Verehrter Freund und Gönner ! Sie wissen ja – Sie wissen genug darüber , wer › Wir ‹ sind – womit wir uns unterhalten und mit welchem Inhalt wir die uns zugemessenen Erdentage zu erfüllen suchen . Sie wissen auch , wie wir das Dasein je nachdem als ernste und schwerwiegende Sache – als heiteren Zeitvertreib , als absoluten Stumpfsinn oder auch als recht schlechten Scherz hinzunehmen , aufzufassen und zu gestalten pflegen . Sie waren es , der von jeher das richtige Verständnis für unseren Plural hatte – für die große Vereinfachung und anderseits die ungeheure Bereicherung des Lebens , die wir ihm verdanken . Wie armselig , wie vereinzelt , wie prätentiös und peinlich unterstrichen steht das erzählende oder erlebende › Ich ‹ da – wie reich und stark dagegen das › Wir ‹ . Wir können in dem , was um uns ist , irgendwie aufgehen , untergehen – harmonisch damit verschmelzen . Ich springt immer wieder heraus , schnellt wieder empor , wie die kleinen Teufel in Holzschachteln , die man auf dem Jahrmarkt kauft . Immer strebt es nach Zusammenhängen – und findet sie nicht . Wir brauchen keinen Zusammenhang – wir sind selbst einer . Die Sendung , die wir heute unserem Briefe beifügen , oder , richtiger , der Inhalt eben dieser Sendung ist wieder ein neuer Beweis dafür . Denn dies alles , teurer Freund , den wir insgesamt gleich schätzen und verehren , gilt nur als Vorrede einer Vorrede , die jetzt beginnen und Ihnen zur Erläuterung beifolgender Dokumente dienen soll , das heißt zur Erläuterung des Umstandes , daß wir eben diese Dokumente in Ihre Hände legen und von Ihnen die Lösung manches Rätsels erhoffen . Mit den Papieren hat es nun folgende Bewandtnis : Es mag etwa dreiviertel Jahr her sein , daß wir gelegentlich einer Seereise einen jungen Menschen kennenlernten . Wir fanden ihn sehr liebenswürdig und unterhielten uns gerne mit ihm . Es dauerte allerdings einige Zeit , bis es so weit kam , denn er war zu Anfang ungemein zurückhaltend und schien schwere seelische Erschütterungen durchgemacht zu haben – aber davon später . Der junge Mann hieß mit dem Nachnamen : Dame – also Herr Dame . Dieser Umstand mochte wohl einiges zu seiner reservierten Haltung beitragen und gehörte zu den vielen Hemmungen , über die er sich beklagte . Wenn er sich vorstellte oder vorstellen ließ , wurde er stets etwas unsicher und fügte jedesmal hinzu : » Dame , ja – ich heiße nämlich Dame . « Wir fragten ihn einmal , weshalb er das täte – der Name sei doch nicht auffallender als viele andere , und er mache auf diese Weise eigentlich die Leute selbst erst aufmerksam , daß sich eine Seltsamkeit , sozusagen eine Art Naturspiel , daraus konstruieren lasse . Er entgegnete trübe : Ja , das wisse er wohl , aber er könne nicht anders , und es gehöre nun einmal zu seiner Biographie . ( Diese Bemerkung lernten wir erst später bei der Lektüre seiner Aufzeichnungen verstehen . ) Herr Dame war seinem Äußeren und seinem Wesen nach durchaus der Typus junger Mann aus guter Familie und von sorgfältiger Erziehung mit einer Beimischung von mattem Lebemannstum – sehr matt und sehr äußerlich . Er wäre nie ohne einwandfreie Bügelfalte auf die Straße gegangen , auch wenn ihm das Herz noch so weh tat – und das Herz muß ihm wohl oft sehr weh getan haben . Die Grundnote seines Wesens war überhaupt eine gewisse betrübte Nachdenklichkeit oder nachdenkliche Trübsal , aber daneben liebte er Parfüms und schöne Taschentücher . Als wir ihn kennenlernten , war er schweigsam und verstört ; allmählich , besonders wenn wir in den warmen Nächten an Deck saßen , ging ihm immer das Herz auf , und er erzählte von sich selbst und von seiner Biographie – wie er längere Zeit unter eigentümlichen Menschen gelebt und eigentümliche Dinge mitangesehen und auch miterlebt habe . Schon von Haus aus habe er einen dunklen Trieb in sich gefühlt , das Leben zu begreifen , und da habe man ihn an jene Menschen gewiesen . Leider vergeblich , denn er konnte es nun erst recht nicht begreifen , sondern sei völlig verwirrt geworden und eben jetzt auf dem Wege , in fernen Ländern Heilung und Genesen zu suchen . Den Ort , wo sich das alles begeben hat , wollte er nicht gerne näher bezeichnen – er sagte nur , es sei nicht eigentlich eine Stadt , sondern vielmehr ein Stadtteil gewesen , der auch in seinen Papieren oft und viel genannt wird . Wir konnten uns das nicht recht vorstellen . Er erzählte uns denn auch , daß er damals allerhand niedergeschrieben habe , in der Absicht , vielleicht später einen Roman oder ein Memoirenwerk daraus zu gestalten , und wir interessierten uns lebhaft dafür . So kam die Zeit heran , wo wir uns trennen mußten , denn die Reise ging zu Ende . An einem der letzten Tage stieg Herr Dame müden Schrittes in seine Kabine hinab und kam mit einem ansehnlichen Paket beschriebener Hefte wieder ; dann sagte er , wenn es uns Freude mache , sei er gerne bereit , uns seine Aufzeichnungen zu überlassen . Er wolle sie auch nicht wieder haben , denn das alles sei für ihn abgetan und läge hinter ihm , und er habe wenig Platz in seinen Koffern . Was damit geschehe , sei ihm ganz gleichgültig , wir möchten es je nachdem weitergeben , verschenken , vernichten oder veröffentlichen . Er selbst würde schwerlich wieder nach Europa oder gar in jenen Stadtteil zurückkehren . Dann nahmen wir recht bewegt Abschied und wünschten ihm alles Gute . Unser Wunsch sollte leider nicht in Erfüllung gehen , denn der Zug , mit dem er weiterfuhr , fiel einer Katastrophe zum Opfer , und in der Liste der Geretteten war sein Name nicht genannt – so ist wohl anzunehmen , daß er mit verunglückte . Wir haben denn auch nichts mehr von ihm gehört . Die Aufzeichnungen haben wir gelesen – es war das erste , was wir damit taten ; aber , wie schon anfangs erwähnt , vieles darin ist uns ziemlich dunkel geblieben . Nach unserer Ansicht handelt es sich , wie ja auch Herr Dame selbst meinte , um recht eigentümliche Menschen , Begebnisse und Anschauungen . – Unter anderem interessiert es uns lebhaft , wo jener Stadtteil zu finden ist , in dem sich das alles begeben . Wir leben , wie Sie wissen , schon so lange in der Fremde , daß es viel zu anstrengend wäre , die Kulturströmungen einzelner Stadtteile genauer zu verfolgen . Vor allem wünschen wir Ihre Ansicht darüber zu erfahren , ob die vorliegenden Dokumente wohl die Bedeutung eines › document humain ‹ haben und sich zur Veröffentlichung eignen würden . Meinen Sie nicht auch , daß es dann vielleicht ein schöner Akt der Pietät wäre , dem anscheinend Frühverblichenen auf diese Weise einen Grabstein zu setzen ? Wenn Sie es für geboten erachten , würden wir Sie bitten , einen Kommentar dazu zu schreiben – uns fehlt leider die nötige Sachkenntnis , und so haben wir uns auf einige bescheidene und mehr sachliche Anmerkungen beschränkt – aber vielleicht ist es auch überflüssig . Kurzum – ja , wirklich kurzum , denn wir lieben die Kürze auch dann noch , wenn wir ausführlich sein müssen , lieben sie um so mehr , wenn wir gerade ausführlich gewesen sind – wir legen diese Papiere und alles Weitere vertrauensvoll in Ihre Hände . 1 Dezember Langweilig – diese Wintertage . . . Ich habe nach Hause geschrieben und ein paar offizielle Besuche gemacht . Man nahm mich überall liebenswürdig auf und stellte die obligaten Fragen – wo ich wohne , wie ich mir mein Leben einzurichten gedenke und was ich studiere . Der alte Hofrat schien es etwas bedenklich zu finden , daß ich kein bestimmtes Studium ergreifen will und so wenig fixierte Interessen habe – ich solle mich vorsehen , nicht in schlechte Gesellschaft zu geraten . Das war sicher sehr wohlgemeint , aber es fällt mir auf die Nerven , wenn die Leute glauben , ich sei nur hier , um mir › die Hörner abzulaufen ‹ und mich nebenbei auf irgendeinen Beruf vorzubereiten . Es war eine Erholung , nachher Dr. Gerhard im Café zu treffen . Ich erzählte ihm von meinen Familienbesuchen , er räusperte sich ein paarmal und sah mich prüfend an . Dann meinte er , das mit dem Hörnerablaufen sei wohl eine veraltete studentische Schablone , aber es gäbe neuerdings eine ganze Anzahl junger Leute , die sich › gärenshalber ‹ hier aufhielten , und zu diesen würde wohl auch ich zu rechnen sein . Eine sonderbare Definition – › gärenshalber ‹ – , aber der Doktor drückt sich gerne etwas gewunden aus ... das scheint überhaupt hier üblich zu sein . Wenn man darüber nachdenkt , hat er eigentlich nicht ganz unrecht . Vielleicht ist etwas Wahres daran – es kommt mir ganz plausibel vor , daß mein Stiefvater mich gärenshalber hergeschickt hat . Nur paßt es wohl gerade auf mich nicht recht . Ich habe keine Tendenzen zum Gären und auch gar kein Verlangen danach – überhaupt nicht viel eigne Initiative – ich werde einfach zu irgend etwas verurteilt , und das geschieht dann mit mir . Mein Stiefvater meint es sehr gut und hat viel Verständnis für meine Veranlagung ; so pflege ich im großen und ganzen auch immer das zu tun , was er über mich verhängt . Verhängt – ja , das ist wohl das richtige Wort . Schon allein die äußeren Umstände bringen es mit sich , daß immer alles eine Art Verhängnis für mich wird . Zum Beispiel in erster Linie mein Name und meine Väter . Meinen richtigen Vater habe ich kaum gekannt – er soll sehr unsympathisch gewesen sein – und nur den Namen von ihm bekommen . Mein Stiefvater hat einen normalen , unauffälligen Namen und war eigentlich die erste Liebe meiner Mutter . Sie hätte ihn ebenso gut gleich heiraten können , und alles wäre vermieden worden . Es wurde aber nicht vermieden , denn es war über mich verhängt , diesen Namen zu bekommen und mein Leben lang mit ihm herumzulaufen . Dame – Herr Dame – wie kann man Herr Dame heißen ? so fragen die anderen , und so habe ich selbst gefragt , bis ich die Antwort fand : Ich bin eben dazu verurteilt , und der Name verurteilt mich weiter zu allem möglichen – zum Beispiel zu einer ganz bestimmten Art von Lebensführung – einem matten , neutralen Auftreten , das mich irgendwie motiviert . Dissonanzen kann ich nun einmal nicht vertragen , und das Matte , Neutrale liegt wohl auch in meiner Natur . Ich habe es nur allmählich noch mehr herausgearbeitet und richtig betonen gelernt . Über das alles habe ich mit Dr. Gerhard ausführlich gesprochen , er schien es auch zu verstehen , und es interessierte ihn . Der › Verurteilte ‹ sei wohl ein Typus , meinte er , mit derselben Berechtigung , wie › der Verschwender ‹ , › der Don Juan ‹ , › der Abenteurer ‹ und so weiter als feststehende Typen betrachtet würden . Dann hat er gesagt , jeder Mensch habe nun einmal seine Biographie , der er nachleben müsse . Es käme nur darauf an , das richtig zu verstehen – man müsse selbst fühlen , was in die Biographie hineingehört und sich ihr anpaßt – alles andere solle man ja beiseite lassen oder vermeiden . 7. Dezember Darüber habe ich dieser Tage viel nachgedacht . Heute hätte ich gerne wieder Dr . Gerhard getroffen und das neuliche Gespräch mit ihm fortgesetzt . Aber es saß diesmal eine ganze Gesellschaft mit am Tisch . Unangenehm , daß man beim Vorstellen nie die Namen versteht – das heißt , meinen haben sie natürlich alle verstanden – mein Verhängnis – er ist so deutlich und bleibt haften , weil man sich über ihn wundert . Ich habe diese junge Frau beneidet , die neben Gerhard saß , weil man sie nur Susanna oder gnädige Frau anredete . Du lieber Gott , ich werde ja nicht einmal heiraten können , wenn ich gern wollte . Wie könnte man einem Mädchen zumuten , Frau Dame zu heißen ? Und dann daneben zu sitzen , das mitanzuhören und selbst ... nein , diese Reihe von Unmöglichkeiten ist nicht auszudenken . Ich weiß nicht , wie es kam , daß ich dieser Susanna oder gnädigen Frau – wie ich sie natürlich anreden mußte , meine quälenden Vorstellungen anvertraute . Sie hat nicht einmal gelacht – doch , sie hat schon etwas gelacht , aber sie begriff auch die elende Tragik . Es kam später noch ein Herr an den Tisch , den man mir als Doktor Sendt vorstellte . Er ist Philosoph und macht einen äußerst intelligenten Eindruck . Mir schien auch , daß er eine gewisse Sympathie für mich fühlte . Man hat sich dann sehr lebhaft unterhalten . Ich konnte manchmal nicht recht folgen – Doktor Sendt merkte es jedesmal , zog dann die Augenbrauen in die Höhe , sah mich mit seinen scharfen hellblauen Augen an und erklärte mir in klarer , pointierter Ausdrucksweise , um was es sich handle . Ich möchte gerne mehr mit ihm verkehren ; mir ist , als könnte ich viel von ihm lernen . Und eben das scheint mir hier eine zwingende Notwendigkeit . Zuletzt sprachen sie viel von einem literarischen Kreise , um den es etwas ganz Besonderes sein muß . Dabei entspannen sich starke Meinungsverschiedenheiten . Bei diesem Gespräch hörte ich nur zu , ich mochte nicht immer wieder Fragen stellen , um so mehr , weil allerhand Persönliches berührt wurde und ich nicht gerne indiskret erscheinen wollte . Übrigens genierte ich mich auch etwas , weil der Dichter , der den Mittelpunkt jenes Kreises bilden soll , mir ziemlich unbekannt war . Seinen Namen kannte ich wohl , aber von seinen Werken so gut wie nichts . Da war ein junger Mensch mit etwas zu langen Haaren , auffallend hohem Kragen und violetter Krawatte , die auf ungewöhnliche , aber immerhin ganz geschmackvolle Art geschlungen war . ( Frau Susanna stieß den Philosophen an und raunte ihm zu , es sei wohl eine › kultliche ‹ Krawatte – und der antwortete : Violett – natürlich ist das kultlich . ) Dieser junge Mensch also sprach von jenem Dichter ausschließlich als dem Meister . Ich hatte bisher nur gehört , daß man in Bayreuth so redet , und es befremdete mich ein wenig . Überhaupt redete er mit einem Pathos , das mir im Kaffeehaus nicht ganz angebracht schien und sicher auch jenen › Meister ‹ unangenehm berühren würde , wenn er es zufällig einmal hörte – und war sichtlich verstimmt über einige Bemerkungen der anderen Herren , besonders des Philosophen , der sich etwas ironisch über Heldenverehrung und Personenkultus äußerte . Merkwürdige Dinge kamen da zur Sprache – eine ältere Dame erzählte : man ( anscheinend Mitglieder jenes Kreises ) wäre bei einer Art Wahrsager – einem sogenannten Psychometer – gewesen , und es sei unbegreiflich , wie dieser Mann durch bloßes Befühlen von Gegenständen den Charakter und das Schicksal ihrer Besitzer zu erkennen wisse – ja , bei Verstorbenen sogar die Todesart . » Es ist ganz ausgeschlossen « , so sagte sie , » daß er über irgend etwas Persönliches im voraus orientiert sein konnte und ... « – » Aber Sie müssen doch zugeben , daß er manchmal versagt « , fiel der junge Mensch mit der violetten Krawatte ihr ins Wort , » in bezug auf den Meister hat er sich schwer geirrt . Und gerade das ist sehr interessant und bedeutungsvoll , denn es zeigt deutlich , daß er die Substanz des Meisters wohl fühlte , nicht aber beurteilen konnte ... « » Wieso ? « fragte einer von den Herren , der nicht dabeigewesen war . Der junge Mensch maß ihn mit einem überlegenen Blick und wandte sich wieder an die Dame , die zuerst gesprochen hatte : » Sie haben es ja selbst gehört – er bezeichnete sie als unecht und theatralisch . Und weshalb – weil er eben nicht ahnte , um wen es sich hier handelt – weil er sich die hier verwirklichte Größe aus seinem engen Gesichtskreis heraus nicht vorstellen konnte . So half er sich mit der These des Theatralischen darüber hinweg . Für uns nur wieder eine neue Bestätigung , wie wenige der Erkenntnis des einzig und wahrhaft Großen würdig sind . « Die Dame hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und hörte mit leuchtendem Blick zu : » Ja , ja , so ist's , wir fühlten es ja auch alle – aber wie klar und schön Sie es jetzt ausgelegt haben . « » Es ist so klar , daß es kaum noch einer Auslegung bedurfte – zudem hatte der Meister den bewußten Ring erst seit einem Jahr getragen , und seine Substanz war zweifellos noch mit fremden , früheren Substanzen gemischt – das mußte die Beurteilung bedeutend erschweren . « Darauf entstand eine Pause , und dann sagte die Dame sehr nachdenklich : » Hören Sie , vielleicht liegt es noch einfacher – ich habe diesen Mann schon lange im Verdacht , daß er schwarze Magie treibt , und dann läge es wohl nahe , daß er alles wirklich Große und Schöne hassen – innerlich ablehnen muß . Und wiederum – daß der Meister nach jener Äußerung die Gesellschaft verließ , beweist doch stärker als alles andere , daß er sich mit etwas Unlauterem in Berührung fühlte und sich dem entziehen mußte . « » Oh , ich glaube « , warf Sendt spöttisch ein , » auch wenn man ihm von völlig lauterer Seite derartige Dinge sagte , würde er sich zurückziehen . « » Das soll wohl wieder eine von Ihren logischen Spitzfindigkeiten sein « , erwiderte die Dame gereizt , » aber die Sache trifft es nicht . Allerdings hatte er sich mit vollem Recht zurückgezogen – aber diese Dinge sind überhaupt nicht wesenhaft und gehören nicht zur Mitte . « » Warum beschäftigt man sich denn immer wieder mit ihnen ? Ich meine , vor kurzem noch gehört zu haben , daß die Beschränkung auf die weiße Magie nicht gebilligt wurde ? « » Gegen die schwarze sind von jeher schwere Bedenken erhoben « , antwortete die Dame etwas strafend . » Besonders seit jener böse Magier die Substanz des Meisters so verkannte « , bemerkte Sendt , während er ihr in den Mantel half , denn sie hatte sich inzwischen erhoben , um zu gehen . » Allerdings « , murmelte sie vor sich hin , und es klang sehr überzeugt . Dann brach sie auf und mit ihr der größere Teil der Gesellschaft . Nur Doktor Sendt und Susanna blieben noch . Der Philosoph sah sie an , lächelte und sagte : » Mirobuk ! « Ich hatte das Wort noch nie gehört , und was es bedeuten sollte , war mir nicht klar , aber Susanna lachte und sagte : » Achten Sie nur darauf – Herr ... Herr Dame , wenn Sendt Mirobuk sagt , so hat es meistens eine gewisse Berechtigung . « Ich faßte Mut und fragte , was denn um Gottes willen das mit der Magie bedeute , die Dame sprach ja wie ein erfahrener alter Hexenmeister . Schwarze und weiße Magie – was versteht man überhaupt darunter ? Ich dachte , so etwas käme nur in Märchenbüchern oder im Mittelalter vor . – » O nein « , sagte mir Sendt , » die Dame huldigt nur wie viele andere dem Spiritismus , und Sie müssen wissen , daß dieser von seinen Anhängern als weiße Magie proklamiert wird , weil man sich nur an die guten und sympathischen Geister wendet und mit ihnen Beziehungen anknüpft . Die schwarze Magie aber beschäftigt sich gerne mit den Geistern von Verbrechern und Bösewichtern , die sich noch nicht ganz von der Erde befreit haben . Sie besitzen deshalb auch noch irdische Kräfte und rächen sich gelegentlich an dem , der sie beherrscht . Und der Magier , von dem hier die Rede war , hat sich eben so schlecht benommen , daß man ihm alles mögliche zutraut und sich in Zukunft vor ihm hüten wird . « Ich war ihm recht dankbar für diese Aufklärung , nur kam es mir befremdlich vor – nein , befremdlich ist nicht das rechte Wort , aber jener junge Mann und die Dame hatten eine so verwirrende Art , sich dunkel und geheimnisvoll auszudrücken und dabei , als ob von ganz realen Dingen die Rede sei , daß ich selbst etwas unsicher geworden war . Wie sie von dem Meister als von einem ganz übernatürlichen Wesen sprachen – von seinem Ring und seiner › Substanz ‹ – am Ende ist er auch ein Magier – ein Zauberer – ein Nekromant oder dergleichen . Ich war Susanna im Grunde recht dankbar , daß sie mich auslachte und sagte , es sei leicht zu merken , daß ich mich noch nicht lange hier aufhalte . 2 8. Dezember Heute wollte ich nicht ins Café , aber ich ging doch hin und fand wieder eine ungünstige Konstellation vor ; der Philosoph saß mit der lebhaften älteren Dame von neulich zusammen . Ich mochte nicht aufdringlich erscheinen , so setzte ich mich an den Nebentisch , den einzigen , der noch frei war , und las Zeitungen . Sie sprachen aber so laut , besonders die Dame , daß ich nicht umhinkonnte , zuzuhören , und hinter der Zeitung mein Notizbuch vornahm , denn es schien mir wieder sehr bemerkenswert , was sie da redeten . Die Dame erzählte von einem Professor Hofmann , dessen Name neulich schon verschiedentlich erwähnt wurde – er habe ihr gesagt , sie sähe ausgesprochen › kappadozisch ‹ aus . Kappadozien kommt , soviel ich weiß , in der Bibel vor , aber ich begriff nicht recht , wieso jemand › kappadozisch ‹ aussehen kann , und warum sie das mit solcher Wärme erzählte . Woher will man denn wissen , wie die Kappadozier ausgesehen haben ? Der Philosoph lächelte auch . Nun kam einiges , was ich nicht recht verstand , und dann das , was ich mir notiert habe . » Nein , es sollten die Posaunen von Jericho sein – hören Sie nur : sie waren alle bei mir auf dem Atelier ... « » War er auch dabei ? « fragte der Philosoph , und die Dame warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu . » Aber ich bitte Sie , wenn Sie spotten wollen ... « » Nein , nein , ich dachte nur – aber bitte , fahren Sie fort . « » Also der Professor , seine Frau und einige von den jungen Dichtern . Einer von ihnen ging gleich an meinen Flügel , betrachtete ihn von allen Seiten und sagte irgend etwas . Dann fragte die Frau Professor ihren Mann : › Wollen wir es jetzt sagen ? ‹ , und er nickte . Dieses Nicken sehe ich noch deutlich vor mir , aber ich kann es nicht beschreiben , es lag etwas ganz Besonderes darin . Dann war plötzlich ein Paket da , es wurde ausgewickelt , und ein Kästchen mit einem Schlauch daran kam zum Vorschein – es sah etwa aus wie ein photographischer Apparat . Und Frau Hofmann sagte lebhaft , dieses Kästchen habe ein Freund ihres Mannes aus dem Orient mitgebracht , es gäbe auf der ganzen Welt nur noch ein ebensolches , und das gehöre dem Oberrabbi von Damaskus . Wenn man es an ein Klavier anschraube , innerlich erhitze und dann hineinbliese , so gäbe es genau denselben Ton wie die Posaunen von Jericho . « » Hatten Sie nicht Angst , daß auch bei Ihnen die Mauern einfallen könnten ? « fragte der Philosoph . » Nein , von den Mauern war gar nicht die Rede – ich weiß nur , daß ich dann nach Spiritus suchte , um das Kästchen zu füllen , und ihn nicht finden konnte , aber mit einemmal war er doch da , und das Kästchen war auch schon am Klavier angebracht . Der Professor blies in den Schlauch , und es gab einen dumpfen Ton – aber dann muß der Spiritus ausgelaufen sein , und plötzlich stand alles in Flammen . Niemand kümmerte sich darum , und ich dachte an meinen Perserteppich , der unter dem Flügel liegt . Sie wissen ja , ich bin etwas eigen mit meinen Sachen . Aber der Professor sagte , es sei gar kein Perser , es sei ein › Beludschistan ‹ , und er habe keine Beziehung zum Wesen der Dinge – ist das nicht merkwürdig ? Ja , und nun kam noch etwas ganz Triviales , ich meinte , der Flügel würde sicher auch anbrennen , und in diesem Moment stand der Professor in seiner ganzen Größe vor mir und sagte : › Wenn Fräulein H... mir ihren Verlust genau beziffert , soll alles ersetzt werden . ‹ « » Und dann ? « fragte der Philosoph . » Das weiß ich selbst nicht mehr , es war ganz verschwommen . Aber sagen Sie selbst , liebster Doktor , ist es nicht wirklich seltsam ? Meinen Sie nicht , daß es kosmische Bedeutung hat ? « Damit brach das Gespräch ab , denn Gerhard kam , und die Dame ging bald darauf fort . Ich setzte mich zu ihnen und fragte Sendt , was denn das für eine rätselhafte Geschichte sei , ich hätte leider nicht vermeiden können , sie mitanzuhören . Und jetzt zweifelte ich nicht mehr daran , daß man hierzulande Zauberei treibt . » Haben Sie denn nicht gemerkt , daß die Dame mir einen Traum erzählte ? « » Nein – darauf bin ich gar nicht gekommen . « Lieber Dame « , sagte Gerhard , und es klang beinah wehmütig – er hat überhaupt immer etwas Schmerzliches im Ton – , » Sie machen Fortschritte . Schon können Sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden . Das geht uns allen hier wohl manchmal so – nicht wahr , cher philosophe ? « » Traum oder nicht Traum « , antwortete der Philosoph nervös , » was sie mir da auftischte , war wieder einmal eine Wahnmochingerei , wie sie im Buch steht . « » Wahnmochingerei – was ist das ? « » Nun , was Sie da eben mitangehört haben . « Doktor Gerhard wollte wissen , was für ein Traum es gewesen sei . » Natürlich ein kosmischer « , sagte der Philosoph , » sie hoffte es wenigstens und wollte von mir wissen , ob es stimmt . Sonst traut sie sich nicht , ihn bei Hofmanns zu erzählen . « Ich hätte gerne noch gewußt , was eine › Wahnmochingerei ‹ ist und › kosmische Träume ‹ . Aber der Philosoph schien mir nicht gut aufgelegt , und ich kann doch nicht immer fragen und fragen wie ein vierjähriges Kind . 3 14. Dezember Ein komischer Zufall , daß ich Heinz Kellermann hier treffe . Wir haben uns seit dem Gymnasium nicht mehr gesehen . Er behauptet zwar , es gebe nichts Zufälliges , sondern was wir Zufall nennen und als solchen empfinden , sei gerade das Gegenteil davon , nämlich ein durch innere Notwendigkeit bedingtes Geschehen . Man sei nur im allgemeinen zu blind , um diese inneren Notwendigkeiten zu sehen . Trotzdem schien er ebenso verwundert wie ich und fragte mit der gedehnten und erstaunten Betonung , die ich so gut an ihm kannte : » Wie kommst du denn hierher ? « Ich konnte diese Frage nur zurückgeben , und dann sagte er etwas überlegen : Oh , man könne nur hier leben , und hier lerne man wirklich verstehen , was Leben überhaupt bedeute . Ich habe ihm erzählt , daß das auch mein sehnlichster Wunsch sei , und wie ich mich mit meiner Biographie herumquäle – na Gott ja – daß ich eben ein Verurteilter bin und nicht recht weiß , was ich mit mir und dem Leben anfangen soll . Daraufhin ist er gleich viel wärmer geworden und lud mich für den Abend in seine Wohnung ein – es kämen noch einige Freunde von ihm , auf die er mich sehr neugierig machte . Ich ging hin , und es war auch wirklich der Mühe wert . Aber ich werde jetzt wieder ein paar Tage daheim bleiben und mich sammeln . Es sind zu viel neue und verwirrende Eindrücke von allen Seiten . Wohin ich komme und wen ich kennenlerne – alles ist so seltsam , wie in einer ganz anderen Welt , und ich tappe noch so unsicher darin herum . – Ob das nun Zufall ist oder innere Notwendigkeit , daß ich hierher kam und gerade diese Menschen kennenlernte ? Aber es lockt mich , ich kann dem allen nicht mehr entfliehen – ich bin wohl dazu verurteilt , und der Gedanke gibt mir meine innere Ruhe etwas wieder . Doktor Gerhard rät mir ja immer wieder , ich solle etwas schreiben – jeder Mensch habe einiges zu sagen und müsse , was er erlebt , in irgendeiner Form nach außen hin gestalten . Wenn es auch nur wäre , um meinem Stiefvater Vergnügen zu machen , er hat ja schon immer gemeint , ich hätte ein gewisses Talent dazu . – Und er ist gewiß aufrichtig , denn er hält sonst nicht übermäßig viel von meiner Begabung . Ich weiß nicht recht – einstweilen mache ich mir Aufzeichnungen und Notizen , besonders wenn ich mit dem Philosophen zusammen bin . Da war der Abend mit Heinz Kellermann und seinen Freunden . Der eine mit dem scharfen Gesicht sah fast wie ein Indianer aus . Als ich das sagte , wurde Heinz ganz ärgerlich und behauptete , er sei doch blond , dunkelblond wenigstens und ein absolut germanischer Typus . Es gab eine förmliche Diskussion darüber , aus der ich entnahm , daß sie die blonden Menschen mehr ästimieren als die dunklen , und daß das irgendeine Bedeutung hat . Es war auch ein junges Mädchen dabei – eine Malerin – , das übrigens ausgesprochen schwarzes Haar hatte ; aber ich wagte keine Bemerkung darüber , denn mir schien , daß sie der Unterhaltung etwas deprimiert zuhörte , und ich muß gestehen , ich freute mich zum erstenmal darüber , daß ich blond bin . Im ganzen hatte ich aber wieder das Gefühl , nicht recht mitzukönnen . Ich weiß nicht , ob man diese Ausdrucksweise eigentlich › geschraubt ‹ nennen kann , aber sie kommt einem manchmal so vor , und man muß sich erst daran gewöhnen . Was meinen sie zum Beispiel damit : man müsse einen Menschen erst › erleben ‹ , um ihn zu verstehen ? Heinz machte manchmal ganz treffende Bemerkungen – das kann er überhaupt sehr gut – und dann hieß es : » Heinz , Sie sind enorm . « Nach dem Tee setzte man sich auf den Boden , das heißt auf Teppiche und Kissen . Heinz machte die Lampe aus und zündete in einer Kupferschale Spiritus an – warum auch nicht – es gab eine schöne blaugrünliche Flamme . Aber dann stand die Malerin auf und hielt ihre Hände darüber , man sah nur die schwarze Gestalt und die Hände über der Spiritusflamme , die in dieser Beleuchtung ganz grünlich aussahen . Und nun waren alle ganz begeistert und sagten wieder , das sei › enorm ‹ . Um auch irgend etwas zu sagen und mich gegen das junge Mädchen höflich zu zeigen , meinte ich , dieses offene Feuer in der Schale habe etwas von einem alt-heidnischen Brauch . Das war nur so hingesagt , weil mir nichts anderes einfiel , aber sie sahen mich bedeutungsvoll an , als ob ich einen großen Ausspruch getan hätte , und Heinz sagte zu dem Indianer : » Sehen Sie – und er weiß gar nicht , was er damit gesagt hat . « – » Das ist es ja gerade « , antwortete der , » er muß das Heidnische ganz unbewußt erlebt haben . « Ich wollte fragen , was er meinte , da klingelte es , und dann kam der Professor Hofmann – der mit dem Kreis – der aus dem Traum – ich dachte mir gleich , daß er es wäre . Er war ungemein gesprächig und liebenswürdig , bewunderte das Feuer in der Schale und nannte es fabelhaft , ebenso die grünlichen Hände der Malerin und