschnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen . Man mußte warten , bis er fertig war . Er war ohne Schüchternheit . Alle Menschen schienen ihm gut , fast alle hielt er für schön . Er fand es selbstverständlich , wenn sich irgendein Herr vor ihn hinstellte und ihm aus einem bereitgehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos viele Zahlen vorlas . Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich , er konnte in der gleichen Reihenfolge Namen für Namen , Zahl für Zahl , und waren es hundert , wiederholen . Am Erstaunen der Leute merkte er wohl , daß er Staunenswertes geleistet , aber kein Schimmer von Eitelkeit zog über sein Gesicht , nur ein wenig traurig wurde es , wenn immer dasselbe kam , wenn sie nie zufrieden schienen . Er konnte es nicht verstehen , daß ihnen wunderbar war , was ihm so natürlich war . Aber was ihm wunderbar war , darum kümmerte sich keiner . Er vermochte es nicht zu sagen , es wurzelte im verborgensten Gefühl . Es war eine kaum gespürte Frage , am Morgen , beim Erwachen etwa , ein hastiges , stummes , verzweifeltes Suchen , wofür es keine Bezeichnung gab . Es lag weit zurück ; es war mit ihm verknüpft , und er besaß es doch nicht . Es war etwas mit ihm vorgegangen , irgendwo , irgendwann , und er wußte es nicht . Er tastete an sich herum , er fand sich selber kaum . Er sagte » Caspar « zu sich selbst , aber das dort in der Ferne hörte nicht auf diesen Namen . So band sich die Erwartung an ein Äußeres ; wenn die Uhr im andern Zimmer tönte , welch sonderbare Erwartung von Schlag zu Schlag ! Als ob eine Mauer sich auflösen , zu Luft vergehen müßte . Die eben vergangene Nacht war voll ungreifbarer Vorgänge gewesen . Hatte es am Fenster gepocht ? Nein . War jemand dagewesen , hatte gesprochen , gerufen , gedroht ? Nein . Es war etwas geschehen , doch Caspar hatte nichts damit zu tun . Unergründliche Sorge . Man mußte lernen , vielleicht wurde es dann klar . Lernen , wie alles bestand , lernen , was in der Nacht verborgen war , wenn man nicht lebte und dennoch spürte , das Unbekannte lernen , erhaschen , was so fern , wissen , was so dunkel war , die Menschen fragen lernen . Sein Eifer bei den Büchern wurde glühend . Er begann Ungeduld zu zeigen , wenn er von den fremden Besuchern sich immer wieder empfindlich gestört fand , denn jetzt kamen die Leute schon von auswärts , weil allenthalben im Land über Caspar Hauser geredet und geschrieben wurde . Auch Daumer konnte sich der Ansprüche , die an ihn gestellt wurden , kaum erwehren . Er war oft mißgelaunt und matt , und es gab Stunden , wo er bereute , Caspar der Welt preisgegeben zu haben . Es gab Stunden , wo er , allein mit dem Jüngling , sich seiner besseren Würde erinnerte und diesem seltsam Leibeigenen , Seeleneigenen sich tiefer anschloß , als der anfängliche Zweck gewollt . Es gab eine Stunde , wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde : Caspar im Garten , auf der Bank sitzend , ein Buch in der Hand ; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn , Tauben picken vor seinen Füßen , ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter , die Hauskatze schnurrt an seinem Arm . In ihm ist die Menschheit frei von Sünde , sagte sich Daumer bei diesem Anblick , und was wäre sonst zu leisten , als einen solchen Zustand zu erhalten ? Was wäre hier noch zu enträtseln , was zu verkünden ? Eines andern Tages erhob sich im Nachbargarten großer Lärm . Ein bissiger Hund hatte seine Kette zerrissen und raste , Schaum vor dem Maul , in wilden Sprüngen umher , überrannte ein Kind , schlug einem Knecht , der ihn verfolgte , die Zähne ins Fleisch und stürzte gegen den Zaun des Daumerschen Gartens . Eine Latte krachte unter dem Anprall , das Tier schlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Gesellschaft , die unter der Linde saß : Daumer selbst , dessen Mutter , der Bürgermeister Binder und Caspar . Alle standen ängstlich auf , Binder erhob den Stock , das Tier machte einige Sätze , blieb aber auf einmal stehen , schnupperte , trabte auf Caspar zu , der bleich und stille saß , wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings . Mit einem lodernden ungewissen Blick sah es ihn an , voll Ergebenheit fast , eine Zärtlichkeit erwartend , und es war , als erbitte es Verzeihung . Denselben ungewissen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caspar im Auge ; ihn jammerte der Hund , er wußte nicht warum . Man erzählte sich , daß Daumer nach diesem Auftritt geweint habe . Zwei Tage später , an einem regnerischen Oktoberabend war es , daß sich Daumer mit seiner Mutter und Caspar im Wohnzimmer befand . Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen , die alte Dame saß strickend im Lehnstuhl am offenen Fenster , denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen . Da wurde an die Türe geklopft , und der Glasermeister brachte einen großen Wandspiegel , den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte . Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen die Mauer lehnen , das tat der Mann und entfernte sich wieder . Kaum war er draußen , so fragte Daumer verwundert , warum sie den Spiegel nicht gleich an seinen Platz habe hängen lassen , man hätte dann doch die Arbeit für morgen erspart . Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln , am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen , das bedeute Unheil . Daumer besaß nicht genug Humor für derlei halbernste Grillen ; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens , sie widersprach , und da geriet er in Zorn , das heißt er sprach mit seiner sanftesten Stimme zwischen die geschlossenen Zähne hindurch . Caspar , der es nicht sehen konnte , wenn Daumers Gesicht unfreundlich wurde , legte den Arm um dessen Schulter und suchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen . Daumer schlug die Augen nieder , schwieg eine Weile und sagte dann , völlig beschämt : » Geh hin zur Mutter , Caspar , und sag ihr , daß ich im Unrecht bin . « Caspar nickte ; ohne recht zu überlegen , trat er vor die Frau hin und sagte : » Ich bin im Unrecht . « Da lachte Daumer . » Nicht du , Caspar ! Ich ! « rief er und deutete auf seine Brust . » Wenn Caspar im Unrecht ist , darf er sagen : ich . Ich sage zu dir : du , aber du sagst doch zu dir : ich . Verstanden ? « Caspars Augen wurden groß und nachdenklich . Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig schmeckender Trank . Es nahten sich ihm viele Hunderte von Gestalten , es nahte sich eine ganze Stadt voll Menschen , Männer , Frauen und Kinder , es nahten sich die Tiere auf dem Boden , die Vögel in der Luft , die Blumen , die Wolken , die Steine , ja die Sonne selbst , und alle miteinander sagten zu ihm : Du . Er aber antwortete mit zaghafter Stimme : Ich . Er faßte sich mit flachen Händen an die Brust und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften : sein Leib , eine Wand zwischen innen und außen , eine Mauer zwischen ich und du ! In demselben Augenblick tauchte aus dem Spiegel , dem gegenüber er stand , sein eignes Bild empor . Ei , dachte er ein wenig bestürzt , wer ist das ? Natürlich war er schon oft an Spiegeln vorbeigegangen , aber sein von den vielen Dingen der vielgesichtigen Welt geblendeter Blick war mit vorbeigegangen , ohne zu weilen , ohne zu denken , und er hatte sich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde . Ein Ungefähr , das ihn nicht hemmte , konnte nicht zum Erlebnis werden . Jetzt war sein Auge reif für diese Vision . Er sah hin . » Caspar « , lispelte er . Das Drinnen antwortete : Ich . Da waren Caspars Mund und Wangen und die braunen Haare , die über Stirn und Ohren gekräuselt waren . Nähertretend , schaute er in spielerisch-zweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer ; dort war nichts . Dann stellte er sich wieder davor , und nun schien ihm , als ob hinter seinem Bild im Spiegel sich das Licht zerteile und als ob ein langer , langer Pfad nach rückwärts lief , und dort , in der weiten Ferne stand noch ein Caspar , noch ein Ich , das hatte zugeschlossene Augen und sah aus , als wisse es etwas , was der Caspar hier im Zimmer nicht wußte . Daumer , gewohnt , das Betragen des Jünglings