Erster Band Erstes Buch 1. Langen-Nauenheim ist eines jener nordhessischen Dörfer , die mitten im Herzen Deutschlands liegen und denen dennoch nicht so warm gebettet ist , wie es an der Brust einer so großen Mutter , wie das Vaterland , sein sollte . Sieht man die verfallenen Hütten mit ihren Stroh-und Schindeldächern , die dünngesäeten wie frierenden Halme auf den Feldern , das spätreifende Steinobst an den wenigen Bäumen oberhalb eines der vielen Bäche , die da- und dorther von den rothen Felsen des Gebirges so behend niedereilen , als suchten auch sie , wie andere Murmelquellen , blumengeschmückte grüne Matten , so begreift man nicht , wie noch all der Kummer und das Elend es hergeben , daß in der Landeshauptstadt jeden Mittag Schlag zwölf Uhr eine so prächtige Wachparade mit goldgestickten Uniformen und stolzberittenen Husaren aufziehen kann . Aber Langen-Nauenheim ist darum auch so gut regiert wie Klein-Bockenheim und Ober-Heddersheim , und hat am Eingang und Ausgang seinen bunten Pfahl mit den Landesfarben und den Namen des Regierungs- und Steueramtsbezirks , zu dem es auf Gottes Erdboden gehört , hat sein Amthaus , seine Spritzenordnung , seinen Feuerversicherungszwang , seinen Büttel , seinen Nachtwächter und seinen sogar landesherrlich salarirten Schulmeister . Letzterer heißt Gottlieb Schwarz . Gerade jedoch sein Häuschen ist keines von den schmuckern . Es lehnt sich fast an die Kirche an , die selbst so grau und geflickt zwischen zwei kleinen Hügeln liegt wie ein großes Storchennest zwischen den Hörnern eines Strohdachgiebels . Es hat sogar Fenster , wo die Scheiben mit alten Schulheften geflickt sind ; der Regen corrigirte die Schreibfehler und falschen Grundstriche der bildungsbeflissenen Jugend . Ein Gärtchen liegt dicht in der Nähe mit einem Staket von dürrem Reisig , zwischen dem im Juni manchmal einige Erbsen blühen , falls man im April sie zu säen nicht vergessen hat , was auch schon vorgekommen ist . Vor Jahren ... ja , damals war es noch anders . Damals war Gottlieb Schwarz selbstverständlich noch jung , noch mit rosigen Hoffnungen aus einem hochlöblichen Landes-Schullehrerseminar hervorgegangen . Wie herrlich hatte sich das ausgenommen , wenn die jungen Volks-Lehramtscandidaten im Seminargarten Rosenstöcke veredelten und süße Birnen auf sauere Quitten pfropften ! Auch Seidenzucht trieb man , versandte auch – wenigstens im Geiste – den köstlichsten Honig an die Lebküchler von Frankfurt am Main und Nürnberg ! In der Theorie bewährte sich alles prächtig und vielleicht auch einige Jahre in der Praxis , wenigstens zu Langen-Nauenheim , am Diemel- , Demel- , Donners- und Dustersbach ... die Geographen haben unter vier Bächen , an denen sie Langen-Nauenheim können liegen lassen , die Auswahl ... dann aber ... ja dann folgte vorzugsweise ein Weib , das nicht richtig gewählt war , folgten Kinder , sieben » lebendige « , nächstdem keine Beförderung , keine » Aufbesserung « , immer die aschgraue Zukunft und das vielbesprochene Leid eines deutschen Schullehrers , eines Berufes , den plötzlich eines schönen Morgens in Deutschland , dem Vaterlande des Gedankens , der Buchdrucker- und Buchmacherkunst , niemand mehr gewählt haben wird , weil allerdings bei der Locomotive den Ofen heizen einträglicher ist . Gottlieb Schwarz erntete , vollends als Witwer , Brennesseln , wo er einst von oculirten Rosen geträumt hatte ... von jenen saftigen , länglichen , so schön , so schön röthlich angesprenkelten Birnen , die man beim Dessert eines frankfurter Bankiers Tafelbirnen nennt und die selbst die eingeladenen Diplomaten nicht verschmähen in die Tasche zu stecken und sie ihren Kindern vom Diner mit heimzubringen ... Doch um von Kindern zu reden ... Gottlieb Schwarz wird soeben von seinen sieben » Lebendigen « eines » los « . Das ist die Lucinde , die Aelteste ! Dies mit der da mals noch nachschimmernden Romantik des Seminars getaufte Kind Maria Ludovica Lucinda ist eben dreizehn Jahre alt und im Begriff die » Kinderlehre « zu absolviren . Ein nach dem unpoetischen Vergleich eines Fuhrmanns wie eine » langhalsige Flasche « aufgeschossenes Mädchen steigt in eine Kutsche zu einer vornehmen alten Dame , die sie nach der Residenz entführen will . Maria Ludovica Lucinda , die mit solchem Staatsnamen Getaufte , die hätte der Vater eigentlich lieber behalten sollen . Sie war in seiner spät geschlossenen Ehe das erste spätgekommene Kind gewesen ( als eines den Anfang gemacht , ging das Niederkommen rascher , die Natur hat ihre wunderlichen Gesetze ) ; sie war noch , wie ihr Name zeigte , von leuchtenden Hoffnungen begrüßt gewesen , und Ida , Clara , Estrella , Balduin , Hugo , Achilles , Patroklus , was sollte nicht noch alles ihr nachfolgen ! Doch blieb der hoffnungsvolle symbolische Aufschwung nur bei der Erstgeborenen , und die Spätern hingen schon alle von den Namen derer ab , die ihnen ein Pathengeschenk ins Tauftuch binden konnten . Lucinde , die Romantische , ein Nachhall verklungener Jugend-Zaubertöne , – goldenes Morgenroth des Lebens , daß wir dein Bild einst nur noch einmal wiedersehen , im Abendroth ! – Lucinde verwerthete sich dem Witwer noch am besten von seinem reichen Kindersegen . Die » Lange « hatte Neigung zum Schulmeistern . Sie konnte zwar keinen Eierkuchen backen ohne ihn anzubrennen , aber sie stand dem Vater in seiner schon sogenannten » Schulfuchserei « bei . Sie sprach gerade nicht englisch , nicht französisch , aber an einer alten Wandlandkarte , die sich staatsinventariumsmäßig im Langen-Nauenheimer Schulhause erhalten hatte aus einer Zeit , wo man noch einige Inseln der Südsee und das Innere Afrikas nicht entdeckt hatte , konnte sie stundenlang stehen und ihrer Zuhörerschaft Wunder vortragen von den Pyramiden , die sie nach Amerika , von den Porzellanthürmen , die sie nach Afrika versetzte . Alle die Gegenden , wo es noch Bären und Wölfe gab , wurden der Langen-Nauenheimer Jugend von ihr im hintersten Indien gezeigt , womit freilich im Widerspruch stand , daß der Revierförster der zwei Dörfer weiter wohnenden Herrschaft dann und wann noch einen von » da drüben herüber « , dem Rhöngebirge , kommenden Wolf gegen Weihnachten geschossen hatte . Gottlieb Schwarz war schon lange in der Stimmung , zu allem , was ihm das Leben bescherte , nur zu lächeln . Die wilden Verzweiflungen , wo der Mensch sich in die Haare fährt und » Gott ! Gott ! Gott ! ist 's denn möglich ! « oder dergleichen dumme Redensarten ausstößt , hatte er hinter sich . Er lächelte zu dem Abschied seiner Lucinde . Mußten die Kinder einmal » versorgt « werden , so fängt man ja von oben mit der » Latte « an . Die Nächste nach der » Latte « , ein Kind , das schon mit irdischerm Namen nach der Frau jenes Revierförsters Luise hieß , verstand sich zwar nicht so gut auf Geographie wie Lucinde , aber sie rechnete besser und ihre Eierkuchen brannten nicht an ; Hannchen vollends , die Dritte – wieder nichts Mythologisches – war erst zehn Jahre alt , hatte aber mehr Sinn für die Wirthschaft als die beiden Aeltesten zusammengenommen ; sie ließ sich nie die Mühe verdrießen , nach den geheimen Orten zu suchen , wohin die Hühner ihre Eier legten , sie pflanzte gern und hielt ihre kleinern Geschwister zum Kleiderschonen und Nasenputzen an . Endlich bestand der Rest der Nachkommenschaft des früh gealterten Männleins aus Knaben , und von denen konnten sich erst zwei die Hosen zuknöpfen . Das Rathsame , warum erst Lucinde weggegeben werden mußte , lag besonders darin , daß sie sehr hübsch und etwas hoch hinaus war . Sie hatte kostspielige Liebhabereien . Schwarz von Namen und von Haar und Augen , pflegte sie sich gerade gern mit irgendeinem zinnober- oder purpurrothen Stück Zeug zu putzen , mit Bändern und Lappen , und hätten diese ringsum die Pachterstöchter oder die Frau Pfarrerin selbst schon nahe am Wegwerfen gehabt ; die flocht sie in das dunkle , schwere und etwas rauhe , ja roßmatratzenmäßige , weil ungepflegte Haar . Sie hatte ferner die Liebhaberei , unendlich träge , gerade herausgesagt faul zu sein , sich den Sonnenschein so in den offenen kleinen , rothlippigen Mund scheinen zu lassen , daß dabei die weißen Zähne wie Perlen blitzten . Sie hatte die Liebhaberei , sich in einer Luke des verwitterten Hausdaches einen Taubenschlag zu halten . Kurz , der Vater ließ die Lucinde ziehen , und sie ging gern : ihre Leidenschaft war die Geographie und ihre Träume spielten » jenseit der Berge « . Das halbe Dorf umsteht den Wagen , mit dem Lucinde in die Residenz fährt . Man sieht , was ihr auf ihre Lebensbahn mitgegeben wird ... Zwar nicht die vier Hemden , die sechs Taschentücher , das Dutzend Strümpfe , ihr Sonntagskleid , die ein zugeknöpftes Bündel machen ; aber den selbstgefertigten Seidenhut , für dessen Form ein urweltliches Modell von der Frau Pfarrerin , für dessen Besatz Bänder und Lappen von allen Honoratioren , die hier im Bereich der vier Bäche wohnten , entlehnt worden waren . Ihre Toilettegeräthschaften waren in einem wunderlichen Korbe beherbergt , dessen Erscheinen ein allgemeines Gelächter hervorruft . Es ist ein drahtgeflochtener Bienenhelm , in dem Gottlieb Schwarz , ehe er sich verheirathet hatte , in seinem damals erfreulichern Gartenwesen noch nach dem Leben und Weben in seinen Bienenkörben geschaut und Verwirklichung seminaristischer Ideale getrieben hatte . Manche von den Aeltern , die herumstehen , wissen noch , daß das » Klima « bald äußerlich bald innerlich für Bienenzucht hier zu Lande zu rauh wurde . Dann hatte Lucinde oft diesen Helm benutzt , um der Schuljugend poetische Schauer und Schrecken einzujagen . Als praktische Erläuterung ihres Geschichtsunterrichts über das Mittelalter rannte sie mit vermummtem Kopfe den Kindern nach und veranlaßte Turnierschauspiele , bei welchen mancher Ente der Fuß verrenkt wurde . In diesen dorfbekannten Helm hat Lucinde alle ihre Geheimnisse verpackt , auch ihre Näh- , Strick- und Stickapparate , die ihr leider in jeder Beziehung zu sehr Geheimnisse geblieben waren . Dann kommt ein Sack mit gedörrten Zwetschen von jener Langen-Nauenheimer Art , die erst sechs Stunden im Wasser quellen muß , bis sie ans Feuer kommen darf , und auch dann noch wie ein Gericht Kieselsteine schmeckt ; ferner ein Kober voll Eier , die sehr behutsam im Innern des Wagens untergebracht werden , und zuletzt auf die Höhe des Gefährts , über dem Verdeck , ein großer Waschkorb , den Lucinde sehr feierlich zurückzuschicken versprechen muß . In ihm gurrt , gluckst und gurgelt es durcheinander . Es ist ihr Taubenschlag . Ohne ihre Tauben mochte Lucinde nicht mit in die Stadt , und die vornehme Dame hatte gerade für diese die bequemste und passendste Unterkunft versprochen . Die Abreise Lucindens war gewiß etwas Merkwürdiges und Seltsames . Sie erregte Staunen genug , jedoch nur Staunen . Keine Thräne floß , beim Vater nicht , bei den ältern Geschwistern nicht ; die jüngsten weinten nur , weil sie nicht » mitgenommen « wurden . Die Hauptsorge des Vaters war das baldige Zurückschicken des Waschkorbes ; er schlug den Nacht-Eilwagen , die Fahrpost , die Briefpost , die Diligence und mehrere landeskundige Hauderer als auszuwählende beste Retourgelegenheit vor . Die Tauben gab er leichter hin ; die kosteten ihm ein » Schreckliches « an Erbsen und dem ganzen Hause an Zeit . » Wer sich Tauben hält , ist immer ein verdorbener Millionär « , war einer von den Sätzen , wie er dergleichen vor dreißig Jahren in sein Tagebuch zu schreiben pflegte . Die Kutsche fährt ab ; die Leute sehen ihr nach wie der Thurn und Taxis'schen Post . Das Fremde kommt , das Fremde geht ... Gottlieb Schwarz steht vielleicht am längsten . Dann nimmt aber auch er erst nachdenklich noch eine Prise , die er sich » auch noch zu seinem Verderben « angewöhnt hat , und geht nun – es ist Sonnabend Nachmittag , die seligste Zeit des Schullehrerlebens – in die am Ende des Dorfes , vor dem großen Berge liegende Fuhrmannsausspannung . Da pflegten die Fuhrleute und mehrere Conducteure der Thurn und Taxis'schen Postcurse Vorspann , geistigen und leiblichen , zu nehmen . Es war immer eine muntere Welt dort ; auch eine frankfurter Zeitung lag auf , die Lucindens Vater eifrig studirte , um auf den Ausbruch besserer Zeiten gerüstet zu sein . Die Zeiten , wo er im » Beiwagen « derselben gesucht hatte , ob nicht endlich seine letzten Einsendungen , die » Ferienphantasieen eines deutschen Dorfschullehrers « , seine » Jubel-Vorschläge zur Verbesserung der Volkserziehung « , seine » Beobachtungen über die merkwürdige Entwickelung eines Hagebuttenpfropfreises zur Erzielung veredelter Dornröschen « , sein » Aufruf an die deutsche Nation zur Abschaffung des überflüssigen Dehnbuchstabens H « , zum Abdruck gekommen waren , die lagen weit schon , weit , weit ... hinter ihm ... Um die Erinnerungen zu stopfen und sich gleichsam über die Versorgung seines Kindes zu freuen , trinkt er wol heute einen Schoppen mehr von dem etwas schweren Bier , das die Fuhrleute lieben , ehe sie über den großen Berg machen ... Wol war es bedenklich , daß Gottlieb Schwarz unter ihnen mehr verkehrte , als seiner Stellung und besonders dem späten Heimwanken gut war , wenn Nachts die lieben Sterne blinkten und die vielen Brücklein von vier Bächen beachtet werden mußten , die da alle so still und kühl mit dem Leid der Menschen dahinfließen . 