1 Vancouver , August 1899 . Ihr Brief hat mich unendlich erfreut – vor allem , weil er weniger traurig klingt , als ich gefürchtet hatte . Es wäre mir ja beinahe beschämend , wenn Ihnen Peking ohne mich nicht ein bisschen grauer und öder erschiene , und ich möchte etwas von Ihnen vermisst werden – aber nicht zu sehr . Es ist alles eine Frage von Nüancen , und Sie haben , vielleicht durch das jahrelange Studium alter chinesischer Brokate und Porzellane , ein merkwürdig feines Verständnis für Nüancen , und haben genau diejenige getroffen , die mir wohltuend sein musste . Haben Sie also Dank für Ihren Brief , wie für so manches andere ! Unsere kurzen Ferien in Japan sind mit jener erschreckenden Geschwindigkeit vergangen , die den guten Zeiten nun einmal eigen ist . Ich will Ihnen keine nachträgliche Reisebeschreibung schicken , kennen Sie doch Madame Chrysanthêmes Heimat so viel besser als ich ; ich will Ihnen nur sagen , dass ich dort viel an Sie gedacht habe , denn durch alles , was Sie mir erzählt , und durch die Bücher , die Sie mir darüber geliehen , kannte ich Japan schon , als ich hinkam . Es war mir , als fände ich dort lauter alte Bekannte wie der ; in den Teehausmädchen , die unsern Rickshaw-Kulis mit derselben Grazie und Höflichkeit wie uns selbst Tee servierten , wie in den Landarbeitern , welche , hoch aufgeschürzt , oft bis an die Kniee in den sumpfigen Reisfeldern versanken und sich bei Regenwetter Strohdecken überbanden , deren abstehende Halmenden ihnen das Aussehen riesiger , emsiger Igel verliehen . Sie alle erschienen mir wie Gestalten aus einem wohlbekannten Bilderbuch , denen man zunickt : sieh da , sieh da , da seid ihr ja alle . Das erfreulichste Wiedersehen feierte ich aber in Japan mit den vielen Blumen , die ich daheim und anderswo als japonica oder japonicum kennen gelernt hatte , und die ich nun in ihrer Heimat wiedersah , nur viel schöner und duftender ; wie ja auch wahrhaft nette Menschen meist am nettesten in ihrem eigenen Hause sind . Japan ist das erste und einzige aussereuropäische Land , in dem ich mich ankaufen und » for good bleiben möchte ; oder vielmehr » for better for worse « , was ja ein so viel grösseres Versprechen und Zeichen von Vertrauen enthält . An unserem letzten Morgen in Yokohama hatten wir noch zwei Erlebnisse , ohne die Japan nicht recht Japan gewesen wäre : wir wurden früh durch ein Erdbeben geweckt , und wir sahen den Fusiyama . Der hohe weisse Herr hatte sich bis dahin übellaunig hinter einer Wolkenkappe verborgen , was ich den hohen , einsamen Bergesgipfeln nie verdenke , denn auch jüngeren , geringeren Wesen ist der Anblick der Welt ja oft verdriesslich genug . Als wir schon im Boot sassen , um hinaus an unseren Dampfer zu fahren , ward es plötzlich lichter , und wir sahen die schneeweisse Kuppe , die in Wirklichkeit ganz ebenso unwahrscheinlich aussieht wie auf ihren zahllosen Abbildungen . Es war mir gesagt worden , dass wer am Tage der Abfahrt den grossen Herrn Fusi sieht , sicher nach Japan zurückkehrt . Sie wissen , dass ich , faute de mieux , ziemlich abergläubisch bin – nun wollen wir sehen , ob mich mein Nomaden-Schicksal noch einmal nach dem Lande des Lächelns und der Blumen zurückführen wird . Der erste Mensch , den wir auf dem Dampfer trafen , war Bartolo , der grosse Konzessionenjäger , der so viele Monate im Hotel de Pékin sass , während Sie gerade eine Ihrer geheimnisvollen Reisen in das Innere Chinas unternommen hatten . Damals wollte Bartolo zuerst die nicht vorhandene chinesische Armee mit einem von ihm selbst erfundenen Gewehr versehen , später versuchte er dann einen Plan zur Bewässerung der Wüste Gobi an die chinesische Regierung zu verkaufen . – Wer alle Projekte gehört , die Bartolo und ausser ihm so viele andere zur Beglückung der Chinesen ersannen , der kann das tiefe Mitleid begreifen , mit dem Sie » pauvre , pauvre Chine « zu sagen pflegten . Viel weniger Mitleid hatten Sie für die armen Gesandten , die alle einige Bartolos besassen , von denen sie gedrängt wurden , ihre Wünsche nach phantastischen Konzessionen mit politischer Pression zu unterstützen und nach deren Ansicht die Gesandten nie genug taten , was sich bisweilen in Zeitungsangriffen oder parlamentarischen Interpellationen äusserte . Bartolo erzählte uns gleich strahlend , er hätte seine letzte Konzession erlangt , nicht die von der Wüste Gobi , sondern eine allerletzte , zur Ausbeutung von Rubinminen . Anfänglich sei er nicht recht sicher gewesen , für welche Provinz er die Konzession erbitten solle , ob Kwangsü oder Kwangtung , da er ja beide nicht persönlich kannte und nicht wisse , ob es dort Rubinen gäbe . Schliesslich habe er sich für Kwangtung entschieden , nachdem er etwas im Richthofen nachgeschlagen , diesem Evangelium aller Jünger des neuen Glaubens » Heil durch China « . Mein Bruder und ich waren etwas erstaunt , dass Bartolo diese Konzession so rasch erlangt haben will , um so mehr als die Chinesen ja gerade eine Minenbehörde ernannt haben , deren Hauptaufgabe darin besteht , derartige Angelegenheiten zu verschleppen . Bartolo erzählte uns aber , in dieser Behörde sässen als einflussreichste Mitglieder der alte Tsü und der junge Tsi – dem jungen Tsi habe er in Tientsin die Bekanntschaft einer ebenso gefälligen wie schönen Amerikanerin vermittelt , und der » Nebenfrau « des alten Tsü habe er nächtlicherweile ein goldenes Teeservice zugesandt . Von da ab seien seinem Anliegen in der Kommission von den Chinesen nur noch pro forma ein paar kleine Schwierigkeiten gemacht worden . Bartolo ist nun auf dem Wege nach London , um eine Aktiengesellschaft zu gründen zur Ausbeutung seiner Rubinminen , von denen er sich Millionen verspricht . Er hatte sich für die Überfahrt mit einer Menge Konserven und Delikatessen versehen , von denen er all seinen Bekannten auf dem Schiffe bei jeder Mahlzeit reichliche Portionen zusandte . Da er eigentlich ein sehr gutmütiger Mensch ist , wollte er hierdurch schon jetzt alle gewissermassen an seinen Zukunftsschätzen teilnehmen lassen . Ich werde immer ganz traurig über die schönen Illusionen , wenn ich Menschen so reden höre von all den Reichtümern , die sie in China erwerben wollen , und mich dabei der unendlichen , herzbeklemmenden Armut erinnere , die ich dort , ärger als irgend sonst wo , gesehen habe . Wo sollen nur die Reichtümer herkommen ? Ich mag mich aber irren , denn ich kenne ja nur den trostlosen Norden Chinas , und vielleicht liegen wirklich Rubinen auf den Strassen in Kwangtung , wo ich so wenig wie Bartolo je gewesen bin . Ich muss meinen heutigen Brief schliessen , denn wir wollen hinaus in den Wald , aber ich werde Ihnen noch von hier weiter schreiben , da wir einige Tage hier bleiben wollen , um uns von der bisherigen für die weitere Reise zu erholen . Dieser erste Gruss soll Ihnen nur sagen , dass ich jenseits des grossen Wassers gut angelangt bin . Nun schlage ich in Gedanken eine grosse Brücke darüber , deren eines Ende hier ruht , während das andere in der Gegend von Pei-ta-ho die Erde berührt , und über diese Brücke eilen tausend herzliche Gedanken freundschaftlichen Erinnerns zu Ihnen . 2 Vancouver , August 1899 . Mein gestriger Brief , lieber Freund , handelte so sehr von Bartolo , dass ich fürchte , er wird den Eindruck bei Ihnen erwecken , als seien wir mit ihm die einzigen Passagiere auf dieser langen Fahrt gewesen . Drum sende ich gleich diesen zweiten Brief nach , der Ihnen von unserer übrigen Reisegesellschaft erzählen soll . Am interessantesten waren mir zwei Japaner , die sich ein Stückchen Heimat mitnahmen , in Gestalt einer zwei Quadratfuss grossen , erdgefüllten Kiste , in der mit Steinen und verkrüppelten Zwergbäumchen eine japanische Miniaturlandschaft dargestellt war . Sie hüteten dies Gärtchen mit rührender Sorgfalt . Beide litten offenbar sehr an Seekrankheit und ihre gelbliche Haut hatte allmählich seltsam grüne und violette Schattierungen angenommen , aber , mochten sie noch so elend sein , sobald ein Sonnenstrahl durch das dicke , schwere Gewölk drang , krochen sie aus der Kajüte und trugen ihr Kästchen auf das Deck in die Sonne , und sobald sich der Wind dann erhob und es kälter wurde , schwankten sie wieder hinunter , ihr Stückchen Japan in den Armen . Sie reisten nach Amerika zu Studienzwecken , und schon auf der Fahrt diente ihnen alles und jeder als Beobachtungsobjekt . Sie hatten offenbar ein grosses Gefühl der Verantwortlichkeit , besonders für die ihnen gegebene Zeit , eine Verantwortung , mit der es die meisten Menschen nicht so genau nehmen , und die doch vielleicht die ernsteste von allen ist . Jeder unserer beiden reisenden Japaner hätte vor Jahren einmal das kleine japanische Schulkind sein können , von dem erzählt wird , dass man es nach einem starken Erdbeben zwischen den Trümmern des Hauses fand , wie es auf einen herabgefallenen Ziegel die Zahlen des letzten ihm aufgegebenen Rechenexempels eifrig weiter schrieb . Auf unserem Schiff waren auch ein paar russische Reisende , sowie englische und belgische Ingenieure , die aus Peking zurückkamen . Sie hatten sich dort um Konzessionen für Eisenbahnen beworben , die möglicherweise erst in Jahrzehnten , vielleicht auch nie gebaut werden dürften . Ich erinnere mich sehr gut , wie Sie mir oftmals sagten , gerade dies Drängen um Eisenbahnen erbittere die Chinesen besonders . Und dabei waren die meisten dieser nur mit Drohungen errungenen Zugeständnisse für lange hinaus ganz zwecklos , und wurden nur verlangt , um etwaigen anderen Bewerbern zuvorzukommen . Man prahlte in Peking mit den erlangten Konzessionen , wie die Indianer mit erbeuteten Skalps . Nirgends habe ich so sehr die Empfindung unendlichen Raumes gehabt , wie gerade in China , und doch schien es nirgends so sehr wie in Peking , als ob die weite Welt für die Ansprüche der Menschen nicht ausreichte . Der Kampf wurde dort mit jener neidischen Eifersucht geführt , die ein Gebiet lieber wüst und leer sieht , als dass sie es fremden Händen überliesse . Der Schwächere wird , so reich und ausgedehnt die Welt auch ist , stets leer ausgehen , denn die Gier der Starken ist grösser als der grösste Raum . Auf dem Schiff hörte man endlose Debatten über die Zukunft Chinas , über » offene Tür « und » Interessensphären « , über Aufteilung und die Ansprüche der einzelnen Länder . Was aber in Pekinger Kreisen nur leicht angedeutet wurde , das sprachen diese Reisenden mit brutaler Offenheit aus . Man sah sich da plötzlich der bête humaine gegenüber , wie sie wirklich ist : stets erscheint ihr der eigene Anteil zu klein , der des anderen zu gross . Mit harmloser Naivität wurde da enthüllt , was jedes einzelnen Herzenswunsch war : für sich selbst abgeschlossene und möglichst grosse Interessensphären , bei dem Nachbar dagegen ein möglichst offenes Scheunentor . Mich stimmten diese Debatten oft unendlich traurig , denn sie eröffneten für die Zukunft weite hässliche Aussichten auf Kampf und Unterdrückung . Es waren ja nur einzelne Leute , die da redeten , zumeist einflusslose , unbedeutende Menschen , aber aus ihren Worten konnte man doch auf den allgemeinen Geist der Zeit schliessen , mit seiner Skrupellosigkeit , seiner Abhängigkeit vom Erfolg , seiner Grausamkeit gegen alles auf Erden , was sich nicht wehren kann . Die beiden Japaner hörten dem allen zu , und wenn sie auch selbst wenig sagten , so merkte man ihnen doch an , dass für sie Buddha und seine Lehren in ebenso weiter vergessener Ferne liegen , wie für die anderen Christus und sein Wort , und dass auch sie sich den europäisch-amerikanischen Grundsatz zu eigen gemacht haben : » Friss , auf dass du nicht gefressen werdest . « Draussen war es sehr neblig , sehr grau und eisig kalt geworden . Ein oder der andere Passagier fragte wohl mal , ob keine Kollisionsgefahr sei . Dann wurde geantwortet : » In diesen nördlichen Breitengraden fahren gar keine anderen Dampfer , und sollten wir unwahrscheinlicher Weise einem Segelschiff begegnen , so sind wir eben die Wuchtigeren . « So ging es im dicken Nebel weiter , und in langen gleichmässigen Zwischenräumen ertönte das schauerliche Nebelhorn . Die übrigen Reisenden hatten das Rauchzimmer oder ihre Kajüten aufgesucht ; ich war allein auf Deck , in meinen dicksten Pelz gewickelt . Der Nebel war dichter als je zuvor , die sichtbare Welt schien auf ein paar Fuss zusammengeschrumpft zu sein , drüber hinaus war alles ein unheimliches Grau , das lautlos hin und her wogte . Zentnerschwer fühlte ich eine Last , die sich mir aufs Herz legte , so dass ich kaum zu atmen wagte – und diese Last war eine namenlose Angst vor dem grauen Etwas , das die ganze Welt um mich her erfüllte . Ich kam mir so einsam vor wie noch nie im Leben , als sei ich ganz allein , als letztes Lebewesen , und als schwebte ich angstvoll suchend durch den endlos leeren Weltenraum . Und wie ich so hinausstarrte , begann es in dem Grau zu wogen , zu steigen und sinken ; es war , als wehe der Wind dicke , schwere Schleier hinweg , und plötzlich lag klar und dicht vor mir ein Stück kalte , dunkle , nordische See . Ein Felsen erhob sich daraus , schneebedeckt und an all seinen Zacken Eiszapfen tragend , die bis zu dem schaurigen Wasser herabhingen . Oben aber auf dem Felsen sass ein riesiger Eisbär , in den Tatzen das Gerippe des letzten Tieres haltend , das er in der Einöde gefunden . Er schaute sich um , als wollte er sagen , » nun bin ich Alleinherrscher der Welt « . – Aber da tat sich das schwarze Wasser auf , und heraus tauchte ein Ungeheuer mit Schlangenleib , Fischflossen und rot bemähntem Walrosshaupt ; Seetang hing ihm am nassen Maule und Reste kleiner Fische – die letzten , die es noch in der See gefunden ; auch seine grünlich glasigen Augen schienen zu sagen : » Nun bin ich ganz allein Herr der Welt . « Da aber erblickten sich die beiden , der riesige Eisbär und das Seeungetüm . Die Flossen peitschten die Wogen , die Tatzen umkrallten den Felsen . Noch waren beide gesättigt , aber schon massen sie sich mit den feindlichen Blicken künftiger Gegner . Sie hatten die ganze Welt entvölkert und trafen sich nun hier in der Einöde zu letztem Kampfe . Der würde entscheiden , wer Herr der Welt blieb ! – » Wir waren heute den Aleuten ganz nah , « sagte der Kapitän beim Abendbrot , » einen Augenblick konnte man eine der kleinen Inseln durch den Nebel sehen . « Ich aber hatte die Empfindung , als hätten sich die Wolken , die uns umgeben , einen Augenblick geteilt , und ich hätte einen Blick getan in die Geschichte der Welt , die ja oft eine Geschichte wilder Tiere ist . – 3 Vancouver , August 1899 . Wir sind noch immer hier , ohne besonderen Grund . Aber es ist herbstlich kühl und schattig , und die kleine Ruhepause gibt uns die kurze Illusion , wie andere Menschen sesshafte Wesen zu sein . In den meisten Strassen sind hier Alleen grüner Bäume gepflanzt , unter denen rotbäckige Kinder morgens zur Schule radeln . Überall sieht man Gärten voll später Rosen , Rittersporn und Astern ; die Mauern sind mit Kapuzinerblumen bedeckt , und an den kleinen Kieswegen blühen Reihen von Georginen und Malven . Gärten in so nordischen Ländern wie hier haben mir immer etwas Rührendes ; es ist , als wollten die Pflanzen in der kurzen Sommerzeit möglichst viel leisten , und die Blumen , die es so eilig haben , zu erblühen , mahnen , dass wir ja alle nicht wissen , wie kurz uns die Spanne Zeit bemessen sein mag , da für uns noch die Sonne scheint . Inmitten der wohlgepflegten Gärtchen stehen kleine Landhäuser ; sie alle sehen behaglich und behäbig aus . Bei ihrem Anblick denkt man unwillkürlich an jene Gattung englischer Romane , die junge Mädchen lesen dürfen , und in denen alle Menschen täglich nicht nur drei tüchtige Mahlzeiten einnehmen , sondern auch noch gemütliche Nachmittagstees mit Kuchen und Sahne . Die Leute , denen wir an diesem fichtenumwachsenen , bergumgebenen Hafen begegnen , sehen alle tüchtig und tätig aus ; man merkt ihnen gleich an , dass es freie , kräftige Persönlichkeiten sind , die sich hier , unabhängig von obrigkeitlicher Hilfe , wie von Bevormundung , eine Heimat gegründet haben . Sie sind stolz auf das , was sie schon jetzt aus dieser entlegenen Bucht gemacht haben , und voll Zuversicht auf das , was die eigene , selbständige Expansions- und Betätigungskraft noch schaffen wird . Wir sind hier weit von jenen künstlich gezüchteten Kanzlei-Kolonien , denen durch einen Geheimrat aus der Hauptstadt des Mutterlandes als wichtigste Grundlage eines beginnenden Gemeinwesens das Schema eines heimatlichen Grundbuches , sowie Polizeivorschriften für die Stunde des Lichtauslöschens und für das Maulkorbtragen der Hunde gesandt werden . Maulkörbe trägt hier niemand . Es wird auch wenig regiert . Die Gesetze , die sich allmählich als notwendig herausbilden , entspringen den örtlichen Bedürfnissen und Erfahrungen – sie werden nicht » ready made « importiert . Im Gegensatz zu so manchen anderen , beruhen die englischen Kolonien auf der einzig gesunden Grundlage , auf einem tüchtigen Mittelstand , der sich hier frei und ungehindert entfaltet . In den Ländern , wo die demokratische Partei in kurzsichtiger Opposition sich gegen koloniale Bewegungen stellt , beraubt sie sich selbst eines fruchtbaren Tätigkeitsfeldes , wo sie viel mehr Aussicht als daheim hätte , ihre politischen Ideale zu verwirklichen . Diejenigen Kolonien , die von oben herab geschaffen werden , erinnern mich immer an ein künstliches Homunculuschen in der Flasche , das mit chemischen Pillen gepäppelt wird und seine Nahrung nie an der Brust der grossen Volksmutter gesogen hat . Ich entbehre es sehr , mich über diese und tausend andere Fragen nicht mehr mit Ihnen , lieber Freund , aussprechen zu können . Wer weiss , wann ich eine Antwort von Ihnen erhalten werde , denn in Ihrem Briefe , den ich hier vorfand , schreiben Sie ja , dass Sie nächstens wieder eine grosse Reise in das Innere Chinas unternehmen müssten . All meine Briefe werden Sie wohl lange erwarten und Sie erst nach Ihrer Rückkehr erreichen . Könnte ich den kleinen weissen Bogen doch Flügel geben , um Ihnen wie Brieftauben auf Ihrer Expedition nachzufliegen – dann fänden Sie jeden Abend , wenn Sie müde in einem elenden chinesischen Gasthause oder einem mongolischen Zeltlager anlangen , solch einen Boten von mir vor , der Ihnen erzählte , wie viel ich an Sie denke und wie sehr ich wünsche , dass Sie nicht mehr in die Wildnis zu ziehen brauchten , weil ich mich dann immer so sehr um Sie sorge . 