sagte , es sei ganz unglaublich schön , wie sie dastände . – Ich mußte dabei an die Geschichte neulich im Café denken – die › Wahnmochingerei ‹ , wie der Philosoph es nannte . Dann ging die Flamme aus , und die Lampe wurde wieder angezündet . Da niemand an Vorstellen zu denken schien , tat ich es selbst . Der Professor sah mich plötzlich verwirrt und ganz entgeistert an , ich dachte , er hätte mich nicht verstanden , wiederholte meinen Namen und setzte hinzu : » Ich heiße nämlich Dame . « Er schüttelte mir nun mit großer Lebhaftigkeit die Hand und sagte , es freue ihn unendlich , mich kennenzulernen . Dann unterhielt man sich über dieses und jenes . Der Professor ging dabei mit etwas stürmischen Schritten auf und ab , nahm jeden Augenblick einen Gegenstand in die Hand , betrachtete ihn ganz genau und stellte ihn wieder hin . Im Laufe des Gespräches fragte er mich , ob ich auch in › Wahnmoching ‹ wohnte . Ich fragte wieso und hielt es für einen Witz – » ich wohne in der K... Straße « . Darüber brachen sie alle in Gelächter aus und fanden es enorm , daß ich nicht wüßte , was › Wahnmoching ‹ sei . Man erklärte mir , daß der ganze Stadtteil von dem großen Tor an so heiße . Wie sollte ich das wissen , ich habe mich gar nicht darum gekümmert , wie der Stadtteil heißt , in dem ich wohne . In Berlin weiß man es , aber hier doch nicht . Ich begriff wirklich nicht , was daran › enorm ‹ sein sollte . Ja , sagten sie , das sei es ja eben – ich wäre in allem so unbewußt . Sonst bin ich wirklich ein geduldiger Mensch , aber ich hatte allmählich den Eindruck , als ob man mich mystifizieren wollte , und sagte , den Ausdruck › Wahnmochingerei ‹ hätte ich schon gehört . Der Professor wurde stutzig und fragte , von wem denn ? » Von Doktor Sendt , dem Philosophen . « Ah – Sie kennen Doktor Sendt ? « es klang beinah , als ob ihn das verstimmte . Aber dann wurde er wieder sehr herzlich und lud mich ein , ihn zu besuchen und zu seinem Jour zu kommen . den 18 .... Nachts um ein Uhr den Philosophen auf der Straße getroffen – wir gehen noch lange auf und ab , ich erzähle ihm von dem Abend bei Heinz und bitte um einige Aufklärungen . Warum es › enorm ‹ ist , wenn man Spiritus in Kupferschalen verbrennt und jemand die Hände darüberhält – ich kann immer noch nicht vergessen , wie grünlich das ganze Mädchen aussah – warum geraten sie darüber in solches Entzücken ? oder wenn man von einem heidnischen Brauch spricht ? » Junger Mann « , sagte Sendt , » enorm ist einfach ein Superlativ , der Superlativ aller Superlative . Sie werden überhaupt mit der Zeit bemerken , daß man unter echten Wahnmochingern einen ganz besonderen Jar gon redet , und Sie müssen lernen , diesen Jargon zu beherrschen , sonst kommen Sie nicht mit . Man sagt beispielsweise nicht , ein Ding , eine Sache , eine Frau sei schön , reizend , anmutig – sondern sie ist fabelhaft , unglaublich – enorm . Das heißt – enorm wird mehr in übertragener Bedeutung angewandt und bedeutet , den höchsten Grad der Vollendung . Speziell in dem Kreise , dem Ihr Freund Heinz angehört . « » Schon wieder ein Kreis ? « frage ich . » Ja , aber die Kreise berühren sich , dieser besteht nur aus wenigen und dreht sich etwas anders . Man beschäftigt sich dort damit , den Spuren des alten Heidentums nachzugehen – daher die Freude über Ihre harmlose Bemerkung . Und das grünliche Mädchen hatte wohl irgendeine symbolische Bedeutung . « Der Philosoph hielt plötzlich inne – hinter uns klangen rasche Schritte , und es kamen ein paar Herren an uns vorbei . Zwei von ihnen waren indifferent aussehende junge Leute – der dritte , der zwischen ihnen ging , ein knapp mittelgroßer Mann mit niedrigem schwarzem Hut und einem dunklen Mantel , den er wie eine Art Toga umgeschlagen hatte – man konnte ihn auf den ersten Blick fast für einen Geistlichen halten . Er schien über irgend etwas sehr erregt und sprach eifrig auf seine Begleiter ein , in einem ganz eigentümlichen , monoton singenden Tonfall . Gerade als sie uns überholten , hörten wir ihn sagen : » Ja – bis vor drei Jahren konnte man sie noch für zwei Mark auf jeder Dult finden , aber jetzt haben die Juden alle aufgekauft , und unter zehn Mark sind überhaupt keine mehr zu haben . « Gegen Ende des Satzes ging seine Stimme allmählich mehr in die Höhe , und zum Schluß kam ein kurzes , schrilles Auflachen . Als er uns sah , machte er eine halbe Wendung seitwärts und grüßte den Philosophen . Deutlich sah ich in diesem Moment sein breites , glattrasiertes Gesicht mit auffallend hellen , leuchtenden Augen , das aber trotzdem etwas absolut Unbewegliches , beinah Starres hatte . Beim Grüßen verzog er den Mund zu einem äußerst konventionellen Lächeln , in der nächsten Sekunde aber nahm er wieder einen steinernen und völlig ablehnenden Ausdruck an und ging rasch mit kurzen , eiligen Schritten seines Weges . Der Philosoph schien sich an dieser Begegnung und der aufgefangenen Bemerkung ungemein zu freuen : Lupus in fabula « , sagte er , » Sie haben wirklich Glück , Herr Dame ; dieser Herr , der mich eben grüßte , ist – nun man könnte ihn wohl den geistigen Vater des Wahnmochinger Heidentums nennen – nein , nein – das ist in diesem Falle nicht richtig – er würde es sehr übelnehmen , wenn man ihn als Vater von irgend etwas bezeichnen wollte- denn gerade er ist der Hauptverfechter des matriarchalischen Prinzips . « » Liebster Philosoph « , bat ich , » nun wird es mir schon wieder zu hoch . « Übrigens dachte ich mir gleich , daß jener Herr ein gewisser Delius sein müßte , von dem Heinz mir viel erzählte . Ja , es stimmte , und ich fand , es sei wirklich wieder ein sonderbares Spiel des Zufalls , daß wir ihm gerade bei diesem Gespräch begegneten , aber Sendt sagte , man träfe ihn sehr oft um diese Stunde , er liebe die Nacht und alles Dunkle . » Dieser Delius – nun , er ist wohl eine sonderbare Erscheinung « , fuhr er dann fort , » die heutige Zeit , auf die wir alle mehr oder minder angewiesen sind , gilt ihm nichts , er ignoriert sie oder begegnet ihr wenigstens nur rein konventionell – etwa so , wie er mich vorhin grüßte . Sein eigentliches Leben spielt sich in längst versunkenen Daseinsformen ab , mit denen er sich und andere identifiziert . Passen Sie einmal gut auf , Herr Dame – wissen Sie ungefähr , was man sich unter Seelensubstanzen vorzustellen hat ? « Ich sagte , daß ich es mir wohl vorstellen könnte – es war ja neulich im Café schon davon die Rede . » Schön – also Delius denkt sich nun diese Seelensubstanzen von den ältesten Zeiten her wie Gesteinschichten übereinander gelagert , etwa zuunterst die der alten Ägypter , Babylonier , Perser – dann die der Griechen , Römer , Germanen und so weiter . Man nennt das biotische Schichten . Seit der Völkerwanderung , meint er nun , habe sich alles verschoben , die Substanzen sind durcheinandergemischt und dadurch verdorben worden . Infolgedessen wirken bei den jetzigen Menschen lauter verschiedene Elemente gegeneinander , und es kommt nichts Gutes dabei heraus . Nur bei wenigen ( und das sind natürlich die Auserlesenen ) hat sich eine oder die andere Substanz in überwiegendem Maße erhalten – zum Beispiel bei ihm selbst die römische – er fühlt und empfindet durchaus als antiker Römer und würde Sie höchst befremdet anschauen , wenn Sie ihm sagten , er lebe doch im zwanzigsten Jahrhundert und sei in der Pfalz geboren . Denn seine Substanz ist eben römisch . Bei Heinz Kellermann und dessen Freunden dagegen herrscht die altgermanische vor , daher auch die stark betonte Vorliebe für Blonde und Langschädel . « » Aber lieber Doktor , sagen Sie mir nur noch das eine : was hat das alles damit zu tun , daß dieser Stadtteil Wahnmoching heißt ? « » Herr Dame – denn Sie heißen ja wirklich so « , sagte der Philosoph , und ich konnte es ihm in diesem Augenblick nicht übelnehmen – » Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil , eben dieser Stadtteil , aber das ist nur ein zufälliger Umstand . Er könnte auch anders heißen oder umgetauft werden , Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben . Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Rahmen eines Stadtteils hinaus . Wahnmoching ist eine geistige Bewegung , ein Niveau , eine Richtung , ein Protest , ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch , aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen – Wahnmoching ist noch vieles , vieles andere , und das werden Sie erst allmählich begreifen lernen . Aber für heute sei es des Guten genug , sonst möchte noch die aufgehende Sonne uns hier im Zwiegespräch überraschen . « Damit trennten wir uns . 4 20... . Mir fehlte etwas der Mut , zu diesem Jour zu gehen , aber Doktor Gerhard nahm mich mit . Ziemlich viele Leute , die sich in mehreren Räumen verteilten , die Frau des Hauses an einem gemütlichen Eckplatz hinter der Teemaschine , um die herum eine Anzahl junger Leute und Damen . Als wir eintraten , schwieg alles ein paar Minuten lang – ich merkte später , daß es jedesmal so war , wenn jemand Neues kam . Gerhard stellte mich vor und fügte statt meiner hinzu : » Gnädige Frau , mein junger Freund heißt nämlich so . « Frau Hofmann empfing mich sehr liebenswürdig – ihr Mann habe ihr schon von mir erzählt . Dann wandte sie sich an die anderen : » Denken Sie nur , Herr Dame wußte bis vor kurzem nicht , daß er in Wahnmoching wohnte . « Man betrachtete mich , wie mir schien , mit verwundertem Wohlgefallen , und ich war durch diese Bemerkung gewissermaßen eingeführt . Ich langweilte mich etwas , denn da ich niemand kannte , mußte ich vorläufig auf meinem Platz bleiben und Tee trinken . Gerhard machte vor einem jungen Mädchen halt – neben ihr auf einem Tischchen stand ein grüner Frosch aus Porzellan oder Majolika – und sagte etwas wehmütig : » Gnädiges Fräulein – Sie sollten eigentlich immer einen grünen Frosch neben sich sitzen haben . « Dann ging er weiter von einer Gruppe zur anderen und sagte wahrscheinlich ähnliche Dinge , denn wo er hinkam , wurde es gleich etwas belebter . Ich beneidete ihn im stillen um diese Gabe , denn ich konnte mich nicht recht in die Konversation hineinfinden . Es war die Rede von Menschen im allgemeinen , von ihrem Wesen , und worauf es dabei ankäme . Der Professor sagte etwas überstürzt und definitiv : » Auf die Geste kommt es an . « Die jungen Herren , es waren zwei oder drei , nickten bedeutungsvoll zustimmend , und die ältere Dame aus dem Café – die kappadozische – , die ich gleich wiedererkannt hatte , sagte lebhaft : » Ich hätte gedacht – in erster Linie auf die Echtheit des Empfindens . « » Empfinden ist immer echt « , bemerkte Hofmann wieder sehr definitiv , so daß man nicht anders konnte als ihm beistimmen . Aber Gerhard , der jetzt wieder neben dem Tisch stand und ein Bild betrachtete , warf milde ein : » Nun , das kann man doch nicht so ohne weiteres hinstellen , es gibt wohl auch leere und bedeutungslose Gesten , die durch das Empfinden nicht gerechtfertigt werden . Und ich meine , man darf nicht so schlechthin von der Geste sprechen . « Worauf die Frau des Hauses förmlich triumphierend meinte : » Nun , worauf es ankommt , ist eben der Stil . « » Gewiß , aber nicht jeder « , korrigierte ihr Mann und sah etwas beleidigt aus . » Die Geste ist überhaupt die geistleibliche Urform alles Lebens , und der Rhythmus der Geste ist der Stil . « Die anderen hörten ganz begeistert zu , und die Kappadozische äußerte : » Das haben Sie wieder ganz wunderbar gesagt . « Gerhard räusperte sich ein paarmal , als ob er nicht ganz einverstanden wäre , dann brach er auf , und ich schloß mich ihm an . Zum Herrn des Hauses sagte er noch : » Lieber Professor , ich hoffe , mein junger Freund wird noch öfter Gelegenheit finden , mit Ihnen zusammenzukommen . « Der Professor schüttelte mir wiederholt die Hand und sah mich ganz zerstreut an . Als wir hinausgingen , sagte er halblaut zu Gerhard : » Ihr Freund ist ein wundervoller Mensch . « Warum wohl – ich hatte den ganzen Abend kaum zehn Worte gesagt und das meiste , was sie sprachen , nicht verstanden , zudem , wie Gerhard mir nachher sagte , einen schweren Fauxpas begangen , indem ich der Frau Professor sagte : ich sei sehr begierig , den Meister kennenzulernen . So etwas dürfe man nicht tun – es wäre eine Art Gotteslästerung . Er pflege sich im dritten Zimmer aufzuhalten , und nur , wer würdig befunden sei , würde ihm vorgestellt ; zum Beispiel jener verklärte Jüngling , der vorhin leise mit der Hausfrau sprach und dann plötzlich verschwand . Das gehöre eben auch zur › Geste ‹ . Geste – Geste – was soll man darunter verstehen ? wie war es noch ? – die geistleibliche Urform alles Lebens . Hier wird ja überhaupt so viel vom › Leben ‹ gesprochen , und immer so , als ob es durchaus nichts Selbstverständliches sei , sondern gerade das Gegenteil . Aber gerade darin liegt wohl etwas , was reizt und anzieht – ich möchte ja selbst endlich einmal dahinterkommen , was es eigentlich mit dem Leben auf sich hat – ob es etwas ganz Selbstverständliches oder etwas ungeheuer Kompliziertes ist . Heinz zum Beispiel tut ja , als ob er hier in diesem sonderbaren Stadtteil den Stein der Weisen gefunden hätte . Und mir ist , seit ich hier bin , zumut , als ob ich nur in Rätseln sprechen höre und mich zwischen lauter Rätseln bewege . Ich fühle mich ziemlich unglücklich , und in meinem Kopf ist es wirr und dunkel . 