2. Und nun , da sitzt sie denn , die » lange Latte « , die » Aufgespillerte « , die » Dreege « ( Magere ) , mit ihren um den kleinen Kopf gewundenen schwarzen Zöpfen , ganz das Abbild ihrer Mutter , einer Feldwebeltochter , deren Vater in der Residenz ein silbernes Porteépée hatte tragen dürfen und der sich unter dem » dummen Bauernvolk « als civilversorgter Kreissteueramtscontrolschreibereiassistent einen Steuerrath selbst gedünkt hatte . Trotzig und scheu , ängstlich und fest , nicht mit Absicht , sondern von Natur so gemischt , hockte das halbreife Mädchen in einem verwaschenen ehemals röthlich gewesenen Kattunkleide , das ihr schon lange zu kurz und zu eng geworden war , in der Ecke der Kalesche , die langsam die Anhöhen hinaufschleicht , geführt von einem halbwüchsigen Burschen , der die Gäule – sie waren gemiethete , wie der Wagen – schonen soll . Die alte Dame , die ihr zuspricht sich nicht zu fürchten , sondern der glänzendsten und besten Schicksale gewiß zu sein , ist einem » Nachtmahr « nicht unähnlich . Wenigstens hat sie eine Nase , die in einer beständigen Neigung scheint auf das vorgestreckte Kinn einen zärtlichen Kuß zu drücken . Zwischendurch ist nach den allgemeinen Gesetzen der Natur , insoweit sie sich auf die Bildung eines menschlichen Antlitzes erstrecken , bei dieser edeln Frau ein Mund anzunehmen ; doch suchte man vergebens nach etwas , was wie zwei Lippen ausgesehen hätte . Sind wirklich die Versinnlichungen solcher Begriffe zwischen der liebevollen Nasen- und Kinnbegegnung der fremden Dame vorhanden , so preßt sie doch die glückliche Inhaberin derselben so zusammen , daß sie nach oben in der Nase , nach unten im Kinn gleichsam mit aufgegangen scheinen . Versucht die Dame ferner , was sie oft thut , über die Oeffnung , die man Mund nennt , ein Lächeln zu zaubern , so sieht man einige Zähne , die wie die einsamen , geköpften Weidenstumpfe an den Bächlein standen , die man hier zu passiren hatte . Die Sprache der Dame ist hochdeutsch , soweit ein gewisses Röcheln und Schnurren unartikulirter Zwischentöne es erkennen läßt , sonst sogar was man gewählt nennt und » nicht frei von Bildung « . Leider kommt diese Sprache aber so seltsam zu Gehör , als wenn jeder Satz sich in den innern Gängen der Brust verliert . Wie die herabgelassene Eimerkette eines großen Ziehbrunnens verrollten die hübschesten Anfänge ihrer Reden für das aufmerksame Ohr des sie zuweilen ebenso unheimlich anschielenden Kindes in dunkle und unverständliche Abgründe . Den Namen ihrer Wohlthäterin und ihren Stand kannte Lucinde , die bereits hinter Langen-Nauenheim der Bequemlichkeit wegen kurzweg in Henriette und hinter dem ersten Nachbardorfe schon noch kürzer in Jette umgetauft wurde . Sie fuhr mit der verwitweten Frau » Hauptmännin « von Buschbeck . Die Dame behauptete in der Nähe auf irgendeinem Rittergute Kapitalien liegen zu haben , welches » Liegen « sich Lucinde ( oder müssen wir nun auch sagen Henriette ? ) ganz figürlich vorstellte . Beim Vorbeifahren an Langen-Nauenheim wollte die Frau Hauptmännin sich über den Dorfsegen ergötzt haben , der gerade aus dem Schulhause strömte , an den lachenden , fröhlichen Kindern , und am meisten hätte ihr » Lieb-Jettchens « Erscheinung gefallen , die die Kinder gerade aus der Thür entließ und jedem , der nicht Ordre parirte , tüchtig – sie erzählte das soeben lebendig und mit manchem wohlwollenden , leider im Husten erstickenden Hi ! Hi ! wieder , – einen » Starnicksel « mit auf den Weg gab . Denn Ordnung muß sein ! röchelte die Hauptmännin , als der Eimer ihrer Stimme wieder aus dem Brunnen herauskam , und fügte dann nach und nach hinzu : Sitz aber gerade , Kind ! Schlag nicht die Beine so übereinander , du langes Ding ! Ja , sauge doch nicht an den Nägeln , Kerl ! Guck mir doch nicht zum Schlag hinaus , wenn ich dir 's nicht befohlen habe , du – ! Ach was , ach was ! Nenne mich meine liebe gnädige Frau ! Hm , Hm ! Lieb-Jettchen ! Zieh mir einmal die Schuhe aus , ich glaube , es ist mir ein Stein hineingekommen ! Kind , kratz mir ein bissel den Rücken , ich glaube , ich habe was aufgegriffen unter euch verfluch – oder s' ist mein gewöhnlicher Rhevmatismus ! So , Jette ! So ! Ha ! ha ! Ein solcher Name ! Lucinde ! Wer soll das aussprechen ! Solche Schullehrermucken ! Halt dich gerade ! Sitz nicht so krumm ! So ! Brav ! Wir werden schon einig werden ! Lucinde that mit Ergebung alles , was ihr befohlen wurde . Die gnädige Frau von Buschbeck hatte bei ihrer letzten Bewunderung des Langen-Nauenheimer Kindersegens dem Vater den Vorschlag gemacht , diese unter allen hervorragende Erscheinung in die große Stadt mitzunehmen , sie wie ihr Kind zu behandeln , sie ausbilden , erziehen , in Musik und Sprachen , schönen Künsten und Wissenschaften unterrichten zu lassen . Lucinde hatte dem überraschten und geschmeichelten Vater gelobt , dieser wunderbaren Frau , die auf den Feldern hier Kapitalien » liegen « hatte , unbedingt zu folgen und sich zu fügen , in allem , in jedem , und so ihr Glück zu machen , » was man in Langen-Nauenheim bekanntlich nicht machen könne « , wie er dann selbst hinzusetzte . Lucinde hatte dabei gedacht : » Wie weit Amerika ist ( wo manche Langen-Nauenheimer schon versucht hatten ihr Glück zu machen ) weiß ich ! « Sie dankte daher auch , nach dem Ausdruck ihres Vaters , » ihrem Schöpfer « , daß eine solche Frau sich gefunden , die sie so ohne weiteres und geradezu innerhalb fünf Stunden aus dem Nest mit sich heraus und in die Welt nahm . Um elf Uhr hatte die fremde Dame den oft bewunderten » Kindersegen « wieder bewundert , um ein Viertel auf zwölf Uhr die Vorschläge gemacht , um vier Uhr kam sie von den Gütern zurück , auf denen sie Kapitalien » liegen « hatte , die Bedenkzeit , die sie gelassen , war verstrichen , der erste Widerstand Lucindens nicht hartnäckig , ausgenommen was ihre Tauben anbelangte . Diese , wie gesagt und wie wir auf dem Verdeck hören können , nahm sie mit , und so hatte Lucinde nicht einmal vorher noch dem Pfarrer , bei dem sie in » Kinderlehre « ging , oder der Frau Pfarrerin Abschied gesagt , ja nicht einmal gegessen und getrunken . Das Letztere war vorläufig das Schlimmste . Sie suchte der gnädigen Frau den Stein aus dem Schuh , sie kratzte ihr den Rücken , sie hörte nicht blos auf Jettchen , sondern sogar schon auf Jette , nun aber bekannte sie auch , daß sie nichts gegessen und getrunken hätte . Na , das war ja gerade das , wonach die Frau Hauptmännin schon lange hatte fragen wollen , denn ihrerseits behauptete sie auch , zwar nicht Hunger , aber Durst zu haben , doch im nächsten Orte gäbe es ein vortreffliches Wirthshaus , und da selbst ein vortreffliches Bier ; und als sie näher kamen , entdeckte sie , daß sie einen andern Ort gemeint hatte ... das Wirthshaus da , das kenne sie , – da wäre alles schlecht , das Bier , die Milch , und da ihr selbst der Durst inzwischen vergangen war , so schickte sie die Jette blos an den Brunnen . Die hatte nun wieder kein Gefäß und trank aus der hohlen Hand . Daß sie auch Hunger hatte , war in der liebevollen und gründlichen Erörterung über ihren Durst vergessen worden . Es war schon Abend , als die Kutsche endlich in der Residenz anlangte . Die Laternen brannten schon ; nach Ansicht mancher Opponenten der Communalverwaltung düster und sparsam ; für Lucinden war es Feenbeleuchtung . Der arme Tropf sah sich wirklich an den himmelhohen Gebäuden , an den Lichtern , an den Carrossen und vielen Menschen » satt « , wenn auch die Frau Hauptmännin , als die müde Kalesche so schlaftrunken über das Straßenpflaster hintaumelte , jetzt ein Nachtessen , das sie sogar ins Französische übersetzte und Souper nannte , in glänzende Aussicht stellte . Die Passagiere hielten dann in einer der lebhaftesten Straßen an . Lucinde und der junge Wagenlenker luden das Gepäck ab , auch die Eier , auch die Zwetschen , auch den Bienenhelm , und vor allem den Taubenschlag . Alles kam durch gemeinschaftliche Anstrengung drei Treppen hinauf . Niemand oben empfing sie . Lucinde mußte vor einer verschlossenen Thür die Herrlichkeiten hüten , bis die Frau Hauptmännin nachgekommen war . Sie kam mit den heftigsten Verwünschungen über die Höhe des Trinkgeldes , das der kleine Knirps von Kutscher gefordert hatte . Dazu die drei Treppen ; sie brauchte Zeit , bis sie sich sammeln und das Vorlegeschloß ihrer Wohnung prüfen konnte . Nachdem dies geschehen , genug gerüttelt und gerasselt war , schloß sie auf . Lucinde trat in einen kleinen Gang , zu dessen Rechten die Küche lag . Hier machte die vornehme Dame Licht und beaufsichtigte den weitern Transport des Mitgebrachten . Beim Verschließen der Eier im Küchenschrank beleuchtete sie einen steinhart gewordenen Laib Brot . Ja so ! sagte sie . Unser Souper ! Da , Jettchen , rasch ! Flink ! Drüben im Laden ! Wo ist denn meine Börse ! Hole – hier ! Lucinde sollte rasch hinunterspringen und gegenüber in einem Laden frisches Brot holen , auch von nebenan Butter und von noch weiter nebenan aus einem Keller Rettiche , die sehr delicat schmeckten , wenn man , sagte Frau von Buschbeck , einen Salat draus machte mit Essig und Oel ... Wie das alles so wonnig mundete ! Als aber Lucinde schon im Gehen war und noch einmal zurückkam , weil sie ja das Geld vergessen hatte , sagte die freundliche , liebevolle Dame : Kindchen , bist doch wol zu müde , auch zu fremd , und wirst es nicht finden ! Und nun schnitt sie schon von dem alten Brote vor und holte aus einem andern Schranke mit kostbarem Porzellan von buntgemaltem meißener Rococo ein allerliebst geformtes Näpfchen , freilich nur mit Salz gefüllt . Aber » Salz und Brot macht die Wangen roth ! « sagte sie , und – Lucinde aß Salz und Brot . Aber da purren und gurren ja noch die Tauben in dem Waschkorbe ! Den armen Dingern muß drinnen recht bang geworden sein und verschmachtet sind sie gewiß auch . Morgen sollte der Tischler kommen , hatte es auf der Landstraße geheißen , und sollte auf dem Dache eine wundervolle Vorrichtung treffen , einen Taubenschlag , der nie einen Marder zulassen würde . Einstweilen aber wurde jetzt die Höhlung unter dem Feuerherde ausgeräumt und eins nach dem andern von vierzehn der trefflichsten veredelten Feldflüchter in diese unbequeme Wohnung eingelassen . Einen Vorbau machte man aus umgekehrten Schemeln , Besen , ausgebreiteten Scheuerlappen . Die » gnädige Frau « lachte ganz vergnüglich über die lieben Thierchen , nahm den Sack mit Zwetschen und ging erst jetzt in ihre vordern Zimmer . Auch hier die Prüfung der vorgelegten Schlösser . Auch hier ein behutsames Aufschließen und ebenso sorgfältiges Wiederanziehen der geöffneten Thür . Lucinde wurde nicht aufgefordert zu folgen . Da stand sie nun , todmüde , in der linken Hand ihr hartes Brot , in der rechten eine Küchenlampe . Sie durfte nicht näher kommen , weil erst gestern gescheuert worden war , und die Decken lagen noch nicht wieder , die kostbaren , zusammengerollten , über die Lucinde einigemal im Vorsaal schon gestolpert war . Es verging wol eine Viertelstunde , bis die Frau Hauptmännin zurückkehrte und Licht gemacht hatte . Wie sie sah , daß Lucinde so im Vorsaal stand und unnützerweise den leeren Wänden leuchtete , sagte sie : Donnerwetter , das Oel ist theuer ! Du kannst jetzt zur Ruhe gehen ! In der Küche gab es noch einen gemüthlichen Verschlag in die Mauer hinein . Dort öffnete die gnädige Frau und zeigte Lucinden etwas , was wie ein Bett aussah . » Jettchen « allerdings war so müde , daß sie nicht einmal ihre Bewunderung vor diesem Bette , das man wieder unsichtbar machen konnte durch zwei Thürflügel , aussprach . Sie war nur froh , den mitgenommenen Vorrath von Erbsen , den sie vorhin ausgeschüttet hatte , unterm Feuerherde verknuspert zu hören ; ein paar ihr sehr liebe Kropftauben gurgelten ihre Atzung ganz hörbar hinunter . Na , und nun kleide dich aus ! Gute Nacht ! Schlaf nicht zu lange ! Träume gut ! Sage : Ich wünsche Ihnen wohl zu schlafen , meine liebe gnädige Frau ! Na , wird's ? Nein , ordentlich ! Ich – wünsche – Ihnen – wohl – zu – schlafen , – meine – liebe – gnädige – Frau ! So ! Das war recht ! O , wir verstehen uns schon ! Wir passen zusammen ! Um fünf Uhr aber Reveille ! Verstanden ? Gute Nacht ! Ahnend , was Reveille sagen wollte , und etwas ungewiß , ob sie wirklich am Ziel der verheißenen Seligkeiten war , ging Lucinde , sich reckend und dehnend , barfuß und im Hemde noch einmal nach vorn und sah durch die Glasthür . Der Vorhang ließ ein Ritzchen offen , durch das sie hindurchschielte . Ei , kaut nicht die gnädige Frau gerade ihre Zwetschen frisch aus dem Sack heraus ? Es muß doch wol sein , wenn 's auch ein Anblick war , als wenn zwei concentrische Mühlräder sich umeinander drehten , nur jedes nach entgegengesetzter Richtung hin ... Und wie die Zwetschen auch schwierig zu schroten waren , so mundeten sie der gnädigen Frau doch vortrefflich , sodaß sie schon einen Haufen Steine vor sich hin und zwar sehr sauber auf ein Papier gelegt hatte . Sie hielt offenbar ihr » Souper « und blinzelte dabei so listig mit den Augen ringsum wie eine Katze , die sich auf ihre nächtliche Wanderung nach Mäusen freut , und sonderbar – auch mit den Steinen liebäugelte sie , als wenn sie der lockendste Speck wären , an den jemand anderes noch anbeißen sollte . Und endlich gar noch sonderbarer ! Wenn die schwarzen Augen der gnädigen Frau einen recht stechenden Glanz bekamen , dann schien sie ganz blind zu werden . Lucinde wußte das schon aus Vorkommnissen der Reise ; auch sie beobachtete scharf . Jetzt bewegte sich der Vorhang . Rasch schlich sie zur Küche zurück , wo sie sich ihren Bettkasten heraustappte und zusammengekrümmt auf einen Strohsack sich niederwarf . Die Lade war zu kurz für ihren aufgeschossenen Wuchs . Doch entschlummerte sie und hatte sogar die angenehme Ahnung – morgen in der Frühe doch noch Wonnen des Paradieses zu entdecken . 