4 Vancouver , August 1899 . Meine grosse Freude hier in Vancouver ist es , endlich einmal wieder lange Spaziergänge im Schatten schöner Bäume machen zu können . Wer , wie ich , in einem Waldland aufgewachsen , sehnt sich immer danach zurück . Bäume sind mir wie lebende Wesen und jeder hat seine eigene Physiognomie , seinen Ausdruck , den er , wie wir Menschen auch , durch besondere Erfahrungen und Erlebnisse allmählich gewonnen hat . Ich begreife so gut , dass die alten Germanen sich die Bäume als Sitz besonderer Gottheiten dachten , und schon als Kind hatte ich einen wahren Abscheu vor Sankt Bonifatius , der den heiligen Baum fällte . Sie erinnern sich gewiss noch , wie oft ich Ihnen von meiner Sehnsucht nach schattigen Waldespfaden sprach , wenn wir zusammen nach der Hitze des Tages auf die Pekinger Stadtmauer stiegen und auf diesem einzigen reinlichen Weg der chinesischen Kaiserstadt auf und ab gingen . Die Stadt lag tief unter uns , all die einstöckigen Häuser eintönig grau mit aufwärts geschweiften Dächern , auf deren Kanten Reihen kleiner Steinhunde sitzen . In die Höfe der nächstgelegenen Häuser konnten wir von oben hinein schauen und was wir sahen , waren immer dieselben uns unverständlichen Wesen , die dasselbe Dasein führten , das seit Jahrtausenden ihnen ähnliche Wesen genau ebenso geführt haben . In den Strassen war immer dasselbe Gewühl zahlloser Menschen , die unseren Augen so rätselhaft in ihrer Gleichheit und Einförmigkeit erschienen , deren elfenbeinerne Stirnen wie geschlossene Tore waren , von Welten , in die wir nie eindringen werden . Jahr aus , Jahr ein zog dies Gewühl von Menschen durch die Strassen , die monatelang voll dicken , schwarzen , klebrigen Schlamms lagen , und die übrige Zeit des Jahres in dichten , grauen Staubwolken verschwanden . Und niemand rührte die Hand , etwas zu ändern , etwas zu verschönern . Denn es war ja von jeher so gewesen ; niemand hatte es je anders und besser gekannt ; niemanden störte es – vor allem niemanden von denen , die hinter den roten Mauern , unter den goldig schimmernden Dächern der Kaiserpaläste ein noch geheimnisvolleres , noch rätselhafteres Dasein als all die anderen führten . Erinnern Sie sich , wie oft wir dort oben auf der Mauer standen und hinüberschauten auf die verbotene Stadt mit ihren verfallenden Mauern ? Stets hatte ich das Gefühl , als läge ein Alp auf der Stadt , wie der Schatten kommenden Unheils ! Mit welcher Sehnsucht habe ich von dort oben weit hinaus geschaut , über die unendliche Ebene und dabei anderer Länder gedacht , wo uns nicht alles unverständlich ist , wo die Men schen sich grüssen , freuen und küssen , sprechen , lachen und trauern wie wir . Am Vorabend meiner Abreise haben wir noch einmal dort oben zusammen gestanden , und Sie wiederholten die Worte , die Sie in den letzten Wochen so oft gesagt hatten : » Ja , Sie müssen fort von hier – es ist besser so . « Als wir dann nach Hause gingen über die Kanalbrücke und an dem kleinen Tempel vorbeikamen , in dessen Hof ein Kuriositätenhändler seinen kleinen Laden alter Vasen und seltsamen Gerümpels eröffnet hatte , da sagten Sie mir : » Ihr nächster Spaziergang wird Sie unter alte schattige Bäume führen , wie Sie es sich hier so oft gewünscht haben . « Sie schienen so traurig , als Sie das sagten , lieber Freund , und doch haben Sie uns selbst zur Abreise gedrängt und sie beeilt – warum ? Und jetzt bin ich in einem Lande schattiger , grüner Bäume und täglich seit wir hier sind , gehe ich stundenlang tief in den Wald hinein . Das Schönste hier ist der Viktoria-Park , mit seinen uralten Bäumen und den herrlichen Blicken auf die See , vor allem mit seiner Ruhe , seinem Schweigen und Frieden . Wie würde ein Böcklin diesen Wald geniessen , der dem unberührten Naturzustand noch so nahe scheint , dass man sich gar nicht wundern würde , über das dicke , weiche Moos Faune und Einhorne schreiten zu sehen . Gestern bin ich besonders lange im Park gewesen . Ich ging träumend immer weiter , bis ich an sein äusserstes Ende kam , wo er zur schmalsten Stelle einer Meerenge führt . Das felsige Ufer fällt dort steil ab , und tief unten strömt das Wasser reissend vorbei . Ich setzte mich nieder zwischen Farnen und allerhand Ranken und schaute in die Tiefe auf die Meeresstrasse , durch die alle Schiffe fahren , die vom fernen Osten nach Vancouver kommen . Und ich träumte , wie hübsch es sein müsste , hier irgendwo ein waldverborgenes Häuschen zu besitzen ; dann würde ich alle Tage bis zu dieser äussersten Spitze gehen , setzte mich dort unter die alten Bäume und schaute aus , ob Schiffe aus Far-away Cathay kommen . Und an einem Tage würde endlich ein Schiff kommen , auf dem ständen Sie , und ich würde Ihnen von meinem Felsen aus einen grossen Strauss frischer Waldblumen herabwerfen . Denn nicht wahr , Sie bleiben doch nur gerade so lange in China , als es durchaus nötig ist ? Ich mache ja schon so viel schöne Pläne für die Zeit , wo wir uns wiedersehen werden . Wann , wo wird das sein ? 5 Banff , September 1899 . Die Frühsonne scheint in mein Zimmer , lieber Freund , draussen zwitschern Spatzen , die sich in der Jahreszeit irren und jetzt beim nahenden Herbst noch an Frühlingsidyllen denken , und ich will den Tag beginnen , indem ich Ihnen guten Morgen zurufe , hinaus in die unergründliche Weite . Möge Ihnen ein freundlicher Lufthauch meinen Gruss bringen – wo Sie auch sein mögen . Ich fürchte , es kann dort nicht so schön sein wie hier . Das hiesige Hotel liegt auf waldigem Bergrücken , in grösster Einsamkeit , und erinnert an manche Tiroler Burgen . Von unseren Fenstern aus haben wir einen weiten Blick auf ein Gebirgstal , in dessen Tiefe , zwischen hohen Fichten , ein Bach fliesst , der , zur Zeit da Eis und Schnee schmelzen , zum reissenden Strome wird . Im Hintergrund erheben sich steile , schneebedeckte Felsen . Nach der langen Reise ist die hiesige Behaglichkeit an sich ein Genuss . Es ist herrlich , wieder mal in einem Bett zu schlafen , das weder schwankt noch schüttelt , und Mahlzeiten einzunehmen , ohne Sorge , dass der Zug abfährt , oder dass der gegenübersitzende Reisende seekrank wird . Dicht neben dem Hotel ist ein grosses , offenes Schwimmbassin , das von warmen Schwefelquellen gespeist wird . Fichten stehen ringsherum und das laue Wasser , der Sonnenschein und die köstliche würzige Luft bilden zusammen einen so wonnigen Aufenthalt , dass man im Sommer sicher gern Stunden dort verbrächte . Weiter unten , dem Tale zu , sind natürliche Grotten mit sprudelnden Quellen und tiefen Teichen , die geheimnisvoll unter den überhängenden Felsen verschwinden . Das Wasser ist so klar , dass man tief unten auf dem Grund die weissen Sandflächen und die einzelnen Kieselsteinchen schimmern sieht . Ich muss dort immer an die schöne Undine denken . In solch tiefen , klaren Wassern ist sie gewiss , unbewusst glücklich , wie die silbrigen Fischchen , herumgeschwommen , bis sie hinauf zur Welt stieg und unglücklich ward , weil sie sich einbildete , dass es nötig sei , eine Seele zu haben . Hätte doch irgend ein welterfahrenes Wesen der armen Undine erklärt , dass Seelenbesitz der entbehrlichste von allen ist , und dass die kalten , schlüpfrigen Fischchen am besten durch die Welt kommen , mit ihren geheimnisvoll grünlichen Augen , die so tief scheinen und auf deren Grund gar nichts ist . Wir haben hier einen Offizier kennen gelernt , der die Mounted Police des Distriktes befehligt . Im Winter muss das ein recht einsamer Posten sein , wenn das Hotel geschlossen ist und die ganze Welt weit und breit unter tiefem Schnee begraben liegt . Im Sommer dagegen und auch jetzt noch in den schönen Herbsttagen scheint Kapitän White ein ganz lustiges Leben zu führen . Er ist beständig hier im Hotel und die Damen sehen ihn alle als eine Art Badedirektor an , der für die Vergnügungen der ganzen Gesellschaft verantwortlich ist . In der Halle , wo in zwei grossen Kaminen halbe Baumstämme knisternd verbrennen und an den Wänden und auf dem Boden herrliche dicke Felle liegen , flirtet er mit schönen blauäugigen Kanadierinnen , die hier mit allerhand Sports die Saison zubringen ; er flirtet mit amerikanischen » Summer Girls « , die es origineller gefunden haben , sich Kanada statt Europa anzusehen , und er flirtet mit blassen , verwaschen aussehenden Engländerinnen aus Hongkong , die alljährlich in immer grösserer Zahl hierher kommen , um sich vom dortigen erschlaffenden Klima zu erholen . Es werden täglich grosse Ausflüge unternommen , zu denen die ganze Gesellschaft meist in Kapitän Whites Coach fährt . Er kutschiert vortrefflich , aber es sieht ganz abenteuerlich aus , wenn er mit seinem Viergespann die steilen Korkenzieher-Wege hinauffährt , in so scharfen Windungen , dass das erste Paar Pferde oft genau eine Etage höher zu stehen kommt , als das zweite und der Wagen . Gestern sass ich bei solcher Fahrt neben Kapitän White , und auch bei den halsbrecherischsten Stellen erzählte er lustig weiter , besonders von den Wintersports und von den hiesigen Indianern . Er sagte mit dem Brustton englischer Selbstgefälligkeit , die Regierung sorge für sie mit Geld und Proviant – ich finde das eigentlich das Mindeste , nachdem man den armen Leuten ihr Land weggenommen und ihnen als besondere Gastgeschenke Trunksucht und allerhand Epidemien gebracht hat . Von Zeit zu Zeit sollen die Indianer noch jetzt grosse Versammlungen abhalten , bei denen ungeheure Mengen Branntwein getrunken werden und die alten Krieger sich unter lautem Beifall all ihrer einstmaligen Morde und Diebstähle rühmen . Um den Alten an Mut nicht nachzustehen und da Raub und Totschlag im modernen Kulturstaate doch sehr unangenehme Konsequenzen haben , bringen sich die jungen Männer in den Versammlungen eigenhändig grosse Wunden bei und werden dann auch als Krieger in den Bund aufgenommen . Wir fuhren gestern nach dem Devil's Lake , einem tiefblauen See klarsten Wassers , der von hohen Felsen umgeben ist . Warum er gerade mit diesem Namen bedacht worden ist , konnte ich nicht ergründen . In allen Ländern kommt aber diese Benennung so häufig vor , dass man unwillkürlich annehmen muss , der Glaube an die Allgegenwart des Teufels sei weit mehr als derjenige an eine andere Allgegenwart im tiefinnersten Bewusstsein der Menschen lebendig . Der Glaube an Gespenster , an böse Geister , anders auch Teufel genannt , ist ja sicherlich älter als der eigentliche Gottesglauben , denn aus der Angst vor bösen , unerklärlichen Mächten ist aller Kultus entstanden ; er diente anfänglich immer dazu , Unheil von den armen Menschen abzuwenden , die von den bösen Geistern verfolgt wurden : die ursprünglichen Kultformen sind immer abwehrender Art und vielen , vielleicht den meisten Menschen , erscheint ihre Gottheit auch heute ja noch als ein erzürntes Wesen , das versöhnt werden muss . Dieser kanadische Teufelssee erinnerte mich sehr an einen kleinen See in den Pyrenäen , den ich vor Jahren einmal sah . Dort steht auf einem Felsen ein kleines Kreuz , und der baskische Führer zog das breite wollene Barett ab , bekreuzigte sich und sagte , an der Stelle sei ein Liebespaar ertrunken . Jung , wie ich damals war , rührte mich das sehr . Als ich aber bis zu dem Kreuz geklettert war , las ich eine so alte Jahreszahl , dass das Liebespaar , wenn es statt zu ertrinken , alt und grau geworden wäre , und Urenkel erlebt hätte , unter allen Umständen doch längst hätte tot sein müssen . Das dämpfte meine Rührung . So oder so – ein Kreuzchen wäre doch schon längst das Ende – vielleicht war 's besser so . 6 Banff , September 1899 . Lieber Freund ! Die Welt ist hier so schön , dass ich Ihnen gleich wieder schreiben muss ! Ich fürchte , dieser Briefanfang ist nicht sehr logisch – aber Sie werden ihn doch verstehen , Sie haben ja immer alles verstanden – Gesprochenes und Unausgesprochenes . Wir haben uns in einem Lande gekannt , das wohl niemand als besonders schön bezeichnen würde , im Gegenteil , es war oft recht öde und hässlich , und über all unseren gemeinsamen Erinnerungen liegt es wie ein Schleier von Wehmut . Und doch , seitdem ich von dort fort bin , fühle ich mich Ihnen niemals näher , als gerade , wenn ich etwas wirklich Schönes sehe . Nach den drei Jahren in Peking , wo mir das Schöne so selten durch die Natur offenbart wurde , sondern wo ich es nur in eines Menschen Herz und Seele fand , ist es mir wie eine Offenbarung , zu sehen , wie köstlich die übrige Welt doch ist . Jetzt beim Anblick dieser herrlichen Berge , wenn die Sonne auf die Gletscher scheint und die Bäche von den Felswänden herabstürzen in einen tiefgrünen See , wenn ich die harzige Luft einatme und an den hohen Stämmen hinauf schaue , die hier standen , lang ehe der weisse Mann das Land betrat – da frag ich mich oftmals : ist dies dieselbe Welt ? Hat das alles so gerauscht , geleuchtet , gefunkelt , geduftet , während der drei letzten , grauen Jahre , die ich in jener fernen Stadt verlebt , wo alles so unendlich fremd war und sich mir das Herz oft zusammenzog in beklemmender Angst , wie vor unheimlichem , unabwendbarem Schicksal ? Es ist so schön , wieder etwas schön finden zu können , plötzlich zu fühlen , dass die Jugend und die Begeisterungsfähigkeit nur schlummerten , dass sie aber noch da sind und bloss warteten , wieder aufleben zu dürfen . Es ist so schön , lieber Freund , sich noch einmal freuen zu können – ohne besonderen Wunsch , ohne irgend welche eigennützigen Gedanken , die ganz eigene , harmonische Freude zu empfinden , die die Natur in uns erweckt , die klärt und beruhigt , und durch die das Sorgen , Fürchten und Trauern für ein Weilchen wie in fernem Nebel verschwimmen . In solchen Augenblicken kommt es uns zum Bewusstsein , dass wir selbst eben auch ein Stückchen Natur sind , trotz alles Künstlichen und Gequälten , das uns die Erbschaft von Hunderten von Generationen auferlegt hat , und für einen kurzen Augenblick scheint es uns möglich , zu werden , wie die Lilien auf dem Felde . – Für eine kleine Spanne Zeit vermag das Schöne uns von der Last des Erlebten , des Gewollten , des nie Erreichten zu befreien . Wir atmen einmal frei auf , möchten vergessen und verweilen – aber schon müssen wir wieder hinein in die Mühe und die Qual , die uns Leben sind . – Doch auch für die kurze Rast sei diesen Wäldern Dank ! 7 Banff , September 1899 . In der hiesigen Waldesstille , die so beruhigend auf uns Weitgewanderte wirkt , denke ich oft staunend an das Hasten und Ringen zurück , in dem wir in Peking gelebt haben . Dort schien Streben und Kämpfen , andere verdrängen und sich selbst einen Platz erobern der einzige Zweck des Daseins zu sein . Ich glaube , dass Sie , lieber Freund , verstehen werden , welche Erquickung dieser weltabgeschiedene Frieden mir gewährt . Denn oft , wenn ich Sie in Peking reden hörte , hatte ich die Empfindung , dass Sie das ganze dortige Treiben und Drängen wie von einer Höhe aus betrachteten , zu der all die kleinlichen Motive nicht heranreichten , dass Sie mit Ihren Gedanken in einer Stadt lebten , die allem Niedrigen wirklich eine » verbotene « war . Sie dachten und fühlten ja sogar für die Chinesen , deren Wünsche und Anschauungen allen anderen als eine quantité négligeable erschienen , und die nur dazu da waren , um mit Gewalt in sogenannte Fortschritte getrieben zu werden , die dafür gestraft wurden , dass sie sich von dem einen hatten berauben lassen , indem der andere sie noch mehr beraubte . Ein jeder stachelte die Chinesen dazu an , gegen die Forderungen des an deren scharf aufzutreten und ihm nichts zuzugestehen , aber im entscheidenden Moment liess man die Chinesen stets im Stich , es wurde ihnen nie wirklich geholfen , sondern man überliess sie der Gnade des anderen und stellte dann das Gleichgewicht wieder her , indem man selbst mit neuen Forderungen kam . Ich habe nirgends so sehr wie in Peking den Erfolg verachten gelernt , weil ich einmal ganz aus der Nähe gesehen habe , womit er erreicht wurde , von den einen durch Bestechung , von den anderen durch Drohen mit roher Gewalt . Die armen Chinesen sind nun einmal gegen Geld und Kanonen , innerlich und äusserlich , widerstandslos . Setzen sie sich aber einmal zur Wehr , so steckt immer eine andere Macht dahinter , die eben mehr bestochen , oder mehr gedroht hat , von der mehr zu gewinnen oder mehr zu fürchten war . Ich erinnere mich sehr gut , wie Ihr Freund Li Hung Tschang sich ein paarmal fremden Forderungen widersetzte und auch wirklich nicht nachgab . Das war eben , weil hinter ihm eine andere fremde Macht stand , vor der er noch mehr Angst hatte als vor den Fordernden . Und die ganze europäische Erbärmlichkeit kam dann zutage , indem man wohl über Li Hung Tschang herfiel , die fremde Macht aber unerwähnt liess – weil man vor der eben selbst auch Furcht hatte . Die Pekinger Luft hat nun einmal einen ganz besonderen Einfluss auf die weissen Männer : entweder sie werden dort chinesischer als die Chinesen und zu leidenschaftlichen Freunden und Verteidigern Chinas , wie die meisten Dolmetscher , Zollbeamten und Diplomaten der alten Schule , oder , und das sind die Jüngeren , sie werden von einem Taumel des Übermenschtums erfasst , der in einer grenzenlosen Verachtung alles Chinesischen wurzelt . Sie predigen , man solle zugreifen , sich nehmen , was man brauche , einzig das tun , was die eigene Herrenmoral fordere , denn so allein könnten Nationen und einzelne gross werden . Der Kern der Sache ist , sie trachten danach , einem anderen unrechtmässigerweise etwas fortzunehmen . Dazu werden die grossen Worte » Patriotismus , Expansion , neue Absatzgebiete , Stützpunkte « ausgekramt – und dazu drapieren sich ganz harmlose Bureaukratenseelen als Cesar Borgias , als Schüler Macchiavellis und Nietzsches . Aber das Herrentum lässt sich nur improvisieren , so lange man ausschliesslich mit Chinesen zu tun hat ; wird die Lage ernster , stehen hinter dem Chinesen Mächtigere , dann tritt eine sehr unherrenmässige Nervosität an die Stelle der Kraftmenschpose . – Trotz allem , was darüber gesagt wird , sind wir eben keine Generation der Übermenschen . Wir sind Zweifler , Spötter , Unzufriedene – zum Übermenschtum fehlt uns das Zeug . Dazu müssten wir vor allem an uns selbst glauben – und wer tut das heute noch ? – Sind wir ehrlich , so haben wir uns doch alle als armselige Blechgötzen erkannt – vielleicht imponieren wir noch den Wilden , uns selbst aber doch sicherlich nicht . 