zu beobachten , lauerte gespannt herüber . Da , ein seltsames Geräusch ; es surrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tisch zu Boden . Es war ein Stück Papier , das von draußen hereingeflogen war . Frau Daumer hob es auf ; es war wie ein Brief zusammengefaltet . Unschlüssig drehte sie es zwischen den Fingern und reichte es dem Sohn . Der riß es auf und las folgende , mit großer Schrift geschriebene Worte : » Es wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde . « Frau Daumer hatte sich erhoben und las mit ; ein Frösteln lief über ihre Schultern . Daumer jedoch , indes er schweigend auf den Zettel starrte , hatte das Gefühl , als sei vor seinen Füßen ein Schwert , die Spitze nach oben , aus der Erde gewachsen . Caspar hatte von dem Vorgang nicht das mindeste wahrgenommen . Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geistesabwesend an den beiden vorüber zum Fenster . Dort stand er besinnend , beugte sich besinnend vor , immer weiter , völlig selbstvergessen , ganz vom Willen des Suchens erfüllt , bis die Brust auf dem Sims lag und seine Stirn in die Nacht hinaus tauchte . Caspar träumt Am andern Morgen übergab Daumer das unheimliche Papier der Polizeibehörde . Es wurden Nachforschungen angestellt , die aber natürlich fruchtlos blieben . Der Vorfall wurde auch amtlich an das Appellationsgericht gemeldet , und nach einiger Zeit schrieb der Regierungsrat Hermann , der mit dem Baron Tucher befreundet war , an diesen einen Privatbrief , in welchem er unter anderm die Meinung vertrat , man solle nicht ablassen , den Hauser scharf zu bewachen und auszuforschen , denn es sei wohl möglich , daß er durch eine tief eingepflanzte Furcht gezwungen sei , manches ihm bekannte Verhältnis zu verschweigen . Herr von Tucher suchte Daumer auf und las ihm diese Stelle vor . Daumer konnte ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken . » Ich bin mir wohl bewußt , daß ein Mysterium , von Menschenhand gewoben , hinter allem dem liegt , was mit Caspar zusammenhängt « , sagte er mit leisem Widerwillen , » ganz abgesehen davon , daß mir auch der Präsident Feuerbach unlängst darüber geschrieben hat , und zwar in höchst eigentümlichen Wendungen , die auf etwas Besonderes schließen lassen . Aber was heißt das : ihn ausforschen , ihn bewachen ? Hat man darin nicht schon das Äußerste versucht ? Ärztliche Vorsicht und menschliches Gefühl befehlen mir jetzt ohnehin die äußerste Behutsamkeit gegen ihn . Ich wage es ja kaum , ihn von der einfachen Kost zu entwöhnen und ihn so zu ernähren , wie es durch die veränderte Lebenslage bedingt ist . « » Warum wagen Sie das nicht ? « fragte Herr von Tucher ziemlich erstaunt . » Wir sind doch übereingekommen , ihn endlich zum Genuß von Fleisch oder wenigstens von andern gekochten Speisen zu bringen ? « Daumer zögerte mit der Antwort . » Milchreis und warme Suppe verträgt er schon ganz gut « , sagte er dann , » aber zur Fleischkost will ich ihn nicht ermuntern . « Warum nicht ? « » Ich fürchte Kräfte zu zerstören , die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden sind . « » Kräfte zerstören ? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Gesundheit des Leibes und die Frische seines Gemüts zu entschädigen ? Wäre es nicht vielmehr ratsam , ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken , die ihm früher oder später verhängnisvoll werden muß ? Ist es gut , einen andern Maßstab an ihn zu legen , als es einer natürlichen Erziehung entspricht ? Was wollen Sie überhaupt , was haben Sie mit ihm vor ? Caspar ist ein Kind , das dürfen wir nicht vergessen . « » Er ist ein Mirakel « , entgegnete Daumer hastig und ergriffen ; dann , in einem halb belehrenden , halb bitteren Ton , der für einen Weltmann wie Tucher verletzend klingen mußte , fuhr er fort : » Leider leben wir in einer Zeit , in der man mit jedem Hinweis auf Unerforschliches den plumpen Alltagsverstand beleidigt . Sonst müßte jeder an diesem Menschen sehen und spüren , daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben sind , in denen unser ganzes Wesen ruht . « Herr von Tucher