3. Von dem Morgen an , wo Lucinde erwachte und im Auffahren fast lebensgefährlich an die spitze Nase der Frau von Buschbeck stieß , die sie ein für allemal bedeutete : So lange dürfe sie niemals schlafen ! ( es schlug eben eine Uhr mit heiserm Tone , nicht unähnlich dem Bellen eines alten asthmatischen Mopses , fünf ! ) – von diesem Morgen an blieb Lucinde ein Jahr , neun Monate , funfzehn Tage und drei Stunden bei der Frau » Hauptmännin « von Buschbeck und in den seltsamsten Verhältnissen . Schon von der Frau , die fünfeinviertel Uhr die Milch brachte , hörte Lucinde ein lautes Lachen : Wieder einmal eine in die Falle gegangen ! Weiter war die Milchfrau nicht gekommen , denn schon schlorrte die Frau Hauptmännin im » Nachtjoppel « und mit einer Haube , deren Spitzen sich in die uns schon bekannte liebende Umarmung von Kinn und Nase als Drittes im Bunde einzumischen suchten , aus der vordern Stube heraus und verwies Lucinden jeden unnützen Aufenthalt mit den Leuten , die » ins Haus kämen « . » Ins Haus « nannte sie ihre Wohnung , bestehend , wie Lucinde sah , aus der Küche , einem dunkeln Entrée mit Guckloch durch die Thür zur Hausflur , einer Schlaf- , einer Wohn- und Putzstube . Ueberladen aber war die Möblirung der kleinen Etage allerdings . Für ein zweistöckiges Haus würde sie ausgereicht haben . Was am ersten Abend Lucinde schon beim Beobachten des Zwetschenmahles befremdet hatte , waren eine Menge ausgestopfter großer Vögel , einige aus Steinen gemeißelte häßliche Köpfe , die Götzen vorstellten , ein Porzellan-Chinese mit einem großen Pfauenwedel , auch eine Lanze , die quer an der Wand hing , mit einem Köcher voll Pfeile , die , wie sie später erfuhr , vergiftet sein sollten . Alle diese Dinge hatte der Herr von Buschbeck aus Indien mitgebracht . Er war Hauptmann in niederländischen Diensten gewesen , und seine Witwe lebte von einer Pension , die sie , wie sie sagte , aus dem Haag bezog ... die Gelder ausgenommen , die sie auf dem Lande » liegen « hatte . Diese vergifteten Pfeile beschäftigten Lucinden so sehr , daß sie gleich in der zweiten Nacht von der gnädigen Frau träumte , die ihr im Schlaf erschien und einen dieser Pfeile gerade aufs Herz setzte . Sie schrie im Schlaf auf , und wie sie aus ihrer Bettlade in die Küche blickte , huschte auch etwas dahin und klappte nach der Entréethür zu . Sie horchte länger , entdeckte aber nichts . Als sie am Morgen erwachte und nach ihren Tauben sah , – der Tischler war noch nicht bestellt worden , weil Lucinde nicht früher ausgehen sollte , als bis ihre » Garderobe « ganz in Ordnung war ; sie hatte daran den ganzen Tag nähen müssen – da lag ja eine von ihnen todt ! Das Opfer war glücklicherweise keiner ihrer Lieblinge . Frau von Buschbeck bedauerte den Unfall , fand es aber angemessen , daß man die Taube nicht ganz » umkommen « ließ . Sie wurde zu Mittag von ihr selbst , wie sie's nannte , au gratin zubereitet . Daß Lucinde von einem ihrer Täubchen selbst nichts essen mochte , that ihr leid , denn sie sagte , sie hätte darauf gerechnet . Lucinde mußte sich deshalb mit einer einfachen Milchsuppe begnügen . Schwerlich würde Lucinde von der Milchfrau ein ferneres überraschendes Wort , das wir gleich berichten wollen , vernommen haben , wenn sie nicht die Schlauheit gehabt hätte , schon durch das Guckloch zu beobachten , wann diese kam . Denn kaum hatte im glücklich erspähten Moment , als sie ohne zu klingeln geöffnet bekam , die Milchfrau gesagt : Was ? Sie sind noch da ? und dies Noch höchst scharf betont , als auch schon wieder Frau von Buschbeck in Halbnégligé , Joppel und Spitzenhaube erschien und eine weitere » Conversation « unterbrach . Lucinde war eine Gefangene . Die gnädige Frau besorgte die inzwischen nothwendig gewordenen Ausgänge selbst und schloß ihren Pflegling ein . Glücklicherweise glaubte dieser , solche Vorsicht wäre in der Ordnung , da ihr die Stadt als eine Höhle aller Laster und Verbrechen geschildert worden war . Nur daß sie ausschließlich in der Küche und auf dem Entrée verbleiben mußte , wurde ihr zu schwierig . Sie rüttelte wenigstens an dem Eingang zur Wohnthür , aber die vordere Herrlichkeit mit den Erinnerungen an die Wilden fand sie immer verschlossen . Der Taubenschlag , der auf dem Boden hergerichtet werden sollte , kam nicht . Die Tischler wären viel zu theuer , hieß es , und vor Mardern blieben die Thierchen unterm Küchenherde gesicherter . Es war ein trauriger Anblick , die armen Luftbewohner in dem engen Raume sich drängen und einer dem andern auf die ohnehin bei Tauben schon so schwerfälligen Füße treten zu sehen . Lucindens liebste Freude war sonst gewesen , an der Dachluke zu sitzen und die kreisenden Bewegungen ihrer Pflegebefohlenen mit ihren scharfen Augen , die sie bis in die weiteste Ferne verfolgen konnten , zu beobachten . Sie verbrachte eben damit die Zeit , die besser für die Erlernung des Eierkuchenbackens wäre angewendet gewesen . Einzig den paar Kröpfern , die sich Lucinde aufgezogen , that die Ruhe wohl . Die häßlichen Thiere saßen wie die Puterhähne und vergruben die Schnäbel in ihre Kröpfe . Leider aber mußten sie hungern , was diese vornehmen Prälaten am wenigsten vertragen können . Es starben aber – fast konnte man sagen » glücklicherweise « – in nächster Nacht noch zwei von den armen Gefangenen . Es war eine Taube darunter , deren Verlust Lucinden unendlich nahe ging ; eine halb braun und weiße Taube von ganz besonderer Zierlichkeit , mit einem Halse , dessen Federn auf die wunderbarste Art in sämmtlichen Farben des Regenbogens spielten , ohne daß man eigentlich unterscheiden konnte , wo die grünen und die blauen Schattirungen anfingen ; es sind die Farbenspiele der Taubenhälse eben Wunder , die noch kein Chemiker hat erklären können . Lucinde wußte wohl , daß zu ihrer Wirkung das Licht des blauen Himmels gehörte , von dem in die nach einer Brandmauer hinausgehende Küche leider sehr wenig hereinfiel . Auf dem Boden , das entdeckte sie dann allmählich auch , war gar kein Platz , um daselbst einen richtigen Taubenschlag bauen zu können . Sie entdeckte das , wenn sie von dorther Holz holen mußte . Es war das für sie immer eine große Entdeckungsreise , auf der sie vielerlei Neues sah . Es schmerzte sie daher auch nicht zu sehr , als eines Tages die Alte mit einem ganz besonders charakteristischen Tone sagte : Sackerlot ! Die Tauben fressen einem ja das Hemd vom Leibe weg ! Das sind theure Kostgänger ! Wir wollen sie verkaufen ! Was sie einbringen , leg' ich zu deiner Toilette an für den Winter , Jettchen ! Lucinde hatte aus dem Fenster , wenn sie vorn rein machte und nähte – letzteres mußte sie jeden freien Augenblick – und wenn es in der Küche zu finster wurde , in der Vorderstube , schon manche wunder schöne Frau auf der Straße gesehen und träumte dann , wenigstens einen neuen Hut tragen zu können , wenn auch ohne Federn . Sie gab also ihre Einwilligung zum Verkaufe . Die Alte brachte einen Koch aus einem der vornehmen Gasthäuser mit , der sämmtliche Tauben an sich nahm . Wie viel sie dafür löste und wie viel für ihren Winterstaat verbraucht werden konnte , erfuhr Lucinde nicht ; denn der Koch kam gerade in dem Augenblick , als ihr die gnädige Frau befohlen hatte auf dem Boden zu bleiben und zwei Trachten Kleinholz zu machen . Daß sie nur eine » Magd « bei der gnädigen Frau war , das hörte sie dort oben denn endlich auch . Auf dem Boden trafen sich die Mägde aus dem ganzen Hause zusammen , und da erfuhr sie desgleichen , daß Frau von Buschbeck in der ganzen Stadt den Namen hatte , keinen Dienstboten mehr , aber absolut auch keinen mehr , bekommen zu können . Sie plage und quäle ihre Leute so sehr , daß niemand länger als einige Tage bliebe . Die » Miethweiber « schickten niemand mehr , vor der Polizei bekäme sie gegen keine Anklage mehr recht ; sie wäre verurtheilt gewesen sich selber zu bedienen , wenn sie nicht auf den Einfall gekommen wäre – Bei dieser Eröffnung mußte Lucinde schon wieder hinunter . Frau von Buschbeck rief sie selbst ab und fuhr die Magd an , die in einem Nebenboden Holz spaltete und wol » ihre Dienstboten verführen « wolle ? Vor ihren Augen mußte Lucinde zwei Trachten Holz aufpacken und in die Küche tragen . Jetzt war Platz wieder unterm Feuerherd . Die Tauben waren fort . Die gnädige Frau behauptete , schlecht bezahlt worden zu sein ; sie gab von dem , was sie von dem Koch empfangen , nur die Hälfte an , und Lucinde hörte es kaum ; sie überlegte sich nur , was sie gehört : Frau von Buschbeck hatte in der Stadt keine Magd mehr bekommen können und holte sich deshalb – eine doch wol vom Lande ? Ihr Räthsel war gelöst . Ehe sie dabei mechanisch das Holz verpackte , wollte sie doch erst die vielen kleinen Federchen wegnehmen , die von ihren Tauben zurückgeblieben waren . Sie waren so blau , so weiß , so goldbräunlich , und jede Feder erinnerte sie gerade an die Verschwundene , der sie angehörte ... Das gibt ein schönes Nadelkissen ! sagte die Frau Hauptmännin . Es war eine dieser Frau eigene Kunst , daß sie die Phantasie ihrer Pflegebefohlenen immer anzuregen wußte . Erst der Winterstaat , nun das Nadelkissen ! Was sind dem Kinderherzen nicht alles Eingänge zu den herrlichsten Feenschlössern ! Allmählich aber kam Lucinden das Vollgefühl ihres traurigen Looses . Da hatte sie schon in einer Nacht vor dem letzten Braten , den sie gehabt ( Taubenbraten ) , selbst gesehen , daß die gnädige Frau , die an Schlaflosigkeit zu leiden schien , an ihre Bettlade kam , sie überleuchtete , das Licht auf den Feuerherd stellte und eine der Tauben nahm und ihr mit raschem Griff eigenhändig den Hals umdrehte . Dann legte sie sie wieder ruhig zu den übrigen und stellte , als wäre nichts geschehen , die Zuber vor . Lucinde glaubte zu träumen . Aber es war ganz wirklich so gewesen . Der Augenschein des Morgens bestätigte es . So gingen anfangs die Tauben fort , so gingen die Eier , so die Zwetschen . Auch den Korb schickte sie nicht an den Vater zurück , worüber Lucinde sie zum ersten mal etwas trotzig zur Rede stellte . Aber die Alte wußte zu zähmen ; vorzugsweise durch Hunger . Abends , als auch Lucinde zum ersten mal ihre Krallen gezeigt , brachte die Hauptmännin einen Haufen trockener Zwetschensteine . Lucinde bekam die Anweisung , sie mit einem alten Ziegelsteine , der vom Feuerherd losgegangen war , aufzuschlagen und sich die » kostbare « Mahlzeit der Kerne für den Abend munden zu lassen . Ein Trunk Wasser dazu würde die Kerne besser aufquellen lassen ... Lucinde gehorchte wol , doch in den schwarzen Augen der Schulmeisterstochter brannte mehr als nur Gehorsam . Sie mußten sich nur immer erst orientirt haben , und dann geriethen diese Augen in eine Glut , die von seltsamen Gedanken geschürt werden konnte . List weckt Gegenlist , Tyrannei Widerstand . Und wer weiß , ob Lucinde ein Wesen ist , das sich überhaupt nach sanfter Rede , Güte des Herzens , Liebe und schonender Obhut sehnt ! Schon können wir sagen , daß