8 Im Eisenbahnzuge , Oktober 1899 . Lieber Freund , wir haben das reizende Banff verlassen . Die Bergketten , die tiefen grünen Wälder liegen längst hinter uns . Einen ganzen Tag schon fahren wir durch die weite Ebene . Wir haben zum Fenster hinaus geschaut , haben hier und da ein paar Seiten eines Buches gelesen und die anderen Reisenden beobachtet . Nun wird es Abend , die Schatten werden länger , und im fernen purpurnen Westen neigt sich die Sonne anderen Welten zu . Mir ist , als ob graue Wesen aus der Erde aufsteigen , die mich stumm anblicken und in deren toten Augen ich die Frage lese : » Was hast Du aus uns gemacht ? « Es sind Pläne und Hoffnungen , Träume , Wünsche und Ideale – lauter Dinge , mit denen wir vor langen Zeiten , am frühen Morgen des Lebens , die Fahrt begannen , die wir damals hüteten , als das kostbarste , was wir mit uns nahmen , als unseren höchsten Besitz . Es war , als gehörten uns seltene , goldige Samenkörner , aus denen ein märchenhafter Garten erstehen sollte , voll schöner , noch nie dagewesener Blumen . Aber statt einen Garten anlegen zu können , haben wir im Laufe der Reise die Samenkörner alle allmählich am Wege verloren , die einen früh , die anderen spät . Manche sind verschwunden , ohne dass wir es selbst recht merkten , wie Träume , die beim Erwachen verweht sind , niemand weiss wohin , die Erinnerung an sie sogar ist tot . Um andere haben wir gekämpft und wollten sie durchaus festhalten , sie sollten ja zum stolzesten oder liebsten Schmuck des künftigen Gartens werden – und wir haben sie doch hingeben müssen , haben auch sie verloren , in bitterem , alle Freude vernichtendem Schmerz . In den Mühen und Sorgen des täglichen Lebens , die uns wie Opium vom Schicksal gegeben werden , um die grösseren Leiden zu vergessen , denken wir kaum all des vielen Verlorenen . Aber an den Abenden langer Reisetage , wenn das Buch der Hand entgleitet und wir müde aus dem Fenster hinausstarren , wenn der Zug durch weite Ebenen braust und sein Schatten , riesengross verlängert , über der wehenden Grasfläche neben uns dahineilt , wenn überall um uns die festen Formen sich auflösen und verschwimmen in dämmerigem Grau – dann greifen uns unsichtbare Hände kalt ans Herz , unendliche Wehmut , vergebliches Sehnen , bitteres Erinnern erfüllen uns ganz . Das ist die Stunde , wo Verlorenes , Totes aufersteht , wo wir plötzlich gewahr werden , wie arm wir geworden . Der geträumte Märchengarten liegt plötzlich wieder vor uns , so schön , so beglückend , wie wir ihn einst geplant , in jener Zeit , da wir das felsenfeste Bewusstsein hatten , zu ganz Besonderem berufen zu sein ; aber statt der damaligen Zuversicht , statt des Glaubens an uns und unsere Bestimmung , erfüllt uns heute nur bitteres Weh ; wir wissen ja , dass wir all die goldigen Blumensaaten verloren haben , die einen erstarrten in Eis und Schnee , die anderen verbrannten in sengender Glut – nimmer werden sie keimen und blühen . Mit Nichtigkeiten und Eitelkeiten sind die Jahre verstrichen , wir haben sie vergeudet in der Jagd nach dem Unwesentlichen und vertrauert in den Sümpfen der Entmutigung – und darüber ist das Höchste und Beste in uns gestorben , das Kostbarste ist verloren gegangen . Und nun ist es zu spät ! – Wir möchten die Zeit anhalten , zurückeilen , nochmals anfangen und alles so ganz anders und besser beginnen ! Aber nie können die Räder der Zeit sich für uns rückwärts drehen , und der Zug braust unaufhaltsam über die Ebene weiter ; wie ein Ungeheuer breitet sich sein Schatten über die Fläche , wie ein Ungeheuer führt uns das Schicksal eilend weiter . Willenlos müssen wir ihm folgen , die wir nicht stark genug waren , selbst Schicksal zu werden , die wir die Jahre vergeudet und dann vertrauert . Und die ganze Fahrt – wohin ? wozu ? – Selig , wer sich aus der Kette der Verluste , als Opium letzter Stunde , den Glauben an ein Ziel gerettet . 9 New York , Oktober 1899 . Lieber Freund ! Nach viertägiger Fahrt sind wir endlich hier eingetroffen . Müde und verstaubt kamen wir gestern Abend an und fuhren gleich nach dem Waldorf Astoria . Ich wartete in der grossen Halle des Hotels , während mein Bruder sich nach unseren Zimmern bei den Direktoren erkundigte , die wie Kronjuwelen oder Verbrecher hinter Gittern sitzen . Während ich so wartete , bildete sich allmählich ein Gedränge um mich , das ich mir nicht zu erklären wusste , da ich mich weder schön noch abschreckend genug fühlte , um ein derartiges Interesse bei meinen Mitmenschen zu erregen . Das Rätsel löste sich aber bald . Nicht ich , sondern unser chinesischer Diener Ta-kwan-li war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit . Während er gleichmütig neben mir stand , in jeder Hand eine Reisetasche , auf seinem guten runden Gesicht den Ausdruck vollkommenster Indifferenz , und die kleinen geschlitzten Augen so zugekniffen hielt , als lohne es sich gar nicht , sie zu öffnen , um diese ganz neue Welt zu betrachten , standen Herren und Damen um ihn herum , riefen andere herbei , ihn auch zu begaffen , und tauschten allerhand Bemerkungen über sein Äusseres aus . Der Orientale , dem doch alles so gänzlich neu und befremdend sein musste , war dem westlichen Menschen mal wieder ganz überlegen durch seine angeborene und anerzogene Ruhe . Er zeigte weder Erstaunen noch Neugier und sagte nur : » Wenn sie mich genug betrachtet haben , werden sie wohl aufhören . « Die unmittelbare Folge von Tas Aufsehen erregender Anwesenheit war , dass sich sofort Reporter der verschiedensten Zeitungen bei uns melden liessen . Sie waren voller Neugier , China und besonders die alte Kaiserin betreffend , über die sich nach dem Staatsstreich offenbar wahre Sagenkreise gebildet haben . » Ob wir an den Fortbestand Chinas glaubten ? Ob es zu einer Aufteilung kommen würde ? Ob Li Hung Tschang wirklich in russischem Solde stände ? Welchen Mächten die Kaiserin zuneige ? « Wir suchten uns aus all den verfänglichen Fragen herauszuziehen , indem wir wiederholten , dass wir ja keine Diplomaten , sondern einfache Privatleute seien – aber es war schwer , diese professionellen Frager los zu werden . Schliesslich liessen wir durch Ta jedem neuen Besucher sagen , dass wir von der Reise sehr müde seien und niemand mehr sehen könnten . Da hörten wir denn durch die Tür , wie sie nun mit Ta ein Kreuzverhör anstellten . Besonders wollten sie wissen , wie ihm New York gefalle , was ja immer die erste Frage ist , die Amerikaner stellen . Ta entwickelte wieder die grösste Ruhe und würdevolle Zurückhaltung , indem er antwortete , er sei ja eben erst bei Nacht angelangt und habe noch nichts erblicken können , es schiene ihm aber , dass die Amerikaner noch nicht viel Leute aus fremden Ländern gesehen hätten . Heute Morgen stand ich ganz früh auf , setzte mich ans Fenster und sah die grosse Stadt erwachen . Wir wohnen im achten Stock , die Menschen unten in der Avenue sehen wie Ameisen aus , und dabei sind wir noch nicht auf der halben Höhe des Hotels . Über seinem letzten Stockwerk ist eine Terrasse angelegt , ein sogenannter Dachgarten , wo man in den heissen Sommernächten Musik hören , kalte Getränke einnehmen und ein bisschen kühle Brise einatmen kann . Auf mehreren der höchsten Gebäude der Stadt , den achtzehn , zwanzig und noch mehr Stockwerke hohen Himmelskratzern , sind solche Vergnügungslokale errichtet – hell erleuchtet , scheinen sie nachts wie unbewegliche Ballons im dunkeln Himmel zu hängen . Von unsern Fenstern aus haben wir einen schönen weiten Blick auf die Fünfte Avenue und die Dreiunddreissigste Strasse , bis auf das Wasser des East River , auf dem früh noch nächtlicher Nebel lagert . Das Astorsche Haus , uns unmittelbar gegenüber , das ich vor Jahren so massiv und prächtig fand , ist längst überflügelt durch die neuesten Riesenbauten . Aus dem bläulichen Morgendunst tauchen sie auf wie Werke eines neuen Geschlechts , voll noch ungeahnter Möglichkeiten , wie die Schlösser künftiger Märchen , gigantisch , himmelstürmend und schön in ihrer Art , weil sie so vollkommen zweckentsprechend sind . Das erste , was ich heute tat , war , mich mit der Ausschmückung meines äusseren Menschen zu beschäftigen , denn ach , im Sonnenlicht westlichster Zivilisation besehen , erscheint meine chinesische Garderobe doch nicht ganz up to date . Ich fürchte , ich werde die Werke Tientais , dieses einzigsten Pekinger Schneiders , der für die Europäer alles fabrizierte , von Fracks bis zu Maskenkostümen , Ballkleidern und Layetten , nur noch als Reliquien vergangener Zeiten bewahren . Als ich heute in die Salons eines grossen Schneidergeschäfts trat und unwahrscheinlich schlanke Damen mit kunstvoll frisiertem rotgoldenen Haar die letzten Modeschöpfungen anlegten und darin vor mir zwischen langen Spiegelreihen auf und ab stolzierten , musste ich lächeln im Gedanken an das letzte Schneideratelier , in dem ich vor wenigen Wochen noch gewesen – das Atelier Tientais . – Ein paar Schritte von der englischen Gesandtschaft lag es , dicht an der Brücke , die über den Kanal führt . Aus dem Sumpf und den Löchern der Strasse konnte man sich auf die Karikatur eines Trottoirs retten , das auch nur aus ein paar übereinander geworfenen Steinen bestand . Schaute man durch die offene Tür in die Schneiderhütte , so sah man ein niedriges Zimmerchen , dessen Wände mit Modebildern besteckt waren ; mehrere Chinesen sassen darin , eifrig nähend an Herren- und Damenkleidern ; in einem Winkel lag ein Haufen englischer Stoffe , die zu » Nummer-Eins«-Kostümen verarbeitet , von der Pekinger europäischen jeunesse dorée bei den Frühlings- oder Herbst-Rennen eingeweiht wurden . Andre Städtchen ! andre Mädchen ! Wie würde Tientai staunen , wenn er hörte , dass die Säle mit den Spiegelscheiben , vor denen die blonden Houris auf und ab paradieren , die Behausung eines amerikanischen Tientais sind . Als ich meinen Namen und meine Adresse angab , ertönten kleine Schreie freudigen Erstaunens von der Direktrice , den Verkäuferinnen und den schönen Probiermamsells : » Was , Sie sind die Dame , die gestern aus Peking angekommen ist ? « » Wir haben es alles in den Morgenblättern gelesen . « » Sie wohnen im Waldorf und haben einen Chinesen mitgebracht . « Alle wollten mich nun bedienen , und jede hatte eine andere Frage über China und vor allem über die alte Kaiserin ; die Existenz anderer Kunden schien vergessen . Aber die Direktrice , Madame Blanche , führte mich in einen kleinen Nebensalon , und während ich die ausgewählten Kleider anprobierte , schwirrten Fragen an mich und Weisungen an die Rock- und Taillenarbeiterinnen wirr durcheinander . » Und ist die alte Kaiserin wirklich eine so böse Frau ? « ( »Miss Caroline , bitte die Taille etwas enger . « ) Wir haben so viel Sympathie für den armen kleinen Kaiser . « ( »Miss Harriet , bitte , straff über den Hüften und von den Knieen an weit und faltig . « ) » Ist es wahr , dass sie ihn auf einer kleinen Insel gefangen hält ? « ( »Recht weit über die Büste , Miss Caroline , das Fichu voll drapiert , du flou toujours du flou . « ) » Was kann man aber auch von einer Heidin erwarten ! « ( »Miss Harriet , den Rock recht lang , das gibt etwas schwebendes . « ) » Und hat der Kaiser wirklich dreihundert Frauen ? « ( » Die Ärmel enger , Miss Caroline . « ) » Natürlich haben Sie die Kaiserin gesehen ! Wie interessant muss das gewesen sein ! Aber von Toilette haben die Damen des Pekinger Hofes wohl nur wenig Idee ? « ( » Mehr Grazie im Faltenwurf , Miss Harriet , soignez la ligne . « ) » Sass die Kaiserin wirklich auf einem goldenen Drachen ? « ( »Miss Caroline , il faut avantager madame . « ) » Nein , es geht doch nichts über reisen und fremde Völker sehen . Aber man darf sie natürlich nicht wie uns beurteilen – es sind ja nur arme Heiden ! « ( »Miss Harriet , nehmen Sie noch einmal genau die Masse . « ) » Seien Sie versichert , dass wir alles aufs beste für Sie liefern werden . Wir interessieren uns ausserordentlich für Sie . Wir haben noch nie eine Kundin gehabt , die bei der Kaiserin von China gewesen ist . « Und so verdanke ich es denn der Kaiserin von China , wenn meine New Yorker Kleider wirklich ganz besonders schön ausfallen ! 10 New York , Oktober 1899 . Lieber Freund ! Haben Sie je von Charles William O' Doyle gehört ? anders auch » Chinalack-O' Doyle « genannt ? Dieser 50fache Millionär , der heute an der Spitze der grössten Eisenbahnen steht , der Bergwerke , Schiffe und Ländereien , gross wie ein Königreich , besitzt , hat seine Laufbahn vor Jahren als Apothekergehilfe in San Francisco begonnen . Wie er dahin gekommen , wer seine Eltern waren , erzählt er heute wahrscheinlich niemandem – aber Geduld , die nächste Generation der O' Doyles wird gewiss entdecken , dass die Vorfahren von Charles W. einst angesehene Grossgrundbesitzer in Irland gewesen , unter Cromwell ihres katholischen Glaubens halber verfolgt wurden , verarmten und , vom grünen Eiland vertrieben , nach Amerika auswandern mussten . In Amerika wird jetzt alles fabriziert , wie in Europa – auch Stammbäume ! Charles W. legte den Grund zu seinem Vermögen durch einen wahrhaft genialen Einfall . Er hatte in San Francisco Gelegenheit , die Chinesen zu beobachten , die damals noch massenweise frei nach Kalifornien einwandern durften und ebenso massenweise nach ihrem Tode in grossen schweren Holzsärgen nach Kanton zurückbefördert wurden . Chinesen glauben ja nun einmal nur im eigenen Lande regelrecht begraben werden zu können . Aber die schweren Holzsärge und der teure Transport verschlangen oft alles , was sich der Tote während Jahren erspart hatte , zum grossen Ärger der bezopften Erben . Da erfand Charles W. einen eigenen Lack , den er zuerst an allerhand toten Tieren ausprobierte . Damit bestrichen , konserviert sich jeder Tote monate- , ja jahrelang ; er dörrt vollkommen aus , wird hart wie Stein und erscheint , als sei er mit einer gelben Lederhaut überzogen . Charles W. nahm ein Patent auf seinen » Chinalack « und damit bestrichen legten nun Tausende toter Chinesen den Weg nach Kanton zurück . Die teuren , nach chinesischem Muster in San Francisco verfertigten Holzsärge waren erspart und der Preis der Überfahrt bedeutend verringert , denn man konnte nunmehr die toten Chinesen wie Sardinen in irgend einen Schiffswinkel fest aufeinander pressen und unterstauen , und sie kamen vollkommen unversehrt daheim an , den hart gedörrten gelben Enten ähnlich , die als grosse Delikatesse im San Franciscoer Chinesenviertel feilgeboten werden . Dies war die Grundlage der O' Doyleschen Millionen ! Seitdem macht Charles W. Geschäfte in allen Ländern der Welt , er ist längst aus San Francisco fortgezogen und nach New York übergesiedelt , aber er ist mit China stets in besonderen Beziehungen geblieben . Es wird gemunkelt , dass er , abgesehen von seinen grossen chinesischen Bank- und Bahninteressen , durch die Dankbarkeit seiner ersten chinesischen Klienten , denen sein Chinalack manch kleine Erbschaft erhalten , Anteile an kantonesischen Pfandinstituten , Teehäusern und Blumenbooten erworben hat . Mein Bruder kannte ihn schon lange , hat auch von Peking aus Geschäfte mit ihm gemacht , und so war denn Charles W. O' Doyle einer unserer ersten Besucher im Waldorf-Astoria , und gestern Abend waren wir zum Diner bei ihm . Sein Haus liegt dicht am Central-Park . Es hat hohe Türme und eine breite Bogen-Loggia , von der aus man in die herbstlich gefärbten Bäume des Parks und auf den fortwährenden Strom der vorbeifahrenden Equipagen blickt . Auf dem mit blitzenden Kupferplatten belegten Dach stehen zwei grosse Bronzereiter , ähnlich wie die auf dem deutschen Reichstagsgebäude , bei denen man sich auch immer staunend fragt , wie sie wohl da hinaufgeraten sind . Die Haustür ist massiv geschnitzt und entstammt einem alten befestigten Hause bei Golconda ; sie ist mit weit vorspringenden eisernen Spitzen versehen , die einst dazu dienten , den Anprall feindlicher Elefantenreiterei aufzuhalten . Durch diese Tür tritt man in eine weite , weissgoldene Halle . Zwei ägyptische Mumienkasten , reich bemalt und vergoldet , mit Deckeln , deren obere Enden Sperberköpfe darstellen , stehen aufrecht , wie Schildwachen zu beiden Seiten einer wunderbaren Malachittreppe , die zu den oberen Stockwerken führt . Es ist eine weltbekannte Treppe , über die die Lebemänner zweier Kontinente geschritten ; führten ihre Stufen doch einst zu jener berühmten Aspasia des zweiten Kaiserreiches , der sie ein russischer Grossfürst geschenkt . In der grossen débacle , die das Kaiserreich verschlang , verschwand auch jene Dame . Ihr mit Schätzen gefülltes Haus ward während der Belagerung von Paris durch feindliche Kugeln zerlöchert und dann von Kommunarden geplündert . Ein armenischer Antiquar , der mit richtiger Witterung guter Gelegenheiten in Paris in einem Keller versteckt geblieben war , erwarb in jenen Tagen für ein Spottgeld die Malachittreppe , und von ihm hat sie der jetzige Besitzer erstanden . Gepuderte Diener mit respektablen englischen Gesichtern standen sich auf den Treppenabsätzen stumm gegenüber . » Als der Herzog von Hardup neulich verkrachte « , erklärte mir Charles W. O' Doyle , » habe ich nach London telegraphiert und seine ganze Dienerschaft rüberkommen lassen – so war ich doch sicher , Leute zu haben , die in einem anständigen Hause trainiert wor den sind . « O' Doyle ist ein breitschultriger , stämmiger Mann . Sein rotes glattrasiertes Gesicht ist unter dem Kinn bis zu den Ohren von einem kurzen Bart umgeben , der einer Halskrause ähnlich sieht . Grosse Perlen prangen auf dem Hemde , eine Kette mit allerhand seltenen Berlocks hängt ihm quer über dem Magen . Mit dem spitzen vorspringenden Bauche , über dem sich die breiten haarigen Hände von kostbaren Ringen funkelnd kreuzen , mit dem gutmütigen , halb irischen , halb Yankeedialekt , in dem er fortwährend von seinen verschiedenen Kunstschätzen und ihrem Ursprung spricht , hält man ihn zuerst für einen eingebildeten , aber harmlosen Narren , bis sich unter den buschigen Augenbrauen einmal die schläfrig gesenkten Lider heben und man eine Sekunde lang in die seltsamen Augen blickt ; kalt und lauernd sind sie , wassergrün mit kleinen dunkeln Flecken , wie die gesprenkelte Schale von Kiebitzeiern – ; hat man einmal in sie hineingeschaut , so glaubt man gern eine jede der vielen Geschichten , die über O' Doyles Skrupellosigkeit im Gelderwerb kursieren . Mrs. O' Doyle merkt man es auf den ersten Blick an , dass sie aus der früheren Lebensepoche ihres Mannes stammt , und dass sie sich unter ihrer Perlenlast und zwischen den gepuderten Dienern nicht recht wohl fühlt . Von Zeit zu Zeit schaut sie ängstlich nach ihrem Mann , wenn sie sich einer besonderen gesellschaftlichen Schwierigkeit gegenüber sieht , oder wenn sie fürchtet , eine Dummheit gesagt zu haben . Ihr