schwieg eine Zeitlang ; sein Gesicht hatte den Ausdruck abwehrenden Stolzes , als er sagte : » Es ist besser , eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr genugzutun als mit fruchtlosem Enthusiasmus im Nebel des Übersinnlichen zu irren . « » Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht , auf die ich mich berufen kann ? « versetzte Daumer , dessen Stimme leiser und schmeichelnder wurde , je mehr das Gespräch ihn erhitzte . » Muß ich Sie an Einzelheiten erinnern ? Sind nicht Luft , Erde und Wasser für diesen Menschen noch von Dämonen bevölkert , mit denen er in lebendiger Beziehung steht ? « Baron Tuchers Gesicht wurde düster . » Ich sehe in allem dem nur die Folgen einer verderblichen Überreiztheit « , sagte er kurz und scharf . » Das sind die Quellen nicht , aus denen Leben geboren wird , in solchen Formen kann sich keine Brauchbarkeit bewähren ! « Daumer duckte den Kopf , und in seinen Augen lag Ungeduld und Verachtung , doch antwortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit : » Wer weiß , Baron . Die Quellen des Lebens sind unergründlich . Meine Hoffnungen wagen sich weit hinauf , und ich erwarte Dinge von unserm Caspar , die Ihr Urteil sicherlich verändern werden . Aus diesem Stoff werden Genien gemacht . « » Man tut einem Menschen stets unrecht , wenn man Erwartungen an seine Zukunft knüpft « , sagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln . » Mag sein , mag sein , ich aber halte mich an die Zukunft . Mich kümmert nicht , was hinter ihm liegt , und was ich von seiner Vergangenheit weiß , soll mir nur dienen , ihn davon zu lösen . Das ist ja das hoffnungsvoll Wunderbare : daß man hier einmal ein Wesen ohne Vergangenheit hat , die ungebundene , unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag , ganz Seele , ganz Instinkt , ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten , noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis , ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte , deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist . Mag sein , daß ich mich täusche , dann aber würde ich mich in der Menschheit getäuscht haben und meine Ideale für Lügen erklären müssen . « » Der Himmel bewahre Sie davor « , antwortete Herr von Tucher und nahm eilig Abschied . Noch am selben Tag wurde Daumer durch seine Mutter aufmerksam gemacht , daß Caspars Schlaf nicht mehr so ruhig sei wie sonst . Als Caspar am andern Morgen ziemlich unerfrischt zum Frühstück kam , fragte ihn Daumer , ob er schlecht geschlafen habe . » Schlecht geschlafen nicht « , erwiderte Caspar , » aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angst . « Wovor hattest du denn Angst ? « forschte Daumer . » Vor dem Finstern « , entgegnete Caspar , und bedächtig fügte er hinzu : » In der Nacht sitzt das Finstere auf der Lampe und brüllt . « Den nächsten Morgen kam er halb angekleidet aus seinem Schlafgemach in das Zimmer Daumers und erzählte bestürzt , es sei ein Mann bei ihm gewesen . Zuerst erschrak Daumer , dann wurde ihm klar , daß Caspar geträumt habe . Er fragte , was für ein Mann es denn gewesen sei , und Caspar antwortete , es sei ein großer schöner Mann gewesen mit einem weißen Mantel . Ob der Mann mit ihm gesprochen ? Caspar verneinte ; gesprochen habe er nicht , er habe einen Kranz getragen , den habe er auf den Tisch gelegt , und als Caspar danach gegriffen , habe der Kranz zu leuchten angefangen . » Du hast geträumt « , sagte Daumer . Caspar wollte wissen , was das heiße . » Wenn auch dein Körper ruht « , erklärte Daumer , » so wacht doch deine Seele , und was du am Tag erlebt oder empfunden , daraus macht sie im Schlummer ein Bild . Dieses Bild nennt man Traum . « Nun verlangte Caspar zu wissen , was das sei , die Seele . Daumer sagte : » Die Seele gibt deinem Körper das Leben . Leib und Seele sind einander vermischt . Jedes von beiden ist , was es ist , aber sie sind so untrennbar gemischt wie Wasser und Wein , wenn man sie zusammengießt . « » Wie Wasser und Wein ? « fragte Caspar mißbilligend . » Damit verderbt man aber das Wasser . « Daumer lachte und meinte , das sei nur ein Gleichnis gewesen . In der Folge nahm er wahr , daß es mit Caspars Träumen eigen beschaffen war . Sonst sind Träume an ein Zufälliges geknüpft , sagte er sich , spielen gesetzlos mit Ahnung , Wunsch und Furcht , bei ihm ähneln sie dem Herumtasten eines Menschen , der sich im finsteren Wald verirrt hat und den Weg sucht ; da ist etwas nicht in Ordnung , ich muß der Sache auf den Grund gehen . Das Auffallende war , daß gewisse Bilder sich allmählich zu einem einzigen Traum sammelten , der von Nacht zu Nacht vollständiger und gestalthafter wurde und mit immer größerer Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte . Im Anfang konnte Caspar nur abgebrochen davon erzählen , so stückhaft wie die Bilder sich ihm zeigten , dann eines Tages , wie der Maler den Vorhang von einem vollendeten Gemälde zieht , vermochte er seinem Pflegeherrn eine ausführliche Beschreibung zu geben . Er hatte über seine Gewohnheit lange geschlafen , deshalb ging Daumer in sein Zimmer , und kaum war er ans Bett getreten , so schlug Caspar die Augen auf . Sein Gesicht glühte , der Blick ruhte noch im Innern , war aber voll und kräftig und der Mund war zu sprechen ungeduldig . Mit langsamer , ergriffener Stimme erzählte er . Er ist in einem großen Haus gewesen und hat geschlafen . Eine Frau ist gekommen und hat ihn aufgeweckt . Er bemerkt , daß das Bett so klein ist , daß er nicht begreift , wie er darin Platz gehabt . Die Frau kleidet ihn an und führt ihn in einen Saal , wo ringsum Spiegel mit goldenem Rande hängen . Hinter gläsernen Wänden blitzen Silberschüsseln und auf einem weißen Tisch stehen feine , kleine , zierlich bemalte Porzellantäßchen . Er will bleiben und schauen , die Frau zieht ihn weiter . Da ist ein Saal , wo viele Bücher sind , und von der Mitte der gebogenen Decke hängt ein ungeheurer Kronleuchter herab . Caspar will die Bücher betrachten , da verlöschen langsam die Flammen des Leuchters eine nach der andern , und die Frau zieht ihn weiter . Sie führt ihn durch einen langen Flur und eine gewaltige Treppe hinab , sie schreiten im Innern des Hauses den Wandelgang entlang . Er sieht Bilder an den Wänden , Männer im Helm und Frauen mit goldenem Schmuck . Er schaut durch die Mauerbogen der Halle in den Hof , dort plätschert ein Springbrunnen ; die Säule des Wassers ist unten silberweiß und oben von der Sonne rot . Sie kommen zu einer zweiten Treppe , deren Stufen wie goldene Wolken aufwärts steigen . Es steht ein eiserner Mann daneben , er hat ein Schwert in der Rechten , doch sein Gesicht ist schwarz , nein , er hat überhaupt kein Gesicht . Caspar fürchtet sich vor ihm , will nicht vorbeigehen , da beugt sich die Frau und flüstert ihm etwas ins Ohr . Er geht vorbei , er geht zu einer ungeheuern Tür , und die Frau pocht an . Es wird nicht aufgemacht . Sie ruft , und niemand hört . Sie will öffnen , die Tür ist zugeschlossen . Es scheint Caspar , daß sich etwas Wichtiges hinter der Tür ereignet , er selbst beginnt zu rufen , doch in diesem Augenblick erwacht er . Seltsam , dachte Daumer , da sind Dinge , die er nie zuvor gesehen haben kann , wie den gerüsteten Mann ohne Gesicht . Seltsam ! Und sein Wortesuchen , seine hilflosen Umschreibungen bei solcher Klarheit des Geschauten . Seltsam . » Wer war die Frau ? « fragte Caspar . » Es war eine Traumfrau « , entgegnete Daumer beschwichtigend . » Und die Bücher und der Springbrunnen und die Tür ? « drängte Caspar . » Warens Traumbücher , wars eine Traumtür ? Warum ist sie nicht aufgemacht worden , die Traumtür ? « Daumer seufzte und vergaß zu antworten . Was bekam da Gewalt über seinen Caspar , sein Seelenpräparat ? Sehr an Welt und Stoff gebunden war dieser Traum . Caspar kleidete sich langsam an . Plötzlich erhob er den Kopf und fragte , ob alle Menschen eine Mutter hätten ? Und als Daumer bejahte , ob alle Menschen einen Vater hätten ? Auch dies mußte bejaht werden . » Wo ist dein Vater ? « fragte Caspar . » Gestorben « , antwortete Daumer . » Gestorben ? « flüsterte Caspar nach . Ein Hauch des Schreckens lief über seine Züge . Er grübelte . Dann begann