ihr nie die Zähne weh thaten , daß ihr nie ein Schnupfen Fieber machte , nie eine Zurücksetzung Thränen kostete . Sie half sich immer gerade so weit durchs Leben , als sie das Leben verstand , und ihre Waffen waren in frühester Zeit schon die geballte Faust , dann die spitze Rede , jetzt die Verschlagenheit ... Sie fängt mit der gnädigen Frau , die sie nun » bald weg hat « , wie sie den Mägden des Hauses , die sie aufhetzten , eingesteht , einen Kampf an , nicht etwa auf Leben und Tod , sondern einen Guerrillakrieg innerhalb der von der gnädigen Frau selbst gezogenen Schranken . Sie hat allmählich dabei die schöne Stadt sich » herausgeluchst « , die herrlichen Gärten , die großen denkmalgeschmückten Plätze , die Soldaten , die Offiziere , die schönen Umgebungen und die bezaubernden Fernblicke in sonnenbeschienene Ebenen und nach neuen blauen Hügelrändern hin ; sie erwischt aus dem Bücherschranke des , wie sie gehört hatte , noch gar nicht verstorbenen niederländischen Hauptmanns Bücher ; sie dringt darauf , daß sie , noch immer nicht eingesegnet , wenigstens in die Kirche gehen darf ; sie schreibt seitenlange Briefe nach Langen-Nauenheim , worin sie freilich das Ausbleiben des Korbes entschuldigen und eine Menge Erfindungen mittheilen muß , weil die gnädige Frau die Briefe erst liest , ehe sie sie abgehen läßt . Und nun macht es ihr gerade Spaß , die komischsten Erdichtungen zu schreiben , nur damit die » Alte « sich ärgert oder in jene Blindheit verfällt , die sie überkommt , wenn ihre unruhigen und gespenstischen Gedanken ganz nach innen gehen . Lucinde schreibt von Bällen und Gastereien , und die Alte liest es , als hörte sie die Geigen rauschen und die Schüsseln klappern . Sie läßt den Brief abgehen und ist sogar milder als sonst , weil sie dann stundenlang nicht aus einem wie somnambulen Zustande herauskommt . Um so gräßlicher ihr Erwachen ! Dann war 's doch , als beschuldigte sie Lucinden , der » schwarze Teufel « , wie sie sie nannte , wolle sie erwürgen . Dann hatte die menschenfeindliche , geizige Frau Blicke so voll Gift wie ihre javanischen Pfeilspitzen . Wie der Taubenfalk schoß sie hinter Lucinden her , wenn diese nur einmal gelacht hatte ; sie krallte mit ihren dürren Fingern in sie ein wie jener , wenn er aus Himmelshöhen niederschießt . Die böse Frau hatte keinen Schlaf . Sie fürchtete entweder Gespenster oder sich selbst . Sie leuchtete um Mitternacht in die Winkel . Kam sie an die Bettlade Lucindens , so hielt sie das Licht über die Halbschlummernde und schrie sie an : Das kann schlafen ! Das kann die Augen zuthun ! Oft mußte Lucinde aufstehen und ihr um zwei Uhr Morgens vorlesen , Reisebeschreibungen , Erzählungen von den Wilden , zuweilen auch Legenden . Frau von Buschbeck ging jährlich einmal zur Kirche ; sie war katholisch . Wenn aber Lucinde um ihre Einsegnung drängte , nahm sie alle Bücher fort und sagte : Unser Herrgott ist der Satan ! Sie war so geizig , daß sie sich eine alte Guitarre , auf der sie in den Abendstunden klimperte , nicht einmal neu mit Saiten beziehen ließ . Auf zwei Saiten spielte sie alte sentimentale Lieder und pfiff dazu . Da sie dies ohne Lippen thun mußte , so klang es wie leiser klagender Nebelwind auf der Heide . Der Anblick dieser grotesken Scene war Lucinden nicht vergönnt , denn Frau von Buschbeck schloß sich ein , wie sie fast immer that , besonders nach jedem Ersten im Monat , wo der Postbote eine ansehnliche Summe in einem mit adeligem Petschaft versiegelten Briefe brachte . Da mochte sie zählen , was ihr Geiz aufhäufte . Oft lauschte Lucinde und hatte die listigen Augen an die Fensterscheiben der Stubenthür gedrückt . Sie unterließ aber auch das , als eines Tages auf der entgegengesetzten Fläche der Scheibe das volle Antlitz der plötzlich hinter dem Vorhang auftauchenden Hauptmännin sie angrinste . Sie war von dem Anblick so entsetzt , als hätte ihr eine Fledermaus auf der Nase gesessen . Sie bebte so , daß sie nicht einmal entfliehen konnte , sondern ruhig geschehen ließ , daß die Thür sich öffnete und sie zur Strafe ihre gewöhnliche körperliche Züchtigung erhielt . Dabei liefen Tag und Nacht zusammen . Hatte Lucinde bis drei Uhr nach Mitternacht vorgelesen , so meinte die Hauptmännin , bis vier wäre nur noch eine Stunde und man könnte gleich aufbleiben und ans Tagewerk gehen , worunter sie Nähen und Stricken verstand . Die Hemden und Strümpfe , die Lucinde lieferte , gingen und kamen : sie behauptete , für eine Anstalt , die gut zahle ; sie spare alles für Lucindens Zukunft . Oft wurde sie , wenn gar zu böse Stunden kamen , so tückisch , daß Lucinde manche Arbeit dreimal thun mußte , nur damit ihre Peinigerin über dies und jenes ihren Willen hatte . Eines Tages klingelte ein Polizeiagent und verlangte Einlaß . Er erklärte rundweg , Frau von Buschbeck sollte auf dem Amte erscheinen und sich wiederum rechtfertigen wegen unmenschlicher Behandlung ihrer Dienstboten , wie schon öfters . Eine Menge Menschen aus dem Hause und der Nachbarschaft drängte nach . Beinahe wäre ein Act der Volksjustiz ausgeführt worden , denn man fand wirklich Lucinden an Händen und Füßen gebunden in einer dunkeln Seitenkammer der Küche , in welcher Frau von Buschbeck ihr altes Geräth aufbewahrte . Dort lag sie schon seit zweimal vierundzwanzig Stunden und bekam nur Wasser und Brot , weil sie , wie sie beschuldigt wurde , aus » Bosheit « zwei chinesische Tassen zerschlagen hätte mit der Drohung , alles Zerbrechliche auf der Servante zu zertrümmern , wenn sie noch ferner jedes kleine Misgeschick , das sie beim Abstäuben oder Putzen beträfe , mit » künftigem Abzug von ihren Ersparnissen « büßen müsse ... Im Hause hatte man das Jettchen der Frau Hauptmännin zwei Tage lang nicht bemerkt , Anzeige gemacht , und so kam es zum Durchbruch . Lucinde machte auf dem Amte dem Polizeirichter , Stadtamtmann genannt , einen wunderlichen Eindruck . Sie war trotz Kasteiung und Entbehrung jeder Art fast vollkommen entwickelt . List und Verschlagenheit waren unverkennbar der Ausdruck ihres Wesens , der ihr aber schön stand , wenn ihre dunkelbeschatteten Augen glühten , ihre Lippen trotzig sich aufwarfen und dabei ein ständiges scheues und ironisches Lächeln um den kleinen zierlichen Mund spielte . Das schwarze Haar war in Flechten geordnet , die voll und schwer um die Stirn gingen . Selbst die Hände , die doch soviel schaffen und » schanzen « mußten , waren nicht eben rauh . Sie sagte , da die in einem Fiaker folgende Frau von Buschbeck sich auf die Feinheit und Schonung derselben berief , daß sie es bei ihrem Vater » nicht nöthig gehabt hätte « . Nur ihre Haltung entsprach nicht dem schlanken Wuchse . Sie senkte den Kopf ... so aber , wie wenn eine schwere Aehre sich an einem langen Halme wiegt . Der Stadtamtmann sprach von ihrer Familie ... . Erst jetzt erfuhr sie ein schreckliches Unglück aus Langen-Nauenheim . Drei ihrer Geschwister , und das liebe Hannchen darunter , waren schon seit Jahresfrist todt ! Im Zeitraume von drei Tagen hatte sie das Scharlachfieber , das in der Gegend wüthete , hinweggerafft ... Die Alte hatte den Brief des Vaters aufgefangen und den Inhalt verschwiegen , weil sie die Wirkung des Kummers auf den Fleiß und die Arbeit fürchtete ! Wie Lucinde diese Nachricht hörte , stürzten ihr seltsamerweise keine Thränen aus den Augen ... Nur schrecklich erblaßte sie ... Der Stadtamtmann ließ das wankende Mädchen sich auf einen Stuhl setzen ; man konnte eine Ohnmacht befürchten ... Der Blick , den Lucinde bei dieser Nachricht auf die böse Frau warf , war furchtbar ... Ihre sonst so dunkeln Augen sahen in diesem Moment weiß aus , und die böse Zunge der stadtberüchtigten Frau , die der Verzweiflung nahe war , kein Mädchen bekommen zu können , und in diesem Fluche fast mit wirklichem Schmerz eine angezettelte Verschwörung sah , war gegen sie völlig verstummt . Als der Stadtamtmann Lucinden erstens einen Lohn und die Auszahlung ihrer Ersparnisse gesichert , dann die Frau Hauptmännin , die er indessen sonderbarerweise immer nur Fräulein von Gülpen nannte , aufs entschiedenste ermahnt hatte , die Langmuth der » überhaupt gegen sie so duldsamen « städtischen Behörden nicht zu erschöpfen , wurde Lucinde von ihm befragt , ob sie nicht zu ihrem Vater und zu ihren Geschwistern zurück wolle ? Sie saß starr und antwortete nicht . Dann erwähnte der Stadtamtmann unter den Unterlassungssünden , die sich » Fräulein von Gülpen « gegen sie hatte zu Schulden kommen lassen , auch die unterbliebene und doch von ihr versprochene anständige Confirmation . Gleichsam aber , als wenn sich Lucinde fürchtete , nun in Langen-Nauenheim noch erst confirmirt und dort unter die ihr wohlbekannten Buben und Mädchen gesetzt zu werden , antwortete sie auf die wiederholte Frage , ob sie mit der immerhin beträchtlichen Summe von nahezu funfzig Thalern , die ihr zuerkannt wurde , nach Langen-Nauenheim zu ihrem Vater und ihren auf drei zusammengeschmolzenen Geschwistern zurückkehren wolle , mit einem ernsten , bedachtsamen und fast kalten Kopfschütteln : Nein ! Das ist 's ja ! brach die zitternde Tyrannin aus . Das Leben auf der Straße , die Promenaden , die Offiziere , das Schlendern , das Gaffen ... Ruhe , Fräulein ! unterbrach der Stadtamtmann . Frau von Buschbeck oder Fräulein von Gülpen mußte sich entfernen , nachdem sie mit zitternden Händen einen Revers zur Zahlung von funfzig Thalern und Auslieferung aller Sachen Lucindens unterschrieben hatte . Sie ging mit krampfhaftem Zusammenschlagen ihrer Ober- und Unterkiefern , doch nicht ohne eine Art von Würde und Vornehmheit . Man hatte ihr da , wo man ihre Lebensverhältnisse näher zu kennen schien , zwar den Titel einer Frau geraubt , den einer Adeligen aber lassen müssen . Draußen empfing sie das Hohngeschrei zusammengelaufener Menschen . Sie war die Bekannte , Stadtkundige , die Frau : bei der niemand dienen wollte ! Sie stürzte in ihren Fiaker , doppelt schwer aufseufzend ; denn ihr Geiz sagte ihr wieder : Himmel , du hast den Fiaker vorher zu bezahlen vergessen ! Nun rechnet dir der auch noch die halbe Stunde an , die er vor dem Stadthause hat warten müssen ! 4. Der Stadtamtmann war in der Lage , gerade ein Mädchen zu bedürfen . Er bot Lucinden an , zu seiner Frau zu ziehen . Für die Confirmation versprach er unverzüglich Sorge zu tragen . Sie nickte einfach : Ja ! saß bis auf weiteres im Nebenzimmer des Amtssaales eine halbe Stunde allein , setzte im Geiste einen Brief auf , den sie an ihren Vater schreiben wollte , und folgte dann dem Stadtamtmann , als er sein Vormittagsgeschäft hinter sich hatte , in einiger Entfernung in seine Wohnung . Die Polizeidiener ersparten ihr die Gefahr , noch einmal zur gnädigen Frau , wie sie lachend titulirt wurde , zurückzukehren , und versprachen ihr alles Ihrige abzuholen und nachzubringen . Lucinde schaute und hörte hinein wie in eine fremde Welt . Daß sie einer schrecklichen , abscheuerregenden , wie es hieß und auch später im Wochenblatt unter der Rubrik Polizeibericht zu lesen war , » zuchthauswürdigen « Behandlung entronnen war , ... das fühlte sie eigentlich selbst nicht so lebendig . Sie ließ sich 's von den Leuten nur sagen und nahm 's dann hin , wie die es wollten . Die Frau Stadtamtmann hatte nichts gegen die Anordnungen ihres Gatten einzuwenden . Nur schien ihr die Zumuthung , das neue Mädchen erst confirmiren lassen zu müssen , umständlich . Indessen sagte sie zu . » Henriettens « Anblick – dieser veränderte Name blieb auch hier – that ihr wohl . Die Frau Stadtamtmann war gerade in der Hoffnung und sorgte dafür schönen Formen zu begegnen . Der Anblick des anziehenden , schlanken und gesunden Mädchens that ihr wohl . Es kommt oft vor , junge Confirmandinnen zu sehen , die nur gleich am Altar stehen bleiben sollten , um sich den Ehesegen geben zu lassen . Auch Lucinde war auf besondere Bitte des Amtmanns schon nach vier Wochen ein solcher Spätling unter den lieblichen weißgekleideten Kindern mit ihren Rosaschärpen und Myrtensträußchen . Der Superintendent gestattete die schnelle Beförderung , da er von der Schulmeisterstochter religiöse Bildung voraussetzte . Er wußte wol nicht , daß man sich nirgends mit dem lieben Gott weniger Sorge macht als in Pfarr- und Schulhäusern . Da steht man mit dem Himmel auf dem Fuß des Empfangens im Négligé . Gebetet hatte Lucinde außer vor und nach der Schule nur beim Eierkochen . Pflaumenweich liebte der Vater die Eier und dafür genügten zwei Vaterunser . Der Wildling stand nach vier Wochen unter den Confirmandinnen . An Wuchs ragte sie hier nicht mehr vor allen hervor ; es gab ebenso aufgeschossene Blondinen und Brünetten wie sie , zu denen sich der Herr Superintendent nicht gar zu sehr zu bücken brauchte , wenn er ihnen