ängstliches , um Vergebung flehendes Benehmen und die kalten , lauernden Augen von O' Doyle – welche Faktoren für eine jener häuslichen Tragödien , die sich täglich neben uns abspielen , ohne dass wir es ahnen ! Die arme Frau hat es nicht einmal fertig gebracht , dem Hause O' Doyle Erben zu schenken – und Charles W. hat deshalb einen Neffen und eine Nichte an Kindesstatt angenommen . Der Sohn war nicht anwesend , dagegen die Tochter , Prinzessin von Armenfelde , die zur Zeit mit ihrem Manne in Scheidung liegt , weil Charles W. den stets von neuem verschuldeten Schwiegersohn nicht zum viertenmal von seinen Gläubigern retten will . So muss sich denn die Prinzessin scheiden lassen , ob sie selbst will oder nicht . Sie wird den Namen ihres Mannes behalten , und Charles W. findet , dass er ihn allmählich teuer genug bezahlt hat . Es war übrigens amüsant zu beobachten , wie sehr die » Prinzess « der ganzen Familie imponiert , obschon sie doch vor ein paar Jahren auch noch eine einfache Miss O' Doyle war , die aus einer Anzahl armer Verwandten zur Adoption ausgesucht wurde . Zwei entfernte junge Vettern von Mrs. O' Doyle waren auch anwesend . Der eine erfreut sich der klangvollen Vornamen Washington Montgomery . Ich war ganz gespannt , welcher Familienname für solchen Anfang hochtrabend genug sein würde , und denken Sie sich , er heisst Baggs . Washington Montgomery – Baggs ! Es ist ein Sprung wie von einem Palais am Central-Park in eine Mietskaserne der neunten Avenue ! Während die Gäste sich versammelten , zeigte mir Washington Montgomery einige der wundervollen Bilder , die in den Salons hängen , und die in seinen Augen hauptsächlich deshalb Wert haben , weil sie meistens aus historischen Sammlungen fürstlicher Häuser stammen , die unter dem Hammer endigten . Der zweite Vetter , dessen Name ich mich nicht entsinne , ist offenbar erst ganz kürzlich in das O' Doylesche Millionenreich verpflanzt worden . Als Champagner serviert wurde , ward er ganz aufgeregt und rief laut über den Tisch : » Drink , drink , gentlemen , whilst it 's fizzing ! « Der Speisetisch war übrigens ein wahres Entzücken ! Ich habe noch nie eine solche Fülle von Orchideen gesehen , ausser vielleicht in dem Botanischen Garten von Kalkutta . Ich hätte sie gern alle einzeln bewundert : die langen weissen Dolden , die vom Kronleuchter herabhingen , die grünlichen , braungeäderten , die wie kleine samtige Schuhe aussehen , in denen Feen nachts im Mondschein tanzen ; die grossen blasslila , die auf ihren hohen Stengeln so stolz und abwehrend erscheinen , bis dass man ihre verlangend geöffneten purpurnen Lippen gewahrt . Orchideen kommen mir immer vor wie manche schöne Frauen , in deren Nähe man gleich fühlt , dass sie wunderbare geheimnisvolle Dinge erlebt haben müssen . Ich wünschte , ich verstände die Orchideensprache ! Es werden darin gewiss die seltsamsten Geschichten erzählt . Bei diesem New Yorker Diner fehlte es übrigens auch nicht an Geschichten . Beim Öffnen der Servietten fiel jedem Gast ein Etui in die Hand , das irgendein Geschenk enthielt : Manschettenknöpfe , Portebonheurs , Nadeln , Schnallen . Alles im modernsten art nouveau-Geschmack ! Kolonel Patterson , der bisherige amerikanische Vertreter in Kairo , rief seinem alten Freund O' Doyle über den Tisch zu : » Aber Charles , wozu hast du denn das gemacht ? Hier ist doch niemand , der bestochen werden soll ? « Darauf stürzte sich der Kolonel in eine Flut türkischer Bestechungsgeschichten , die mir aber ziemlich zahm erschienen , weil ich drei Jahre lang chinesische Bestechungsgeschichten gehört habe und der fernste Osten darin dem näheren Orient doch noch über ist . Der Prinzess , die nie die Gegenwart der herzoglich Hardupschen Diener vergisst , war diese Konversation offenbar unangenehm , sie suchte den Kolonel davon abzulenken und fragte ihn , welche bedeutenden Leute er in Kairo gekannt habe , worauf sie die Antwort erhielt : » Well , Mrs. Princess , da ist ein Mann , der Cromer heisst , who bosses the show , und ausser ihm war ich da ! « Und nun , liebster Freund , genug aus diesem Vanity Fair ! Möchte mein Brief Sie wohl antreffen , wo Sie auch sein mögen , und möchten Sie nicht gar zu lang dort bleiben , wo » dort « auch sein möge , da es doch auf alle Fälle von mir sehr weit fort ist ! 11 New York , November 1899 . Lieber Freund ! Heute besuchten mich der alte Mr. Bridgewater und seine Töchter . Er hat lange Jahre in Europa zugebracht und war amerikanischer Gesandter in Petersburg , woher mein Bruder und ich ihn kennen . Jetzt lebt er mit seinen Töchtern ganz in New York und in Tuxedo Park . Er steht hier an der Spitze grosser , wohltätiger Institutionen , schriftstellert und reist häufig nach Europa , mit jener amerikanischen Leichtigkeit , die eine Art Gottähnlichkeit an sich hat , da sie über Raum , Zeit und Geld erhaben zu sein scheint . Mr. Bridgewater erzählte mir von der grossen Veränderung , die sich in Amerika seit dem Kriege gegen Spanien in der öffentlichen Meinung und in den politischen Anschauungen vollzogen habe . Diese Veränderung drückt sich in einem enorm gesteigerten Selbstgefühl aus . Die ganze Nation ist vom Glauben , zu etwas Besonderem bestimmt zu sein , erfüllt , ein Glaube , durch den schon soviel Grosses auf der Welt erreicht worden ist . Sie fühlt sich als politische Erwählte des Herrn . Und es ist eine ganz amüsante Mischung der Gefühle , vor denen man als Zuschauer steht : ganz trocken prosaische Berechnungen von künftigen Handelsvorteilen , die errungen werden sollen , und daneben eine beinah religiöse Begeisterung für den Beruf , andern Licht und Freiheit zu bringen , aber nicht etwa nur den wilden Völkern – da haben wir ja alle dieselbe Pretension , Händler und politischreligiöse Apostel zu sein – , sondern gerade auch uns armen , umnachteten Europäern . Amerika fängt an , nach allen Seiten seine Fühlfäden auszustrecken – kann wahrscheinlich gar nicht anders , denn man empfängt hier den Eindruck einer angesammelten Kraftfülle , die ungeduldig auf den Moment wartet , sich zu betätigen , der dabei gar keine Wahl bleibt , sondern die durch die Logik der Dinge getrieben werden wird , sich weitere Grenzen zu suchen , sich in immer neuen Weltfragen geltend zu machen . Wie der einzelne Amerikaner sich schon seit jeher stets den Besten jedes anderen Landes gleichgefühlt hat , und sein persönlicher Unternehmungsgeist keine Schranken kannte , so hält sich Amerika jetzt als Nation auch für fähig und berechtigt , alles zu erringen , was es will . Und was Amerika will , ist die Welt . Die Welt will ja jeder , der auch nur die geringsten Chancen hat , sie je zu besitzen – und die Chancen Amerikas sind unheimlich gut ! Schon deshalb haben die Amerikaner soviel Aussichten , ihre Ziele zu erreichen , weil sie alles mit ihrem grossen Sinn fürs Praktische , ihrer angeborenen Organisationsgabe anfassen ; weil es eine Nation selbständiger Menschen ist , die individuell genommen , dem Europäer überlegen sind . Ursprünglich stammen sie ja gerade von jenen ab , denen es in Europa zu eng und unfrei war , von Leuten , die durch ihr Unabhängigkeitsgefühl in neue Welten getrieben wurden , wo sich ihre Persönlichkeit ungehemmt entfalten konnte . Diese ererbte Eigenschaft bildet den Grundzug der neuen Rasse , und es hat sich in ihr eine ganz andere Initiative und persönliches Verantwortungsgefühl ausgebildet , als im alten Europa . Vor allem anderen lernen die Amerikaner für sich selbst zu sorgen und sich nicht auf die Führung anderer zu verlassen . Eine Folge ihrer kräftigen Jugendlichkeit ist es , dass sie die politische Nervosität , an der man in Europa so oft leidet , noch nicht kennen . Die in manchen europäischen Ländern so beliebte Beschwichtigungsformel : » Lasst nur die anderen koloniale Gebiete erobern , sie werden schon dran verbluten « , ist den Amerikanern ganz fremd . Eine Auffassung , die ungefähr so klingt , als ob ein Eunuche sich damit trösten wolle , dass man durch Liebesaffairen mitunter in Unannehmlichkeiten geraten kann . Die Nordamerikaner dagegen haben vorläufig durch Verkündigung der Monroe-Doktrin ihren ganzen Erdteil für Tabu erklärt , sie möchten aber am liebsten diese Doktrin auf die ganze Welt ausdehnen , wobei sie besonders den fernen Osten im Sinn haben , seitdem sie dort Fuss gefasst haben . – Vorläufig spricht man in Amerika freilich nur von friedlicher , kommerzieller Expansion , aber Überraschungen kann es auf diesem Wege leicht geben , denn seit dem spanischen Krieg gibt es in Amerika eine Partei , die keine Scheu mehr vor europäischen Mächten kennt und sich allen ebenbürtig glaubt . Diese Leute würden bereit sein , es mit jedem aufzunehmen und , wie Mr. Bridgewater durchblicken liess , am liebsten mit dem , den sie für den gefährlichsten Konkurrenten halten . Mr. Bridgewater warf die Bemerkung hin , dass an England als möglichen Feind am wenigsten gedacht werde . Mit ihrer einstmaligen Mutter würden die Amerikaner am liebsten gemeinsame Sache machen , um eine Art politischen Riesentrust zu schliessen , zur endgültigen Regelung der Welt . Das ist das Weltzukunftsbild , wie es mir ein Amerikaner entwarf . Ich sende es Ihnen in jenes ferne Land , dessen urprosaische , enthusiasmuslose Söhne nur in den Sorgen der täglichen Gegenwart aufgehen und nie Spekulationen über die Zukunft anzustellen scheinen . Und doch könnten vielleicht gerade diese , allen Zukunftsgedanken so abgewandten Leute in der Weltzukunft ein grosser Faktor werden – – denn über uns allen steht das Schicksal , und es lässt Handlungen und Gedankenströmungen , einzelne Menschen und Völker oftmals genau den entgegengesetzten Zwecken nützen , denen sie ursprünglich dienen wollten . 12 New York , November 1899 . Lieber Freund ! Wir haben einen sehr angenehmen Abend bei Bridgewaters verbracht . Schon ihr Haus zu sehen , ist eine wahre Freude . Alle Räume sind mit individuellem Geschmack eingerichtet und mit viel schönen Dingen geschmückt , die Mr. Bridgewater und seine kunstsinnigen Töchter auf ihren Reisen gesammelt haben . Das Haus hat seine eigene Physiognomie , viel Erlebtes liegt darin und es bleibt uns in der Erinnerung , wie eine ausgeprägte Persönlichkeit . Der alte Mr. Bridgewater ist in diesem Hause geboren und bewohnt es jetzt mit Kindern und Enkeln – das ist in New York an sich schon eine Merkwürdigkeit . Nach dem O' Doyleschen Fest war dieses Diner wie die Offenbarung einer anderen amerikanischen Welt – und beide Häuser liegen doch nur ein paar Blocks von einander entfernt ! Wir hören aber so viel von der amerikanischen Gleichheit reden , davon , dass der Präsident aller Welt die Hände schüttelt , dass wir leicht auf den Gedanken kommen könnten , die amerikanische Gesellschaft sei eine einzige gleiche Brühsuppe , aus der , als Klösse , nur etliche Vanderbilts herausragen . Aber ganz im Gegenteil . Die hiesige Gesellschaft zerfällt in zahllose verschiedene Koterien , die himmelweit von einander entfernt sind . Es sind ja alles Amerikaner , und gewisse Rasseneigenschaften werden sie wohl gemeinsam haben , aber zwischen der O' Doyleschen und der Bridgewaterschen Koterie z.B. ist ein Unterschied , wie zwischen einem rohen Stück Rindfleisch und einem im Café Anglais servierten Tournedos à la Rossini . Und die Tournedos achten strengstens darauf , dass niemand von den Rindfleischens sich bei ihnen einschmuggele . Im Sinn für aristokratische Exklusivität , haben die Amerikaner uns Europäer vielleicht schon überflügelt . Ein jeder , der etwas auf sich hält , muss hier in der Wahl seines Umgangs auch deshalb selbst so streng sein , weil die Amerikaner niemand haben , der die nötige erhabene Stellung einnimmt , um einem anderen den allgemein gültigen sozialen Segen erteilen zu können . Ich hörte kürzlich eine Amerikanerin sagen , das sei in europäischen Städten , wo es Höfe gibt , so bequem , da könne man ruhig all die Leute kennen , die zu den kleinen , auserlesenen Hofgesellschaften befohlen würden ( nicht etwa zu den grossen Aufwaschefesten , da liefe zu vieles mit durch ) ; aber von denen , die auf der kleinen Liste ständen , könne man mit Sicherheit annehmen , dass sie sozial wünschenswert seien . Aber in Amerika gibt es kein offizielles soziales Haarsieb . Bei Mr. Bridgewater wird offenbar sehr fein gesiebt , und ich habe da angenehme Menschen getroffen . Ich glaube , die Gäste waren alle reich . Ich habe aber für diese Annahme nur den einen Anhaltspunkt , dass sie vieles als durchaus selbstverständlich ansahen , von dem ich weiss , wie schrecklich teuer es hier ist . Keiner von ihnen erwähnte Geld oder Geschäfte . Ich glaube , man könnte ihren » set « den der Geistesaristokratie nennen . Nur darf man in diesem Fall den Begriff Geistesaristokratie nicht mit Schlapphüten , übergeknöpften Manschetten und Smoking-Jacken am Vormittag in Verbindung bringen . Ich sass bei Tisch neben einem Mr. Anstruther , der zum Klub der vierzig amüsantesten Männer New Yorks gehört . Er war recht nett und unterhaltend , äusserte aber leider nichts so erstaunlich Amüsantes , dass es nicht auch ausserhalb dieses Klubs hätte erdacht werden können . Ich wartete den ganzen Abend darauf , wie auf das Bukett beim Feuerwerk . Aber es stiegen nur einzelne Raketen auf . Es gehört doch Selbstvertrauen dazu , sich um die Mitgliedschaft dieses Klubs zu bewerben ! Ich fragte , was man denn täte , wenn man blackballiert würde , und ob man dann sein Lebenlang die Etikette trüge , ein langweiliger Mensch zu sein ? Mr. Anstruther antwortete : » Dann geht man nach Hause und schreibt ein gescheites Buch und nennt es : a clever book by a bore . « » Das ist möglicher , als es zuerst klingt , « meinte Bridgewater , » denn es ist leichter , ein gescheites Buch zu schreiben , als im täglichen Leben amüsant zu sein – Bücher werden mit dem esprit d' escalier geschrieben , der häufig vorkommt , amüsant ist man durch die viel seltenere Gabe der repartie , und vor allem durch Sinn für Humor . « » Und wegen dieses Sinns für Humor sind amüsante Menschen eigentlich nie lustige Menschen , « sagte Anstruther , » denn der Humor sieht die traurige Komik des Lebens , den Widerspruch zwischen Aspirationen und Leistungen , zwischen dem , was man sich einbildet , und dem , was wirklich ist . Humor existiert deshalb auch selten bei jungen Menschen , er kommt mit den Jahren , und in gleichem Masse , wie er wächst , schwindet die Fähigkeit eigentlicher Lustigkeit . « Da Mr. Bridgewater soviel im Ausland gelebt hat , sind Fremde häufig bei ihm zu Gaste , und wir trafen dort eine russische Witwe , Madame Baltykoff , eine Schriftstellerin , die Mr. Bridgewater in Petersburg gekannt hat und die nach New York gekommen ist , um das amerikanische Leben zu studieren und dann das unvermeidliche Buch darüber zu schreiben . Madame Baltykoff ist jung und hübsch , voller Interesse und Begeisterung für amerikanische Einrichtungen ; natürlich erwidern das die Amerikaner , indem sie ihrerseits von Madame Baltykoff begeistert sind . Anstruther scheint besonders für sie zu schwärmen . Mir gefällt an ihr , wie sie aus dem Enthusiasmus leicht in Witz und Spott überspringt , alles plötzlich wieder in Frage stellend . Heiliger Ernst und Blague , ungefähr zu gleichen Teilen – eine echt slawische Mischung . Die Amerikaner , die bei dem Diner zugegen waren , sind alle weitgereiste und gebildete Leute , besonders auch die Frauen . Aber keiner von ihnen scheint tätigen Anteil am amerikanischen politischen Leben zu nehmen . Sie waren offenbar stolz auf ihr Land , aber sie schienen es als einen Eilzug anzusehen , mit dem sie gern zu reisen bereit sind , aber dessen Führung sie lieber andern überlassen . Denn in Amerika zeigen gerade die Besten eine gewisse Scheu davor , sich an den öffentlichen Angelegenheiten handelnd zu beteiligen – na , um so besser , denn es ist auch so schon ein genügend gefährlicher Konkurrent . Der alte Mr . Bridgewater schien am meisten Interesse an Regierungsgeschäften zu nehmen ; vielleicht ist es eine Folge seines langen Aufenthalts in Ländern , wo die geringste Verbindung mit der offiziellen Welt denjenigen Glanz verleiht , den hier eine noch so entfernte Verwandtschaft mit den Vanderbilts oder Astors gewährt . Von Mr. Bridgewater geleitet , langte die Konversation bald beim Imperialismus und der wachsenden Wichtigkeit der Vereinigten Staaten an . Mr. Bridgewater sagte : » Ich möchte ein Buch schreiben über den Eintritt Nordamerikas in das Konzert der Mächte , denn das ist die wichtigste Tatsache am Schluss des Jahrhunderts , und sie bedeutet nicht nur eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse , sondern sie wird weittragende geistige Konsequenzen haben . Durch den zunehmenden Verkehr mit uns werden die Europäer von den amerikanischen Gedankengängen und von unsern Geschäftsmethoden beeinflusst werden . Wir sind daran gewöhnt , über alle Dinge , die uns angehen , informiert zu werden und sie frei zu diskutieren , und es ist schon jetzt bemerkbar , dass , sobald Amerika an einer Weltfrage beteiligt ist , diese Frage ganz anders ungeniert von den Zeitungen erörtert wird , als wenn es sich um rein europäische Angelegenheiten handelt . Je mehr aber die Zahl der Fragen zunimmt , in denen Amerika eine Rolle spielt , um so mehr wird auch diese Methode angewandt werden . Das ist ein erster Schritt , um die Europäer zu einem stärkeren Wunsch nach Selbstbestimmung und einem höheren persönlichen Verantwortlichkeitsgefühl zu erwecken ; so werden sie lernen die Volksrechte höher zu schätzen und werden verlangen , über ihre eigenen Angelegenheiten auch selbst gehört zu werden ; sie werden sich nicht mehr damit begnügen , blind geführt zu werden , wie es heute noch in allen auswärtigen Fragen geschieht . Nichts ist ansteckender als gewisse Ideen . Früher waren wir es , die alles aus Europa entnahmen , aber das ist längst anders geworden ; heute sind wir schon beinah völlig unabhängig von der alten Welt und wir senden ihr Korn , Fleisch , Konserven und eine stetig zunehmende Zahl anderer Artikel – aber viel wichtiger als all das ist , dass die amerikanischen politischen Ideen Europa überfluten werden . « » Halten Sie es wirklich für denkbar , dass amerikanische Anschauungen über Verfassungen sich in Europa verbreiten werden ? « fragte Madame Baltykoff eifrig . » Im letzten Ende ganz sicherlich ja « , antwortete Mr. Bridgewater . » Da bin ich doch anderer Ansicht « , sagte mein Bruder , » denn das Wachsen der imperialistischen Tendenz in den Vereinigten Staaten , die Sie uns eben als wichtigste Tatsache dieses Jahrhundertsendes geschildert haben , ist ein speziell europäischer und monarchischer Zug . Je mehr Gewicht der äussern Expansion und einer starken auswärtigen Politik beigemessen wird , um so mehr werden die Volksvertreter , die sich notwendigerweise mehr mit inneren Fragen beschäftigen müssen , an Bedeutung verlieren . Eine grosse imperialistische Politik bedingt die Herrschaft einzelner grosser Führer , und da haben die Länder den Vorteil , wo ein einzelner Mann an der Spitze des Staates steht . « » Sehen Sie , Bridgewater « , sagte Anstruther lachend , » dieser Fremde prophezeit uns einen Kaiser , wenn wir auf dem Pfade der Intervention , Protektion , Expansion , der Kriege und des Inselschluckens verharren . « » So wollen wir ihn aus dem Klub der Vierzig wählen « , antwortete unser Wirt , » dann werden wir sicher sein , dass er gescheit ist . « » Ja , gescheit und voll moderner Ideen sollte Sam I. von Amerika freilich sein – sonst müsste er sich ja vor den europäischen Kollegen schämen . « Auf dem Heimweg sprachen mein Bruder und ich davon , wie oft man hier die Empfindung bekommt , dass die Amerikaner uns Europäer als bemitleidenswert zurückgeblieben ansehen . Nachdem sie uns moderne Geschäftsmethoden gelehrt haben , wollen sie uns jetzt mit modernen Prinzipien im allgemeinen versehen und mit allem , was uns sonst auf geistigem Gebiet fehlen mag . Klingt das nicht sonderbar ? Und sie haben doch eigentlich alles von uns , stehen auf unseren Schultern . Mein Bruder sagt , er erinnere sich noch sehr gut der Zeit , wo man nach Amerika kam und für alles so ein gewisses elterliches Wohlwollen hatte ; die Amerikaner fragten damals begierig , ob man wirklich alles bei ihnen » sehr gross « fände , und freuten sich , wenn man was lobte . Jetzt sind sie überzeugt , uns überflügelt zu haben . Na , es muss ja vorkommen , dass Kinder ihren Eltern über sind – wie wäre sonst das erste Genie entstanden ? 