5 10. Januar Ich werde wohl doch anfangen einen Roman zu schreiben . Als erstes Kapitel könnte ich gleich den gestrigen Abend nehmen . Der junge Mann im Pelzmantel ist Herr Dame . Etwas müde und nachdenklich geht er durch die Straßen . Chamotte , sein Diener , folgt ihm , mit Maskenkostümen beladen . Er ist verurteilt , heute abend auf ein Fest zu gehen – eine Frau hat ihn dazu verurteilt . Große Schneeflocken fallen vom Himmel – der heimliche Traum seines Lebens ist , nur einmal der Frau zu begegnen , die ihn – ach Gott , wie soll man das sagen – die ihn mit Liebe und zur Liebe verurteilt – gütig und doch ... Nein , das geht nicht , das muß noch anders gesagt werden . Sie kommen in eine Nebenstraße , an der Ecke steht ein altes Haus mit großem grünem Tor und einer altmodischen Glocke . Chamotte zieht die Glocke – dreimal – , denn nur auf dieses Zeichen wird man eingelassen . Man geht durch einen Laubengang und über einen gepflasterten Hof – wieder eine Tür und wieder dasselbe Glockenzeichen . Die Tür wird von innen aufgerissen . Der Herr im Pelzmantel fährt zurück , Chamotte schreit laut auf , vor ihnen im Schein einer trüben Laterne steht ein Henkersknecht aus dem Mittelalter – oder Gott weiß woher . Er trägt ein eisernes Schuppenhemd , eine verrostete Sturmhaube , unter der die Augen unheimlich hervorblicken , im Ledergürtel steckt ein langes , handbreites Dolchmesser , baumelt geraubtes Altargerät . Quer über die Stirn läuft eine blutrote Narbe . Die unheimliche Gestalt verbeugt sich in tiefem Ernst ; »von Orlonsky . « » Dame – Dame – ja , ich heiße so . « » Freut mich sehr , Susanne wartet schon . « Der Henker mit seiner Laterne geht voran , durch einen dunklen Flur , eine Treppe hinauf , in einen großen hellerleuchteten Raum , eine Art Küche , wie man sie in Bauernhäusern findet . In der einen Ecke ist der Herd , in der anderen ein gewaltiger Tisch mit ledergepolsterten Bänken und Stühlen – an den Wänden altes Kupferzeug und Fayencegeschirr , ein ganzes Museum . Susanna steht am Tisch in einem weißen Gewand und schminkt einen untersetzten jungen Herrn , der mit runden schwarzen Augen gefühlvoll zu ihr aufblickt . Ein zweiter , mit dem Zwicker auf der Nase , hält die Lampe , spricht und gestikuliert aufs lebhafteste . Dazwischen läuft ein fünf- bis sechsjähriges Kind herum . Begrüßung – Vorstellung – der Fremde , in dieser Umgebung wieder völlig Fremde , küßt ihr die Hand . Der Henker stürzt an den Herd und rührt in einem Gericht , das anzubrennen droht – Chamotte reißt Augen und Mund auf und steht wie verzückt . » Wir haben Eile , Eile « , sagt Susanna – » Haben Sie Ihr Kostüm ? – Chamotte , mach das Paket auf – und Ihr Schnurrbart ? « Sie sieht mir ins Gesicht . . . Anmerkung Herr Dame geht manchmal unvermittelt in die erste Person über – aber falls er seinen Roman wirklich jemals geschrieben hätte , würde er es sicher korrigiert haben . Ach Susanna , ich habe nie einen Schnurrbart getragen . « Der Herr mit dem Zwicker fixiert erst mich und dann Susanna . Damit ist die Frage vorläufig erledigt . » Also rasch , ziehen Sie sich an , Herr Dame . « » Hier ? « Ich sehe mich hilflos um . » Aber Susja « , ruft der Henker schockiert vom Herd herüber , » ist zum erstenmal hier Herr – Herr -Dame – « ( Susja – das klang so hübsch und ermahnend – ich fasse Sympathie für den Henker . ) » Ach , Willy , wir tun ihn in Ihr Schlafzimmer ... « , sagt sie zu dem mit runden Augen und schiebt mich in einen anstoßenden Raum . Auch dort ist Licht , und von einem Diwan fährt erschrocken ein Mädchen mit offenen blonden Haaren empor . » Was machen Sie denn , Susanna ? « schreit Willy , und sie schiebt mich rasch noch ein Zimmer weiter . » Ich wußte wirklich nicht , daß du hier bist , Maria « , sagte sie dann zu der Blonden , Erschrockenen . » Oh , ich war so müde , und Willy sagte , ich könne hier etwas schlafen – ich bin schon seit fünf Uhr da . « » Kind , dann eil dich jetzt und hilf diesem jungen Mann hier , wenn er mit seinem Kostüm nicht zurechtkommt . Ach so « , sie stellte uns durch die halboffene Tür einander vor . » Chamotte kann mir ja helfen . « » Chamotte ? « fragt die Blonde dazwischen , » um Gottes willen , wer ist das ? « » Nein , Chamotte , den müssen wir jetzt herrichten , ich weiß noch gar nicht , was wir ihm anziehen . « Und fort war sie . Herr Dame bemüht sich , der Situation gerecht zu werden , zu der er sich verurteilt sieht , er unterhält sich mit dem jungen Mädchen von nebenan , läßt sich dann auch von ihr helfen , denn er kann durchaus nicht mit seinem Kostüm zurechtkommen . Sie tut es mit großem Ernst – sie scheint noch halb verschlafen und etwas melancholisch . Dann möchte er sich etwas über die verschiedenen Persönlichkeiten orientieren . Der Henkersknecht ist von polnischem Adel und ohne ausgesprochenen Beruf – der mit dem Zwicker ein strebsamer Schriftsteller , namens Adrian , und der dritte ist Willy – man nennt ihn niemals anders . » Wir haben alle so langweilige Nachnamen « , fügte sie hinzu , » und es ist auch bequemer , sie einfach zu kassieren . « » Wollte Gott « , sagte Herr Dame mit einem tiefen Seufzer , » wollte Gott , man könnte seinen Nachnamen für alle Zeiten kassieren ... « » Ich habe Ihren vorhin gar nicht verstanden . « » Ich heiße Dame , gnädiges Fräulein – hören Sie , wie das klingt . « » Dame ? « » Ja , Dame – Herr Dame – stellen Sie sich vor , wenn ich nun einmal die Frau finden würde ... « Sie hat sich auf dem Sofa niedergelassen , von dem sie vorhin so erschrocken emporfuhr – er setzt sich neben sie . In ihren Augen liegt so viel wirkliche Güte ; er spricht von seiner Biographie , sagt ihr , daß er ein Verurteilter ist – sie hört zu und scheint tief nachzudenken , die blonden Haare fallen ihr ins Gesicht . Nebenan wird es immer lauter . » Dame ! « ruft Susanna und schaut zur Tür herein . » Herr Dame , bitte , kommen Sie . « Er zuckt zusammen . » Ach , Susanna ... « Sie gehen in die Küche hinüber – da steht Chamotte auf einem Tisch , nur mit einer roten Badehose bekleidet , und der Henker ist damit beschäftigt , ihn von oben bis unten schwarz anzustreichen . Nur das eine Bein ist noch weiß , der arme Junge bietet einen merkwürdigen Anblick und wird etwas verlegen , als er seinen Gebieter sieht . » Wenn ihm nur die Farbe nicht schadet « , meint Susanna mütterlich besorgt , » wir haben ihm ein anderes Kostüm vorgeschlagen , aber er wollte durchaus ein richtiger Sklave sein . « » Das ist meine Biographie « , bemerkt Chamotte bescheiden . » O Chamotte , du bist zum Wahnmochinger geboren « , sagt Susanna . » Adrian , Sie schauen ihn so verzückt an , als ob Sie ein Gedicht machen wollten – vielleicht das Gedicht , das Ihnen endlich den Eintritt zum Tempel verschafft . « Adrian , der Herr mit dem Zwicker , der sich in eine Toga hüllt und trotzdem aussieht , als ob er eigentlich in den Frack gehörte – lächelt arrogant und beginnt sofort in feierlich getragenem Ton zu improvisieren : Der schwarze Sklave , der den Becher trug , Empfing die Farbe aus des Henkers Hand ; Er hieß Chamotte – – – Das Weitere habe ich nicht behalten – man erzählte mir , daß Adrian an einem Gedichtband arbeitet und danach strebt , unter die Auserwählten des Hofmannschen Kreises aufgenommen zu werden . Aber bisher habe er sich seine Chancen immer wieder durch irgendeine Unvorsichtigkeit verdorben . Ich fand ihn sehr liebenswürdig – munter und gesprächig . Und er hat wohl auch Herz . Auf dem Wege zum Fest saß ich mit ihm und Maria im Fiaker . Sie dachte noch über meinen Namen nach , und wir sprachen darüber . Ich sagte , daß ich Chamotte beneide – wie fröhlich und selbstverständlich kann einer durch die Welt gehen , wenn er so gerufen wird ; er tut sich leicht mit seiner Biographie . Chamotte , das klingt so , als ob ihm die reifen Früchte von selbst aus den Bäumen herabfallen müßten – und obendrein ist es nicht einmal sein wirklicher Name . Adrian nahm den Zwicker ab und sann nach , dann schlug er vor , mich › Monsieur Dame ‹ zu nennen . Er selbst wolle den Anfang machen , und es würde sich dann gewiß rasch einbürgern . – Wir schüttelten uns herzlich die Hände . An dem Abend allerdings nützte es nicht viel , denn wir gerieten unter lauter Bekannte , und die kappadozische Dame , die sich meiner vom Jour her einnerte , fing gleich an zu fragen . Ich machte ihr rasch einige Komplimente über ihr kappadozisches Aussehen , und dann ließ sie mich gar nicht mehr los – ob ich das auch fände – und wie ich darauf käme – es sei wirklich wunderbar . Ach Gott , was geht mich die kappadozische Dame an – ich möchte meinen Roman schreiben , und es ist doch nicht so einfach , wie ich dachte . Das bunte Treiben im Eckhaus – der Kreis – die Enormen – aber mir fehlt einstweilen noch der Faden , die durchgehende Handlung , oder wie man das nennt . Und ob es angeht , einen ganzen Roman so zu schreiben , wie ich das erste Kapitel angefangen habe – ich fürchte , es gibt ein zu rasches Tempo . Man müßte wohl für jede Gruppe einen besonderen Stil anwenden . Darüber werde ich Doktor Gerhard oder Adrian noch zu Rate ziehen . Und vieles wird mir der Philosoph erklären müssen . Das Fest an sich wäre wohl besonders schwierig zu schildern , denn für mich war es ein unbeschreibliches Durcheinander von Menschen , Kostümen , Musik , Lärm , einzelnen Vorfällen , Gesprächen und so weiter . Ich bin auch kein Karnevalmensch , wie man hier sagt . Ich trinke wenig , tanze nicht und bin froh , wenn man mich möglichst in Ruhe läßt . Durch die kappadozische Dame kam ich an den Hofmannschen Tisch . Ab und zu erschien Susanna und setzte sich neben mich . Das war mir ein Trost – ich hätte mich sonst wieder recht ratlos gefühlt . Ich dachte , man würde sich gemessen und weihevoll benehmen , und es machte mich stutzig , daß der Professor als Teufel verkleidet war und in wilden Sprüngen tanzte . Gott , das ist wohl begreiflich , ich hatte noch nie einen Professor in rotem Trikot gesehen . Eine Anzahl Jünglinge bildete einen Kreis um ihn – ich glaube , es wurde ein Walzer gespielt , aber niemand kümmerte sich darum , sie sprangen auf ihre eigene Weise , und die kappadozische Dame war ganz entzückt und sagte , das sei dionysisch . Adrian teilte ihre Begeisterung und erklärte , er würde nächstens auf seinem Atelier eine Satansmesse veranstalten , ob ich nicht kommen wollte . Ich meinte etwas kleinlaut , daß ich noch nicht genug von Magie verstände . . . » Oh , ich kann Ihnen ein Buch darüber leihen ... Ja – übrigens weiß ich doch nicht recht , ob eine Satansmesse das Richtige wäre , aber eine Orgie – eine panerotische Orgie . Was meinen Sie dazu , gnädiges Fräulein ? « Susanna trat mich so energisch auf den Fuß , daß ich unwillkürlich stöhnte – ich hatte nur Sandalen an . Und Adrian wandte sich rasch nach mir um : » Sie scheinen das nicht recht zu billigen , Monsieur Dame – aber warum nicht ? Sind wir nicht ebeno berechtigt , Orgien zu feiern , wie die alten Römer und Griechen ? Ich dachte , gerade Sie mit Ihrem jungen Sklaven müßten Sinn dafür haben . « Dabei warf er mir einen verständnisvollen Blick zu , über dessen Bedeutung ich mir nicht recht klar war . ( Chamotte stand den ganzen Abend hinter mir oder Susanna und bediente uns . ) Wieder trat Susanna mich auf den Fuß und sagte : » Der Meister ist auch da – sehen Sie , dort geht er mit einem seiner Adoranten ; daß er auf ein Fest geht , ist ein Ereignis . « Sie hatte leise gesprochen , aber Frau Hofmann mußte es doch aufgefangen haben , denn sie sagte lächelnd : » Liebe Susanna , Sie irren sich – er ist nicht hier . Der Herr , den Sie meinen , hat nur seine Maske gemacht – aber wirklich täuschend , nicht wahr ? « » Frau Professor « , antwortete Susanna , und ich bewunderte ihren Mut , » ich bin beim Theater gewesen und gehe jede Wette ein , daß es keine Maske ist ... « » Ach , was ist Theater ? « beharrte Frau Hofmann immer noch lächelnd , aber wie Märtyrer unter Foltern lächeln , » ich kann Sie versichern , daß er es nicht ist . « Der so Umstrittene befand sich ziemlich in unserer Nähe , und ich mußte Susanna recht geben – das konnte keine Maske sein . Und es lag etwas in seiner Erscheinung , was mir großen Eindruck machte . Warum will man denn nicht zugeben , daß er es ist ? « fragte ich nachher , als wir eine Weile allein saßen . » Weil gewöhnliche Sterbliche nicht wissen dürfen , daß er wirklich vorhanden ist . « Der Professor kam mit einer Dame , zog sie auf einen Stuhl nieder und sagte bewundernd : » Ist sie nicht unglaublich schön ? « Susanna flüsterte ihm ins Ohr : » Um Gottes willen – sie ist furchtbar . « Er erschrak , betrachtete sie von der Seite und fragte leise zurück : » Wirklich ? « Das wiederholte sich noch ein paarmal im Laufe des Abends – er brachte immer neue Wesen und wollte , daß man sie schön fände . ( Manchmal waren sie auch ganz nett . ) Später mischte ich mich in das Gewühl , ich traf Willy , der nach Maria suchte . Schließlich sahen wir sie mit Heinz und seinen Freunden . » Ja , dann ist es umsonst « , sagte Willy betrübt . » Die Enormen geben sie nicht her – sehen Sie , der dort ist Hallwig , er ist entschieden ein ungewöhnlicher Mensch ; ich möchte ihn schon lange kennenlernen , aber er hält sich vollständig zurück und verkehrt nicht mit belanglosen Leuten , wie ich und Sie es sind – nehmen Sie es nicht übel , Herr Dame ... « » O gewiß nicht , und Maria ? « » Maria ist eben › enorm ‹ – sie ist heidnisch , und Götter wohnen in ihrer Brust . Damit haben sie ganz recht , und wir finden es ja auch , aber man kann sich nicht darüber verständigen . Maria liebt die Enormen , und sie liebt uns – sie liebt überhaupt alles , aber man sieht es nicht gerne , daß sie so universell ist , und vor allem ihr Verkehr im Eckhaus – wir ziehen sie herunter , wir sind Schmarotzer und Vampire an ihrer Seele . « Er war ganz traurig . Ich betrachtete den genannten Hallwig genauer – ich hatte ja auch schon gemerkt , daß Heinz es vermeidet , mich mit ihm bekannt zu machen . ( Woher wissen sie denn so genau , daß ich › belanglos ‹ bin ? ) – Ein auffallend schöner Mensch , und Maria scheint ihn sehr zu lieben . Vielleicht war sie deshalb heute abend im Eckhaus so melancholisch und verstand mich so gut . » Und wer ist der kleine Brünette , der so zärtlich den Arm um sie legt ? « » Das ist Konstantin , der Sonnenknabe , er ist auch enorm , und deshalb darf er alles – er darf sogar Maria lieben . Bei ihm ist es eben das Enorme , daß er alle Frauen liebt , auch wenn er sie eigentlich gar nicht mag – dann läßt er sich wenigstens lieben – die Mädchen sind alle hinter ihm her . Sehen Sie , lieber Dame , ich habe gar nichts gegen die Enormen , ich verehre sie sogar aus der Ferne , und ziemlich hoffnungslos – denn sie schätzen meine Rasse nicht – sie lassen nur blonde Langschädel gelten , und ich sehe so äthiopisch aus – aber wenn sie die Mädchen gegen uns beeinflussen ... « Ich sagte ihm , daß ich das wieder nicht verstände : » Überall sind mysteriöse Gemeinschaften , man hört von Satansmessen , Orgien , Magie und Heidentum sprechen wie von ganz alltäglichen Dingen , dann wird wieder getanzt und Tee getrunken , aber selbst beim Tee gibt es Geheimnisse und verschlossene Türen , hinter denen vielleicht ein Magier sein Wesen treibt . « » Ja , so ist es wohl « , seufzte Willy , » und es gab eine Zeit , wo auch ich gerne Zauberlehrling werden wollte , man hatte mich schon halb und halb akzeptiert . – Aber schauen Sie einmal dorthin ! « Wir sahen , wie Orlonsky , der Henker , Maria mit Gewalt zum Tanzen fortzog – den Sonnenknaben schob er einfach beiseite , und der schien es auch gar nicht übelzunehmen . Aber der Henker war sichtlich gereizt , und als dann beim Tanzen irgendein junger Mensch aus der Menge Maria ansprach , ließ er sie stehen und warf ihn buchstäblich an die Wand , fuhr dabei mit der Hand in sein eigenes Dolchmesser , das offen am Gürtel hing , und verletzte sich ziemlich erheblich . Nun gab es erregte Auseinandersetzungen – dieser Orlonsky scheint ein rabiater Herr zu sein . Plötzlich stand auch der Indianer daneben – Orlonsky und er maßen sich nur mit den Blicken , dann folgte Maria dem Indianer , und Susanna beschwichtigte Orlonsky mit Zärtlichkeit . Man sah sie nachher beständig zusammen . Am Hofmannschen Tisch wurde noch viel über diese Szene gesprochen . Es lag sicher wieder eine mysteriöse Bedeutung darin , die ich nicht durchschauen konnte . Adrian wollte den Henker zu seiner Orgie einladen , und die kappadozische Dame fragte : » Haben Sie gesehen , wie seltsam er sich benahm « , sie meinte den Indianer . » Nein – wieso ? « » Er sagte kein Wort , aber er erbleichte , als er Blut fließen sah – Sie wissen doch , Blut ... « Nun wurde es mir zuviel , ich stand auf und irrte verlassen durch die festliche Menge . Wie eine unaussprechliche Erleichterung empfand ich es , als der Philosoph neben mir auftauchte . » Wie geht es Ihnen , Herr Dame ? Wozu hat man Sie heute verurteilt ? « » Ich fürchte zum Wahnsinn , cher philosophe , ich weiß nicht , was in diesem rätselhaften Stadtteil aus mir werden soll , und doch läßt es mir keine Ruhe , dahinterzukommen . « » Mirobuk ! « sagte er gütig , » kommen Sie doch morgen nachmittag etwas zu mir . « Ja , ich frage ganz im Ernst , ob es nicht ein bedenkliches Symptom für meinen inneren Zustand ist , daß das bloße Wort – Mirobuk – so beruhigend auf mich wirkt – wie eine Zauberformel , die den Bann zu lösen vermag ; denn es ist wohl eine Art Bann , der mich hier immer wieder umfängt . Ich weiß nicht , was Mirobuk bedeutet , wo er es her hat , und was es eigentlich heißen soll , ich will es auch gar nicht wissen , es ist nur die Art , wie er es anwendet – man ahnt gleichsam , daß hinter den verworrensten Widersprüchen doch noch irgendwo Klarheit zu finden sein könnte . 