Sonntags darauf den Kelch reichte ; aber Lucinde war schon voll , kräftig in den Schultern , stark in den Hüften , und wenn auch im allgemeinen ihr scharfgeformter Kopf selbst noch nichtssagend war , so reizte sie das kindliche Wesen ihrer Umgebungen doch zu einem Umblick in der Kirche , der ihr ganz vorwitzig und weltlich stand . Manchem mußte sie auffallen . Sie stand wie ein Heidenkind , zerstreut und ohne Andacht , obgleich ihre schwarzen Bänder auf Trauer deuteten . Zugegen war niemand , den sie kannte , außer einer alten Magd aus dem Hause , das der Stadtamtmann bewohnte . Diese hatte ihr ein vergoldetes Gesangbuch geliehen und sie auf ihrer Kammer geschmückt , sodaß sie hernach zur Frau Stadtamtmann hintreten konnte und deren ganzen Beifall erntete . Diese neue » gnädige Frau « schenkte ihr ein schwarzes Halsband von Sammt mit einer Stahlschnalle , die auf dem brünetten Halse funkelte wie eine Broche von Diamanten . Ja , als sie aus der Kirche zurückkam , wurde sie sogar mit Chocolade empfangen . Man war gut und freundlich gegen sie . Es war eine sonderbare Welt , in die das nun fast funfzehnjährige Mädchen hier stündlich einblicken konnte . Die Gensdarmen gingen ab und zu , und der Stadtamtmann , der zwar ein für allemal im Hause und wenigstens bei Tisch mit den Vorkommnissen seines Berufes verschont sein wollte , konnte es nicht dahin bringen , daß er ohne Behelligung bis zum Dessert kam . Lucinde bediente ; auch wenn Gäste geladen waren . Sie besaß zwar nicht viel Geschick und machte vieles verkehrt , doch wurde das alles nicht mehr mit der früher erlebten Strenge gerügt . Zerstreut mußte sie schon dies ewige Rapportiren machen von dieser Dieberei und jener Gewaltthat . Ihre Phantasie , die sehr lebhaft war , sah ringsum – sie brauchte schon nur an die doppelten Namen der ihr vorerst entschwindenden » Frau Hauptmännin « zu denken – die Welt voll Lug und Trug , und da sich 's dabei doch so behaglich essen und trinken ließ , so erschreckte sie keine Thatsache , selbst kein Diebstahl , kein Mord mehr ; sie schüttelte den Kopf darüber , daß die Dinge des Lebens alle so glatt , so höflich und vergnüglich vorwärts gingen , während tausend Hände daran arbeiteten sie zu verwirren , man sah 's nur so nicht auf den Promenaden , wenn sie mit den Kindern des Stadtamtmanns ausging und die Leute stillstanden und die Kinder bewunderten , d.h. sie selbst und ihre auffallende Erscheinung . Eines Tages erlebte sie aber auch auf der Promenade , daß ein junges Mädchen , das halb bäuerisch , halb städtisch , aber schwarz gekleidet war , auf sie zustürzte . Es war ja ihre nächstälteste Schwester Luise ! Sie trauerte . Um die Geschwister noch ? Um den Vater ! Das liebe , freundliche , immer lächelnde Männlein war nicht mehr ... Luise weinte so laut , daß es ihr Lucinde verbot , » weil ja die Leute still stünden « ... Sie selbst war wieder nur erblaßt wie damals , als sie plötzlich nicht mehr ihre drei Geschwister hatte . Indem kamen noch zwei andere beflorte Kinder von der andern Seite . Es waren August und Gustav , ihre Brüder . Die hatten das Haus des Stadtamtmanns aufgesucht , dort gehört , ihre Schwester wäre auf der Promenade mit zwei Kindern ; nun hatten sie sich vertheilt , und eins hatte von hier , das andere von dort gesucht . Der Vater war todt ... Und wie schmerzlich hatte er geendet ! ... Er war in einen der vier kleinen Bäche gefallen , mit denen Langen-Nauenheim gesegnet ist ... Spät von dem Vorspann war er heimgekommen ... Kein Stern blinkte ... es war ein großer Nebel gewesen , und da hatte er eine von den Brücken verfehlt . Erst Morgens hatten sie ihn gefunden , wie er dalag im kühlen Grunde , aufgehalten von den Wurzeln eines alten Weidenstamms . Lucinde schüttelte düster den Kopf . Dann rief sie mechanisch des Stadtamtmanns Kindern , die sie führte , ein scheltendes Wort ; darauf fragte sie , ob die Geschwister schon gegessen hätten . Luise versicherte es und kam auf das schmerzliche Ende des Vaters zurück . Lucinde fragte , was aus dem Hause , aus dem Garten , aus dem Geräth , den Hühnern , der Ziege , der großen Wandkarte geworden wäre ! Sie erfuhr , daß alles das theils dem Staate , theils dem Dorfe , theils dem Wirth zum Vorspann und einer alten Frau gehörte , bei der sie schon lange oft ihre Betten in Versatz gegeben hatten , wenn sie auf ein paar zusammengerückten Schulbänken hatten schlafen müssen . Luise die wollte nun auch dienen , und die Kinder brächte man vielleicht in einer Fabrik unter . So hatte es der Gemeindevorstand in Langen-Nauenheim gesagt ; sie sollten's einmal so versuchen , und » ging ' es nicht , so würde wol anders gesorgt werden « . Gustav war acht Jahre . In einer Spinnerei vorm Thore suchte man Kinder schon von acht Jahren an ; es hatte das in der Zeitung gestanden , in derselben Zeitung , die der Vater immer auf bessere Zukunft zu studiren pflegte , und in deren Beiblatt einst seine Phantasieen über den Beruf eines deutschen Volksschullehrers gestanden hatten . Nec impavidum ferient ruinae ... Latein konnte Lucinde nicht , aber der Stadtamtmann übersetzte so etwas einmal bei Tische , und sie glaubte , es hieß : » Was schadt's ! « Es war ein Wahlspruch gewesen , den ein alter Ritter gehabt . Sie nahm ihn schon oft an , und heute nun mußte sie schon . Sie nahm die Kinder , die alle zunächst doch noch Hunger und Durst genug hatten , mit sich ; der Schwester sagte sie gleich die Miethsfrau , wo die wohnte , und wie sie mit der sprechen müsse . Die Frau Stadtamtmann war noch nicht am Ende ihrer Hoffnung , die zwei kleinen Buben vom Lande waren prächtige Jungen , sie gefielen ihr . August und Gustav blieben einen Tag und kamen dann nicht in die Fabrik . Der Stadtamtmann sorgte dafür , daß sie ins Waisenhaus aufgenommen und » gut erzogen « wurden . Und nun sind kaum drei Jahre von dem Langen-Nauenheimer Auszug vergangen , und welche Veränderungen haben wir ! Lucinde fand sich in alles . Sie hatte etwas Wühlendes , Unruhiges und beherrschte jede Situation . Bei Tische wartete sie nicht mehr auf . Der Stadtamtmann fand , daß es kaum noch schicklich war . In die Höhe wuchs sie nicht mehr , dafür that es ihr Geist , und sie regierte eigentlich das Haus , das sie aufgenommen . Selbstverständlich da , als die Frau Stadtamtmann eines Jungen genesen war , aber auch später . Durch ihre sichere , herausfordernde Ruhe , ihr spöttisches Lächeln , ihren Flunkergeist nur verdarb sie sich zuweilen ihre Autorität . Lange Ruhe um sie her ertrug sie nicht , und übermäßiges Glück oder allzu frohe Selbstzufriedenheit verdarb sie gern , indem sie Schicksal spielte . Der Amme gegenüber lobte sie das schöne Aussehen anderer Kinder , eine Handlung , für die man bekanntlich von jeder Amme vergiftet werden kann . Einem Bedienten , der etwas schwach von Begriffen war und seine Bestimmung verfehlt zu haben glaubte , weil er eine leserliche Hand schrieb , gaukelte sie bald diese , bald jene glänzende Aussicht vor . Hager ! rief sie , wenn sie die Zeitung gelesen hatte , in Amerika ist ein Vetter Ihres Namens gestorben , man fordert alle Hagers auf sich zu melden ! Mußte Hager gerade die Schuhe oder Messer putzen , so hatte sie , wenn er frei war , die Zeitung verlegt und jagte den beschränkten Menschen wochenlang mit seinen Vermuthungen , welcher von seinen Anverwandten jener in Amerika verstorbene Hager gewesen sein konnte , im Kreise umher . Von ihrem Koboldgeist blieben dann selbst die bei einem Kaufmann dienende Schwester und ihre Geschwister im Waisenhause nicht verschont . Ihr bei aller äußern Ruhe innerlich unruhiger Sinn wuchs mit dem Besuch des Theaters , das sie durch den Stadtamtmann frei hatte , jedoch nur im dunkeln Hintergrunde einer Loge dritten Ranges , während die Herrschaft im zweiten saß . Immer mit leuchtenden Augen kam sie vom Theater heim . Man glaubte natürlich , daß es die Stumme von Portici gewesen , die sie so außerordentlich aufgeregt hatte ; aber es waren die Zuschauer , die Logen , die glänzenden Toiletten , die fürstlichen Herrschaften . Die Tischgespräche berichteten dann nach wie vor von vornehmen Spielern , von zanksüchtigen vornehmen Herrschaften , von allem , was sich nur zur Kenntnißnahme des Polizeirichters einer so ansehnlichen Stadt drängte , und dergleichen Leute sah sie dann wieder fröhlich und wohlgemuth und mit Lorgnetten spielend in den elegantesten Logen . Eines Tages that sie einen tiefen Einblick in das innerste Lebensgetriebe ... Das glänzendste Waarenmagazin der Stadt war ein sogenannter Bazar , in welchem alle Modeartikel und Bedürfnisse einer eleganten oder auch nur comfortablen häuslichen Einrichtung , soweit sie Stoffe betraf , verkauft wurden . Ein unternehmender Kaufmann im Anfang der mittlern Jahre leitete dies Geschäft , wie man sagte , nicht ganz mit seinem eigenen Gelde . Sein Savoirfaire kam ihm jedoch zu statten , um die ganze höchste , hohe und mittlere Gesellschaft an sich zu ziehen . So gefällig die Formen des Mannes waren , der in seinem schwarzen Frack mit weißer Halsbinde die Honneurs seines mit mindestens einem Dutzend Commis ausgestatteten Geschäftes machte , so entschieden wußte er doch ebenfalls in geeigneten Fällen aufzutreten . Schon oft war in seinem großen und schwer zu beaufsichtigenden Geschäft gestohlen worden , sogar während des Verkaufs , und oft schon hatte er , wenn entweder der Stadtamtmann bei ihm oder er bei jenem zu Tische war , erklärt , er würde niemand schonen , wenn er einen jener eleganten Diebe beim Handverkauf entdeckte , und sollte es der Vornehmste sein . Schicken Sie nur sofort zu mir , hatte der Polizeirichter erwidert . In solchen Fällen muß man der Schlange gleich auf den Kopf treten ! Und eines Tages schickte der Kaufmann ; der Stadtamtmann möchte eiligst , aber selbst kommen , hieß es , er möchte einen seiner Gehilfen , aber vorläufig nur in der Ferne , bereit halten ... Der Stadtamtmann war nicht gegenwärtig . Und da auch Hager , der Diener , nicht zugegen war , so mußte Lucinde die Mantille umwerfen und auf das Amthaus laufen . Aber auch dort fand sie ihren Herrn nicht . Da sie ihn auf dem Casino vermuthete , so eilte sie ins Casino und nahm sofort einen der Polizeidiener mit . Ihr Weg führte sie aber an dem großen Magazin des Kaufmanns selbst vorüber , in dessen obern Räumen dieser auch wohnte . Da ihre Herrschaft in die letztern beschieden war , so glaubte sie sehr vernünftig zu handeln , wenn sie die Stiege hinaufging und dem Kaufmann wenigstens den Polizeidiener anbot , der ja so lange unten , wie zufällig , bei einer glänzenden Carrosse , die am Hause stand , warten konnte ... Da das ganze Haus nur allein von dem Kaufmann bewohnt wurde und oft der Verkehr in den obern Räumen mit dem Magazin , das zwei Stockwerke einnahm , der lebhafteste war , so konnte es Lucinden nicht wunder nehmen , den Eingang der Wohnung offen zu finden . Auch stand auf der Treppe ein Bedienter in Livree , der auf seine Herrschaft zu warten schien und nicht unmöglich der unten harrenden Carrosse , die ein Wappenschild schmückte , angehörte . Aber noch mehr Thüren standen offen , und augenscheinlich herrschte in der Wohnung die größte Verwirrung , wie sie wol nach aufregenden Entdeckungen stattzufinden pflegt . In dem hintern Zimmer glaubte Lucinde einen Wortwechsel zu hören . Niemand war zugegen , außer einigen Kindern des Kaufmanns , die sorglos umherrannten . Ist der Vater da ? fragte Lucinde . In seinem Bureau ! hieß es . Die Bedienung schien ausgeschickt zu sein ; auch die Mutter war nicht anwesend . Lucinde kommt näher ; die Teppiche dämpfen ihren Tritt , und schon übersieht sie im Geist , was drinnen vor sich geht . Sie zieht die Thüren hinter sich zu und steht unentschlossen , ob sie klopfen soll oder nicht ... Nein ! ruft der Kaufmann . Sie wieder , Frau Baronin ! Sie sind es jetzt fünfmal gewesen ! Ich schwöre Ihnen , daß ich keine Rücksicht mehr kenne ! Eine Dame Ihres Standes ! Schämen Sie sich ! Aber ich schone Sie nicht mehr , mögen Sie auf ewig gebrandmarkt sein ! Nicht fünf Minuten noch , so werden Sie vor dem Richter stehen ! Einen Kaufmann systematisch zu bestehlen , wie Sie es jetzt schon seit Jahren thun ! Pfui der Schande ! Inzwischen hört man eine weibliche Stimme Beschwörungen und Betheuerungen ausrufen , die von Thränen erstickt werden ... Lassen Sie ! Ich habe kein Mitleid mehr ! ruft der Kaufmann . Seit Monaten beobachte ich Sie ! Seit Monaten bemerk' ich , daß jedesmal nach Ihrem Besuch im Magazin ein Packet Spitzen , eine Lage gestickter Taschentücher oder Seidenzeuge oder Foulards fehlen . Ich habe die Discretion gehabt , den Verdacht meiner Leute von Ihnen abzuwenden ! Nur allein ich habe mit Ihnen verkehren wollen , so oft Sie das