13 New York , Dezember 1899 . Lieber Freund ! Wir sind seit einigen Tagen aus dem ebenso schönen wie teuren Waldorf-Astoria fortgezogen und haben sehr nette Zimmer in einem Boarding House in der Nähe des Central-Parks gefunden , wo auch Mme. Baltykoff wohnt . Ta ist natürlich bei uns und bildet hier wie im Waldorf die Freude der weissbemützten Stubenmädchen . Er ist hier viel weniger reserviert gegen uns als in Peking . Dort erfuhren wir eigentlich nie etwas über das Leben unserer Boys . Sie waren immer da , wenn man sie brauchte , verrichteten ihre Arbeit lautlos , kannten all unsere kleinen Gewohnheiten offenbar ganz genau – aber mit dem Augenblick , da sie aus unseren Häusern hinaus auf die Strasse traten , verloren sie sich in einer uns unbekannten Welt , und von diesem Teil ihres Lebens hörten wir nie ein Wort . Nur wenn sie mal einen etwas längeren Urlaub haben wollten , hiess es , ihr Vater oder ihre Mutter lägen im Sterben . Anfänglich rührte mich das sehr , ich bewilligte ihnen immer den Urlaub , bot ihnen auch Arzneien an . Aber sie hatten wirklich zu viel sterbende Väter und Mütter – mein Vorrat an Mitgefühl ward so sehr beansprucht , dass er sich schliesslich erschöpfte . Hier ist es ganz anders ; Ta ist oft recht mitteilsam gegen mich und erzählt mir von den Stubenmädchen , die ihn seines langen Zopfes halber gern als Dame verkleiden und ihn sogar auf einen ihrer Bälle mitgenommen haben . Hier bin ich ihm offenbar » Vater und Mutter und Beschützer der Armen « , wie die Inder sagen ; ich erscheine ihm als einziges Bindeglied zwischen seinem früheren und jetzigen Leben . Seitdem er hier so viel Neger gesehen , hält er , glaube ich , weisse Leute überhaupt für beinahe stammverwandt . » Das sind keine Menschen , das sind schwarze Teufel « , sagte er ganz ernsthaft , und will keinesfalls zugeben , dass sie Christen wie er sein könnten . Auf andere herabzuschauen , ist für Wesen aller Nüancen nun mal eine freudige Genugtuung . Ta hat ein paarmal Briefe von seiner Heimat bekommen . Er ist an solchen Tagen immer sehr still und traurig , und ich fragte ihn , ob er Heimweh habe . Er antwortete , nein , gar nicht , er sei sehr gern hier , aber seine alte Mutter liesse ihm immer schreiben , er solle doch wieder kommen , sie möchte ihn gern bei sich haben . » Ist es nicht eher deine junge Frau ? « fragte ich . » Oh nein ! « rief er entrüstet , als habe ich ihn einer beschämenden Schwäche beschuldigt , » Frau gar nichts , Mutter alles ! « Mein Bruder hat nun für die Mutter Geld nach Peking geschickt , was sie hoffentlich beruhigen wird . Mit Tas Hilfe habe ich jetzt ausgepackt und unsere Wohnung eingerichtet . Es war eine solche Freude , all die lieben gewohnten Dinge wiederzusehen : die Nephritschalen und Bronzevasen , die Figuren des Laotse , mit dem langen Kopf , aus Elfenbein geschnitzt , die chinesischen Sammte , die mit dem Alter einen ganz chinesischen Charakter angenommen haben , die feinen verblassten Damaste und Stickereien . Ich habe alles möglichst so gestellt und drapiert , wie es im Pekinger Häuschen war ; in der Dämmerstunde , wenn Ta lautlos ins Zimmer tritt , glaube ich manchmal , wieder dort zu sein und würde mich gar nicht wundern , wenn er Sie anmeldete . Auch einen Buddha-Altar habe ich über dem Kamin aufgebaut , und da thronen all die seltsamen Gestalten , die Sie allmählich bei bestechlichen Bonzen , in verlassenen Tempeln und verstaubten Antiquarläden für mich aufgestöbert haben . Noch ehe ich Sie in Peking kannte , hatte ich die Manie , Buddhas zu sammeln . Ich hatte mehrere von Händlern gekauft , die sie , in ihren weiten Ärmeln versteckt , zu uns trugen und dabei geheimnisvoll flüsterten , diese Götzen stammten aus kaiserlichen Tempeln , und es sei ein grosses Risiko , sie zu mir zu bringen . Ich zeigte Ihnen sehr stolz diese Schätze ; Sie schauten sie einen Augenblick prüfend an und sagten dann : » Gar nicht übel für moderne europäische Imitation « . Das war ein harter Schlag , und ich war Ihnen zuerst beinah böse , denn nichts tut weher , als liebe Götzen zu verlieren . Und ich hatte die meinigen so ehrerbietig behandelt und immer frische Blumen vor sie hingestellt ! Aber es sei Ihnen verziehen , denn Sie haben die falschen Buddhas durch wahre ersetzt , und das tun die wenigsten Leute , die andern ihre Götter nehmen . Es ist ja auch nicht eben leicht ! – 14 New York , Dezember 1899 . Die letzten Tage , lieber Freund , sind noch ganz der Wohnungseinrichtung gewidmet gewesen . Sie wissen ja , wie sehr ich von meiner äusseren Umgebung abhänge . Milde warme Farben , edler Faltenwurf , schöngeschweifte Linien sind mir physisch wohltuend . Vielleicht erheben sich die wirklich grossen Geister über die äusseren Dinge und lassen sich nicht von ihnen störend beeinflussen ; aber ich bin nur ein ganz kleines Geistchen , fürchte mich vor dem Meer des Alltäglichen , Hässlichen , und fühle mich nur behaglich , wenn es mir gelungen , mir eine eigene kleine Insel zu schaffen und sie meiner persönlichen Eigenart entsprechend zu gestalten . Ich suche auch immer mich über das Nomadenhafte meines Lebens hinwegzutäuschen , indem ich unsere jeweilige Wohnung mit einem Eifer und Ernst dekoriere , als solle sie ein alles überdauerndes Stammschloss werden – und sie ist doch nie etwas anderes , als ein Zelt , das immer wieder abgebrochen und von neuem an anderm fremden Ort aufgeschlagen wird . In manchen der Häuser , die wir im Lauf der Jahre bewohnten , habe ich sogar Tür und Decken bemalt ; heute neckte mich mein Bruder damit und fragte , ob ich diesem New Yorker Boarding House auch solche dauernde Erinnerungen meines vorübergehenden Aufenthaltes hinterlassen wolle . Das habe ich nun zwar nicht vor , aber , nachdem ich es nun etwas wohnlich um uns gestaltet habe , will ich wieder meine Malereien aufnehmen . Unser Wohnzimmer hat ausgezeichnetes Licht , so dass es als Atelier dienen kann , und da mein Bruder erst nachmittags zurückkommt , habe ich den ganzen Tag dafür frei . All meine chinesischen Skizzen sind hier , und ich habe manche an die Wände gehängt , lauter alte Bekannte von Ihnen , zu denen nun noch japanische und kanadische gekommen sind . Als ich in all den Bogen blätterte , fiel mir die Pekinger Zeit so besonders lebhaft ein und die kleine Bilderausstellung , die ich vor unserer Abreise dort arrangierte . » Premier Salon de Pékin « wurde sie genannt , und ich verkaufte eine Menge Skizzen ! Wenn ich so durch mein Malen ein paar hundert Dollar verdiene , fühle ich mich so stolz , so self made , als sei ich Charles William O' Doyle inmitten seiner Millionen ! In grauen leeren Tagen , als die Welt für mich nichts mehr zu enthalten schien , habe ich zuerst zu malen begonnen , wie eine Zerstreuung , eine Rettung vor den ewig gleichen , quälenden Gedanken . In den langen Wanderjahren mit meinem Bruder ist es dann allmählich meine grosse Lebensfreude geworden , der befreiende Ausdruck des innerlich Erlebten . Und noch in anderem Sinn ist das Malen mir zu einer Lebensfreude geworden , denn wenn ich ein Bild verkaufe , bedeutet das Butter zu meinem täglichen Brot , d.h. die Möglichkeit , mit solchem kleinen Verdienst andern helfen zu können , denen es weniger gut geht als mir . Bei Ihnen fand ich gleich Interesse für mein Malen . Wie viel haben Sie mir erzählt von Kunst und Künstlern all der Länder , in denen Sie gelebt , wie oft haben Sie mich zu malerischen Punkten im altersgrauen Peking geführt , die sonst Fremde wohl nie zu sehen bekommen und deren völlige Eigenart so manches Motiv bot ? Wenn Sie mir so den Zutritt zu einem sonst stets verschlossenen Tempel verschafften und ich seltsame Götzen oder stille Klosterhöfe malte , in denen das Licht zwischen den Zweigen uralter Bäume spielte und über einen gelbgekleideten Priester glitt , der am Sockel eines riesigen mit Patina überzogenen Bronzelöwen lehnte und weltentrückt den buddhistischen Rosenkranz durch die Finger gleiten liess – wie manchesmal habe ich da Ihre Augen auf mir ruhen gefühlt und eine neue Arbeitslust , ein grösseres Können empfunden durch die Macht der Freude , die Sie an mir hatten ! – Von einem andern in unseren liebsten Beschäftigungen , in unserer individuellsten Eigenart verstanden zu werden , ist wie eine geistige Liebkosung . So vieles erstirbt ja in uns , aus Mangel an etwas Interesse und Pflege . Und jene , die am meisten in uns getötet und begraben haben , sind oft , die uns am nächsten standen . Haben Sie Dank , lieber Freund , für alles , was Sie in mir geweckt und gepflegt haben , für all die Blumen , die geblüht haben , weil Sie sich daran freuten . 15 New York , 25 Dezember 1899 . Es ist wieder Weihnachten geworden , lieber Freund ! Weihnachten in einem Lande , wo ich das Fest noch nie erlebt habe , wo es mir darum besonders fremd vorkommt . Warum haben wir nur diesen rührenden und zugleich etwas komischen Zug , an bestimmten Jahrestagen so besonders zu hängen ? Was wissen wir eigentlich von dem Tag der Geburt Christi und was ist uns dieser Tag ? Und doch , so wenig Bedeutung er für viele unter uns heute noch in der Hast des Lebens hat , und so wenig wir von Frieden auf Erden wissen , an diesem Jahrestage scheint es uns , als hätte jeder Mensch ein besonderes Recht auf Freude , und wir stecken viel Lichtchen an , um doch ja die Freude sehen zu können , falls sie wirklich mal zu uns käme . Aber bei uns Einsamen , die wir in fremden Welten leben , pocht gerade an dem Abend selten die Freude an die Tür . Andere Gäste sind es , die uns besuchen . Vor allem ist es die alte Frau Erinnerung , deren Bilderbuch mit jedem Jahr dicker wird . Als ich gestern Nachmittag die Kerzen am Bäumchen in unserm Wohnzimmer angezündet hatte und meinen Bruder hereinrief , huschte die alte Frau auch gleich durch die offene Tür ins Zimmer herein . Den ganzen Tag schon hatte ich gefühlt , dass sie draussen stand und nur auf den Moment wartete , hereinzuschlüpfen , und den ganzen Tag hatte ich ihr immer die Tür vor der Nase zugeschlagen , denn ich fürchte mich ein bisschen vor der alten Frau und ihrem grossen Bilderbuch . Aber nun stand sie neben uns . Ta , dem auch aufgebaut wurde , hatte sie wohl eingelassen . Und wie es raschelte und knisterte in den Blättern des grossen Bilderbuchs ! wie es darin lebendig ward und längst verstummte Stimmen wieder klangen in vergessenem Lachen und verhalltem Schluchzen . Lauter Dinge , die einst gewesen , füllten das Zimmer und umwogten uns ; kleine graue Geisterchen sassen lichtbeschienen in den Zweigen des Weihnachtsbaumes und flüsterten leise von Vergangenem ; und auch all das , was nie gewesen , was nur gewünscht und ersehnt worden – nun lebte es für den einen Abend wieder auf . Am längsten verweilte ich bei den letzten Blättern des Bilderbuches . Die Weihnachten in Peking standen wieder vor meinen Augen . Erinnern Sie sich des einen Jahres , als der arme junge Mc Intyre krank war und wir ihm ein Bäumchen brachten ? Ich sass in der Sänfte und hielt die winzig kleine geschmückte Tanne auf dem Schoss , und Sie gingen nebenher und ermahnten die Kulis , mich behutsam durch die holprigen , hart gefrorenen Strassen zu tragen . Erinnern Sie sich der Freude des armen Jungen , als wir dann bei ihm eintraten und unser glänzendes Bäumchen auf den Tisch vor ihm aufbauten zwischen den Photographien seiner fern in Schottland lebenden Eltern und Geschwister , die er sich für diesen Abend recht nah an sein Bett hatte heranrücken lassen ? Und erinnern Sie sich der Bescherungen in unserem lieben chinesischen Häuschen , zu denen Sie und ein paar Freunde meines Bruders jedesmal kamen ? Tagelang vorher war grosse Aufregung , um für jeden eine Überraschung in den Kuriositätenläden aufzutreiben , und als erst die Bahn eröffnet war , fuhren unternehmungslustige Leute nach Tientsin , um zu schauen , was etwa die dortigen europäischen Magazine böten . Sie , lieber Freund , entdeckten aber immer die reizendsten Dinge ! Vor mir steht heute die kleine altfranzösische Bronzenuhr , die einst in der Direktoire-Zeit nach China kam , und die Sie von Pekinger Palastbeamten erstanden und mir unter dem Weihnachtsbaum aufbauten . Das Piedestal ist noch ganz im Stile Ludwig XVI. mit Delphinen und feinen Guirlanden geschmückt ; darüber erheben sich vier Drachen , die die Uhr tragen , kuriose Geschöpfe , in denen der französische Künstler möglichst dem nahe zu kommen suchte , was ihm als chinesisch vorschwebte . Über der Uhr , auf einer kleinen Weltkugel , steht ein gallischer Hahn , der offenbar nach Freiheit kräht , aber ein so skeptisches Gesicht macht , als glaube er schon längst nicht mehr daran . Als Sie mir diese Uhr schenkten , sagten Sie : » Die passt so gut zu Ihnen : ein Fundament altererbten Geschmacks , der von vielen Generationen herstammt ; die Drachen , der Hang zum Absonderlichen , der Zug zum Unbegreiflichen , Mystischen , der in uns erwacht , je mehr wir sehen , dass das Exakte , Vernünftige , Realistische doch nichts erklärt und schliesslich immer wieder alles mit einem grossen Fragezeichen endet – und als Spitze des ganzen Gebäudes der kleine tapfere Hahn , der nach Aufklärung und Freiheit quand même ruft , der viel graue , trübe Tage erlebt hat und zu sagen scheint , nach all dem Krähen müsste die Sonne doch endlich aufgehen . « Ja , das alles und noch so vieles mehr steht auf den letzten Blättern des grossen Bilderbuchs ! Mein Bruder und ich sassen in dem New Yorker Boarding-House-Zimmer unter dem Weihnachtsbaum , hielten uns schweigend an der Hand und dachten vergangener Zeiten. Ta löschte eins nach dem andern die Lichtchen aus , die herabgebrannt waren – ganz wie an anderen Weihnachtsabenden . Manchmal fingen ein paar grüne Tannennadeln Feuer , knisterten und glühten , und ein harziger Waldduft zog durchs Zimmer – ja , ganz wie an allen Weihnachtsabenden ! – 16 New York , 26. Dezember 1899 . Gestern , lieber Freund , ward ich unterbrochen und musste meinen Brief schliessen , ohne Ihnen unsern ganzen Weihnachtsabend geschildert zu haben . Denn er war mit unserm kleinen Aufbau nicht zu Ende , sondern wir waren noch zur Bescherung im Hause unseres Konsuls eingeladen . Mit allerhand Paketen beladen , fuhren wir auf der Hochbahn dorthin . Nach längerem , vergeblichen Klingeln öffnete uns der Konsul selbst die Haustür und entschuldigte sich , » der Sam sei wohl beim Tischdecken « . Dann führte er uns in sein kleines Arbeitszimmer , wo wir einige deutsche Herren trafen , darunter auch den Generalkonsul mit seinem herzerfreuenden , ansteckenden Lachen . Der Konsul ist vor einigen Monaten hierher ernannt worden , und seine Frau ist ihm erst vor ein paar Tagen aus ihrer Schwarzwaldheimat mit ihren zwei kleinen Kindern nachgereist . Es ist ein rührend deutscher Zug , dass sie sich , selbst kaum eingerichtet , zu diesem Abend gleich einige Landsleute eingeladen haben , die ihn sonst allein mit ihrem Heimweh verlebt hätten . » Meine Frau baut auf , « sagte der Konsul . Da kam sie schon selbst herein , sehr jung , mit aschblonden Zöpfen um den Kopf gesteckt , erstaunten blauen Augen , das ganze Gesichtchen von der Arbeit gerötet . Auf dem Arm trug sie einen dicken , einjährigen Jungen , mit denselben erstaunten blauen Augen ; und neben ihr trippelte ein kleines , dreijähriges Mädchen , das mit wichtiger Miene eine Klingel hielt . » Es ist alles fertig , « rief sie , » Evchen , nun klingle mal schön . « Und Evchen klingelte , und wir alle folgten in das Wohnzimmer , wo der Baum strahlte . Mit Ketten , vergoldeten Nüssen , Äpfeln , Pfefferkuchen war er geschmückt – sicher genau nach dem Vorbild , das die Frau Konsul bei ihrer Grossmutter und Mutter in dem kleinen Schwarzwaldstädtchen gesehen hat . Es war sehr heimatlich . Man vergass dabei die hastende , neue Stadt da draussen und fühlte sich in eine alte Welt zurückversetzt , wo der Wechsel so langsam vor sich geht , dass sie eigentlich still zu stehen scheint . Der kleine Junge wurde auf den Teppich gesetzt und ein zusammenlegbares , unzerreissbares Bilderbuch um ihn aufgestellt , und wir halfen der Frau Konsul die Kiste auspacken , die von ihrer Mutter gekommen war . Wie sorgfältig war alles gepackt , in Seidenpapier eingewickelt , mit blauen Bändchen jedes einzelne Paket gebunden und ein Zettel dran gesteckt , mit ein paar lieben Worten für den Empfänger in zittriger Handschrift darauf geschrieben . Lauter Dinge waren darin , die man in New York ganz ebenso bekommen kann . Recht unpraktisch und doch so rührend deutsch ! Selbstgestrickte und gehäkelte Dinge für die Kinder , selbstgebackener Kuchen und Würste von dem für Weihnachten geschlachteten Schwein , und auf