6 14. Januar Heute – gestern – vorgestern – ich muß mich erst wieder besinnen , wie die Tage sich folgten . Mittwoch war das Fest , und am Donnerstag nach Tisch machte ich mich noch ziemlich schläfrig auf den Weg , um der freundlichen Einladung des Philosophen zu folgen . Unterwegs fiel mir ein , daß bei Hofmanns Jour war und ich wohl auch dorthin gehen müsse . Frau Hofmann hatte mir gesagt , es werde heute wahrscheinlich Delius kommen , und ich sollte ja nicht versäumen , ihn persönlich kennenzulernen . Er sei eine der bedeutendsten Erscheinungen des heurigen Deutschlands – ich glaube sogar , sie sagte › Germaniens ‹ , und mir ist nicht recht klar , wie sich das mit seiner römischen Substanz vereinigen läßt . So bat ich Sendt , nach einer angenehmen , friedlichen Teestunde , ob er nicht mitgehen wolle . Er zeigte sich nicht sehr aufgelegt , entschloß sich aber endlich doch . Als wir kamen , stand ein großer Teil der Gesellschaft im ersten Zimmer um den Tisch versammelt . Ein Maler , der dem Kreis angehört und dort sehr geschätzt wird , hatte Zeichnungen mitgebracht , und man betrachtete , bewunderte und belobte sie . Da war ein Bild des Meisters ( über dieses wurde nicht laut gesprochen , man vernahm nur von Zeit zu Zeit ein ehrfürchtiges Murmeln oder gedämpftes : wirklich fabelhaft ! – ungeheuer ! ) , ferner verschiedene frühere Dichter und historische Persönlichkeiten : Schiller , Goethe , Luther und andere . Den Maler halte ich nicht für sehr talentvoll , die Blätter hatten alle dasselbe längliche Format , und sämtliche Köpfe waren so groß , daß sie irgendwo beinah oder ganz an den Rahmen anstießen . Zudem kam es mir befremdlich vor , daß er die verschiedenen großen Toten so ganz einfach porträtiert , als ob sie ihm gesessen hätten . Es gibt doch genug authentische Bilder von ihnen , die mehr Wahrscheinlichkeit besitzen . Der Philosoph stand neben mir , sagte manchmal hm – hm , und ich wollte ihn gerade um seine Meinung befragen , da ging die Tür auf , und Delius trat herein . Er verneigte sich nach verschiedenen Seiten mit demselben Wechsel zwischen konventionellem Lächeln und plötzlicher Starrheit , den ich damals auf der Straße an ihm beobachtete , dann trat er auf den Tisch zu , warf einen Blick auf die Zeichnungen , betrachtete scharf und flüchtig das Porträt Luthers und wandte sich in liebenswürdig anerkennendem Ton an den danebenstehenden Maler . » Nun , Herr Bender , ich sehe hier ein überaus wohlgelungenes Bildnis – ( ringsum entstand eine erwartungsvolle Pause , und nun fuhr er plötzlich beinah drohend fort ) – von jenem infamen Mönche , der uns um die schönsten Früchte der Renaissance betrogen hat – ( Pause ) – und den man im Altertum sicher auf dem Forum gestäupt hätte . « Die erwartungsvolle Pause war in allgemeine Verlegenheit übergegangen , alles blieb totenstill . Ich sah den Sprecher an und fand in diesem Augenblick , daß sein Kopf mit den breiten , unbeweglichen Zügen nicht , wie ich neulich meinte , an einen katholischen Geistlichen , sondern tatsächlich an alte römische Kaiserbüsten erinnerte . Man hätte sich mit ein wenig erhitzter Phantasie wohl vorstellen können , daß er jetzt gleich mit derselben monoton singenden , wie aus einem Grabe hervortönenden Stimme den Befehl erteilen würde , eine ganze Stadt voller Christen zu verbrennen . Der Maler stand ein wenig betroffen da , Frau Hofmann lächelte triumphierend über die Anwesenden hinweg , als fühle sie wohl , daß eben etwas Bedeutendes unter ihrem Dache geschehen sei , und dann brach die mutige kappadozische Dame das Schweigen : » Es wäre höchst interessant , Herr Delius , wenn Sie uns noch etwas über den Untergang der Renaissance sagen wollten . Sind Sie wirklich der Ansicht , daß der Protestantismus ... « Nun « , fuhr Delius völlig unbeirrt und unpersönlich fort – er sah dabei die kappadozische Dame fest an , aber so , als ob sie gar nicht da wäre – » nun , der Protestantismus bedeutet den Sieg – ja , leider den Sieg des jüdischchristlichen Elementes über den Rest von Heidentum in der katholischen Kirche . Glauben Sie nur – was überhaupt an diesem Christentum , über das ich mich jetzt nicht näher auslassen möchte , in jenen traurigen Zeiten des Niedergangs noch lebendig und glühend war , das ist Rom – das ist die Blutleuchte des Altertums – die Blutleuchte Roms . « ( Blutleuchte – ein wunderbares Wort – aber was mag es bedeuten ? Ich warf dem Philosophen einen flehenden Blick zu , und er winkte beruhigend : später , später . ) » Rom und immer wieder Rom ... Wissen Sie « , und dabei überschlug sich seine Stimme in einem jähen Auflachen , » wissen Sie , daß dieser abtrünnige Mönch einfach ein Jude war – ja « , fügte er gedehnt und geheimnisvoll zu : » Geist ohne Substanz , das ist immer der Weg zum Nichts . Seien Sie überzeugt , daß keiner ihn ungestraft beschreitet . Der sogenannte Geist und die Selbstvernichtung der Substanz , das ist immer dasselbe . Ja , der Fluch all dieser neuen Gestaltungen , das ist der Geist und sonst nichts . Aber das hängt mit den biotischen Schichten zusammen , und da sind viele geheimnisvolle Dinge im Spiel « , dies letzte klang , als ob er nur zu sich selber spräche und ganz vergessen hätte , daß alles ihm zuhörte . Frau Hofmann reichte ihm eine Tasse Tee , er nahm sie dankend entgegen , und nun sagte sie mit heller Stimme : » Ja , aber wenn nun Luther katholisch geblieben wäre ? « » Aber Lotte ! « fuhr ihr Gatte mit einem strafenden Blick dazwischen , und sie hielt inne . Delius war ganz in seine Gedanken versunken , er stand da , wiegte langsam den Kopf hin und her , nahm einen Schluck Tee und sprach noch einmal dumpf vor sich hin : » Ja , das sind allerdings sehr geheimnisvolle Dinge . « Dann ergriff wieder die kappadozische Dame das Wort – der Professor wanderte derweil unruhig hin und her , und es machte den Eindruck , als ob er sie gerne daran gehindert hätte . » Ich glaube , ich verstehe jetzt , was Sie damit sagen wollen , aber meinen Sie , daß Luther wirklich ein Jude war , oder haben Sie sich nur bildlich ausgedrückt ? « » Nun , mancher ist ein Jude , ohne es zu wissen « , sagte Delius monoton und abwesend . » Und mancher andere ist keiner , obwohl er dafür gilt « , bemerkte ein schlanker , schwarzer junger Mann , der neben mir stand . » Gewiß , gewiß , ich will nicht leugnen , daß auch dieses vorkommen kann « , antwortete Delius kurz . Die Frau des Hauses flüsterte indessen mit dem Maler , er raffte seine Blätter zusammen und verschwand in dem dritten Zimmer . Der Professor zog einige Jünglinge hinter sich her und folgte ihm . Delius war immer noch apathisch und in Gedanken verloren stehengeblieben , der Philosoph suchte nun wieder irgendeine Unterhaltung in Gang zu bringen und sprach von seiner Sommerreise in Italien . Übrigens war auch Maria inzwischen erschienen und gesellte sich zu uns , man gruppierte sich um einen kleinen Tisch , und Sendt erzählte , wie er an einem heißen Tage auf Capri alleine auf den Hügeln umherwanderte , wo sich die Ruinen von dem Schloß des Tiberius befinden . Die Landschaft sei im Mittagssonnenlicht wie verzaubert dagelegen , und plötzlich hätte ein kleiner weißhaariger Mann neben ihm gestanden , der aus den Ruinen hervorgekommen sein mußte – er trug einen merkwürdigen Mantel , und sein bartloses Gesicht zeigte ein ausgesprochen römisches Profil . Delius begann aufzuhorchen . » Er hatte eine Blume in der Hand « , erzählte Sendt weiter , » und reichte sie mir , wünschte mir guten Tag und verschwand , ohne ein weiteres Wort zu sagen , wieder in dem Gemäuer dicht neben mir , nachdem ich ihm noch einen Obolus in die Hand gedrückt hatte . « Delius erkundigte sich eifrig nach dem Schnitt des Mantels – ob es nicht vielleicht ein römisches Obergewand gewesen sein könnte ? » Und die Blume – war es nicht eine kleine , blaue Sternblume ? « » Ja , das stimmt wirklich « , antwortete der Philosoph . » Nun , so ist es zweifellos jene Blume gewesen , welche Tiberius seinerzeit aus Persien mitgebracht und in seinen Gärten angepflanzt hat . « » Wohl möglich « , sagte Sendt , » und wenn Sie jetzt behaupten wollen , der Mann sei ein altrömischer Krieger gewesen , so muß ich offen sagen , sein plötzliches Erscheinen und die ganze Begebenheit in der glühenden Mittagssonne waren so spukhaft , daß ich es kaum bestreiten würde . « » Sehen Sie « , warf nun Frau Hofmann ein und blickte auf den Philosophen , als ob sie ihn endlich überführt hätte , » das war doch sicher ein kosmisches Erlebnis . « Ich erwartete ein erlösendes Mirobuk , aber er sprach es nicht aus , sondern bedeutete mir etwas nervös , daß wir jetzt gehen wollten . Delius schüttelte ihm mit plötzlicher Herzlichkeit die Hand , dann ging er mit kurzen entschlossenen Schritten auf das dritte Zimmer zu und murmelte unterwegs noch etwas von Tiberius vor sich hin . Maria schloß sich uns an und wollte durchaus in einer Bar soupieren . » Maria , Maria « , sagte Sendt , » Sie täten besser , einmal auszuschlafen , Ihr Freund Hallwig würde es sicher molochitisch nennen , wie Sie auf Ihre Gesundheit loswirtschaften . Aber wie Sie wollen . « » Machen Sie mir den armen Monsieur Dame nicht noch konfuser « , gab sie zurück – sie hatte gleich , wie wir draußen waren , meinen Arm genommen , » er zuckte eben bei dem Wort molochitisch schon wieder zusammen . Ich glaube , wir werden heute die Biographien umkehren und Sie zu einem längeren Vortrag verurteilen müssen , sonst kann er sicher nicht schlafen . « » Ja , gerne , wenn es Ihnen Freude macht – nach einem guten Abendessen und ohne kappadozische Zwischenfragen läßt sich schon eher über diese Sachen reden . « » Und ich werde viele , viele Zigaretten dazu rauchen « , meinte sie sehr zufrieden , » denn die größere Hälfte verstehe ich ja doch wieder nicht . « 7 Mir ist , als müßte ich mein Gehirn auseinandernehmen und wieder neu zusammensetzen . Die Art , wie es bisher funktioniert hat , die mir geläufigen und gewohnten Gedankengänge nützen mir nichts mehr – ich möchte sie ausschalten , ausrangieren , bis ich imstande bin , mich in all diesen neuen sicherer zu bewegen . Einen halben Tag habe ich gebraucht , um das auf den Jour folgende Nachtgespräch aus meinen Notizen wieder zusammenzustellen und noch einmal durchzudenken . Wenn ich dann alles hier eingetragen habe , will ich den Philosophen bitten , es noch einmal nachzulesen . Auch was dazwischen konversationsweise gesprochen wurde , habe ich mir angemerkt , in der Absicht , das Ganze für meinen späteren Roman zu verwenden . Da liegt nun eine Schwierigkeit , über deren Lösung ich mir noch nicht klar bin : kann ich dem Leser , der vielleicht nur persönliche Erlebnisse und Schicksale erwartet oder wünscht , zumuten , sich mit mir in diese seltsame und umfangreiche Gedankenwelt zu vertiefen ? – Ich denke eigentlich : ja ! und wer nicht dazu gewillt ist , der möge das Buch ruhig aus der Hand legen oder es mit einem anderen vertauschen . Denn es wird ihm sonst , ebenso wie mir , nicht möglich sein , die Menschen und Begebenheiten in diesem außerordentlichen Stadtteil richtig zu verstehen . Ja , und einstweilen muß es wohl noch dahingestellt bleiben , ob ich selbst dieser schweren Aufgabe gewachsen bin . Anmerkung Wir nehmen an , daß Herr Dame die einliegenden , anscheinend aus seinem Notizbuch kopierten Blätter gemeint und nur seine Absicht , sie in das Tagebuch einzutragen , aus irgendeinem Grunde nicht ausgeführt hat . Verfahren Sie bei einer eventuellen Veröffentlichung damit , wie Sie es für gut halten – vielleicht erscheint der Inhalt Ihnen , sowie etwaigen Lesern , leichter verständlich als uns . Nachtgespräch mit dem Philosophen in der Jahreszeitenbar Am 5. Februar 19.. . Das Souper war vorzüglich , der Philosoph bei guter Laune , und ich fühlte mich allmählich wieder frisch und aufnahmefähig . Als wir dann beim Kaffee saßen , begann Sendt mit jener wohlwollenden Heiterkeit , die ich so sehr an ihm schätze : » Nun , lieber Dame , worüber wünschen Sie jetzt belehrt zu werden – der heutige Jour war ja einigermaßen reichhaltig und stellte wohl an den Laien ziemliche Anforderungen . « Ich dachte nach , mir schwirrte wieder alles bunt durcheinander – wieso Luther ein Jude sein sollte – und Blutleuchte – dieses wunderbare , suggestive Wort wollte mich gar nicht wieder loslassen – ja , und die blaue Blume des Tiberius – und kosmisches Erlebnis – mir fiel wieder ein , daß die kappadozische Dame damals auch ihren Traum einen kosmischen genannt hat . » Nur Mut , und alles hübsch der Reihe nach « , sagte der Philosoph . » Haben Sie etwas davon behalten , was ich Ihnen kürzlich über die Substanztheorie des Herrn Delius gesagt habe , und erinnern Sie sich noch an die Geschichte von dem Psychometer und dem Ring des Meisters ? « » Ja , ich erinnere mich . « » Also – das dürfen Sie nun vor allem nicht verwechseln . Bei dem Psychometer handelt es sich um die Seelensubstanzen des einzelnen , die unter anderem an seinen Gebrauchsgegenständen haften bleiben . Zum Beispiel Adrian , den Sie auch kennen , besitzt einen Lehnstuhl von einer Großmutter , den er als gespenstisch empfindet , weil die Substanz der Verstorbenen