Magazin betraten ! Heute endlich seh' ich die rasche Handbewegung , als Sie eben einen Ihrer maskirten Käufe abschließen ! Ich folge Ihnen , Sie verlassen den Laden , ich begleite Sie und am Wagen entdeck' ich , was Sie inzwischen unter Ihrem Mantel verbargen ! Pfui der Schände ! Aber ich kenne keine Schonung mehr ! Lucinde hörte , daß der ungeduldige Kaufmann sich näherte , um zu sehen , ob nicht endlich der requirirte Stadtamtmann kam . Jetzt aber auch vernahm sie plötzlich ein heftiges Fallen und die herzzerreißende Klage einer Schluchzenden : Auf meinen Knieen beschwör' ich Sie , Herr Guthmann ! Ich werde alles erstatten ! Machen Sie mich nicht unglücklich ! Es währte der Auftritt noch eine Weile fort , bis sich die Vorwürfe und Drohungen milderten , das laute Schluchzen der Dame sich legte , zuletzt alles still wurde ... Es wurde sogar so still , so unheimlich still , daß es Lucinden vor Schreck kalt überrieselte . Sie konnte nicht ganz den Vorgängen mehr folgen und dachte sich irgendeine Gewaltthat . Leise , athemlos , unsicher auftretend zieht sie sich an die Thür , klinkt sie wieder leise auf und schleicht sich durch die Zimmer nach vorn auf den Vorplatz zurück , wo der galonirte Bediente wartet . Eine so anziehende Erscheinung wie Lucinde brauchte hier nicht zweimal zu fragen , um den Namen seiner Herrschaft zu erfahren . Der Diener nannte eine der ersten Damen der Stadt . Nicht lange dann währte es , so kam der Kaufmann mit der Herrschaft des Bedienten aus seinem Bureau zurück . Es war eine schlanke , magere , noch junge Dame , die Lucinde schon oft im Theater gesehen hatte , eine Frau , noch von Jugendreiz und Anmuth überstrahlt . Sie lächelte verlegen ... Auch der Kaufmann lächelte ... Sie schienen etwas verabredet zu haben , etwas besprochen , was vielleicht nicht ganz erledigt war . Die Dame zögert ... Der Kaufmann beruhigt sie mit einem süßen Bitte ! Bitte ! ... Dann steigt die Dame die Stufen nieder . Lucinde wird jetzt kurz und barsch befragt , was sie wolle ? Der Kaufmann kennt sie doch sonst , sah sie oft , war immer sehr artig gegen sie ... in diesem Augenblicke ist er wie abwesend . Als Lucinde in stotternder Unsicherheit die Meldung macht , daß der Stadtamtmann nicht zugegen gewesen wäre , daß sie aber vom Amte jemand mitgebracht hätte , der unten warte , entschuldigte sich Herr Guthmann mit sich findender Artigkeit wegen » vergeblicher Bemühung « . Mit einem auszurichtenden Gruße an ihre Herrschaft und dem Auftrag , einen stattgehabten » Irrthum « anzudeuten , steigt Lucinde die Treppe nieder . Unten rollt eben die prächtige Carrosse ab . Den mitgebrachten Gensdarmen muß Lucinde gehen heißen . Diese Scene veranlaßte in ihr Aufregungen , die sie kaum beherrschen konnte . So hatte ihr noch nie das Herz geschlagen , so war ihr noch nie das Blut durch die Adern gerollt ! Sie verschloß das Erlebte in sich . Nicht Schonung oder vielleicht eine angeborene Discretion war es , was sie zu dieser Verschwiegenheit bestimmte . Entweder fürchtete sie , zu verrathen , daß sie schon trotz ihrer Jugend eine solche Scene verstanden hatte , oder man darf glauben , daß sie einen Genuß darin fand , ein so wunderbares Erlebniß ganz allein für sich zu besitzen , ganz allein für sich zu genießen und überhaupt Dinge zu kennen , die die Nacht mit Grauen bedeckt . 5. In jedem Leben ist der Augenblick entscheidend , wo uns die Dinge anfangen objectiv zu werden . Unsere Kraft fängt von dem Augenblick an , wo wir etwas wissen , was endlich einmal feststeht , endlich einmal fixirt ist wie der Schmetterling unter der Nadel , nicht mehr auffliegen , nicht mehr wieder lebendig werden , uns widerlegen , irren , wieder zu Anfängern machen und in alle Weiten treiben kann . Die Leute nannten Lucinden allmählich stolz . Ihr Stolz bestand darin , daß sie sich selber emporhob , es versuchte mit ihrer mangelhaften Bildung ihrer immer reichern Erfahrung gleichzukommen . Sie wußte so vieles mehr und besser als viele andere , und da sie doch an formeller Bildung zurückstand , auch zu träge und zu unstet war , vielerlei noch zu lernen und nachzuholen – ihre Herrschaft würde ihr dazu , wenn sie's begehrt hätte , die Mittel geboten haben – , so trug sie geistig den Kopf mit Bewußtsein ihrer Lücken hoch und erfand sich allerlei Ersatzmittel und Beschönigungen für das , was ihr fehlte . In diesen Erfindungen war sie so glücklich , daß man sie bald das poetische » Hessenmädchen « nannte und sie bewunderte . Sie war naiv mit Bewußtsein . Sie konnte den Blick so senken , wie die Andacht selbst . Sie konnte ihn aber auch wieder aufschlagen , wie jene Medusen , die gerade darum so grausam mit ihren Blicken tödten , weil sie so anziehend sind , so regelrecht in ihrem Antlitz alle Linien der Anmuth haben . Lucindens Kopf wurde immer mehr ein Gemmenkopf , den ebenso der blumendurchflochtene Aehrenkranz der Ceres wie das Schlangengeringel einer Phorkyde schmücken kann . Der Stadtamtmann , der zu den eigenthümlichen Naturen gehörte , die eine wahre Cerberusbissigkeit im Amte mit einer häuslichen träumerisch weichen und fast lyrischen Art verbinden können , erklärte es für einen » radicalen Unsinn « , als auf dem Casino davon die Rede war , sein vielbesprochenes schönes Kindermädchen sollte er die Tracht annehmen lassen , in der Van Embden seine berühmten blumenzupfenden Dorfmädchen gemalt hat . Er hätte sie , wenn 's nach ihm gegangen wäre , in eine Pension schicken mögen , soviel Respect hatte er vor ihren Gaben . Nur seine Frau theilte den Enthusiasmus nicht . Sie hörte seit lange nur auf die vielen Klagen , die über Lucinden einliefen . Alle jungen Mädchen der Bekanntschaft oder Verwandtschaft des Stadtamtmanns waren eine Zeit lang von ihr entzückt ; kaum aber hatten sie einen Vertrauensbund mit ihr geschlossen , so nannte man sie treulos , verrätherisch und warnte vor ihr die , die sie empfohlen hatten , und die , die sie noch beschützten . Die einen hoben sie zwar dann in den Himmel , die andern verwünschten sie aber schon . Sie war oft in dem Grade der Gegenstand der allgemeinen Discussion , daß sich der Stadtamtmann die Ohren zuhielt , seine Gattin aber , » um dem Dinge ein Ende zu machen « , ihre Entlassung beantragte . Nichts ist so verderblich für die Jugend , als ungestraft böses Beispiel hingehen sehen . Lucinde sah die vornehme Dame , die eine Diebin war , sehr oft wieder . Sie sah sie auf der Promenade , im offenen Wagen , sie sah sie , von Cavalieren umgeben , im Theater ; ja , eines Tages , eine halbe Meile von der Stadt entfernt , sah sie in einem öffentlichen Lustgarten des Fürsten , nach dem man Partieen zu machen pflegt , die schöne Frau in der Begleitung eben desselben Kaufmanns , der sie hätte vernichten können . Sie bedauerte damals , das seltsame , die dunkeln Alleen suchende Paar nicht genauer beobachten zu können , denn der , der sie selbst begleitete , war gerade ein junger Mann aus dem Geschäftspersonal des Herrn Guthmann und schien gerade seinen Principal hier am meisten vermeiden zu wollen . Kaum hatte der junge Mann die vornehme Dame mit dem in den Formen höchst gewandten Herrn Guthmann durch die grünen Laubgänge des Parkes daherkommen sehen , als er auch Lucinden sofort in eine Nebenallee zog und den Tag über vermied , sich draußen im Freien zu zeigen . Oskar Binder wußte nichts von den Ursachen dieser so auffallend intimen Annäherung , und Lucinde erröthete noch , wenn sie darüber nachdachte , wie sie es anstellen sollte , zu verrathen , was sie belauscht hatte , und den Preis zu nennen , um den die Baronin ihre äußere Ehre gerettet hatte ... Der schöne Oskar Binder selbst aber gehörte einer achtbaren Familie an und war , wie man behauptete , der zuverlässigste und anstelligste unter sämmtlichen Commis im Bazar Guthmann . Das Vertrauen seines Principals überließ ihm die Verwaltung der Kasse . Durch sein Aeußeres ebenso empfohlen wie durch Namen und Herkunft , kam er in die Kreise des Stadtamtmanns , und viele der jungen Mädchen , Töchter von Räthen und angesehenen Beamten , zeichneten ihn aus . Dennoch warf er sein Auge nur auf die halb schon als Pflegekind im Hause des Stadtamtmanns befindliche » Henriette « . Daß sie eine Schwester hatte , die noch diente , hatte schon aufgehört ; Lucinde verschaffte ihrer Schwester eine Stelle in einer großen , von einem Verein unterstützten Nähanstalt ; ihre Geschwister im Waisenhause sollten zum Militär gebildet werden . So den Uebrigen fast schon ebenbürtig , ergänzte sie , was ihrer Stellung mangelte , durch die Geltendmachung ihrer Persönlichkeit . Der junge Buchhalter hörte , was allmählich alle jungen Männer von den andern Mädchen über Lucinden hörten , daß sie die Störerin des allgemeinen Friedens , eine gefährliche , zu jedem Mittel greifende Kokette wäre . Da sie aber den Reiz des Eindrucks für sich hatte und überdies im Gegentheil kein Wasser zu trüben schien , zog sie alle an . Sie hatte eine Art , bei gemeinschaftlichen Spaziergängen allein zu bleiben , irgend nach einer Blume zu suchen , einen Kranz zu winden , die jeden , den sie mochte , in ihre Kreise zog . Wenn sie den Schein des Dienens annahm , so half man ihr ; wünschte sie selbst etwas , so vollzog man es . Die noch ländliche Betonung ihrer Worte stand ihr besonders naiv ; sie war anziehend in ihren Aeußerungen , und wenn sie lachte , so konnte sie , wenn sie gerade nicht zu weit darin ging , alles mit sich fortreißen . Nur zu weit durfte sie nicht gehen . Schüttete sie sich vor Lachen , wie man zu sagen pflegt , so hatte es den Ausdruck böser Schadenfreude , und all die jungen Mädchen schienen dann recht zu haben , die zuweilen wünschten ihr geradezu » die Augen auskratzen « zu können . Der junge Buchhalter folgte an jenem Tage , der ein auf die Woche fallender Feiertag war und ihm wie dem sonst sehr fleißigen Principal Urlaub gegeben hatte , lieber Lucinden als den übrigen Teilnehmern und Teilnehmerinnen einer großen Partie , die einige Verwandte des Hauses , in dem sich Lucinde befand , veranstaltet hatten . Ihre Gegnerinnen behaupteten , daß sie die Kunst , sich in einem Parke plötzlich zu verirren , weidlich verstünde ; aber die , die für sie als Naturkind und » Hessenmädchen « schwärmten , nannten sie einen Elfen , ein romantisches Wesen , das die gewöhnlichen Gleise des Alltäglichen nicht zu wandeln brauche . Heute hatte sie es auf Eichkätzchen abgesehen , deren sie mehrere schon aufgehuscht hatte . Die jungen Männer folgten fast zu stürmisch , fast zu auffallend . Lucinde hatte ebenso das Talent , die Männer für sich allein zu haben , wie das andere , wenn sie wollte , niemand aus der großen Ringkette des gemeinschaftlichen Vergnügens herausfallen zu lassen ; sie sagte dann jedem etwas , was ihn zur Anknüpfung eines Gesprächs ermuthigen konnte . Schon war der junge Buchhalter darüber eifersüchtig , und eben , als er seinen Principal entdeckte , hatte er es wirklich durchgesetzt sie zu isoliren . Als er nun doch zu den andern zurückkehren mußte , fragte sie : Warum fliehen Sie denn nur vor dem Herrn Guthmann ? Der junge Buchhalter blieb die Antwort schuldig , worüber sie theils aus Neugier , theils aus Laune in Verdruß gerieth . Aber rings gab es nun Augen , die wußten , daß Lucinde zu den Naturen gehörte , die ihr Gefühl da , wo sie zanken und Vorwürfe machen , mehr offenbaren als da , wo sie schmeicheln und gut scheinen . Jetzt sah man aus ihrem Schmollen , daß Oskar Binder , der schöne Buchhalter , der Bevorzugte war . Als Lucinde sechzehn Jahre geworden , sprach man von ihrer Verlobung mit ihm . Der junge Mann schien eine glänzende Situation zu besitzen . Er überhäufte Lucinden mit Geschenken , und dennoch versicherte er seinen nächsten Freunden ( auf Dinge , die ihm und ihnen sehr heilig waren , in der Form , z.B. » auf Taille « oder » Ich will hier nicht gesund stehen ! « ) daß er von Lucinde noch nie auch nur die Hand gedrückt bekommen hätte . Auch der Stadtamtmann erfuhr diese Versicherungen und rüstete sich alles Ernstes auf eine Aussteuer seines geliebten Findlings , auf den er einen Theil der Sympathieen für Glaube , Liebe und Hoffnung übertrug , die er sich in einem Beruf voll Mistrauen und Verfolgung als seine geheimste Lebenspoesie doch zu erhalten suchte . Da aber kam eines Tages seine Gattin und war über die » teuflische « Natur eines Mädchens im Reinen , das die Neigung ihrer Nichte , der Hofraths-Eveline , zu irgendeinem andern jungen Manne , dem Lieutenant Wallbach , durchkreuzen konnte und mit diesem einen ganzen Abend lang in der Schützengesellschaft in einem Winkel gelacht haben sollte . Die Hofräthin kam , der Hofrath kam , Eveline wurde krank , der Lieutenant fühlte sich über die vom Hofrath für ihn zur Verheirathung zu stellende Caution und durch die Erwähnung derselben in einem Wortwechsel beleidigt und nahm seine Werbung zurück ; kurz , der Stadtamtmann , Evelinens Onkel , mußte diesem » Familienunglück « eine Satisfaction bieten : sie bestand in der endlichen Verabschiedung Lucindens . Lucinde , die sich , wie man bitter genug gesagt hatte , » einen andern Dienst suchen « sollte , machte einige Versuche , den Ernst in Humor zu verwandeln . Sie gelangen nicht . Der Stadtamtmann mußte den Schein vermeiden , selbst von ihr bezaubert zu sein . Seine Gattin sagte , » ihr Maß wäre voll « . So zog Lucinde zu ihrer Schwester , der Nähterin ... In dem Behagen ihrer eigenen Interessen that es ihnen allen nichts , ob da ein Leben in seiner Entwickelung unterbrochen wurde oder nicht . Acht Tage darauf war aber Lucinde für die ganze Stadt verschwunden . 