er wieder : » Aber wo ist mein Vater ? « Daumer schwieg . » Ist es der , bei dem ich gewesen ? Der Du ? « drängte Caspar . Ich weiß es nicht « , antwortete Daumer und fühlte sich ungeschickt und ohne Überlegenheit . » Warum nicht ? Du weißt doch alles ? Und hab ich auch eine Mutter ? « » Sicherlich . « » Wo ist sie denn ? Warum kommt sie nicht ? « » Vielleicht ist sie gleichfalls gestorben . « » So ? Können denn die Mütter auch sterben ? « » Ach , Caspar ! « rief Daumer schmerzlich , » Gestorben ist meine Mutter nicht « , sagte Caspar mit wunderlicher Entschiedenheit . Plötzlich flammte es über sein Gesicht , und er sagte bewegt : » Vielleicht war meine Mutter hinter der Tür ? « » Hinter welcher Tür , Caspar ? « » Dort ! im Traum ... « » Im Traum ? Das ist doch nichts Wirkliches « , belehrte Daumer zaghaft . » Aber du hast doch gesagt , die Seele ist wirklich und macht den Traum ? Ja , sie war hinter der Tür , ich weiß es ; das nächste Mal will ich sie aufmachen . « Daumer hoffte , das Traumwesen würde sich verlieren , doch dem war nicht so . Dieser eine Traum , Caspar nannte ihn den Traum vom großen Haus , wuchs immer weiter , umschlang und krönte sich mit allerlei Blüten- und Rankenwerk gleich einer zauberhaften Pflanze . Immer wieder schritt Caspar einen Weg entlang und immer wieder endete der Weg vor der hohen Türe , die nicht geöffnet wurde . Einmal zitterte die Erde von Tritten , die innen waren , die Türe schien sich zu bauschen wie ein Gewand , durch einen Spalt über der Schwelle brach Flammengeloder , da erwachte er , und die nicht zu vergessende Traumnot schlich durch die Stunden des Tages mit . Die Gestalten wechselten . Manchmal kam statt der Frau ein Mann und führte ihn durch die Bogenhalle . Und wie sie die Treppe hinaufgehen wollten , kam ein andrer Mann und reichte ihm mit strengem Blick etwas Gleißendes , das lang und schmal war und das , als Caspar es fassen wollte , in seiner Hand zerfloß wie Sonnenstrahlen . Er trat nahe an die Gestalt heran , auch sie ward zu Luft , doch sprach sie lautschallend ein Wort , welches Caspar nicht zu deuten verstand . Daran hingen sich wieder besondere kleine Träume , Träume von unbekannten Worten , die er im Wachen nie gehört und deren er , wenn der Traum vorüber war , vergebens habhaft zu werden suchte . Sie hatten meist einen sanften Klang , bezogen sich aber , so fühlte er , nie auf ihn selbst , sondern auf das , was hinter der verschlossenen Türe vor sich ging . Traumboten waren es , Vögeln des Meeres gleich , die in beständiger Wiederkehr Gegenstände eines halbversunkenen Schiffes an die ferne Küste tragen . In einer Nacht lag Daumer schlaflos und hörte in Caspars Zimmer ein dauerndes Geräusch . Er erhob sich , schlüpfte in den Schlafrock und ging hinüber . Caspar saß im Hemde am Tisch , hatte ein Blatt Papier vor sich , einen Bleistift in der Hand und schien geschrieben zu haben . Ein matter Mondschein schwamm im Zimmer . Verwundert fragte Daumer , was er treibe . Caspar richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick auf ihn und antwortete leise : » Ich war im großen Haus ; die Frau hat mich bis zum Springbrunnen im Hof geführt . Sie hat mich zu einem Fenster hinaufschauen lassen ; droben ist der Mann im Mantel gestanden , sehr schön anzuschauen , und hat etwas gesagt . Danach bin ich aufgewacht und habs geschrieben . « Daumer machte Licht , nahm das Blatt , las , warf es wieder hin , ergriff beide Hände Caspars und rief halb bestürzt , halb erzürnt : » Aber Caspar , das ist ja ganz unverständliches Zeug ! « Caspar starrte auf das Papier , buchstabierte murmelnd und sagte : » Im Traum hab ich's verstanden . « Unter den sinnlosen Zeichen , die wir aus einer selbsterdachten Sprache waren , stand am Ende das Wort : Dukatus . Caspar deutete auf das Wort und flüsterte : » Davon bin ich aufgewacht , weil es so schön geklungen hat . « Daumer fand sich verpflichtet , den Bürgermeister von den Beunruhigungen Caspars , wie er es nannte , in Kenntnis zu setzen . Was er befürchtet hatte , geschah . Herr Binder der Sache eine große Wichtigkeit bei . » Zunächst ist es geboten , dem Präsidenten Feuerbach einen möglichst ausführlichen Bericht zu geben , denn aus diesen Träumen können sicherlich ganz bestimmte Schlüsse gezogen werden « , sagte er . » Dann mache ich Ihnen den Vorschlag , mit Caspar einmal in die Burg hinaufzugehen . « » In die Burg ? Warum das ? « » Es ist so eine Idee von mir . Da er immer von einem Schlosse träumt , wird ihn der Anblick eines wirklichen Schlosses vielleicht aufrütteln und uns bestimmtere Anhaltspunkte geben . « » Ja , glauben Sie denn an eine reale Bedeutung dieser Träume ? « » Ganz unbedingt . Ich bin davon überzeugt , daß er bis zu seinem dritten oder vierten Lebensjahr in einer derartigen Umgebung , gelebt hat und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben und zum Selbstbewußtsein die Erinnerungen an die frühere Existenz auf dem Weg der Träume Form und Inhalt gewinnen . « » Eine sehr naheliegende , sehr nüchterne Erklärung « , bemerkte Daumer gallig . » Also der Hintergrund dieses Schicksals wäre nichts weiter als eine gewöhnliche Räubergeschichte . « » Eine Räubergeschichte ? Mir recht , wenn Sie es so nennen . Ich verstehe nicht , weshalb Sie sich dagegen wehren . Soll der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen sein ? Wollen Sie irdische Verhältnisse für ihn nicht gelten lassen ? « » O gewiß , gewiß ! « Daumer seufzte . Dann fuhr er fort : » Ich schmeichelte mir mit andern Hoffnungen . Das Grübeln und Verlangen nach rückwärts ist eben das , was ich Caspar ersparen wollte . Gerade das Freie , Freischwebende , Schicksallose war es ja , was mich so stark an ihm ergriffen hat . Außerordentliche Umstände haben diesen Menschen mit Gaben bedacht , wie kein andrer Sterblicher sich ihrer rühmen kann ; und das soll nun alles verkümmern , abgelenkt werden in das Gleis von Erlebnissen , die ja an sich tragisch genug sein mögen , aber doch nichts Ungemeines an sich haben . « » Ich verstehe , Sie wollen den mystischen Nimbus nicht zerstören « , versetzte der Bürgermeister mit etwas pedantischer Geringschätzung . » Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenschen Caspar Hauser als gegen das Unikum Caspar Hauser . Lassen Sie sich das ernstlich gesagt sein , lieber Professor . Es erscheinen heutzutage keine Engel mehr , und wo Unrecht geschehen ist , muß Sühne sein . « Daumer zuckte die Achseln . » Glauben Sie denn , daß Sie damit etwas zum Heile Caspars tun ? « fragte er mit einem Ton von Fanatismus , der dem Bürgermeister lächerlich erschien . » Nur Erdenschwere und Erdenschmutz heften Sie ihm an . Schon jetzt erhebt sich ja ein Gezänke um ihn , daß mir mein Anteil an seiner Sache verbittert wird . Es werden böse Geschichten zutage kommen . « » Das sollen sie ; wenn sie nur zutage kommen « , erwiderte Binder lebhaft . » Im übrigen tue jeder , was seines Amtes . « Am nächsten Vormittag stellte sich der Bürgermei ster in Daumers Wohnung ein , und sie gingen mit Caspar zur Burg hinauf Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung ; der Pförtner kam mit einem großen Schlüsselbund und geleitete sie hinüber . Als sie vor dem mächtigen zweiflügeligen Tor standen , war es , als ob sich Caspars Gesicht plötzlich entschleiere . Er reckte sich auf , sein Oberleib bog sich nach vorn , und er stammelte : » So eine Tür , genau so eine Tür . « » Was meinst du , Caspar , was schwebt dir vor ? « fragte der Bürgermeister liebevoll . Caspar antwortete nicht . Mit gesenktem Auge und nachtwandlerischer Langsamkeit schritt er durch die Halle . Die beiden Männer ließen ihn vorangehen . Immer nach ein paar Schritten blieb er stehen und sann . Seine Erschütterung wuchs zusehends , als er die breite Steintreppe hinaufstieg . Oben blickte er sich seufzend um ; sein Gesicht war bleich , die Schultern zuckten . Daumer hatte Mitleid mit ihm und wollte ihn seiner Hingenommenheit entreißen , doch wie er zu sprechen begann , sah ihn Caspar mit einem fernweilenden Blick an , lispelte : » Dukatus , Dukatus « und lauschte dabei , als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen . Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafenbildnisse an den Wänden , er schaute durch die Flucht der offenen Säle , er stand in der Galerie und schloß die Augen , und endlich , auf eine leise Frage des Bürgermeisters , wandte er sich um und sagte mit erstickter Stimme , es sei ihm so , als habe er einmal ein solches Haus gehabt , und er wisse nicht , was er davon denken solle . Der Bürgermeister sah Daumer schweigend an . Nachmittags suchten sie Herrn von Tucher auf und entwarfen in Gemeinschaft mit ihm den Bericht an den Präsidenten Feuerbach . Das ausführliche Schreiben wurde noch selbigen Tags zur Post gegeben . Sonderbarerweise erfolgte darauf weder ein Bescheid noch überhaupt ein Zeichen , daß der Präsident das Schriftstück erhalten habe . Der Brief mußte verlorengegangen oder gestohlen worden sein . Baron Tucher ließ unter der Hand und auf privatem Weg bei Herrn von Feuerbach anfragen , und man erfuhr wirklich , daß dieser von nichts wisse . Unruhe und Bestürzung bemächtigte sich der drei Herren . » Sollte da ein unsichtbarer Arm im Spiel sein wie bei jenem Zettel , den man mir ins Fenster geworfen hat ? « meinte Daumer ängstlich . Nachforschungen bei der Post hatten kein Ergebnis , und so ward der Bericht zum zweitenmal abgefaßt und durch einen sicheren Boten dem Präsidenten persönlich eingehändigt . Feuerbach erwiderte in seiner kategorischen Art , daß er die Sache im Auge behalten wolle und sich aus naheliegenden Gründen einer schriftlichen Meinungsäußerung enthalte . » Ich entnehme aus dem Gesundheitsattest des Amtsarztes , worin bei einem sonst befriedigenden Befund von Caspars bleicher Gesichtsfarbe die Rede ist , daß es dem jungen Menschen an regelmäßiger Bewegung in freier Luft fehlt « , schrieb er ; » hier ist Abhilfe dringend nötig . Man lasse ihn reiten . Es ist mir der Stallmeister von Rumpler dort selbst empfohlen worden . Hauser soll dreimal wöchentlich eine Reitstunde bei ihm nehmen , die Kosten soll der Stadtkommissär auf Rechnung setzen . « Vielleicht waren es die Träume , die Caspar blaß machten . Fast jede Nacht befand er sich in dem großen Haus . Die gewölbten Hallen waren von silbernem Licht durchflutet . Er stand vor der geschlossenen Tür und wartete , wartete ... Endlich eines Nachts , die dämmernden Räume des großen Hauses dehnten sich schweigend und leer , tauchte vom untersten Gang her eine schwebende Gestalt auf . Caspar dachte zuerst , es sei der Mann im weißen Mantel ; aber als die Gestalt näherkam , gewahrte er , daß es eine Frau war . Weiße Schleier umhüllten sie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhörbaren Windes empor . Caspar blieb wie festgewurzelt stehen ; sein Herz tat ihm wehe , als hätte eine Faust danach gegriffen und es gepackt , denn das Antlitz der Frau zeigte einen solchen Ausdruck des Kummers , wie er ihn noch an keinem Men schen bemerkt . Je näher sie kam , je furchtbarer schnürte sein Herz sich zusammen ; ernst schritt sie vorbei ; ihre Lippen nannten seinen Namen , es war nicht der Name Caspar , und doch wußte er , daß es sein Name war oder daß ihm allein der Name galt . Sie hörte nicht auf , denselben Namen zu nennen , und als sie schon wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten , hörte er immer noch den Namen ; da wußte er , daß die Frau seine Mutter war . Er wachte auf , in Tränen gebadet ; und als Daumer kam , stürzte er ihm entgegen und rief : » Ich hab sie gesehen , ich hab meine Mutter gesehen , sie war es , sie hat mit mir gesprochen ! « Daumer setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand . » Sieh mal , Caspar « , sagte er nach einer Weile , » du darfst dich solchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben . Es bedrückt mich aufrichtig und schon lange . Es ist , wie wenn jemand in einem Blumengarten lustwandeln darf und , statt freudigem Genuß sich zu überlassen , die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt . Versteh mich wohl , Caspar ; ich will nicht , daß du auf das Recht verzichtest , alles zu erfahren , was auf deine Vergangenheit Bezug hat und auf das Verbrechen , das an dir verübt wurde .