ihm wahrscheinlich noch anhaftet . Ist er abends allein in seinem Zimmer , so wird er sich nie entschließen , in diesem Lehnstuhl zu sitzen , obgleich er ungemein bequem ist . Aber lassen wir Adrians Großmutter – sie ist belanglos , und die ganze Sache mit den Einzelsubstanzen ist eigentlich unwahnmochingisch . Wahnmoching lehnt den Individualismus ab und lehrt , daß der einzelne wenig in Betracht kommt . Von großer Wichtigkeit sind dagegen die Ursubstanzen , aus denen die Einzelseele zusammengesetzt ist , so , wie ich Ihnen schon einmal sagte , die Rassensubstanzen : die römische – germanische – semitische und so weiter . Diese befinden sich im Blut – unterstreichen Sie Blut , es ist von größter Bedeutung . Wo nun eine von ihnen das Übergewicht bekommt , so daß sie allein das Erleben ( Schauen , Dichten , Handeln und vor allem auch das Träumen ) beherrscht – da haben wir die Vorbedingungen für das Zustandekommen der Blutleuchte . Hier ist nun eine mystische Komplikation zu merken : irgendeine heidnische Substanz hat periodisch größere Stärke , daher › heidnische Blutleuchte ‹ in vielen Individuen gleichzeitig . So war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts große heidnische Blutleuchte . Delius fand seine Weltanschauung – Nietzsche schrieb den Zarathustra – in der damaligen Jugend gärte es – König Ludwig II. versuchte seine phantastischen Ideen auszuleben ... « » Oder heuer im Karneval « , warf Maria dazwischen , » Monsieur Dame läßt sich zu einem Wahnmochinger Fest verurteilen , und Chamotte empfindet sich als Sklave , weil man ihn schwarz angestrichen hat . « Maria , unterbrechen Sie mich nicht « , sagte der Philosoph , » hören Sie lieber gut zu . Es würde Ihnen gar nicht schaden , wenn Sie auch etwas von diesen Geschichten begreifen lernten . « » Ach Gott , ich vergesse es ja doch gleich wieder « , antwortete sie resigniert und zündete sich eine neue Zigarette an . » Also – eben Ihr Freund Hallwig lehrt , daß nicht wir handeln , dichten , träumen und so weiter , sondern die Ursubstanzen in uns . Über die Rangordnung der historischen Substanzen dürften er und Delius wohl etwas uneinig sein , da dieser die römische , jener die germanische für sich gepachtet hat . Immerhin gelten beide für kosmisch , die semitischen dagegen immer für molochitisch – Herr Dame , sehen Sie mich nicht so verzweifelt an und brechen Sie nicht immer Ihren Bleistift ab , mit etwas gutem Willen werden Sie schon dahinterkommen . Also kosmisch – kosmisch ist das Prinzip , welches das wahre unmittelbare Leben aufbaut und in jedem Wesen , das überhaupt an ihm Teil hat , das gleiche ist . Notabene : den Begriff kosmisch braucht man gewöhnlich nur im Gegensatz zum chaotischen . Erst indem man ihn statt auf das Gebilde auf die bildende Kraft anwandte , bekam er die Wahnmochinger Nuance . Kosmisch werden deshalb solche Erlebnisse genannt , die deutlich aus diesem Prinzip stammen – auch Träume werden dazu gerechnet und spielen eine große Rolle . Delius oder Hallwig pflegen darüber zu entscheiden , ob ein Traum oder Erlebnis kosmische Bedeutung hat – die Damen beim Jour irren sich häufig über diesen Punkt und begehen dann Mißgriffe , welche den Professor Hofmann nervös machen . Denn auch er erfreut sich in diesen Fragen einer gewissen Autorität . « » Ich danke Ihnen , cher philosophe – die Nebel fangen an sich zu lichten – aber was heißt molochitisch ? « » Moloch , Herr Dame , wie Sie vielleicht wissen , war ein unangenehmer Götze , der sich von kleinen Kindern nährte , mithin also das Lebendige , Hoffnungsvolle verschlang . Molochitisch bedeutet daher in gutem Wahnmochinger Jargon alles Lebensfeindliche , Lebenvernichtende – kurz und gut , das Gegenteil von kosmisch . Man wandte nun in unserem Stadtteil mit Vorliebe diesen Gegensatz auf die Rassensubstanzen an und gelangte zu dem Resultat : die Arier repräsentieren das aufbauende , kosmische Prinzip , die Semiten dagegen das zersetzende , negativ-molochitische . Zu merken ist hierbei noch , daß eben die Substanzen sich im Laufe der Zeiten nicht rein erhalten haben und vielfach vermischt sind . Luther zum Beispiel , den man im allgemeinen für einen Germanen halten dürfte , wandte sich gegen die heidnischen Reste im Katholizismus – verneinte sie und bewirkte ihre Zersetzung , folglich war er molochitisch – folglich war er nach Delius ein Jude . « » Sehen Sie , das finde ich einfach entzückend « , meinte Maria , » aber ich weiß schon , unser Philosoph schätzt solche Wahnmochingereien nicht . « » Liebes Kind , die Sache hat eben auch ihre tragische Seite – denn in Wahnmoching wird vor allem jede Vernunft und Klarheit in den Bann getan , weil sie ihnen für verderblich und molochitisch gilt . Und das erlaube ich mir für bedenklich zu halten . « Er gähnte , und Maria fragte teilnehmend , ob er müde sei , dann wollten wir doch lieber von etwas anderem reden . Mir schien , sie hatte selbst genug davon und fing an , sich zu langweilen . » Nun ja – was meinen Sie etwa zum Hetärentum ? « fragte Sendt , und sie wurde ganz böse – es schien irgendeine Anzüglichkeit zu sein . » Aber ich bitte Sie – die matriarchale Zeit ist sicher von ungemeiner Wichtigkeit , wie Delius sagen würde . Waren Sie dabei , Dame , wie Frau Hofmann neulich proklamierte , wir gingen zweifellos wieder matriarchalen Zeiten entgegen ? Man sprach nämlich von einem Mädchen , das unberechtigterweise ein Baby bekommen hatte , und irgend jemand nahm Anstoß daran – ich glaube , es war an dem Festabend . « Ich sah zufällig Maria an und bemerkte , daß sie ganz rot geworden war . Warum nur ? Nein , die erwähnte Äußerung hatte ich nicht gehört oder jedenfalls nicht verstanden . » Aber darüber müssen Sie Bescheid wissen « , nahm Sendt wieder das Wort , » sonst wird man Sie niemals für voll nehmen . Merken Sie sich überhaupt , daß alle mit der Vorsilbe Ur beginnenden Worte hierzulande einen bedeutungsvollen Klang haben : Urzeit – Urnacht – Urkräfte – Urschauer – und so weiter . Des Ferneren : den Unterschied zwischen kosmisch und molochitisch hat man auch auf die matriarchale und patriarchale Weltanschauung übertragen ( vergessen Sie nie , daß › man ‹ stets Wahnmoching bedeutet , denn an allen anderen Orten der zivilisierten Welt pflegt man diese Sachen nur vom wissenschaftlichen oder historischen Standpunkt und ohne starke innere Beteiligung zu beurteilen ) . Notieren Sie sich also bitte folgendes : in der matriarchalischen Urzeit folgte die Frau nur dem kosmischen Drange , wenn sie sich – pardon – mit einem Manne einließ . Nach Bachofen – das ist ein bekannter Gelehrter , lieber Dame , und wenn Sie sich dauernd in unserem Stadtteil niederlassen wollen , müssen Sie ihn lesen – nach Bachofen ist der Hetärismus die früheste Lebensform – in Wahnmoching gilt sie natürlich für die enormste . Dem Hetärismus entspricht die Anbetung der blind gebärenden Erde , sie wird in seinen chthonischen Kulten verehrt – wenn Sie Ihr Griechisch noch nicht vergessen haben , werden Sie vielleicht wissen , daß Chthon der dunkle Schoß der Erde bedeutet . « » Nein , nun hören Sie auf – das ist wirklich nicht mehr zum Aushalten « , rief Maria ganz verzweifelt . » Gemach , gemach « , antwortete Sendt mit Ruhe , » haben Sie mich nicht selbst dazu verurteilt , Herrn Dame zu belehren , damit er ruhig schlafen kann ? Und war er nicht heute zum erstenmal auf einem Wahnmochinger Jour mit kosmischen Gesprächen ? « » Zum zweitenmal « , bemerkte ich , » aber damals sprach man nur über die Geste , und ich entsinne mich jetzt , daß sie ebenfalls als Urform des Lebens bezeichnet wurde . « Der Philosoph lobte mich und sagte : übrigens , wenn dort von der Geste gesprochen würde , so meine man immer nur die Geste des Meisters oder vielleicht noch die seiner verehrenden Anhänger . » Er tut sich leicht « , meinte Maria , » seine Geste ist einfach das dritte Zimmer « , und Sendt erklärte , sie habe ausnahmsweise etwas Richtiges gesagt . Sie war sehr stolz darauf und versprach , sich noch ein wenig zu gedulden . Wo waren wir stehengeblieben ? « fragte der Philosoph und warf einen Blick in mein Notizbuch – » ah , richtig – Chthon , der dunkle Schoß der Erde . – Das ältere Heidentum neigte dazu , sich die schöpferische Urkraft blind gebärend vorzustellen – Wahnmoching schließt sich ihm an , der Hetärismus gilt ihm als das Höchste , Urschauer , die noch durch keine molochitisch rationalen Hemmungen geschwächt sind . Die spätere Zeit erkannte das Licht der Vernunft als göttlich an und dachte sich das schöpferische Prinzip als männlich und zeugend . Man nennt sie deshalb die patriarchale , und Wahnmoching schätzt sie ziemlich gering ein . Es wird Ihnen deshalb ohne weiteres einleuchten , daß man das Dionysische stark betont , gerade jetzt im Fasching haben Sie öfters Gelegenheit , das zu beobachten . « Ja , es war mir schon aufgefallen , daß die kappadozische Dame Hofmanns Tanzweise für dionysisch erklärte . » Sehr richtig « , bemerkte Sendt , » Apollo ist bekanntlich der Gott des Lichtes , der Vernunft – Dionysos der des Rausches und des Blutes . Auch in Wahnmoching hat man nicht umsonst seinen Nietzsche gelesen , aber es genügt hier , zu wissen , daß es ehrenhafter ist , mit dem Dionysos auf vertrautem Fuß zu stehen . « Mir wurde jetzt auch klar , weshalb die Kappadozische bei der Szene zwischen den beiden Männern und Maria so bedeutsam sagte : » Sie wissen doch – Blut . « Damals war es mir völlig unverständlich geblieben . Die beiden brachen in ein freudiges Gelächter aus , als ich es ihnen jetzt erzählte . Dann wollte ich gerne noch wissen , wie man es nun in diesen Kreisen mit der Magie hält . An jenem Nachmittag im Café war ich ja noch so ganz unerfahren , und das Thema scheint doch hier und da wieder aufzutauchen . » Nein , dieses Gebiet liegt Wahnmoching eigentlich fern « , meinte der Philosoph , » man beschäftigt sich wohl gelegentlich in seinen Mußestunden damit , und die kappadozische Dame verwechselt es manchmal mit kosmischen Dingen . Hofmann ist seit dem bedenklichen Fauxpas jenes Psychometers ganz davon zurückgekommen , und Adrian ... « Er lächelte ein wenig ironisch . » Was haben Sie nun wieder gegen Adrian ? « fragte Maria , » ich kann ihn sehr gut leiden . « » Oh , ich auch « , erwiderte Sendt , » und ich wollte ihn gerade in einer poetischen Anwandlung mit einem Schmetterling – nein , falsch – mit einer Biene vergleichen , die aus allen Blumen den Honig herauszufinden weiß und das Gift wohlweislich darin läßt . Für jemanden , der sich hier in und zwischen den verschiedenen Kreisen bewegt , ist das eine sehr glückliche Eigenschaft . Was ? Immer noch eine Frage , lieber Dame ? Aber es sei die letzte , die ich als vielgeplagter Philosoph Ihnen heute noch beantworte – die Uhr ist zwei . « » Ja , sicher die letzte – was nun diese vielgenannten Kreise voneinander unterscheidet , und was ihnen gemeinsam ist , das möchte ich gerne noch wissen . « » Leicht gefragt – und nicht so leicht zu beantworten . Sie werden es mit der Zeit schon selbst herausfühlen . Ich kann es Ihnen zu dieser vorgerückten Stunde nur noch flüchtig andeuten . Etwa so : alle die sogenannten mystischen Entdeckungen , die Substanzangelegenheiten , kosmischen Dinge und so weiter sind in erster Linie Sache des Hallwig-Delius-Kreises , und der Hofmannsche partizipiert daran – man › kann ‹ es eben auch und findet es fabelhaft , tut auch noch allerlei Beiwerk dazu , das bei den anderen nicht immer Anklang findet . Und die Hauptdifferenz könnte man etwa so formulieren : dort bei Hallwig und Delius sucht man die alten Götter und alten Kulte wiederzufinden – hier , nämlich bei Hofmanns , braucht man keine alten Götter , denn man hat einen neuen , der allen Ansprüchen genügt , Mirobuk ! – und jetzt ... « » Gehen wir nach Hause « , sagte Maria , die schon ganz teilnahmslos dasaß . » Ob wir wohl noch ein Auto finden ? « » Und wo gedenken Sie heute zu schlafen ? « fragte der Philosoph besorgt , » Ihre Wohnung liegt ja wohl am Ende der Welt . « » O nein , ich gehe ins Eckhaus ... « Sendt sah sie prüfend an und sagte noch einmal Mirobuk , aber in etwas anderer Tonart . Nachtrag : Etwas Wichtiges habe ich vergessen – der Philosoph sagte mir , daß alle diese Dinge in Wahnmoching eigentlich als Geheimnis behandelt werden . Deshalb wende man wohl auch die vielen merkwürdigen Ausdrücke an , die eben nicht jeder versteht . 8 7. Februar Am späteren Nachmittag im Eckhaus . Unten im Hof spielt das Kind , das ich hier schon neulich gesehen habe . Susanna empfängt mich wieder in der großen Küche . Was ich inzwischen gemacht habe ? » Nun – versucht , mir über verschiedene Eindrücke klarzuwerden , und mich mit dem Philosophen unterhalten . « » Jetzt im Karneval ? « sie schüttelt den Kopf , » warum sind Sie nicht lieber mit uns zur Redoute gegangen , und heute ist draußen auf dem Lande ein Fest , man fährt mit Schlitten hinaus . « Sie seufzt etwas – Orlonsky erscheint – schon wieder im Henkerkostüm – oder hat er es inzwischen gar nicht abgelegt – er fragt nach Willy : » In seinem Zimmer – er liest Maria Märchen vor . « Wir gehen hinüber , Konstantin , der Sonnenknabe , ist auch da . Maria liegt matt auf dem Diwan , sie sind alle schon im Kostüm für heute abend , alle etwas bleich und übernächtig , und Willy liest ihnen ein Gedicht aus des Knaben Wunderhorn vor : Maria , wo bist du zur Stunde gewesen ? Maria , mein einziges Kind ? – Ich bin bei meiner Großmutter gewesen , Ach weh , Frau Mutter , wie weh ! Ich kannte das Gedicht – die Großmutter hat ihr Schlangen zu essen gegeben , und sie stirbt daran . » Pfui , warum lesen Sie ihr das vor ? « sagte Konstantin vorwurfsvoll . » Weil es so auf sie paßt ? « » Auf mich ? « fragte Maria ganz abwesend , und alle lachen . Sie scheint gar nicht zu wissen , wovon die Rede ist . » Und das schwarzbraune Hündlein , das auch von den Schlangen frißt und in tausend Stücke zerspringt – das werden Sie wohl sein , Konstantin « , meinte Willy etwas unliebenswürdig . Konstantin lächelte nur , er ist wirklich ein hübscher Kerl , und ich begreife , daß die Mädchen hinter ihm her sind . Dann Orlonsky : » Katerunterhaltung ist das ... « , er versorgt uns mit schwarzem Kaffee , und sein eisernes Schuppenhemd klirrt , wenn er sich bewegt , » bleiben Sie bei uns , Maria , wir geben Ihnen nicht Schlangen zu essen , bis Sie kaputt sind . « » Nein , bei Euch ist es zu friedlich – ich muß wohl immer etwas haben , was mich zugrunde richtet . Und ich kann ja doch nicht los von ihm ... « » Aber er denkt nicht daran , dich zugrunde zu richten « , sagt Konstantin . » Nein , er nicht – aber ich muß immer gerade das tun , was er nicht leiden kann , er haßt den Karneval und sagt , es sei ein unechter Rausch . Aber für mich ist es ein wirklicher – ich bin nur glücklich , wenn jeden Abend ein Fest ist . Und jetzt will er aufs Land gehen , weil er das nicht mehr mitansehen kann , es wäre lebensfeindlich , sich so zuzurichten wie ich ! Also was soll ich tun ? – was meinen Sie dazu , Monsieur Dame ? « » Was soll ich meinen ? – ich tue immer nur das , wozu ich verurteilt werde . « » Sie Glücklicher – weißt du , Susanna « , sie denkt nach , » ich will doch lieber zu euch ziehen . « » Und Konstantin ? « » Oh , Platz genug « , sagte Orlonsky , und es folgte eine Art häuslicher Beratung zwischen ihm und Susanna . Ich gehöre nicht zu den Neugierigen . Die Zusammenstellung dieses Hauswesens ist mir immer noch dunkel . Wem das Eckhaus gehört , wer ständig darin wohnt und wer vorübergehend ... und das Kind ... Heinz hält mich für einen harmlosen , unbedeutenden Menschen – das hat mir der Sonnenknabe wiedererzählt – und für gänzlich ungefährlich in bezug auf Frauen , man könne jedes junge Mädchen unbesorgt mit mir auf Reisen schicken . Ich weiß nicht , ob man das kann . In den Kreisen , wo ich aufgewachsen bin , ist es nicht üblich , und ich hatte bisher auch noch nie das Verlangen , junge Mädchen mit auf Reisen zu nehmen . Also , was sollen solche Bemerkungen ? Die Frau , die ich suche – die steht auf einem ganz anderen Blatt – und wenn ich sie einmal finde ... Dieser Konstantin ist wohl das indiskreteste Wesen , das man sich vorstellen kann , er erzählt alles wieder , was er sieht , hört , miterlebt , und es hat den Anschein , als ob seine Freunde ihn alles hören , sehen und miterleben lassen . Susanna behauptet , sie merkten es gar nicht oder fänden es enorm , daß er gar nicht begriffe , was Diskretion sei . Man bewundere nur die Anmut und heidnische Schamlosigkeit , mit der er seine oder andere Erlebnisse zum besten gebe . Nun , ich will gerne einräumen , daß der Junge viel Charme hat , ich mag ihn recht gerne . Aber trotzdem berührt es mich nicht gerade angenehm , wenn er mir mit strahlender Miene erzählt , daß andere Leute mich für einen Dummkopf halten . Ich wurde sogar etwas ärgerlich und sagte , daß Heinzens böse Zunge mir schon von der Schulzeit her bekannt sei – worauf er ebenso strahlend bemerkte , ja , ihm auch , denn Heinz sei sein Vetter , und sie ständen sich sehr nahe . Eigentlich kann es mir ja ziemlich gleichgültig sein – für einen bedeutenden Menschen halte ich mich wirklich selber nicht , aber ich verstehe und begreife vielleicht doch mehr , als Heinz annimmt . Sonst würde der Philosoph sich wohl auch schwerlich so viel Mühe mit mir geben – er selbst steht den Dingen ja sehr skeptisch gegenüber , aber ich habe mehr und mehr das Gefühl , daß es sich hier um große Ideen und tiefe Lebenserkenntnis handelt . Es sind unter diesen Menschen zweifellos einige ungewöhnliche Intelligenzen , und sie wollen das Leben auf eine ganz neue und schönere Art gestalten . Und wenn ihnen das gelänge , wäre es immerhin etwas Großes – ich würde mich auch , soweit es in meiner Kraft steht , gerne daran beteiligen . Ich liebe wohl das Konventionelle in allen äußeren Dingen und möchte nicht gerne darauf verzichten , aber wer weiß , ob nicht doch ein Fond von Heidentum in mir steckt . Zum mindesten scheint mir , ich bin jetzt doch auf dem Wege , in das geistige Leben dieses Vororts einzudringen und seinen inneren Zusammenhängen näherzukommen . Die letzte Woche bin ich ganz im Eckhaus geblieben . Susanna verurteilte mich dazu ; sie meinte , ich müsse etwas aufgeheitert und von meinen Grübeleien abgelenkt werden . Es war wieder ein ganzes Romankapitel , aber ich weiß es noch nicht anzufügen . Man kann doch nicht jedes Kapitel mit einem Karnevalsfest beginnen lassen – das kommt mir unkünstlerisch vor . Wollte man sich genau an die Wirklichkeit halten , so scheint allerdings bei den Eckhausleuten ein jedes nicht nur mit einem Fest anzufangen , sondern auch damit zu enden . Wie sie das aushalten , ist mir ein Rätsel ; ich war schon nach zwei Tagen ganz gebrochen und kam ins Lazarett , wie sie das nennen . Dies alte Haus ist merkwürdig und geräumig gebaut . Oben die große Küche ist zugleich der gemeinsame Salon , daneben liegen Willys Zimmer , und im Seitenflügel wohnt Susanna mit dem rätselhaften Kind – es sieht niemand von den dreien ähnlich , aber es muß doch irgendwie zu ihnen gehören . Unten im Parterre hat Orlonsky sein Reich , und neben dem großen Flur , durch den man hereinkommt , gibt es noch eine Reihe von halbdunklen Zimmern , wo die Gäste untergebracht werden . Orlonsky hat es dort mit vielen Diwanen , Polstern und anderen Lagerstätten etwas phantastisch , aber sehr gemütlich hergerichtet , das Ganze gleicht etwas einer Herberge , wo die müden Freunde des Hauses sich ausruhen und erholen können . Mit dem Ausruhen war es allerdings manchmal nicht weit her , aber ich bin jetzt schon daran gewöhnt , mich über nichts mehr zu wundern . Als ich das erstemal dort schlief , wurde mitten in der Nacht das Fenster von außen geöffnet , und jemand rief ein paarmal leise : Maria – dann stieg er hinein . Es war eine Mondnacht , und ich sah einen jungen Mann in Frack und Zylinder vor mir stehen , seinen Mantel trug er über dem Arm . Ich hielt es für angemessen , ihm zu sagen , Maria sei nicht hier . » Entschuldigen Sie , mit wem habe ich das Vergnügen ? « » Dame – ich heiße Dame . « Darauf stellte er sich ebenfalls vor und sagte , es freue ihn ungemein , mich kennenzulernen – er hätte Maria zum bal-paré abholen wollen – schade – aber vielleicht käme ich mit ? Es sei eben erst Mitternacht vorbei und immer noch Zeit genug . Ich nahm alle meine Widerstandskraft zusammen und erklärte ihm , ich wäre wirklich zu müde . » Müde ? Oh , das geht vorbei , sowie man dort ist . « » Aber ich war die vorigen zwei Nächte aus . « » Und da wollen Sie wirklich schlafen ? « Er stand regungslos da , vor meinem Bett , wie eine schmale , schwarze Silhouette , und schien ganz in Erstaunen versunken . » Wissen Sie , wo Maria heute ist ? « fragte er dann . » Mit Herrn Konstantin auf dem Atelierfest . « » Oh – gewiß wieder so eine bacchantische Wahnmochingerei « , sagte er bedauernd , » da kann ich im Frack nicht hingehen . Im Frack kann man nicht dionysisch taumeln – sehen Sie , Herr Dame , deshalb paßt das auch nicht in unsere Zeit . Was hab' ich davon , wenn ich abends dionysisch herumrase , mir wie ein Halbgott vorkomme und am nächsten Morgen doch wieder mit der Trambahn in mein Bureau fahren muß – ich bin nämlich Rechtspraktikant – ich weiß nicht , wie die Leute sich damit arrangieren . Es wird deshalb auch nie etwas Rechtes daraus . – Sie erlauben « , er stellte vorsichtig seinen Zylinder auf den Tisch und rückte sich einen Stuhl an mein Bett . Ich könne ihm doch nicht ganz beistimmen , sagte ich nun – im Gegenteil , was man hier unter dem Begriff Wahnmoching zusammenfasse , habe mich wohl zuerst befremdet , aber jetzt hätte ich doch das Gefühl , daß sich mir hier allmählich eine neue und wunderbare Welt erschließe . Und ich fühlte eine große Bewunderung für diese geistig hervorragenden Menschen . » Pardon , wen finden Sie geistig hervorragend ? « » Ich kenne die Herren leider erst ziemlich flüchtig – aber ich habe schon viel von ihnen gehört , und zum Beispiel Maria ... « » Ja , da haben wir 's – Maria und soundso viel andere . Da laufen die dummen Mädel hin und lassen sich erzählen , daß das Hetärentum bei den Alten etwas Fabelhaftes gewesen sei . Und nun wollen sie auch Hetären sein . Da war eine – unter uns gesagt , sie stand mir eine Zeitlang sehr nahe – , aber eines schönen Tages erklärte sie mir , sie habe eingesehen , daß sie nicht einem Manne angehören könne , sondern sie müsse sich frei verschenken – an viele . Es war nichts dabei zu machen – sie hat sich dann auch verschenkt und verschenkt und ist elend dabei hereingefallen . Denn glauben Sie mir nur , was ein rechter Wahnmochinger ist , der sieht nicht ein , daß es für die meisten Mädel eben doch ein Unglück bedeutet . Er bewundert sie höchstens , daß sie nun ein Schicksal haben und es irgendwie tragen ; aber was nützt ihnen das ? « Er machte eine Pause und fuhr dann fort : » Bei Maria liegt es etwas anders , sie hat von Natur keine Prinzipien . Und deshalb wird sie dort auch so verehrt . Sie sagt , es sei so schön gewesen – sonst habe sie immer nur Vorwürfe über ihren Lebenswandel hören müssen , und alle hätten versucht , sie auf andere Wege zu bringen . Aber als sie dann unter diese Leute kam , machte man ihr Gott weiß was für Elogen und fand alles herrlich . Sie hatte damals gerade das Kind bekommen , und die Welt zog sich etwas von ihr zurück . « » Maria hat ein Kind ? « fragte ich , wohl etwas ungeschickt , denn ich hatte ja keine Ahnung davon gehabt . » Das wissen Sie nicht – oh , sie macht übrigens gar kein Geheimnis daraus « , er wurde etwas nachdenklich . » Gott , ich weiß ja kaum , wer Sie eigentlich sind , aber ich nehme an , daß Sie dem Hause hier nahestehen « , darauf gähnte er : » Hören Sie , Herr Dame , wir sind wahrscheinlich beide ziemlich müde . Sie haben doch nichts dagegen , wenn ich dort auf dem Diwan schlafe . « Nein , natürlich hatte ich nichts dagegen – seine frische , unbekümmerte Art war mir ganz sympathisch . Er zog nur seinen Frack aus und hängte ihn über die Stuhllehne , dann warf er sich auf den Diwan . » Wissen Sie – ich habe schon einmal hier geschlafen , wenn ich meine Schlüssel vergessen oder mich verspätet hatte . Ein oder das andere Fenster ist immer offen , und die Eckhäusler wundern sich nie , wenn sie morgens irgendeinen Bekannten vorfinden – besonders im Karneval – , es ist wirklich ein gastfreies Haus . « Ich konnte noch lange nicht einschlafen , der Mond schien gerade ins Fenster , und der schwarze Frack hing so gespenstisch über die Stuhllehne , daß ich jeden Augenblick emporfuhr und meinte , es stände jemand vor mir . Ich dachte noch über Maria nach – es ist so viel Verhängnis um sie – , da tobt sie nun heute nacht mit dem Sonnenknaben und den Enormen , vielleicht liebt sie auch den Mann , der dort drüben schläft . Und morgen liegt sie selbst wieder hier auf dem Diwan , und wir unterhalten uns müde über unsere Biographien . Wir verstehen uns , wie nur zwei Verurteilte sich verstehen können – eine andere Liebe ist nicht zwischen uns . Hallwig nennt so etwas den Eros der Ferne , hat Maria mir gesagt . Früher hätte ich das überhaupt nicht verstanden und mir nichts darunter vorstellen können . Als ich aufwachte , war der Frack fort und sein Besitzer verschwunden . Susanna stand am Tisch und betrachtete sinnend ein Paar weiße Glacéhandschuhe , die er anscheinend vergessen hatte . Dann lächelte sie mich an : » Lieber Dame , kommen Sie doch mit zum Frühstück hinauf , wir haben ein paar Leute mitgebracht . « Es ist sieben Uhr morgens . Sie sind eben erst heimgekommen – die ganze Küche voll kostümierter Gestalten . Ich weiß nicht , ob ich wache oder träume . Man sitzt bei Lampenlicht um den Frühstückstisch , die Mädchen haben Kränze auf dem Kopf , sehen blaß und glücklich aus . Susanna legt die weißen Handschuhe vor Maria hin : » Gilt das mir , oder gilt es dir ? « Sie flüstern zusammen , dann fragt Susanna : » Sie – Monsieur Dame , wie hat er denn ausgesehen ? « Ich versuche ihn zu beschreiben : » Schlank – mittelgroß – das Gesicht hab' ich nicht deutlich sehen können , dazu war das Zimmer zu dunkel . Aber ich besinne mich , daß er Maria abholen wollte . « » Oh , dann war es Georg « , sagt Susanna , » die Handschuhe sind deine , Maria ... « Die beiden sehen sich an , lächeln – dies Lächeln , dieser Blick ist absolut heidnisch – bei Susanna vielleicht noch mehr . Hinter ihrem Lächeln ist nie ein Schmerz oder eine Zerrissenheit – Susanna kann selbst aus meinem Herzen alle Nebel und alles Dunkel hinweglächeln , wenn sie mich ansieht wie an diesem Morgen . Ich kann nicht anders , ich muß ihnen beiden die Hände küssen . Da sitzt ein Herr am Tisch , der ein Monokel trägt und alles aufmerksam beobachtet . Er ist ein Jugendbekannter von Susanna , den sie heute nacht beim Fest zufällig wiedergetroffen hat . Er steht in Berlin bei der Garde , wie sie mir nachher erzählte . Na , weißt du , Susi , das ist wirklich eine originelle Bude – und da wohnst du ? « » Freilich wohne ich hier « , antwortete sie gleichmütig . » Ja – sag mal ... « Willy erscheint aus dem Nebenzimmer , er ist in Zivil , denn er war heute nicht mit – sieht sich mit seinen runden Augen etwas erstaunt um , begrüßt alle , setzt sich an den Tisch . » Ach , Susanna , gibt es schon Frühstück ? « sagt er weich und sehnsüchtig . – » Ja , bitte , mahlen Sie den Kaffee , wir warten nur noch auf Onsky . « Willy beginnt Kaffee zu mahlen , Maria zupft ihn an den Haaren und erzählt ihm von dem Feste . Der Jugendbekannte betrachtet ihn etwas erstaunt und wirft einen fragenden Blick auf die Herrin des Hauses . » Das ist Willy « , erklärte sie , » der wohnt da drüben neben der Küche , und Orl – Gott sei Dank , da kommt er endlich . « Orlonsky kommt die Treppe herauf , alles an ihm ist wieder rasselndes Eisen , und er ist böse . » Ah – Maria – wo ist denn der Sonnenbengel ? Schon untergegangen am frühen Morgen ? « » Onsky , wir verhungern « , sagt Susanna , » Ihr könnt Euch nachher zanken . « Orlonsky und der Gardeleutnant stellen sich einander aufs förmlichste vor , sie verbeugen sich und schlagen die Absätze zusammen : » Sehr angenehm . « » Freut mich sehr . « Die anderen betrachten das wie eine seltene Schaunummer . Dann begibt sich Orlonsky an den Herd – er ist ein sonderbarer Kauz , und ich habe ihn sehr schätzen gelernt , ein wenig rauh und kurz angebunden , aber Gentleman durch und durch . Er treibt alle Sportarten , die es überhaupt gibt , mit Vollendung und kocht vorzüglich – die Frauen läßt er überhaupt nicht an den Herd und behauptet , sie verständen nichts davon . Man pflegt deshalb andächtig mit den Mahlzeiten zu warten , bis er kommt . Er bereitete uns denn auch an diesem Morgen ein ausgezeichnetes englisches Frühstück . Susannas Jugendfreund beobachtet ihn stumm , dann läßt er sein Monokel fallen und beugt sich zu Susanna hinüber : » Großartig , das ist ja das reinste Familienleben – dein Onkel in Berlin erzählte mir – ja sag mal – Susi , und was tust denn du hier eigentlich ? « » Aber das siehst du doch – ich führe ihnen den Haushalt « , sagte sie lässig und zufrieden . Ich dachte , sie würden alle etwas ruhebedürftig sein , aber nach dem Frühstück wurden sie wieder sehr lebendig und berieten , was nun mit diesem angebrochenen Tag zu beginnen sei . Orlonsky ordnete schließlich an , wir sollten alle aufs Land fahren . Er nahm den Leutnant mit auf den Speicher , und sie förderten eine Anzahl Rodelschlitten und Schneeschuhe zutage . Ich schickte Chamotte in meine Wohnung und ließ ihn holen , was ich an Sportgarderobe besitze – einiges fand sich auch im Eckhaus vor . Orlonsky musterte erst die vorhandenen Kleidungsstücke , dann jeden seiner Gäste mit Kennerblicken , und unter seinem Kommando wurde eine Art militärische Einkleidung vorgenommen . Wir fuhren aufs Land , alle in der heitersten Stimmung , selbst im Waggon fingen sie noch wieder an , einen Konter zu tanzen , aber der Schaffner verbot es . Es war ein wundervoller , weißer Wintertag , wir trieben uns viele Stunden im Schnee herum . Susanna hatte mich zum Partner genommen , und ich fühlte mich stillglücklich , ich , der Müde , Verurteilte , unter diesen Unermüdlichen . Sie verlangen ja nicht , daß ich mich persönlich stark betätige , und ich störe sie nicht , ich lasse mich so gerne mitziehen . Maria war an dem Tag stürmisch und voller Leben , mit Willy zusammen sauste sie leidenschaftlich die Abhänge hinunter – einmal stürzen sie und der Schlitten geht entzwei . Orlonsky macht ihr Vorwürfe , es ist immer etwas Krieg zwischen den beiden , und er hält beim Sport auf Ordnung . Sie lacht nur und sagt : » Oh , meinetwegen soll alles zerbrechen – alles , nicht nur der Schlitten , auf dem ich fahre . « Und Susanna war schläfrig , ihre Bewegungen hatten etwas Mattes – sie meinte , die Welt sei für sie heute in lauter Schleier gewickelt . Wenn Orlonsky in ihre Nähe kam , drückte sie ihm die Hand . Er sah sie an – seine Augen sind scharf und graublau – wie von Stahl . » Onsky , ich bin sehr glücklich – das Leben ist so schön « , sagte sie . Als wir einmal aus der Bahn geraten , will sie , daß wir da im Schnee sitzen bleiben , warum soll man sich so anstrengen ? Wir bleiben sitzen und sehen den anderen zu . Ein paarmal nennt sie mich du – man ist im Karneval so gewöhnt , alle zu duzen . Wir sprechen nicht viel , sie lehnt sich ein wenig an mich und schläft hier und da einen Moment ein . Dann geht die Sonne unter , und wir fahren in die Stadt zurück . Maria will noch nicht nach Hause , und der Leutnant , den man etwas übersehen und fast vergessen hat , lädt uns ein , in der Bar zu soupieren . Alle werden noch einmal wieder ganz wach und sehr munter , und wir kommen erst gegen drei oder vier Uhr ins Eckhaus zurück . Susanna berief sich mit plötzlicher Energie auf ihre Stellung als Hausfrau und setzte für morgen einen allgemeinen Schlaftag an . Wer bliebe und wo er bliebe , sei ihr einerlei – jeder möge sehen , wie er unterkomme . Chamotte solle mit dem Kinde spazierengehen und es beaufsichtigen , dazwischen könne er hier und da leise – um Gottes willen recht leise – durch die verschiedenen Zimmer gehen und Erfrischungen verabreichen . Am späteren Abend würde wohl irgendwie eine richtige Mahlzeit oben in der Küche zustande kommen – dabei warf sie einen fragenden Blick auf Orlonsky , aber der zuckte ablehnend die Schultern , und Susanna fügte hinzu , schlimmstenfalls würde sie selbst für alles sorgen . Ich hatte ja die vorige Nacht , wenn auch nicht ungestört , geschlafen und wachte gegen Mittag von einem leichten Geräusch auf . Es war Chamotte , der auf den Zehenspitzen herumschlich . Herr Willy ließe fragen , ob er zu mir herunter kommen könnte , er sei auch schon wach , und da er zwei Gäste beherbergte , fühlte er sich etwas beengt . Ich kleidete mich an und legte mich dann wieder aufs Bett , Willy kam in einem gelbseidenen Kimono : » Ich weiß nicht , wem er gehört « , seufzte er , » man zieht jetzt immer an , was man gerade findet . Es ist alles so anstrengend – der Leutnant ist schon fortgegangen , um seine Tante von der Bahn zu holen , Susanna hat ihm ihren roten Rodelsweater und Reithosen von Onsky gegeben – denn er wollte durchaus nicht in seinem Biedermeierfrack an die Bahn gehen . Wir drei hier im Hause kommen jetzt manchmal in Verlegenheit , weil wir immer unsere Gäste zum Fortgehen ausstaffieren müssen . Ein junges Mädchen mußten wir neulich zwei Tage dabehalten , weil sie als Page zu uns kam und nichts vorhanden war , was ihr paßte . « Chamotte machte derweil Ordnung im Zimmer , heizte den großen Ofen ein und brachte uns Kaffee . Dann lagen wir da , rauchten Zigaretten , und es war sehr gemütlich . Die Tür zu beiden Nebenzimmern stand offen , in dem einen schlief Orlonsky , in dem anderen Maria , und wir sprachen halblaut , um sie nicht zu stören . Ich fragte , ob Susanna denn schon auf sei , da sie den Leutnant kostümiert hatte , sie war doch gestern am allermüdesten und schien es mit dem Schlaftag sehr ernst zu meinen . » Oh , Susanna macht 's wie die Sonne , sie geht in Wirklichkeit nicht unter – sie geht nur um die Erde herum und scheint dann über irgendwelchen anderen Ländern . Beim Schlaftag kommt es ihr nur darauf an , daß jeder in seinem Zimmer bleibt – sie gibt dann Gastrollen , besucht eine Niederlassung nach der anderen und schläft da , wo sie gerade ist , noch ein paar Stunden weiter . « Chamotte ist mit dem Kind ausgegangen , das ganze Haus liegt in tiefem Schweigen . Die Türglocke hat man vorsorglich abgestellt . Maria ist inzwischen einmal aufgewacht und hat gefragt , wer denn hier nebenan sei . Wir haben ihr Kaffee hineingebracht und ein wenig geplaudert , dann ist sie wieder eingeschlafen – die weißen Glacéhandschuhe , die Susanna ihr heute morgen gegeben , liegen auf dem Tischchen am Bett . Allmählich wird es Nachmittag , und Susanna erscheint mit Tee und Brötchen . Ihr Lächeln ist heute etwas resigniert : » Onsky hat Migräne « , sagte sie , » und steht nicht auf . Da werden wir wohl heute und morgen fasten müssen . Ich glaube , es ist am besten , wenn wir nachher unsere Kostüme wieder anziehen und heute abend auf den Gauklerball gehen . Die anderen wollen wir gar nicht erst wecken , das Weitere wird sich hier dann schon irgendwie entwickeln « , sie seufzte ein bißchen , » ach Gott , es ist wirklich keine Kleinigkeit , wenn die Verantwortung für so vieler Leute Wohlergehen auf einem ruht . « Ermattet legt sie sich auf die Polster in die Nähe des Ofens , schließt die Augen und scheint in eine Art Halbschlaf zu versinken . Willy und ich sprechen mit gedämpfter Stimme weiter – hier und da ermuntert Susanna sich ein wenig , beteiligt sich am Gespräch oder langt nach ihrer Teetasse . Unvermerkt geraten wir wieder auf die heidnischen Ideen und ihre Verwirklichung in unserer heutigen Welt . Ich erzähle von meiner nächtlichen Unterhaltung mit dem Herrn im Frack . » Ach , der Georg « , sagt Willy , » er möchte sie immer noch gerne heiraten , und ich nenne ihn den standhaften Zinnsoldaten . Maria ärgert sich darüber , aber sie hat immer einen oder den anderen Zinnsoldaten , als Gegengewicht oder zur Erholung von ihrer heidnischen Betätigung . « Ein Wort gab das andere , und ich erkundigte mich mit größtmöglicher Diskretion , ob es etwa Marias Kind sei , das hier im Hause wohne . Susanna hatte gerade einen wachen Moment und richtete sich halb auf . » Aber ich bitte Sie – das ist doch meins . « » Ihres ... ? « Ja , natürlich – wußten Sie das nicht ? « » Woher sollte ich das wissen , das Kind ist einfach da , und man hat niemals davon gesprochen , wem es gehört . « » Marias Kind – ja , Maria ist ein komplizierter Fall « , erläuterte Willy dann weiter . » Sie müssen wissen – in Heidenkreisen hatte man schon lange die Frage aufgeworfen , wie es mit der Vereinigung von Mutterschaft und Hetärentum stände – beides natürlich in möglichster Vollendung gedacht – , aber die Beobachtung an lebenden Objekten war immer ziemlich ungünstig ausgefallen . Die Mädchen , die als Hetären in Betracht kamen , hatten eben keine Kinder und waren froh , daß sie keine hatten . Andere wünschten sich wohl Kinder , strebten dann aber nach Heirat und gaben das Hetärentum auf . Nun tauchte Maria hier in aller Fröhlichkeit mit ihrem Lebenswandel und einem Baby auf . Durch ihr bloßes Dasein , in dem sie unbewußt , aber mit › königlicher Selbstverständlichkeit ‹ – so sagt man dort – ihren heidnischen Instinkten nachgelebt hatte , stellte sie das gelöste Problem : Mutter und Hetäre dar und wurde sehr gefeiert . « » Ja , Ähnliches hat mir der Herr von gestern nacht – der Zinnsoldat , wie Sie ihn nannten – schon erzählt . « » Ach der « , meinte Willy wegwerfend , » der versteht schon gar nichts davon und hat keine Ahnung von Marias eigentlichem Wesen . Die Zinnsoldaten sind eine schwache Seite von ihr – ich glaube überhaupt von den meisten Frauen , aber sie sind ihnen nicht abzugewöhnen « , er warf einen wehen Blick auf Susanna , und sie lächelte halb im Schlaf . » Also Maria ... « Ja , Maria wurde fortan als Paradigma hingestellt , als lebendes Symbol für heidnische Möglichkeiten . Es haben dann noch ein oder zwei andere Mädchen Kinder bekommen – offizielle Kinder , die nicht geheimgehalten wurden , aber sie machten nicht mehr soviel Eindruck . Und Maria beklagt sich bitter darüber , daß man sie von nichtheidnischer Seite gewissermaßen dafür zur Verantwortung zieht und die Sache so hinstellt , als mache sie Propaganda für liederliches Leben und illegitime Kinder . « Susanna setzte sich auf und gähnte : » Mein Gott , redet ihr schon wieder von illegitimen Kindern ? Ich hätte gar nicht gedacht , daß Herr Dame sich so dafür interessiert . « Ich machte noch die Bemerkung , es wundere mich , daß Susanna in den Heidenkreisen nicht ebensoviel Bewunderung errege wie ihre Freundin . Sie kennen sie ja doch alle – sie verkehrt mit ihnen – ihre ganze Art zu leben und das Kind . » Oh , mein Kind gilt nicht für voll , und niemand schaut mich drum an « , sagte sie darauf beinah entschuldigend , » ich hatte es doch schon , als die Hetärenfrage aufkam – außerdem war ich einmal verheiratet , und das ist eben nicht dasselbe . « 9 10. Februar Ich habe heute wieder durchgelesen , was ich zuletzt aufgeschrieben , und ich fühle Sehnsucht nach den Tagen im Eckhaus . Wie eine Reihe stets wechselnder Bilder gleiten sie noch einmal an mir vorüber – bunt , bewegt , geräuschvoll und dann wieder müde und verträumt in schläfrigem Halbdunkel – wie jener Winternachmittag , wo alle schliefen und wir drei in dem großen Zimmer um den Ofen lagerten . Bis dann Chamotte mit dem kleinen Mädel heimkam , das ich mit ganz neuem Interesse betrachtete – ich kann wohl sagen , daß ich es zum erstenmal › erlebte ‹ . Ich habe im allgemeinen nicht viel Sinn für Kinder und weiß nicht viel an ihnen zu erleben , aber das Gefühl , daß es das Kind dieser Frau ist , die ich so tief und stumm verehre – und daß es ihr vielleicht später einmal gleichen wird . Und wie wir dann noch später leise aus dem Hause schlichen , um wieder auf einen Ball zu gehen – wie wir erst in dem Licht und Lärm mitten unter tobenden und tanzenden Menschen wieder richtig wach wurden und uns ganz verwirrt und erstaunt ansahen – das liegt schon alles etwas traumhaft hinter mir . In meiner Wohnung kam ich mir zuerst beinah wie ein Fremder vor . Chamotte schlich trübselig herum und meinte , diesmal hätte ich mich selbst verurteilt , wir hätten doch ebensogut noch länger im Eckhaus bleiben können . Aber ich brauchte zur Abwechslung einmal etwas Ruhe . Äußerlich vermag ich mich schon zeitweise einem solchen Wirbel anzupassen , aber mein inneres Leben kann ich nicht überstürzen , das will ein stilleres Tempo und konnte nicht mehr mit . Allerhand Briefe vorgefunden , meinem Stiefvater hatte ich noch im Eckhaus ausführlich geschrieben . Er antwortete herzlich und eingehend , wie das seine Art ist . Es freue ihn aufrichtig , daß ich so viel mitmache und in ein etwas intensiveres Fahrwasser zu geraten scheine , man sei schließlich doch nur einmal jung . Das sagen die älteren Leute ja mit Vorliebe – gerade solche , die sich selbst noch immer weiter amüsieren , als ob sie zwanzig Jahre alt wären – und es kann mich leise nervös machen . Immer wieder die alte Geschichte – es gibt Menschen , die überhaupt jung sind , ohne Rücksicht auf die Zahl ihrer Jahre , und andere , die es niemals sind , auch während der vorgeschriebenen Zeit nicht . Und wie es sich bei mir damit verhält , müßte mein väterlicher Berater wohl am besten wissen , aber er hofft wohl immer , es käme noch . Mit meinen literarischen Absichten ist er sehr einverstanden und ermahnt mich , den geplanten Roman nun auch wirklich zu schreiben . Wo sich hier von allen Seiten so viel Anregung biete , müsse es doch ein leichtes sein . Ich aber fürchte wieder , es wird damit nicht so schnell gehen . Es gilt , vor allem erst das Material zu sammeln und sich einen Stil zu bilden . Ich denke , darin wird mein › Tagebuch ‹ , wie Susanna es etwas ironisch nennt , mir gute Dienste leisten . Man gewöhnt sich daran , alles Erlebte doppelt in sich aufzunehmen und bei allem , was man schreibt , auf den Stil zu achten . Auch dazu hat ja mein Stiefvater mich von jeher ermuntert – er wies bei solchen Gelegenheiten gerne darauf hin , daß Goethe stets Tagebücher geführt habe , und äußerte die Ansicht , Goethe sei und bleibe doch immer das beste Vorbild für jeden jungen Deutschen . Ähnliches hört man wohl öfter sagen , und ich kann mir nicht helfen – ich sehe darin eine gewisse Arroganz der älteren Generation . Man hilft uns nicht zu leben , sondern begnügt sich damit , uns auf große Vorbilder hinzuweisen und dann zu hoffen , daß etwas Außerordentliches aus uns wird . Was sollen mir derartige Hinweise ? Ich habe gar keine Anlage zum Größenwahn , ich bin nur ein » belangloser « junger Mensch und heiße Dame und kann nicht aus meiner Biographie heraus . Und das Material , das ich bisher zusammengetragen habe – es macht mir eigentlich erst fühlbar , wie sehr mir noch die Zusammenhänge fehlen . Sie müssen ja da sein , und ich muß sie noch finden – nicht um eines etwaigen Romans , aber um meiner selbst willen . Die ganze fremdartige und intensiv bewegte Atmosphäre dieses Stadtteils mit ihren Rätseln , Geheimnissen und , ich möchte wohl sagen , auch Erleuchtungen umfängt mich immer noch – ja , eigentlich immer mehr – wie ein Traum . Anfangs sehnte ich mich nur nach Klarheit , nach Verstehen und Begreifen – jetzt weiß ich , daß es hier mit dem Begreifen allein nicht getan ist , sondern daß sie – die Atmosphäre – innerlich erlebt werden muß . Oder geträumt – manchmal tut es mir förmlich weh , wenn die wache Stimme des Philosophen an mein Ohr klingt . Er weiß mir alles zu erklären – man könnte sagen : er beherrscht das Material vollkommen , aber er findet es nicht gut und nicht tauglich , um etwas Rechtes daraus zu bilden . Er nennt diese Menschen Romantiker , die allen Erkenntnissen der klaren Vernunft die instinktive Weisheit früherer Völker entgegenstellen und sich an dem Pathos dieser Dinge und an ihrem eignen Pathos berauschen . Und logisch muß ich ihm oft recht geben , aber mein Empfinden und meine Sehnsucht neigen sich doch immer wieder ihnen zu .