6. Wir finden sie in einer Extrapostchaise wieder , die eines frühen Morgens in jene zaubervolle , sonnenglanzverklärte Ebene niederfährt , die man von einer großen Terrasse der Stadt aus nur mit dem Hochgefühl der Sehnsucht und des Entzückens betrachten kann . Berge ringsum ; aber nichts mehr , was bedrückt oder beengt , wie daheim , wo die vier verhängnißvollen Bächlein niedergingen . Ein großer freundlicher Strom schlängelt sich durch Wiesen und Felder hin , und erst die äußersten Ränder desselben sind mit waldigen Höhen umkränzt . Ueber das ganze große Panorama hin die bunteste Abwechselung . Hier grüne junge Saaten , dort die gelben großen Tücher der nordischen Oelpflanze ; dann ein dunkler Eichenforst , hinter dem wieder die blauen Wogen des Stromes aufblitzten ; die Häuser so schmuck mit rothen Ziegeldächern , die Herrschaftssitze mit langen Pappelalleen , die in mäßiger Verwendung jeder Gegend einen ganz besonders vornehmen Ausdruck geben , und so auf Stunden und auf Meilen hin . Die Berge da , sagte Lucindens Begleiter , sind die Weserberge ! Dahinter geht 's nach Bremen und dann – nach Amerika ! Es war ein wunderschöner Junimorgen . Die Sonne brannte , und gern hätte Lucinde die Glasfenster des Wagens geöffnet . Ihr Begleiter wollte erst die nächste Station abwarten . Auch dort noch bat er , die Schwüle des engen Raumes lieber noch eine Weile zu ertragen . Erst gegen zehn Uhr , als sie wol schon fünf Meilen von der von ihnen verlassenen Stadt entfernt waren und es eine waldige Anhöhe hinaufging , öffnete er und ließ das Fenster ganz zurückschlagen . Viel lieber hätte Lucinde die Aussicht genossen , die sich früher dargeboten hatte , Fernblicke auf die rothgedachten Meiereien , altersgraue , aus Busch und Baum hervorblickende Thürme alter Edelsitze und Abteien , Mühlenwerke und Fabriken , deren hohe Schornsteine die blaue Luft mit kräuselnden Nebelwolken erfüllten , wunderliche Kirchthürme , die bald den Minarets der Moscheen glichen , bald aber auch ganz verbuttet aussahen , wie alte Büchsen und Flaschen für Pferdemedicamente ... Jetzt lag nur zur Rechten ein fast undurchdringlicher Tannenwald , zur Linken ging es eine kleine Anhöhe mit niederm Gehölz hinauf , an das sich zuletzt eine Buchenwaldung lehnte . Belebt war's ringsum . Fink , Drossel und Pirol ließen ihren frischen Waldruf ertönen . Aus dem Tannendickicht zur Rechten hörte man dann und wann ein hallendes Geräusch , das die Nähe von Holzschlägern verrieth . Zur Linken fiel die Sonne so günstig über die grünen Baumkronen , daß sich ganz jene lieblich magischen Lichtwirkungen erzeugten , die eben auch nur den Buchenwäldern eigen sind . Nach Amerika ! Das war weit von diesen summenden Käfern , diesen um die Rosse des Postillons schwärmenden Brummfliegen , weit von diesem selbst , der die Anhöhe zu Fuß nebenher ging und mit einem aus dem Vorholz zur Linken gebrochenen Birkenzweige über das lichtbraune Glanzhaar seiner schweißgebadeten Thiere hinfächelte ! Bei so fernem Reiseziel mochte wohl gerechtfertigt sein , daß der junge Buchhalter – denn Oskar Binder ist Lucindens Begleiter – schon seit fünf Uhr Morgens , wo sie ausgefahren , so außerordentlich nachdenklich ist und immer nur eine kleine Kassette betrachtet , die er auf dem Schoose hält . An und für sich war er fast gekleidet als ging' es zum Balle ... Als Lucinde vorm Thore , wo sie seiner Weisung zufolge ohne irgendein anderes Gepäck , als das sie selbst in der Hand tragen konnte , an zwei einsam am Wege stehenden Pappeln erscheinen sollte , seiner in einem harrenden Wagen ansichtig wurde , erkannte sie ihn kaum . Er blickte hinaus und winkte heftig , daß sie rasch auf den Tritt der Chaise und durch die von ihm gehaltene Thür einsteigen möchte . Er hatte sich von gestern , wo sie kurz und rasch erklärt hatte , es wäre sicher am besten , wenn sie sich ihm zur Reise nach Amerika anschlösse , bis heute früh seinen schönen Bart sowol um Mund wie Kinn und Wange abnehmen lassen , und hatte eine ganz curiose Physiognomie bekommen , die früher aus der Bartwaldung heraus kaum erkennbar gewesen war . Hätte sie nicht ihr Wort gegeben und wäre des » nun doch verpfuschten « Lebens in der Residenz überdrüssig gewesen , so hätte sie umkehren mögen , so wenig gefielen ihr jetzt die Nase , der Mund und die Ohren des jungen Buchhalters , denn auch diese hatten früher nicht so grell hervorgestanden , als seit heute früh , wo auch seine schönen langen , zierlich über den Hemdkragen in einem einzigen Strich herabfallenden dunkelbraunen Haare von der Schere vertilgt worden waren . Die gelben Glacéhandschuhe trug er wie immer . Für den schwarzen trug er einen grünen Reitfrack mit goldenen Knöpfen , dazu elegante carrirte Beinkleider , eine hohe Mütze von schottischem Zeuge mit einer Troddel , und einen Plaid , den er sofort , als fröstelte ihn in allen Gliedern , über seinen ganzen Körper ausbreitete , sorgfältig aber dabei der Knöpfe seiner Glacéhandschuhe achtend und diese selbst ab und zu ungeduldig niederstreifend wie beim Anprobiren ... Dafür , daß auch Lucinde sich , nach seinem ausdrücklichen Wunsche , ja Befehl , gänzlich metamorphosirt hatte , schien er im ersten Augenblick kaum ein Auge zu haben , und doch bot sie eine phantastische Erscheinung dar . Ein kleines kurzes Strohhütchen nahm sie ab , und da fielen ihr die vollen Haare , die sie sonst nur in Flechten getragen , in langen dunkeln Locken über die Schulter bis in den Nacken herab . Von gestern Abend sieben bis neun Uhr hatte sie von ihrer Schwester , die in diese Reise eingeweiht war , sich ihr Haar so ordnen lassen , hatte die Nacht geschlafen mit funfzig Papilloten um den Kopf , die von Luisen mit einer großen , über zwei Talglichtern glühend gemachten Ofenzange gebrannt worden waren . Alle Liebesbriefe , die beim Ausrangiren der so » leicht wie möglich « herzustellenden Bagage auf dem Boden der kleinen Dachstube ausgebreitet lagen , waren zu diesen Papilloten benutzt worden . Zu dem reizenden Kopfschmuck gesellte sich fast eine Balltoilette , ein luftiges , bauschiges , weißes Kleid , das schönste , das sie hatte , bestehend aus einem geblümten Musselinstoff . Die vor Eile fast athemlos klopfende Brust bedeckte eine rothe Florecharpe mit langhängenden seidenen Fransen . Dazu zwar hohe Schnürstiefel aus Seidenzeug , keine Schuhe , wohl aber helle Handschuhe und Manschetten von langen weißen Spitzen . Es hätte zu dieser Erscheinung ein mit Seide ausgeschlagener offener Landau , nicht die auf jeder Station gewechselte schmuzige Postchaise gehört . Aber sowol für diese Toilette wie für das dagegen auffallend genug abstechende Bündel , das Lucinden beim Tragen bis zum Thor fast zu schwer geworden war , hatte der junge Mann stundenlang keine Augen . Ueber seine eigene Metamorphose lächelte er mit gezwungener Leichtigkeit , und befahl dann immer nur mit einer seine Begleiterin mehr erschreckenden als ihr imponirenden Barschheit dem Postillon die größte Eile . Jetzt erst , um zehn Uhr , als Lucinde doch auch einmal aussteigen und sich etwas dehnen und recken wollte , bemerkte er , wie sie seine Weisung , sich vornehm und anders als gewöhnlich zu kleiden , bis zum » Auffallenden « misverstanden hatte ; er bat sie , lieber im Wagen zu bleiben . Sie hatte gedacht , er würde endlich sagen : Nein aber wie schön ! Wie entsprechend der gegebenen Anweisung ! Und vollends waren jetzt sogar die Locken aufgegangen und hingen ihr , wie einer Genoveva , lang über den Nacken herab , ein wildromantisches Aussehen gebend ... Aber Oskar Binder zankte sogar . Die Vögel werden nicht vor mir erschrecken ! sagte sie spitzig , als er sich dabei ängstlich umsah . Sie ließ sich nicht abhalten und stieg aus . Wie wohl that ihr's , endlich im Walde die beklommene Brust ausdehnen zu können ! Oskar Binder gefiel ihr heute nicht . Sie wußte nicht , wie sie so schnell und unüberlegt in diese » Gelegenheit nach Amerika « hatte einwilligen können . Sah diese Reise doch einer Erhörung seiner Huldigungen nicht unähnlich , und doch hatte sie Oskar'n bisjetzt keine Zärtlichkeit gestattet . Wäre er ihr heute früh fünf Uhr bei den beiden Pappeln gleich um den Hals gefallen , dann hätte es mit ihrer Zukunft seine Richtigkeit gehabt , der Augenblick hätte sie überwunden , sie hätte sich liebkosen lassen und nach Gefühl erwidert ; jetzt aber war der Augenblick verfehlt , und wenn bei den beiden Stationen , die sie hinter sich hatten , jedesmal beim Weiterfahren der junge Mann einen Anflug von Zutraulichkeit bekam und ihre Hand ergreifen wollte , zog sie sie zurück . In dem zornigen Temperament , das ihrem Blute eigen schien , bei dem schwachen » Talent zur Treue « , wie sie es selbst nannte , überlegte sie schon bei den ersten ahnungsvollen Blicken in die nächste Ferne , ob denn in der That nicht Amerika auch zu weit liegen möchte ; denn nach ihrem Princip mochte sie hier in jedem Dorfe gleich halten und in jedem Schlosse gleich die Leute kennen lernen . Den Bitten des nur mit seiner Kassette beschäftigten Oskar , im Wagen zu bleiben , gab sie kein Gehör . Der Weg ging bergauf , der Postillon schritt auch zu Fuß und sie wollte sogar noch weiter links in den Buchenwald hinein . Das dort noch gehäufte Laub vom vorigen Jahre lockte sie . Das raschelte so gleichförmig zu ihren Füßen hin , und sie wollte dabei an Amerika und das große Weltmeer denken , das sie mit dem jungen Manne und seiner thörichten Liebe zu ihr zu durchschiffen hatte . Und wie gebieterisch er schon wurde ! Er rief einmal über das andere in englischer Betonung : Mary ! Mary ! Als wenn auch er ihren Namen Lucinde zu verleugnen hätte ! Sie staunte dabei , daß Oskar , wie sie bei den zurückgelegten Stationen schon bemerkt zu haben glaubte , sich mit den Posthaltern und Wagenmeistern in gebrochenem Deutsch unterhielt . Mehr aus gereiztem Spott als aus guter Laune war es , daß sie von ihrem Laubmeer , das ihr bis an die Knöchel ging , zur Landstraße hinüber antwortete : Yes , my dear ! Yes , my dear ! Die englische Conversation that Oskar'n wohl und schien zu seiner Beruhigung zu dienen . Während der Postillon horchend mit seinem Birkenzweig die Gäule kitzelte , fing jener laut einen englischen Discurs an , der im Walde hüben und drüben nachschallte . Lucinde verstand ihn freilich nicht mehr als der Postillon ; sie sagte immer nur : Yes , my dear ! Yes , my dear ! Ihr Augenmerk war auf Eichkatzen gerichtet , deren sie nicht wenige aus dem Laube , unter dem noch manche vorjährige Buchecker lag , aufschreckte . Wie sie so hin- und herrannte und die Thierchen die Stämme hinaufschossen , mußte sie sonderbarerweise der längst vergessenen und aus der Stadt entschwundenen Frau Hauptmännin von Buschbeck gedenken . Diese stand ihr plötzlich in dem Nachtkamisol mit der großen Haube über der Nase und dem aufgebundenen Unterrock vor Augen und vergegenwärtigte ihr besonders den Moment , wenn sie auf den Mäusefang ging . Fand nämlich Frau von Buschbeck auf ihrem Boden der Kartoffeln zu viele zernagt , so hatte die seltene Frau auch das Talent , Mäuse aus freier Hand zu fangen . Lucinde war ihr oft nachgeschlichen , wie sie auf der Hühnersteige , die zum Dache führte , auf der Lauer lag , listig um sich blickte und mit raschem Griff sich eines ihrer Opfer bemächtigte . Hing dann am Morgen in der Küche immer ein halb Dutzend Mäuse an den Schwänzen aufgereiht und hätte die Jägerin gesagt , es wäre ein Vorurtheil , so reinliche und leider von den besten Dingen sich nährende Thierchen nicht zu speisen , in den ersten Wochen , wo Lucinde von Langen-Nauenheim zu ihr gekommen war , hätte sie voll staunender Bewunderung und in ihrer » damaligen Dummheit « nicht widersprochen , sondern sie auf Befehl gegessen , gesotten oder gebraten , wie die Frau Hauptmännin nur gewollt . Warum ihr aber das gerade jetzt so entgegenkam ? Hier im Walde ? In dieser