dem Grund der Kiste ein paar dicke wissenschaftliche Bücher für den Herrn Konsul und , in modernstem Rahmen , eine grosse Photographie von Böcklins geigendem Mönch , dem die Engelchen lauschen . – Liebes altes Deutschland ? Wäre doch Dein Raum so gross wie Dein Gemüt , dass all Deine fern verstreuten Kinder bei Dir Platz fänden ! – Evchen hatte sich den Böcklin andächtig betrachtet , nun lief sie ans Fenster und drückte sich das Näschen an den Scheiben platt . » Was machst Du denn da , « fragte ich sie . » Ich gucke , ob da draussen auch Engelchen herumfliegen , « antwortete sie und setzte dann hinzu : » nein , hier gibt 's keine . « Ich schaute mit dem Kind hinaus in die Strasse mit den vielen gleichmässigen Häusern , an deren einem Ende , ganz nah von uns , eine Station der Hochbahn war . Ein hellleuchtender Zug kam herangesaust , hielt einen Augenblick und brauste dann weiter . » Der Eisenbahn gefällt es hier nicht , « sagte Evchen , » sie eilt sich so sehr her zu kommen und dann geht sie immer ganz schnell wieder fort . « » Liebes Kind , « sagte der Konsul zu seiner Frau , » gibt es nicht bald was zu essen ? « Sie fuhr aus all den heimatlichen Paketen empor : » Aber ja , es muss alles schon fertig sein . « Sie klingelte , aber Ursache und Wirkung folgten nicht aufeinander . Nun ging sie hinaus , kam aber bald mit bestürztem Gesicht zurück , trat an ihren Mann und sagte leise : » Willst du nicht lieber mal mit ihm reden ? « Nun ging der Konsul hinaus , und bald hörten wir erregte Stimmen und darauf etwas Schweres , das die Treppe hinabpolterte . Der Konsul kam wieder herein , etwas aufgeregt und ausser Atem : » Meine Herrschaften , ich bitte sehr um Entschuldigung – ein kleiner amerikanischer Zwischenfall – der Neger Sam war schwer betrunken – ich fand ihn , mit dem Eidamer Käse Ball spielend . – Da habe ich die Rollen umgekehrt und mit ihm etwas Ball gespielt – und dabei ist er die Treppe hinab und auf die Strasse geflogen . « » Und als ich vorhin draussen war , « erzählte die Frau Konsul mit kläglicher Stimme , » ass er die Austern auf und sagte mir , er nähme ja nur die schlechten , um uns vor Vergiftung zu bewahren . « Der Generalkonsul lachte in seiner herzhaften Art , und wir alle stimmten mit ein . Und dann folgte das komischste Weihnachtssouper , das ich je mitgemacht , denn es stellte sich heraus , dass die irische Köchin dem schwarzen Sam nachgelaufen war . So gingen wir denn mit der Frau Konsul in die Küche , retteten , was zu retten war , trugen die Gerichte hinauf in das Speisezimmer und sprachen ausserdem tüchtig den Würsten zu , die wir aus der Weihnachtskiste ausgepackt hatten . Als wir Abschied nahmen , sagte unsere Wirtin : » Sie müssen schon entschuldigen – es ist hier halt alles so anders , als daheim in Baden . « 17 New York , 1. Januar 1900 . Lieber Freund ! Möchte das Jahr Sie mit allem Guten beschenken , das ich Ihnen wünsche ! Gleich die ersten Gedanken heute früh flogen hinaus über die grollenden Wintermeere und die weiten hart gefrorenen Ebenen , in denen der Sturm heult , flogen aus , Sie zu suchen , und konnten Sie nicht finden , und flattern nun weiter unstet umher , können nirgends zur Ruhe kommen , sehnen sich so sehr , Ihnen ein kleines Zeichen zu geben . Alles Schöne und alles Glückliche möchte ich in Ihr Leben hinein zaubern – und konnte Ihnen doch am Weihnachtsabend kein Bäumchen schmücken , kann Ihnen heute zu Neujahr nicht einmal die Hände reichen ! Den ganzen Tag war mir , als müsse heute durchaus ein Wort von Ihnen zu mir dringen , als müsse Ihre Stimme ganz leise aus der Ferne klingen , wie einstmals in vergangenen Tagen , als Sie mir sagten : » Und darf es nicht Glück sein , so sei 's doch das Nächstbeste . « Und Ihr » Nächstbestes « , lieber Freund , war immer noch so viel reicher und zarter , so viel sorgender als alles , was andere Menschen als höchstes Glück zu geben vermögen ; Sie haben mich so sehr verwöhnt , dass ich mir jetzt oft ganz verlassen vorkomme . Auf dass Ihnen aber die Lektüre dieses Briefes nicht schlecht bekomme und Sie nicht etwa dem Hochmutsteufelchen verfallen , werde ich gleich hinzusetzen , dass ich immer etwas am grossen Heimweh der Vergangenheit leide , und dass , wenn man mehrere Jahre in einem so eigenartigen Ort wie Peking gelebt und dort Wurzel gefasst hat , es schwer fällt , in einer so absolut entgegengesetzten Welt wie New York heimisch zu werden . Wer sich in Brüssel wohl fühlt , dem wird auch Paris gefallen , wer sich in Dresden eingelebt , der wird es auch in München fertig bringen . – Da sind keine weltentrennende Rassen- und Anschauungsgegensätze zu überwinden . Wer aber den Osten wirklich mal kennt und liebt , der passt nicht mehr in diese westliche Welt . Man staunt sie an , sagt sich wohl auch mit dem Verstand , dass ihr das neue Jahrhundert gehören wird , aber man wird in ihr nie mehr heimisch , man fühlt sich in stetem Widerspruch . – Wie mag es nur Kipling , dieser grosse Orientale , hier je ausgehalten haben ! Wie sehr kann ich ihm das Heimweh nach dem Osten nachempfinden , das wie ein Moll-Leitmotiv der Sehnsucht durch seine Werke zittert – unverständlich für die , deren beste Jahre nicht jenseits Suez gelebt wurden . Ich muss heute soviel an manche englische Beamte denken , die ich vor Jahren in Indien gekannt und dann pensioniert und gealtert in irgend einem Städtchen Englands wiedergesehen habe . Dort in Indien hatten sie viel räsonniert , über Klima , Natives und Silberkurs , aber trotz aller Klagen fühlten sie sich doch immer als Götter , wenn auch nur als Achtel- , Viertel- oder Halbgötter ; und es waren doch , ohne dass sie es recht wussten , ihre glücklichsten Jahre gewesen , die sie dort verlebt – man ist ja meist glücklich , ohne es zu wissen , und merkt , dass man es war , daran , dass man aufhört es zu sein . In Bath oder Torquay , unter grauem Himmel , in engen Zimmern , mit einer ungeschickten , schlecht kochenden Mary Ann , der sie nie einen hindustanischen Fluch nachschmettern durften , umgeben von lauter Leuten , die nichts wussten von der Gottgleichheit , die jedem weissen Sahib in den Städten auf » abad « oder » epore « zu eigen ist , da verstanden die Armen es erst ganz , wie schön es einst gewesen ; und das grosse Heimweh nach dem Osten schlich sich in ihre Herzen und nistete sich fest ein . Ich komme mir hier so oft vor wie einer jener pensionierten englischen Beamten ! Oder wie eine arme , kleine , vertriebene Königin , der niemand anmerkt , dass sie einst ein güldenes Krönchen trug ! Wenn ich mich in dem Strassengewühl durchdränge , wo keiner mich kennt , und mir sage , dass , wenn ich tot umfiele , ich in eine kalte , graue Morgue gebracht würde , und niemand wüsste , wer ich bin , da sehne ich mich oft nach der Stadt , wo jeder mich kannte , wo alle am Bahnhof standen , als ich abreiste , und mir nachwinkten . Das Bewustsein der eigenen Kleinheit und Belanglosigkeit lastet auf uns modernen Menschen allen wie ein schweres Gewicht . Wir leiden unter der eigenen Winzigkeit , unter den engen Grenzen unseres Wissens und Lebens , seitdem uns die Endlosigkeit von Raum und Zeit gelehrt ward . Leute früherer Epochen kannten diesen Gegensatz zwischen menschlicher Kleinheit und Weltenunendlichkeit nicht ; sie müssen zufriedener gewesen sein , weil sie sich selbst im richtigen Massstab zu allem übrigen vorkamen . Diese Menschen , die in alten Häusern mit hohen Giebeln wohnten , und auch noch heute die Leute , die in ganz kleinen Zentren leben , wo jeder jeden kennt und der Glaube an die eigene Wichtigkeit nie getrübt wird , scheinen mir beneidenswerte Wesen ; denn es gibt ja nichts Befriedigenderes , als an sich glauben zu können . In solchen kleinen Gemeinden floriert dann auch diese höchste Blüte der eigenen Wichtigkeitsüberzeugung – der Glaube an ein persönliches Fortbestehen . Es scheint doch ganz unmöglich , dass Herr A , mit dem man alle Samstag seit dreissig Jahren gekegelt hat , Frau B , mit der man schon auf der Schule in Rivalität lebte , plötzlich ganz ausgewischt , wie nie gewesen , sein sollen . Das kann solch bedeutenden Persönlichkeiten nimmer widerfahren ! Sie sind zeitweise unsichtbar , auf der grossen Reise begriffen , die alle mal antreten – aber nachher wird man sich wieder finden , ganz selbstverständlich . – Wer aber von den Wellen an zahllose fremde Küsten verschlagen worden ist und gesehen hat , dass überall und seit unendlichen Zeiten Millionen und Millionen geboren und begraben werden , ohne dass ihr Kommen und Gehen mehr Bedeutung hätte als Mückenschwärme , die einen Augenblick durch die Sonnenstrahlen schweben , der verliert den Glauben an die Wichtigkeit der Erscheinungen und an die innere Notwendigkeit der ewigen Fortdauer all dieser ganz gleichgültigen ameisenartigen Existenzen , die in individuell kaum unterscheidbaren Wiederholungen immer aufs neue entstehen und vergehen . Wenn einem dann die Erkenntnis aufgeht , dass man selbst auch nur in die Schar der menschlichen Eintagsfliegen gehört , dann sehnt man sich nach denen , die durch Freundschaft und liebevolle Pflege uns zeitweise die Illusion gegeben , als sei man eigentlich doch eine recht wichtige kleine Fliege , deren Wohl und Wehe für ein anderes Wesen die allergrösste Bedeutung hat . Und weil ich das alles heute so sehr empfinde , hier in der Fremde , wo es jedem offenbar ganz gleichgültig ist , wie arme , kleine , vertriebene Königinnen das neue Jahr beginnen – drum habe ich Heimweh nach ... sagen wir nach Peking ! 18 New York , Januar 1900 . Ein kalter , grauer Tag . Zum Malen viel zu dunkel . Ein allgemeines Gefühl des Unbehagens . Das Buch , das man am Kamin sitzend liest , langweilt . Der Blick hinaus durch die Fenster langweilt ganz ebenso . Beinah möchte man die Menschen beneiden , die selbstgefällig sagen , » ich habe mich noch nie gelangweilt « , und die damit nur den Beweis liefern , wie grenzenlos langweilig sie selbst sein müssen , wenn sie wirklich nicht imstande sind , die Langeweile des Meisten zu erkennen , womit das Leben angefüllt ist . Ich wünschte – ja , was wünsche ich eigentlich ? Ich wünschte , ich wäre mit Ihnen auf einer weiten , merkwürdigen , gefahrvollen Entdeckungsreise in irgend ein seltsames Land – womöglich einen unerforschten Stern . Bitte , werden Sie nun aber nicht gleich eitel ! Dass Sie nicht eitel sind , ist ja gerade eine Ihrer nettesten Eigenschaften , und jede echte Frau muss einen eitlen Mann unausstehlich finden , denn er nimmt ihr damit etwas weg , worauf sie ihr spezielles , anerkanntes Frauenrecht hat . Ich suche Sie ja auch nur deshalb zum Begleiter auf den unerforschten Stern aus , weil Livingstone , der dort sicher sofort Bescheid gewusst hätte , nun doch schon tot ist . Aber wahrhaftig und im Ernst – ich habe manchmal eine so brennende Sehnsucht , etwas zu werden , zu sein , zu leisten ! Ich komme mir zuweilen vor , als bestände ich aus lauter ungenutzten Fähigkeiten und als gingen alle Gelegenheiten , sich zu betätigen , die die meinen sein sollten , an mir vorbei und zu anderen hin , die nicht wissen , was sie damit beginnen sollen . Wir Menschen bestehen eben aus solchen , von denen nie annähernd das verlangt wird , was sie zu leisten imstande wären , und aus anderen , an die Anforderungen gestellt werden , denen sie in keiner Weise gerecht werden können . – Letztere sind natürlich die glücklicheren , denn ein Teil ihrer Unfähigkeit besteht gerade darin , gar nicht zu merken , wie sehr sie es sind . Das Ergebnis dieser Welteinrichtung ist , dass niemand da steht , wo er stehen sollte . Wenn jemand plötzlich einen verantwortungsvollen Posten bekommt , gratuliert man ihm und sagt : » endlich , the right man in the right place « und denkt dabei : » what a mess he will make of it ! « Und gewöhnlich hat man mit letzterer Vermutung recht . Und ein grosser » mess « der Weltenregierung ist es offenbar , dass ich hier sitze , abwechselnd in den Kamin oder auf die Strasse starre , und dass alles andere , was ich etwa sonst noch tun könnte , ganz ebenso zwecklos wäre . Frauen sitzen eigentlich immer da und warten , ob die Türe aufgeht und jemand kommt . 19 New York , Januar 1900 . Ich ward gestern unterbrochen , lieber Freund ! Weiss nicht , wie lange ich Ihnen sonst noch grau in graue Weltenbetrachtungen geschrieben hätte ! Seien Sie also dankbar , dass gestern die Tür wirklich aufging und Madame Baltykoff bei mir eintrat , ein Pelzmützchen auf dem Kopf , das ihr so natürlich gut stand , wie jeder Katze ihr Fell . » Nein , wie beneidenswert unbeschäftigt Sie aussehen ! « sagte Madame Baltykoff . » Und ich bin so abgehetzt durch alles , was ich mitmachen und wobei ich gesehen werden soll . In keinem Lande der Welt habe ich noch so viel von › sozialen Pflichten ‹ reden hören ! Ich glaube , sie ersetzen alle anderen ! Heute war ich schon mit einer New Yorkerin , die mich ins Schlepptau genommen , auf einem Dejeuner , einem Wohltätigkeitsbazar und drei Jours . Und jedesmal , wenn ich die gewisse Ankunftslangweile überwunden hatte und gerade anfing mich etwas zu amüsieren , machte mir mein sozialer Pilot verzweifelte Aufbruchszeichen , weil wir noch in so und soviel Häusern gesehen werden müssten . Ich kam mir schliesslich wie eine Verbrecherin vor , die sich Alibis schafft ! Nun habe ich noch einen Besuch vor , bei einer ehemaligen Landsmännin , und da müssen Sie mich durchaus begleiten . Es ist Ihnen auch gar nicht gut , so vor sich hin zu brüten , wie ein weiblicher Oblomoff . « Und da all mein Tätigkeitsdrang von jeher damit geendet hat , mich von äusseren Mächten treiben zu lassen , ging ich mit Madame Baltykoff hinaus in die kalte graue Winterwelt und lernte Miss Tatiana de Gribojedoff kennen . Wenn Sie den Namen auch dreimal lesen , lieber Freund , sie heisst wirklich so , und das Miss hat auch seine Berechtigung . Tatianas Vater war natürlich Russe , ihre Mutter dagegen war die Tochter eines aus Illinois stammenden amerikanischen Konsuls Carmichael in Archangel , und in jener kalten Weltecke hat auch die Wiege der kleinen Tatiana gestanden . Madame de Gribojedoff , née Carmichael , scheint sich dort aber nie so recht behaglich gefühlt zu haben , woraus ihr meinerseits kein Vorwurf gemacht werden soll . Ihr Bestreben ging dahin , Tatiana in der Kritik und Missachtung alles Russischen zu erziehen und ihr eine unbedingte Bewunderung für alles Angelsächsische beizubringen . Als der Vater Tatianas starb , ein bedeutendes Vermögen hinterlassend , wanderten beide Damen nach Amerika zurück ; seit dem Tode ihrer Mutter lebt Tatiana als unabhängige alte Jungfer in New York . Ihr Häuschen ist vollgepfropft mit all denjenigen Dingen , die gewitzigte Leute auf Reisen sorgfältig zu kaufen vermeiden . So hat sie sich von den Niagarafällen indianische Mokassins mitgebracht , die an einer Wand hängen , dicht neben einem spanischen Fächer , auf dem ein Stiergefecht abgebildet ist . In Mexiko hat sie allerhand aus dortigem Marmor verfertigte Früchte gekauft , rosa Pfirsiche , grüne Mangoes , braune Feigen liegen auf einer Konsole , zusammen mit den Ergebnissen eines Ausflugs nach Havanna , grossen schillernden Muscheln und Mustern verschiedener Korallensorten . Der dahinter aufgehängte Spiegel gestattet auch , die Rückseiten zu bewundern . Von Sorrent hat Miss Tatiana kleine aus Olivenholz verfertigte Bücherbretter mitgebracht und auf diesen steht , neben römischen Mosaikschälchen und einer Miniaturnachbildung des Vestatempels , eine ganze Batterie von Gläsern aus verschiedenen Badeorten , deren Brunnen Miss Tatiana getrunken hat . Allerhand Inschriften sind auf diese Gläser geschliffen : » Zur freundlichen Erinnerung an Schlangenbad « , » Wohl bekomm 's « , auch eine Abbildung der Trinkhalle in Baden-Baden . Vielleicht ist es eine Folge all dieser gesundheitsfördernden Flüssigkeit , dass Miss Tatiana so lang , spitz und mager ist . Sie sass an einer Seite des Kamins , und auf der andern sass ein kleiner , dicker , älterer Herr , den Madame Baltykoff als Iwan Iwanowitsch begrüsste und der mir als Herr Baschmakoff vorgestellt wurde . Die Wirtin und ihr Gast schienen eben eine politische Debatte gehabt zu haben ; sie sah erregt aus , und nachdem wir uns gesetzt hatten , fuhr sie in dem begonnenen Gespräch fort : » Wahrlich , Mr. Baschmakoff , jeden Tag , wenn ich von der Unterdrückung der armen Finnen lese , bin ich dankbar , dass ich auswanderte und eine freie amerikanische Bürgerin geworden bin . « » Aber liebe Tatiana Feodorowna « , antwortete der kleine , dicke Herr , » es wäre Ihnen doch nichts in Russland geschehen – Sie sind ja gar keine Finnländerin . « » Das ist eine feige Ausrede . In solchen Fällen muss man sich eins fühlen mit den Unterdrückten . Da ich all dem Unrecht , das in Russland geschieht , nicht abhelfen konnte , habe ich wenigstens durch meine Auswanderung dagegen protestiert . « » Immer die gleiche , immer dasselbe Feuer bei unserer lieben Tatiana Feodorowna , « seufzte der alte Herr . » Und bei Ihnen immer der gleiche Eigensinn , in jedem Satz wenigstens einmal diese komische russische Anrede anzubringen – Tatiana Feodorowna ! « Herr Baschmakoff legte die Hand auf seinen vorspringenden Magen , in der Gegend , wo hinter all dem Fett das Herz sitzen muss , und erwiderte : » Es ist mir eben mein Leben lang der liebste Name der Welt gewesen . « Das alte Fräulein schien hierdurch etwas besänftigt , wandte sich zu mir und sagte : » Sie werden mir zugeben , dass es bei meinen Ansichten und als freie Amerikanerin hart ist , den Namen Tatiana de Gribojedoff zu tragen . « » Vergessen Sie nicht , liebe Tatiana Feodorowna , wie oft ich Ihnen angeboten habe , diesen Namen zu vertauschen , « sagte der kleine dicke Herr und drückte wieder die Hand auf den vorspringenden Magen . Da lachte die alte Dame laut . » Nein , wissen Sie , Gribojedoff oder Baschmakoff – das bleibt sich nun schon gleich . Ja , wenn Sie Washington , Lincoln oder meinethalben auch nur Brown oder Smith hiessen , hätte ich 's mir überlegen können – aber so ! « Und beide , der alte Herr und das alte Fräulein , lachten über diese Neckerei , die immer wieder aufgefrischt wird , wenn Herr Baschmakoff alljährlich aus Archangel nach New York kommt , um seine Jugendliebe im Lande ihrer Wahl zu besuchen . » Die Philippinen machen mir viel Sorge « , erzählte uns die russische Amerikanerin , indem sie auf eine neben ihr liegende Zeitung wies , » es ist offenbar notwendig , dass neue Truppen hingeschickt werden . Ich hoffe nur , dass das State Departement zu äusserster Energie in der Bekämpfung der Rebellen entschlossen ist . Sicherlich müssen fremde Intrigen und Aufwiegelungen derjenigen dahinter stecken , denen es ein Greuel ist , dass wir in dem geknechteten Orient Fuss fassen , sonst hätte jenes arme , umnachtete Volk doch längst eingesehen , dass wir ihm das Licht der Freiheit bringen . « » Vielleicht werden Ihre westlichen Methoden im fernen Osten nicht so recht gewürdigt und verstanden , liebe Tatiana Feodorowna , vielleicht passen sie auch nicht so recht dorthin « , warf Herr Baschmakoff schüchtern ein . » Die Wahrheit und das Recht passen überall , aber Ihr Russen denkt immer , dass Ihr allein den Osten versteht . Ich gebe Euch ja gern zu , dass Ihr jenen Völkern näher steht als wir , aber warum sollen sie erst noch auf dem weiten Umweg über Knute , Sibirien und Orthodoxie zu endlicher Freiheit und wahrem Glauben geführt werden ? « » Was ist denn der wahre Glaube ? « fragte Madame Baltykoff . » Der wahre Glaube ? « Miss Tatiana stockte einen Augenblick und antwortete dann rasch entschlossen : » Der wahre Glaube ist , was man in den Vereinigten Staaten glaubt . « » So so « , sagte Madame Baltykoff und fuhr dann nachdenklich fort , als sinne sie über ein schweres Rechenexempel nach , » Methodisten und Baptisten , Kongregationalisten und Christian Scientists , vereinigte Brüder und Jünger Christi , Heilige der letzten Tage , Quäker und Shaker – und gar die Mormonen – die haben also alle den wahren Glauben ? « Miss Tatiana unterhielt uns noch längere Zeit mit der erregten Diskussion verschiedener politischer Fragen . Der geduldige Baschmakoff bekam noch viel Schlimmes über Russland von ihr zu hören und sie gab ihm zu verstehen , dass , wer nicht angelsächsischer Abstammung ist , nur schlaue Berechnung und Eigennutz zu Motiven seiner Handlungen haben könne . Wenn Madame Baltykoff mir zuweilen als wandelndes Fragezeichen erscheint , so habe ich in Miss Tatiana eine lebende Assertion kennen gelernt . Sie erinnert mich an eine pommersche Gutsbesitzerin , die ich vor Jahren gegen direkte Steuern eifern hörte ; in meiner damaligen Jugend und Unwissenheit fragte ich sie , was das sei , und erhielt die Antwort : direkte Steuern sind die , die man selbst bezahlt , indirekte Steuern solche , die andere Leute bezahlen , drum sind die ersteren schlecht und die anderen gut . Miss Tatiana besitzt auch diese Gabe anschaulicher Definition und rascher Schlussfolgerung . 20 New York , Januar 1900 . Lieber Freund , heute Nachmittag wollte ich die Frau unseres Konsuls besuchen . Ich fuhr mit der Hochbahn zu ihr , denn sie wohnt weit draussen , in einer der Strassen mit den ganz hohen Nummern , die mich immer an neuformierte , an den Grenzen aufgestellte Regimenter erinnern . Die Häuser sehen alle ganz gleich aus , man könnte jedes mit jedem verwechseln , und darin liegt wohl gerade das Militärische ; sagte mir doch mal mit Begeisterung ein junger Verwandter , der seit ein paar Wochen Leutnant war : » Vollkommene Gleichmässigkeit ist das Ziel , Verwischung der Individualitäten die erste Aufgabe . « Da ich die Frau Konsul nicht zu Hause traf , ging ich von dort aus noch etwas auf eigene Faust explorieren , was mir immer viel interessanter ist , als wenn ich von patriotischen New Yorkern herumgeführt werde , die erwarten , dass ich mich für irgendein turmartiges Haus begeistere , in dem eine Zeitung gedruckt , Korn verkauft , oder Geld gewechselt wird . Ich ging noch durch einige allerletzte Strassen . Weiter hinaus sieht es sehr bald aus , als sei man im fernen Westen . Weite leere Grundstücke erstrecken sich dort mit den seltsamsten kleinen Behausungen . Zelte , aus allen möglichen Fetzen zusammengeflickt , Löcher in die Erde gebuddelt wie Höhlen der Urzeitmenschen , daneben Hütten , die aus Latten , Kistendeckeln , verrostetem Wellblech und Stücken von Petroleumkasten zusammengezimmert sind . Eine ganze Bevölkerung mit unbestimmten Berufszweigen haust dort und treckt immer mehr hinaus , je weiter die Strassen mit den hohen Nummern vorgeschoben werden . Vielleicht prangt solch abenteuerliches Hüttchen auf der ersten Seite im Erinnerungsbilderbuch manch jetzigen Millionärs ! Das wissen auch die Leute , die heute noch in den exzentrischen Quartieren äussersten Elends kampieren müssen , und deshalb ertragen sie alles leichter , weil sie es als ein Übergangsstadium ansehen und Beispiele vor Augen haben , dass man sich emporarbeiten kann . Das macht Armut in den neuen Ländern weniger drückend . Auch dem Ärmsten schwebt immer die Möglichkeit des finanziellen Marschallstabs vor . Darum kommen sie ja auch über das grosse Wasser , um die Hoffnungslosigkeit , die alte Resignation hinter sich zu lassen . Heute war es aber unendlich melancholisch da draussen . Ein eisiger Wind wehte über das flache Land . Kältebeladen kam er aus der Richtung der grossen nordamerikanischen Seen angesaust , fegte alles vor sich her und pfiff unbarmherzig durch alle Spalten und Ritzen in die merkwürdigen Armeleutewinkelchen hinein . Ob die Bewohner all der wackligen , klappernden Hüttchen wohl auch der Ansicht waren , dass dem geschorenen Lamm der Wind bemessen wird ? Wenn man eine Sealskin-Jacke trägt , erscheint solch behaglicher Glaube immer unanfechtbar . Bei meinem heutigen Spaziergang dachte ich viel an ähnliche in Peking verlebte Wintertage . Besonders eines Rittes musste ich gedenken , den wir jetzt vor einem Jahre dort gemacht . Da war es auch so kalt , wie heute hier . Der Wind kam von der sibirisch-mongolischen Ebene hergeweht , so eisig , als könne es nie wieder Frühling werden . Der Weg dehnte sich endlos an der grauen Stadtmauer entlang . Die Türme mit den verfallenen grünen Kacheldächern standen dräuend gegen den fahlen Winterhimmel . Stellenweise lag etwas hart gefrorener Schnee . Krähen flohen krächzend vor dem Wind . Im hiesigen Winter habe ich des dortigen gedacht und ich sende Ihnen dies kleine Gedicht , das mir dabei in den Sinn kam : An den hohen Mauern der Stadt Ritten wir beide schweigend , Sprachen nicht mehr , weil alles gesagt , Horchten im Schnee auf das Schrei 'n Der schwarzen Vögel . Längst verliess ich dich , graue Stadt , Wandre allein nun schweigend , Habe keinem mein Leiden geklagt , Nur in der einsamen Seele schrei'n Die schwarzen Vögel . Wie so oft in Peking , war mir an jenem Tage , als sei die ganze Welt erstarrt in Angst , als harre sie atemlos , Unbekanntem , Unheimlichem . – Stadt des Leidens , Stadt des Verhängnisses habe ich Peking oft genannt – und doch liebe ich die graue , düstre Stadt . Ich habe jetzt oftmals ganz deutlich die Empfindung , als gehöre ich ihr , als hielte sie mich für ewig , so fern ich ihr auch räumlich bin . Ich fürchte , ich bin wie alle Leute geworden , die in Peking gelebt haben und es nachher nicht mehr lassen können , immerwährend darüber zu reden oder zu schreiben . Das ist die Rache , die China an den weissen Menschen nimmt dafür , dass sie beinahe alle doch nur deshalb hingehen , um ihm ein Stückchen seines Bodens oder sonst irgend einen Vorteil und Besitz abzuringen-schliesslich sind sie es , die von China absorbiert werden . Lassen Sie sich nicht zu sehr absorbieren , lieber Freund ! 21 New York , Februar 1900 . Lieber Freund , meine letzte Wanderung im winterlichen New York ist mir recht schlecht bekommen . Ich bin seitdem krank gewesen an Husten und Fieber . Husten und Fieber sind ja nun schon seit Jahren die Meilensteine , die an meinem Lebensweg stehen . Schliesslich wird solch Meilenstein zu einem Kreuzchen werden . Und wohin der Weg dann weiter geht und ob es überhaupt noch einen gibt , das weiss man nicht . Es geht mir aber jetzt schon ein bisschen besser . Ich liege auf dem Sofa am Kamin . Die weisse tibetanische Ziegenfelldecke , die Sie kennen , ist über mich gebreitet . Ta geht mit bekümmertem Gesicht ein und aus . Ich weiss nicht , gilt seine Sorge mir , oder den vielen Briefen , die er in letzter Zeit von zu Hause erhalten hat . Gestern schenkte mir mein Bruder ein paar Zweige weissen Treibhausflieders . In Seidenpapier wohl eingewickelt brachte er sie von draussen mit – so ein armer , winterlicher Flieder – all die Blütchen schienen zu frösteln und sich zu wundern , warum man sie gezwungen habe , sich so sehr zu beeilen , in diese unfreundliche Welt hinein zu kommen . Jetzt stehen die braunen Stengel , an denen oben die spärlichen weissen Blütentrauben hängen , in einer schlanken , grünen Bronzevase neben mir . Die Blumen haben sich etwas erholt , als seien sie dankbar , nun doch noch ein leidliches Plätzchen gefunden zu haben . Ein schwacher , schüchterner Fliederduft , der beinah etwas Künstliches hat , steigt von ihnen auf und zieht durch das Zimmer . Er weckt viel Erinnerungen . Denn Flieder mahnt mich an gar verschiedene Zeiten und Orte . In Garzin , dem märkischen Gut , wo ich aufgewachsen , da blühte der Flieder im Mai . Vier grosse Büsche standen auf dem Rasen vor dem Schloss , in ihrer Mitte eine alte Sonnenuhr . Jeden Frühling , wenn der Flieder blühte , kam derselbe alte Invalide auf einem Stelzfuss angehumpelt ; er stellte sich im Schlosshof auf und spielte uns auf seiner Drehorgel » Die letzte Rose « und » Lang , lang ist 's her « . Ich weiss nicht , wo er Winters blieb , aber in all meinen frühesten Frühlingserinnerungen steht der Invalide mit der Drehorgel , und der Flieder duftet , und wir Kinder suchen fünfblättrige Fliederblüten – denn die sollten Glück bringen wie vierblättriger Klee . Einmal schenkte ich dem alten Drehorgelmann solch ein fünfblättriges Blümchen – aber der glaubte nicht recht daran . An so viele Zeiten und Orte mahnt der Duft ! Sogar im blumenarmen Peking gab es Flieder . In allen Gesandtschaftsgärten standen eine Menge Büsche . Im April über Nacht erblühten sie mit einemmal , alle zugleich . In allen Wohnzimmern , auf allen Speisetischen war dann die gleiche weisslila Pracht und Fülle . Vierzehn Tage dauerte der Blumenzauber . Das war die einzige Zeit des Jahres , wo es in Peking gut roch . In den Tagen der Fliederblüte gab Sir Robert Hart regelmässig eines seiner Gartenfeste . Die chinesische , uniformierte Kapelle , die er sich hielt und auf die er sehr stolz war , spielte die paar europäischen Weisen , die ihr ein portugiesischer Kapellmeister aus Macao beigebracht hatte . Mit den altbekannten , nur zuweilen unfreiwilligerweise etwas veränderten Melodien zog durch den Garten der heimatliche Fliederduft . Männlein und Weiblein der Société de Pékin wandelten in den paar Alleen auf und ab und zeigten Tientais neueste Modeschöpfungen ; sie gingen paarweise , persönlicher Neigung folgend , oder gruppierten sich je nach der augenblicklichen politischen Konstellation . Politik ist eine Würze , die in Peking gern allem beigemischt wird . – Zum Schluss dieser geselligen Vereinigungen wurde dann immer eine Quadrille auf dem kleinen holperigen Rasenplatz getanzt . Man tat jedesmal so , als sei diese Quadrille der spontane Ausdruck überströmender festlicher Stimmung – aber sie war im Programm immer ganz vorgesehen . Das war alles ganz stereotyp – denn alle Dinge in China haben die Neigung , stereotyp zu werden ! Solche Vergnügungen in entlegenen Plätzen haben mir immer etwas so unendlich Wehmütiges . Sie sind ein offenbarer Versuch der Selbsttäuschung , zu dem so sehr viel guter Wille gehört . Kleine rührend traurige Bemühungen , um zu vergessen , wo man ist , was alles fehlt . Der festgefasste und ernsthaft durchgeführte Vorsatz , auch einmal » grosse Welt « zu sein . Wie tieftraurig bin ich doch schon oft inmitten solch künstlich verpflanzter und betriebener Amüsements gewesen – sie erinnern an kümmerlichen weissen Winterflieder – der ist auch nichts Rechtes ! 22 New York , Februar 1900 . Ich bin noch recht elend , möchte Ihnen aber doch ein bisschen schreiben , um mir dadurch die Illusion zu geben , als seien Sie hier . Wenn ich krank bin , tue ich mir immer so schrecklich leid – ich möchte mich dann am liebsten selbst in die Arme nehmen können und mich trösten . Gute Gesundheit täuscht über so manches hinweg ; wir fühlen uns allem gewachsen und sind daher mit uns selbst zufrieden , und sobald man das ist , ist ja alles gut . Wenn wir aber oft krank sind und die Rechnung zwischen Sollen und Können immer mit einem Defizit für uns schliesst , dann erscheint die ganze Welt wie ein Exempel , das nie stimmt , wo es immer irgendwo hapert . Glauben Sie nun deshalb nicht , dass ich hier besonders einsam und vernachlässigt wäre ; die kleine Ecke Welt , die im Gesichtskreis meines Sofaplatzes liegt , ist wahrscheinlich nicht schlimmer und langweiliger wie andere auch , und es besuchen mich eine ganze Anzahl Menschen . Am häufigsten kommt Madame Baltykoff , und gewöhnlich findet sich Anstruther zur selben Zeit ein . Diese unermüdliche Russin hat erstaunliche Vorräte an Wissensdurst ; sie besieht sich New York von allen Seiten : Auswandererherbergen , Fifth Avenue-Feste , Schulen , Druckereien , Wall Street , Gefängnisse , Klöster – tout lui est bon . Kürzlich erzählte sie mir von einem Damenlunch , bei dem sie gewesen . Während nämlich die New Yorker Herren im Geschäft sind und Geld verdienen , vertreiben sich die Damen die Zeit , indem sie sich untereinander kleine Feste geben , bei denen sie sich in neuen , kostspieligen Einfällen zu überbieten suchen . Für einen solchen Lunch wird eine bestimmte Farbe gewählt . Die neuliche war lila . Alle Blumendekorationen , auf dem Tisch , an den Wänden und Kronleuchtern , bestanden aus Parma-Veilchen , das Tischtuch war Spitzen bedeckte lila Seide , die Tischkarten lila Karton , Wirtin und Gäste trugen Kleider verschiedener lila Tönungen . Das kleine , sehr verzogene Töchterchen des Hauses war als Veilchen verkleidet . Madame Baltykoff erzählte , es sei während der ganzen Mahlzeit unausgesetzt rund um den Tisch herumgelaufen ; die zärtliche Mutter bemerkte schliesslich , dass ihre Gäste hiervon nervös wurden , aber anstatt das Kind hinauszuschicken , sagte sie ihm nur : » Dodo , darling , renn doch jetzt mal in der andern Richtung um den Tisch – es wird uns sonst schwindlig . « Solche kleinen Damenfeste werden , wie alle sonstigen geselligen Begebenheiten auch , am nächsten Tage in all ihren Einzelheiten von den Zeitungen beschrieben . Die Öffentlichkeit des Privatlebens in Amerika ist immer von neuem ein Gegenstand des Staunens für uns Fremde . Sie erstreckt sich auf die kleinsten Handlungen der oberen 400 . Das gesellschaftliche Debut einer jungen Dame aus diesen Kreisen wird im voraus bekannt gegeben , mit Beschreibungen ihrer äusseren Erscheinung und aller Toiletten , die sie in Paris bestellt hat , man kann in den Zeitungen lesen , wie viel Taschengeld sie zu verausgaben hat , welche Handschuhnummer sie trägt , welche Blume sie bevorzugt , wer ihre Hofmacher sind . Verheiratet sie sich , so werden spaltenlange Artikel ihrer Ausstattung und ihren Hochzeitsgeschenken gewidmet und genaue Berechnungen aufgestellt , was der Bräutigam wert ist ( an Dollars nämlich ) . Eine New Yorker Dame ist eigentlich nie allein – sie agiert beständig vor Reportern , die der neugierigen Menge die wichtige Kenntnis aller Einzelheiten ihres Lebens vermitteln . Das Bewusstsein , fortwährend beobachtet , besprochen und beschrieben zu werden , mag dazu beitragen , dass die modernen Amerikanerinnen der obersten Gesellschaftsklassen keinen Augenblick vergessen , welchen Eindruck sie hervorrufen . Sie sind immer darauf bedacht , zu gefallen , und ruhen nicht eher , bis jeder , der ihnen naht , sich ihrem Charme ganz gefangen gibt . Sie sind stets liebenswürdig , reizend und faszinierend , aber gesunden Menschen anderer Weltteile mögen diese nervösen , blutarmen Wesen oftmals etwas unnatürlich erscheinen . Sie leben hauptsächlich von Bewunderung , daneben auch noch von Eiswasser und auserlesenen kleinen Gerichten , an denen sie ein bisschen herumknabbern ; die Beefsteakseite des Lebens ist ihnen ein Greuel ; sie möchten am liebsten alles Physische abschaffen , nennen es roh , höherer Wesen unwürdig , und denken , dass es abgetan und in untere Gesellschaftssphären verbannt sei , weil sie es missachten . Wegen dieser eigenen Temperamentlosigkeit und weil sie an die beständige Überarbeitung und geschäftliche Präokkupation der rasch alternden amerikanischen Männer gewöhnt sind , können sie in ihrem Lieblingszeitvertreib , dem Flirt , auch soweit gehen . Ein verliebter Europäer , der europäische Folgerungen ziehen wollte , käme schlimm an ; er würde zu hören bekommen , dass er kein Gentleman sei und Frauen nicht respektiere . Inmitten dieses verkünstelten Daseins berührt es seltsam , welche Vergötterung mit Kindern getrieben wird . Es ist das ein ganz charakteristischer Zug der hiesigen Gesellschaft . Vielleicht stammt er noch aus der Zeit her , wo es hier so wenig Einwohner für das riesige Land gab , dass man sich über jeden neuen kleinen amerikanischen Bürger ganz unsinnig freute ; vielleicht ist es im Gegenteil ein allermodernstes Gefühl , weil in der neuesten Zeit in der elegantesten , reichsten New Yorker Gesellschaft die Kinderzahl stetig abnimmt und man daher ein jedes wie ein kleines Wunder anstarrt . – Die schönen New Yorkerinnen haben gar so viel zu tun ! Auffallend ist , welches Gewicht dem Urteil amerikanischer Damen auf allen Gebieten zugestanden wird . Literarischer , künstlerischer Ruf wird von ihnen bestimmt ; wer vorwärts kommen will , muss so malen , schreiben oder musizieren , dass er den leitenden Damen der Gesellschaft gefällt . In allen schöngeistigen Dingen sind sie ihren gelderwerbenden Männern sehr überlegen , und niemand weiss das besser , als sie selbst , aber ich glaube kaum , dass sie sich dadurch unglücklich fühlen , es erscheint ihnen der weisen Ordnung der Dinge zu entsprechen ; und die Pose der feingebildeten , nur das Zarteste empfindenden Frau , die von einem aus gröberem Stoff geformten Mann nicht ganz verstanden wird , ist eine kleidsam geheimnisvolle . Bezaubernde , diaphane Geschöpfe sind es , für jede Tagesstunde mit andern berückenden Gewändern versehen , und die grosse Nutzlosigkeit ihres Daseins verbergen sie vor sich selbst mit Erfolg hinter einem felsenfesten Glauben an die Wichtigkeit der tausenderlei Dinge , die sie in steter Eile betreiben . Aber das ist nur ein ganz bestimmter Typus , den wir Fremde vielleicht gerade deshalb am raschesten kennen lernen , weil diese Frauen keine eigentliche Tätigkeit mit unaufschiebbaren Pflichten kennen und mit aller Geschäftigkeit und Hast doch immer nur nach neuen Dingen suchen , um die Zeit zu füllen . Die wahrhaften , berufsmässigen Arbeiter eines Landes lernt ein Reisender immer am schwersten kennen , denn die haben keine Zeit für ihn – und wieviel arbeitende , schaffende Frauen muss es in dieser 70 Millionen-Nation geben ! 23 New York , März 1900 . Raten Sie mal , lieber Freund , wer mich heute hier besuchte ? Der Provikar Hofer ! Aber ein entchinester , auch im äussern ganz römisch-katholisch gewordener Hofer . Zum letztenmal hatte ich ihn vor zwei Jahren in Pei-ta-ho gesehen , wo er seinen Gesandten besuchte . Wie alle katholischen Priester in China trug er damals den Zopf ( ziemlich spärlicher Natur ) und chinesische Kleider , der Hitze halber aus dünner weisser Waschseide , die er mehrmals des Tags wechselte , so dass er stets von immakulierter Weisse war und ich ihm dort einmal sagte , er gliche im äussern den Lilien auf dem Felde , aber das Sorgen überlasse er nicht nur dem lieben Gott , sondern halte es darin wohl mehr mit Martha als mit Maria . Heute nun sah ich ihn in gewöhnlicher schwarzer Priestertracht wieder und erkannte ihn anfänglich gar nicht in dieser Rückbildung . Er war aber sonst ganz der Alte , derb , heiter und voll gesunden Menschenverstandes . Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben , wie ich mich freute , jemand zu sehen , der direkt von Peking kam ! Beinah ebenso froh war ich wie Ta , der dem Provikar einen kotau-artigen Knix machte und ganz strahlend schien , endlich mal wieder chinesisch sprechen zu können . Natürlich fragte ich Hofer gleich nach Ihnen . Er sagte mir aber , nachdem was er in Peking gehört habe , glaube er , dass Sie erst im Juni dort eintreffen würden . Da wird es also noch lange dauern , bis ich von Ihnen höre , und während all der Zeit werden auf der Post in Schanghai meine Briefe liegen , die ich immer in der Illusion schreibe , als schwatzte ich mit Ihnen , und als könnten meine Gedanken Sie unmittelbar erreichen . Von den Pekinger Bekannten erzählte mir der Provikar , und obschon er nur alle paar Jahre aus seiner Provinz mal hinkommt , kennt er doch sämtliche dortigen , kleinen und grossen Intrigen , als hielte er die Fäden in der Hand . Er ist mir immer ein Beispiel von der merkwürdigen Wohlunterrichtetheit des höheren katholischen Klerus , der alle Diplomaten , diese Regierungsnachrichtensammler , als wahre Stümper weit hinter sich lässt . Nachdem mir der Provikar die neuesten Begebenheiten von der Société de Pékin mitgeteilt hatte , fragte ich ihn , was seine jetzige Reise bedeute . Er antwortete , dass er auf dem Weg nach Europa sei , um dort darauf aufmerksam zu machen , dass sich in China schlimme Ereignisse vorbereiteten . Er erzählte mir , in seiner Provinz herrschten seit Monaten grosse Unruhen , die von geheimen Gesellschaften ausgingen und die einen sehr fremdenfeindlichen Charakter trügen . » Daran sind wir ja gewöhnt , « sagte er , was mich aber ernstlich besorgt macht , das ist , dass diese Unruhestifter offen von den provinziellen Mandarinen in Schutz genommen werden und diese wiederum sich auf die höchsten Autoritäten in Peking berufen . Es sind Missionare und einheimische Christen überfallen worden , ohne dass eine Bestrafung der Täter zu erreichen gewesen wäre ; und die in letzter Zeit neu ernannten hohen Beamten sind ob ihres Christenhasses und Einvernehmens mit den geheimen Gesellschaften bekannt . In Peking herrscht eben nicht mehr die Furcht des Herrn , die beim Orientalen ganz besonders aller Weisheit Anfang ist . Wir Missionare im Innern fühlen die Folgen solch veränderter Haltung ja immer am ersten . Wir hören auch manches , was für andere Ohren zu leise gesprochen wird , und durch China geht jetzt das Wort , » man brauche sich nicht zu fürchten , die Stunde der fremden Teufel habe geschlagen « . Favier glaubt wie ich an eine grosse , nahende Gefahr , denn auch er ist von seinen einheimischen Christen gewarnt worden . Die Führer der Grossmessermänner sprechen es ja offen aus : » zuerst die chinesischen Christen , dann die Fremden « . Ich habe dies Wort an die rechte Stelle hinterbracht , da ist mir aber angedeutet worden , wir Missionare seien durch allzu viel Schutz verwöhnt und anmassend geworden , in früheren Jahren hätten wir Verfolgungsgefahren als die notwendige Begleitung alles Missionierens angesehen und hätten nicht nach Kriegsschiffen und Soldaten zu unserm Schutz gerufen . Ich habe denen in Peking die letzte Warnung gegeben : » Die Gefahr betrifft diesmal die Missionare nicht mehr als die anderen Fremden – vielleicht geht es Euch hier in Peking schlimmer als uns in unsern Provinzen . « Ich konnte es gar nicht glauben , was mir der Provikar da erzählte . Ich erinnerte ihn an die vollkommene Sorglosigkeit und Sicherheit , mit der alle Fremden , nicht nur in Peking selbst , sondern Sommers in den einsamen , entlegenen Tempeln der Umgegend lebten . » Wie hat sich denn das alles so schnell derartig verändern können ? « fragte ich ihn . » Da kam vieles zusammen , « antwortete er mir . » Seit ein paar Jahren herrscht in mehreren Provinzen Hungersnot , und es ist dadurch ein Grad des Elends entstanden , den man in Europa überhaupt nicht kennt . Viele Arbeiter fürchten auch für ihren kleinen Broterwerb , wegen der Erbauung von Eisenbahnen und der Befahrung der Flüsse mit Dampfschiffen , wovon sie dunkel als von etwas Ungeheuerlichem reden hören . Nachrichten über auswärtige Begebenheiten verbreiten sich in China zwar langsam , noch 1897 erinnere ich mich , Priester und Mandarine in der Gegend von Jehol gesprochen zu haben , die nichts von einem japanischen Kriege ahnten , aber allmählich ist doch die Kunde von den letzten europäischen Annexionen in weitere Kreise gedrungen und hat Beschämung und Erbitterung hervorgerufen . Die wachsende Unzufriedenheit richtete sich anfänglich gegen die Dynastie und Regierung , die all diese Übergriffe zugelassen hatten . Nun ist es aber der Kaiserin gelungen , diesen Zorn von sich abzulenken , indem ale seit dem September 1898 alle fremdenfreundlichen Elemente verfolgt und diese anklagt , an allen Einbussen , die China in den letzten Jahren erlitten , schuld zu sein . Sie umgibt sich mehr und mehr mit den reaktionären Elementen und gibt ihnen zu verstehen , dass sie auf ihre Hilfe gerade gegen die Fremden zählt . Die Kaiserin ist ja eine weit überschätzte Persönlichkeit , die von den realen Machtverhältnissen der Welt keine Ahnung hat – aber sie ist , wie viele sogenannte grosse Leute , eine Meisterin in der Wahrnehmung ihrer eigenen , augenblicklichen Interessen und fühlt immer rechtzeitig , welche Partei in ihrem Lande gerade die stärkste ist , um sich auf diese zu stützen . Jahrelang stand sie an der Spitze der chinesischen Fortschrittspartei , was allerdings immer eine sehr milde Dosis Fortschritt bedeutet , zur Zeit der chinesischen Niederlagen durch die Japaner hat sie ihren Rückhalt an den fremden Mächten gesucht , und als sie die wachsende Erbitterung im Lande gerade gegen die Fremden wahrgenommen , ist sie zu den Reaktionären übergeschwenkt . Heute wissen alle fremdenfeindlichen Mandarine und Geheimbündler , dass die Kaiserin nur auf ihre Erfolge wartet , um sich offen zu ihnen zu bekennen . « » Aber es ist doch nicht denkbar , dass man dem ruhig zusehen und nur abwarten wird , was weiter geschieht ? « » Hoffentlich gelingt es mir in Europa von der nahenden Gefahr zu überzeugen – in Peking wollte man Favier und mir nicht glauben . Eine Krise wäre allen unbequem , drum will sie niemand kommen sehen . Es gilt jetzt eben die Parole , in China herrsche Ruhe und Ordnung und alles dort angelegte Kapital würde in nächster Zukunft Goldströme einbringen . Wer an diesem bequemen Optimismus rüttelt , ist natürlich unwillkommen und am unwillkommensten den Geldleuten , deren Einfluss der unheilvollste von allen in China gewesen ist . Diesen Herren zu Liebe , die geborgen in Europa sitzen , und die selbst nie chinesischen Mördern und Boxern , chinesischem Klima und Kriege zum Opfer fallen können , wurden den Chinesen Eisenbahn- und Minenkonzessionen abgerungen . Es ging den Finanzleuten nie schnell genug , sie konnten nie genug bekommen . Mehr als jede Regierung waren sie von ihrer Allwissenheit überzeugt und hörten auf keinerlei Vorstellung , die ihnen von Peking aus gemacht wurde . « » Ja « , sagte ich , » davon wissen die geschäftlichen Vertreter der Finanzbarone in Peking einiges zu erzählen . Aber nicht nur diese konnten ihnen nie genug erwerben , auch die Gesandten klagten darüber , dass sie getrieben würden , Dinge durchzusetzen , die sie selbst für unheilvoll hielten . « Der Provikar fuhr fort : » Ich habe damals in Peking mit Mandarinen gesprochen , die derartige Verhandlungen zu führen hatten . Es waren Leute darunter , die den besten Willen hatten , die gerecht waren und sich innerlich zu den nötigen Konzessionen entschlossen hatten . Aber sie sind verzweifelt zu mir gekommen und haben mir geklagt , die immer neuen Forderungen , die an sie gestellt würden , könnten sie unmöglich dem Throne empfehlen . Man kenne keine Rücksicht auf chinesisches Empfinden , es sei auch kein Ende abzusehen , immer wieder kämen neue , weitergehende Verlangen . – Schritt für Schritt mussten sie dann doch nachgeben . Schliesslich sagte mir mal der eine : › Das , wozu ich jetzt gezwungen werde , meine Regierung zu überreden , wird die reaktionäre , fremdenfeindliche Partei ans Ruder bringen , und mir wird es noch mal den Kopf kosten . ‹ Und er hat mit beidem recht gehabt . Die gierige Unersättlichkeit der Fremden hat die chinesische Regierung der reaktionären Partei in die Arme getrieben , und jener chinesische Unterhändler ist eines ihrer ersten Opfer , eine Art Sündenbock geworden . Nachdem er alle Ehren seines Landes besessen , sitzt er heute verbannt in Turkestan , falls er überhaupt noch am Leben ist . Er ist eine tragische Figur der modernen chinesischen Geschichte . « Aber was ist jetzt noch zu tun möglich ? « fragte ich . Vor allem in Peking keine Inkonsequenz , keine Schwäche zeigen . Auch könnte man der alten Kaiserin einmal ernstlich drohen , dass man gegen sie für den jungen Kaiser und seine Reformfreunde Partei ergreifen würde . Das ist eine Karte , die noch gar nicht ausgespielt worden ist . Und vor allem , auf alle Möglichkeiten gefasst sein , immer Gesandtschaftswachen in Peking halten und berittene Mannschaften zur Hand haben , die auf die geringste Gefahr hin in Tientsin ausgeschifft werden können , um die Bahn zu schützen . « » Und nun wollen Sie das alles in Europa vortragen ? « » Ja , ich halte es für meine Pflicht , noch einmal zu warnen , denn wenn man den jetzigen Moment versäumt , und nicht noch Einhalt geboten wird , so muss gerade das eintreten , was man vermeiden möchte , und wir können in China eine Katastrophe erleben , wie sie noch nie dagewesen . Aller Handel , alle dortigen Unternehmungen werden auf Jahre hinaus unterbrochen werden , und wir müssen notwendigerweise in Verwicklungen , Opfer und Ausgaben geraten , die sich gar nicht absehen lassen . « 24 New York , März 1900 . Heute früh brachte die Post einen Brief aus China für Ta . Ich gab ihn ihm . Nach kurzer Zeit kam er wieder zu mir und sagte mir mit einem Gesicht , hinter dessen orientalischem Gleichmut doch die Bestürzung zu lesen war , er bäte mich , ihn nach Hause zurückreisen zu lassen , seine Mutter verlange durchaus nach ihm . Ich konnte es nicht verstehen , denn wir schicken seiner Mutter jetzt regelmässig Geld , und sie ist eigentlich besser daran , als wenn Ta in Peking wäre . Er blieb aber dabei , der Brief sei so , dass er nicht länger zögern dürfe , er müsse durchaus nach Hause , wollte er nicht ein ganz schlechter Sohn sein . Ich wusste nicht , was ich sagen sollte . Zum Glück kam der Provikar zum Frühstück zu uns . Ihm erzählte ich den Fall und bat ihn um Rat. Ta wurde hereingerufen . Sie verhandelten lange miteinander auf chinesisch , der Provikar las den Brief , dann wandte er sich an mich : Das ist nun gleich eine Bestätigung dessen , was ich Ihnen vor ein paar Tagen erzählte . Die chinesischen Konvertiten in und um Peking scheinen zu wissen , dass sich schlimme Dinge gegen sie vorbereiten . Tas Mutter , die wie so viele Christen in der Nähe des Petang lebt , fürchtet sich offenbar sehr . Sie hat Drohungen gehört gegen die Christen , die Fremden und alle , die zu ihnen halten . Sie ist Witwe und wohnt allein mit ihren jüngeren Kindern und mit Tas Frau . Den Brief hat sie einem Schwager von Ta diktiert und auch dieser sagt , er solle möglichst rasch zurückkommen . Er fügt noch hinzu , dass Ta , da er Tatare und Bannermann sei , eigentlich gar nicht ausserhalb eines bestimmten Umkreises von Peking hinaus gedurft hätte . Es sei schon mehrmals nach ihm gefragt worden , sie hätten sich bisher immer herausgeredet , die Frager auch mit kleinen Geschenken beruhigt . Aber jetzt fingen Leute , die ihnen übel wollten , an , von Tas Abwesenheit zu reden ; um deren Schweigen zu erkaufen , gehörten Summen , die sie nicht aufzubringen imstande seien . Würden sie aber denunziert , so würden sie eingekerkert , gemartert und um alles gebracht werden . Besonders in jetziger Zeit , wo sich Christen still verhalten und suchen müssten , möglichst unbemerkt zu bleiben . » Und halten Sie die ganze Geschichte für wahr ? « fragte ich den Provikar . » O ja , « antwortete er . » Es ist alles daran so echt chinesisch . Nirgends wie in China hat jeder einzelne so viel Feinde , d.h. Leute , die auf ihn drücken , die etwas Schlimmes , das sie über ihn wissen , ausnutzen , um ihn zu schröpfen . Es ist das Land der Denunziationen , der Erpressungen . Ein jeder hat da Angst vor einem Anderen Mächtigeren . Das geht durch alle Schichten . Geheime Gesellschaften , grosse Spionagesysteme ziehen sich wie Netze durch das ganze Land . Jetzt hat eine besondere Agitation gegen Christen begonnen , gegen alle , die mit den Fremden in Zusammenhang stehen . Als Vorspiel vielleicht für grössere Begebenheiten . Mich erinnert es alles sehr an die Zeiten vor den Tientsiner Fremdenmetzeleien im Jahre 1870 . « » Was raten Sie mir aber wegen Ta zu tun ? « » Ich fürchte , Sie müssen sich entschliessen , ihn nach Hause zu schicken . Er wird aus der Angst um seine Mutter nicht mehr herauskommen und sich nicht mehr beruhigen lassen , denn er hat offenbar das Gefühl , dass es seine Pflicht ist , zu ihr zurückzukehren . Wie sehr der Chinese seine Eltern verehrt , brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen – das steht sogar in den oberflächlichsten Reisebüchern . Ich habe durch jahrelange Erfahrung freilich meine Zweifel bekommen , ob die Verehrung an sich wirklich eine so sehr grosse ist ; aber jeder Chinese wird den Schein wahren wollen , als sei er ein vortrefflicher Sohn , und wird dafür sogar grosse Opfer bringen . Ta geht offenbar sehr ungern von Ihnen fort , er sagt , wenn er keine Mutter hätte , schnitte er sich den Zopf ab und bliebe immer bei Ihnen , und mehr kann kein Chinese sagen ; aber er ist fest entschlossen , zurückzukehren . Sie hängen nun einmal alle so merkwürdig an gewissen Dingen , die ihnen zum Anstand als notwendig erscheinen . Ich habe chinesische Diener gekannt , die ungerechte , harte Herren durch Blattern- oder Typhuserkrankungen aufs treueste gepflegt haben – nicht etwa Gefühls und Mitleids halber , sondern des äussern Anstandes wegen – sie hätten nicht für treulose Diener gelten wollen . Dies selbe Gefühl zeigt sich uns ja täglich , wenn wir in China Gäste haben ; da wird in unseren Häusern immer alles musterhaft gehen – darauf halten unsere chinesischen Diener um ihrer selbst willen , wo sie in Stellung sind , soll es nach aussen gut aussehen . Tas Wunsch , nach Hause zurückzukehren : ist meiner Ansicht nach viel mehr eine Frage des Scheins als der persönlichen Neigung . Ich wette , dem Gefühl nach bliebe er lieber bei Ihnen – obschon ich es nach dreissigjährigem Aufenthalt in China längst aufgegeben habe , Vermutungen anzustellen über die Gefühle der Chinesen . Sie sind eben die ewig Rätselhaften . « Wir sprachen dann über Tas Rückreise und kamen überein , dass es zu grosse Schwierigkeiten verursachen würde , ihn ganz allein über San Francisco nach Hause reisen zu lassen . Ich fühle mich doch auch verantwortlich für dies gelbe Menschenkind , das ich aus seiner Welt herausgerissen habe . Schliesslich bot uns der Provikar Hofer an , Ta mit sich zu nehmen nach Europa und von da zurück nach China . In wenigen Tagen reist er . Ta selbst ist offenbar traurig darüber , scheint aber andererseits befriedigt , einen hohen geistlichen Herrn zu begleiten , der ihm als Geschäftsreisender der Kirche doch noch viel mehr imponiert , als mein Bruder , der im Dienst einer simplen irdischen Firma steht ! – Aber mir ist seitdem ganz weh ums Herz . 25 New York , März 1900 . Liebster Freund ! Heute ist mir so grau und trübe zu Mute wie draussen der Himmel , an dem immer neue Wolken vorbeijagen hinaus zur See . Ich habe heute Ta zum Dampfer gebracht , auf dem er mit dem Provikar nach Europa abgereist ist . Heute Morgen kam er wie alle Tage , hatte die Sachen meines Bruders gebürstet und gefaltet , die Stiefel blank geputzt – das Methodische , Regelmässige seiner Rasse lag in dieser kleinen Handlung , noch bis zur letzten Minute seine Arbeit zu tun . Sein Gesicht aber war ganz verändert , aufgedunsen vom Weinen , dass die geschlitzten Augen beinah ganz verschwanden . Der Gedanke , ihn gehen zu lassen , kam mir plötzlich ganz unmöglich vor , ich fühlte , wie mir selbst die Tränen in die Augen traten , ich sah ja auch , wie schwer es ihm wurde , und so sagte ich ihm : » Willst du nicht bleiben ? Es ist ja noch Zeit , Ta. « Da verzog sich sein Gesicht zu jenem seltsamen , orientalischen Lachen , das wir Occidentalen nie ganz verstehen , das bei Gelegenheiten erscheint , wo es uns als vollkommen unangebracht , ja verletzend berührt , das in einer gewissen Schüchternheit wurzelt und dem rührenden Zug entspringt : meine Angelegenheiten sind viel zu gering , als dass sie dich stören dürften . So grinste denn der arme Ta , während er dem Weinen nahe war , und auf meine Frage antwortete er , indem er einen Finger auf den Mund legte , den Kopf schüttelte und ganz leise sagte : » Nicht sprechen , Taitai . « Ja , er hatte recht , wozu auch sprechen über das , was nicht zu ändern ist . Tas Abreise gestaltete sich zu einer kleinen Ovation . Die Hausmädchen in den sauberen weissen Mützen umdrängten ihn , mehrere brachten ihm kleine Andenken , und alle riefen ihm nach : » Glückliche Reise , Ta ! Komme wieder , Ta !