Einsamkeit ? Sie sah die Alte deutlich , sie sah sie zwischen den Bäumen hinhuschen und Mäuse fangen ; sie mußte sich schütteln ; sie kannte sich noch darauf nicht , was es ist , vom Fieber durchschauert zu werden . Sie war vor Aufregung seit gestern Abend mit dem Lockenbrennen und Frühaufstehen und » nach Amerika Reisen « nicht zur Ruhe gekommen und eine Krankheit drohte . Der junge Anglo-Amerikaner merkte nicht , wie gespenstisch blaß sie sah , als sie mit hängenden Locken über das raschelnde Buchenlaub zu ihm zurückkehrte und in den Wagen stieg , der jetzt bergab und schneller fuhr . Nur wieder seine Kassette , sein gedrucktes Reisehandbuch und die Entfernung bis zur nächsten Station hatte er im Kopfe . Eine wundervolle Gegend ! sagte er dann einmal ganz gedankenlos und bemerkte kaum , wie sich Lucinde in die Ecke des Wagens drückte , seinen Plaid um sich zog , den er ihr schon nach der zweiten Station übergelegt hatte , als es sie dort schon trotz der Schwüle des geschlossenen Wagens fröstelte . Ich will schlafen ! sagte sie jetzt und zog den Plaid bis über die Stirn . Hätte der Entführer eines den wunderlichen Widerspruch von Gescheidt und in vielem noch völlig Beschränkt verbindenden Mädchens Gefühl gehabt für irgendetwas anderes als die Sorge , für seine Reise einen großen Vorsprung zu gewinnen , so hätte er bemerken müssen , wie ihr Antlitz in Wachs sich verwandelt hatte , ihre Lippen bebten , ihre Hände schlaff hingen , das Kleid sich verschob und die Schultern marmorkalt hervorsahen . Es war auch wol ein solches Fieber , wie man es nach geistigen wie leiblichen Geburten hat . Sie begriff allmählich , wie es doch mit dieser schnellen Reise zusammenhängen mochte . Oskar Binder hatte Ursache zur Eile . Lucinde war , einfach in die Sprache der täglichen Welt übersetzt , erstens von ihm entführt , und zweitens war sie es von einem Diebe . Daß sie in ihrem Zustande keine Erquickung , keine Mittagsrast begehrte , kam dem Flüchtling ganz genehm . Er eilte nur und wetterte auf allen Stationen im geläufigsten Englisch oder gebrochenen Deutsch . Gegen Mittag kaufte er kalte Küche , sie im Wagen zu verzehren . Lucinde wollte nur einen Trunk Wasser . Jetzt bemerkte er erst ihren Zustand ... Ich bin das Fahren nicht gewohnt , hauchte sie . Ihre Zunge war trocken . Wenige Tropfen Wassers löschten den Durst nur auf einen Augenblick ; und doch schauderte sie , mehr zu trinken . Sie drückte sich wieder in ihre Ecke . Da sie die Versicherung gab , daß ihr nichts fehle , beruhigte sich der Flüchtling . Es war zwei Uhr , und man hatte wol schon acht Meilen zurückgelegt . Die Gegend nahm einen neuen Charakter an . Oskar Binder fing an zu trällern ; er pfiff sich einige Arien , die er sonst wol auch mit einer schönen Tenorstimme zu singen verstand . Er bekam die unternehmende Haltung wieder , die ihm sonst geläufig war , strich sich das Gesicht an den Stellen , wo sonst sein Bart gestanden hatte , und lachte einmal über das andere laut auf . Jetzt interessirten ihn kleine Dinge am Wege , ein Dorf , ein bellender Hund , dem er nachahmte und ihn damit nur noch heftiger reizte , die Landestracht . Auch den falschen Engländer hielt er nicht mehr so consequent fest und gegen Lucinden wurde er aufmerksamer . Er setzte sich rücklings und lehnte die Halbschlummernde über den Rücksitz bequemer aus , schlug ihre Füße in seinen ausgebreiteten Plaid , strich die langen Haare von der kalten feuchten Stirn zurück , küßte die Hände , deren Handschuhe schon abgezogen waren , und kniete sogar nieder , um von dem Glück seiner Eroberung , von der Zukunft , von der baldigen Ruhe in einem guten Hotel und den Bequemlichkeiten eines ersten Kajütenplatzes auf einem deutsch-amerikanischen Dampfer zu sprechen . Lucinde hörte allem in träumerischer Abwesenheit zu . Die Küsse , die ihr Begleiter auf ihre Hände drückte , schien sie nicht zu fühlen . Ruhig ließ sie ihn auch ihre Locken streicheln . Zu lange auch verweilte er bei seinen Zärtlichkeiten nicht ; immer wieder fuhr er auf , das kleinste Geräusch konnte ihn erschrecken . Kehrte er dann von einem Blicke aus dem Wagenschlage zurück , so griff er erst nach seinem Reisehandbuche und verglich das , was er las , mit dem was er eben draußen gesehen . Seltsam genug mochte ihm sein , in seinem » Guide « vielleicht zu lesen : Nun öffnet sich das große Becken , wo einst die Römerwelt mit den Germanen zusammenstieß , Varus seine Schlachten verlor , Arminius das Schwert des Rächers über die vernichteten Legionen schwang , bis dann um achthundert Jahre später die Römer wiederkehrten , mit dem Kreuze voran , dem Schwerte Karl's des Großen hintennach . Hier an diesen Strömen vollzogen sie an den Sachsen die Bluttaufe ... Von den Wonnen des Geschichtskundigen , der hier zwischen diesen Bergketten und Längenthälern die ersten deutschen Klöster errichtet weiß , die damaligen ersten Pflanzstätten der Bildung , der das Auge dort nach einem sagenreichen Hügel , hier nach einer waldverlorenen Kapelle richtet und sieht , wie zwischen Katholicismus und Protestantismus das Land getheilt wellenartig dem grünen Landmeere , Westfalen genannt , und von dort den großen geschichtsmaßgebenden Strömen und Meeren zu sich windet ... davon hatte nach Bildung und Gefühl das starre Auge des jungen Verbrechers keine Ahnung . Um drei Uhr war es wieder eine Waldung , in die die Reisenden einfuhren ... Diesmal eine von Birken . Geisterhaft standen die blendendweißen schlanken Stämme , die Zweige hingen nieder wie an den Trauerweiden . Kein Herbstlaub war von den dürftig geschmückten Kronen mehr auf dem Boden sichtbar , Moos und Flechtengewächse zogen sich , von blauen Blumen unterbrochen , weithin zwischen den sonnenbeschienenen , feenhaft winkenden Stämmen . Hielt der Wagen , so flüsterte es von den Espen , die zwischen den Birken standen , wie ein Säuseln der Allnatur , und Wässerchen sickerten da und dort aus dem Moose hervor und benetzten die ihrem Laufe schon folgenden Vergißmeinnicht wie in der Idylle eines Traumes . Lucinde lag in Betäubung ... Ihr Auge war geschlossen , doch schlief sie nicht . Sie fühlte wohl , daß die immer gewecktere Laune , immer fröhlichere Stimmung ihres Begleiters angefangen hatte nur ihr allein sich zu widmen ; sie duldete es , um nur Ruhe zu haben . Sie wußte und fühlte wol etwas von der Berührung ihrer Lippen . Sie war machtlos , geistig und körperlich ohne Willen . So ging es eine Weile wie im Traume fort ... Da plötzlich springt sie auf , wie von einer Natter gestochen . Der Muth des jungen Mannes hatte mehr gewagt . Krampfhaft stößt sie ihn zurück und sieht ihn mit starren , weit aufgerissenen Augen an ... Aber auch ihm war gerade in demselben Augenblicke mehr geschehen als nur der Widerstand eines ihm zu hülflos geschienenen Opfers . Die fünf Finger jeder Hand streckte er krampfhast vor sich ihn , wie einer , der eine Scene unterbricht mit plötzlicher Anstrengung seines Gehörs , und kaum hatte diese Bewegung eine Secunde gedauert , kaum Lucinde ihr eigenes Entsetzen vor dem starren Schreck des Frevlers vergessen , als dieser nach einem Griff auf seine immer zur Hand stehende Kassette den Schlag geöffnet hatte , Halt ! donnerte , ohne Mütze aus dem Wagen sprang und für sie verschwunden war . Lucinde sank vor dem plötzlich haltenden Wagen in den Sitz zurück , erhob sich aber wieder , wickelte sich aus dem Plaid heraus und machte Miene , instinctmäßig dem Flüchtling zu folgen . Indem schlug ein Geräusch an ihr Ohr wie von Pferdehufen . Sie blickte zum Schlag hinaus , den der Postillon voll Erstaunen über das Benehmen seines Passagiers auch auf seiner Seite , der linken , geöffnet . Man sah zwei Gensdarmen mit klapperndem Seitengewehr in noch ziemlicher Entfernung daherjagen . Lucinde , wie in der Ansteckung des Augenblicks , springt hinunter , die Pferde halten aber nicht recht , scheuen und wollen auf den Fußweg . Dadurch gibt ihr der Instinct des Moments den Gedanken , nicht zur Rechten , wo Binder verschwunden war , zu entfliehen , sondern nach der linken Seite . Ein Fluch der Verwunderung von seiten des Postillons folgt ihr . Sie rennt das niedrige Gestrüpp quer hindurch . Haselgesträuche und Brombeerhecken biegt sie zurück , läuft , wie von Furien verfolgt , in der ganzen athemlosen Hast der fieberhaftesten Erregung , mit Kräften ausgerüstet , die sie im Augenblick hernimmt , sie weiß nicht woher , läuft durch Heck ' und Moos , durch weiche , versinkende Stellen , Sträuche zurückbiegend und keinem Verstecke , der sich darbietet , vertrauend . Wie von der Luft getragen , fliegt sie dahin , und erst , als sie nicht mehr kann , reicht das Entsetzen über Gefahren , die sie sicher nicht zu groß sich ausgemalt , nur noch so weit aus , auf die Zweigstämme eines rings von hohen Büschen umgebenen Baumes zu klettern , die Zweige des Umwuchses zurückzudrängen , die höhern Wipfel an sich zu ziehen , sich fest an sie anzuklammern und mit einem einzigen kühnen Sprunge auf die Astgabel des Baumes zu springen , wo sie dann leichtere Mühe hat höher zu klimmen und athem- und kraftlos , mit herabhängenden Händen und niedergebeugten Hauptes zusammenzusinken . So lugt der Luchs mit starren Augen aus grünen Zweigen und harrt des nahenden Jägers . 7. In dieser Stellung blieb Lucinde wol eine Stunde . Sie hatte oft schon auf Bäumen gesessen , aber so in Angst und Kraftlosigkeit noch nie . Mit den über einen gewaltigen Ast ausgelegten Armen hing sie mehr , als sie auf einem untern mit den Füßen stand . Der Schweiß , der ihr von der Stirn troff , mußte ihr gut thun ; sie behielt wenigstens die Besinnung , und diese lieh dem Körper Kraft . Lang hingen die Haare , das weiße Kleid war zerfetzt , ihr rother Shawl war irgendwo hängen geblieben . Ihr ganzer Sinn spitzte sich nur auf das Gehör zu . Wenn ihr Auge über etwas funkelte , war es ein Blatt , das rauschte , ein Käfer , der summte . Sie besann sich sogleich darauf , daß sie ungewiß sein konnte , ob sie mehr vor den Häschern als vor ihrem Begleiter so geflohen war . Als sie nichts hörte , keine Menschentritte , kein Geräusch von Waffen , konnte sie endlich die Miene so verziehen , daß die weißen Zähne eine Weile hervorstanden , wie immer , wenn sie spöttisch lachte ... Es war ein Lachen , das allmählich in ihrem Innern so platzgriff , daß es sich auch äußerlich geltend machte . Sie lachte , wie die Verzweiflung pflegt , wenn sie nicht mehr aus noch ein kann . Sie überlegte , was nun alles kommen konnte ! Wenn sie aus dieser Lage nichts Neues und Unerwartetes erlöste , sah sie Demüthigungen entgegen , die grauenhaft waren . Alles blieb still ... Sie traute sich die Kraft zu , niederzusteigen ... Der Gedanke : Wie , wenn sie durch die Nacht so hinwandern könnte , durch die Wälder , die Berge , über die Meere – bis Amerika ! der stand ihr so lange bei , bis sie wieder auf ebenem Boden war und dann freilich vor Erschöpfung bald zusammensank . Sie hatte seit dem gestrigen Tage keine Nahrung genommen . Nun lag sie kraftlos und griff nach den Zweigen der Sträucher über sich und beugte sie zu sich nieder , hoffend auf Erquickung . Nirgends eine Frucht . Erdbeerbüsche sah sie etwas weiter , aber die Früchte waren abgestreift . Dies bewies ihr wenigstens Menschennähe . So lag sie lange ; sie legte den Kopf über die gekreuzten Arme und schmachtete so hin ... Seit lange hatte sie solche Einsamkeit auch ihres Innern nicht gefühlt . Doch mit Thränen konnte ihre Natur sich nicht helfen . Vor acht Tagen – da hätte sie » beinahe « geweint , als sie das Haus des edeln Mannes , des Stadtamtmanns , verließ . Sie weinte auch wirklich , als die alte Köchin über ihr tröstend und doch kopfschüttelnd gesagt hatte : Jettchen , Jettchen , Sie werden noch Traurigeres in der Welt erleben , als das ist ! Sie hatte schon seit lange nicht mit der Alten gesprochen , weil sie zu stolz geworden war . Aber lange hatte die Rührung nicht gedauert . Sie wühlte schon damals nach einer Genugthuung . Da sich keine fand , da ihr überall der Weg versperrt war nach der Seite hin , wo allein ihrem Stolze genügt werden konnte , so war sie bereit gewesen , das Netz , das sie überspann , zu zerreißen und mit Oskar Binder in die weite Welt zu gehen . Wie das so war und werden konnte , hatte sie nicht viel überlegt . Nun sah sie 's und neu genug waren die Folgen ... Jetzt blickte sie in einem Walde einsam hinein in Moos , Farrnkräuter , Sträuche mit Blüten und Beeren , die zum Herbste reiften ... Was dieser ihr wol bringen wird ! Die kleinen Käfer und Insekten um sie her konnte sie noch verfolgen , wie sie sprangen und sich kugelten und auf Halme kletterten , die am Gewichte derselben zusammenknickten ... Es regt sich doch alles , es nährt sich doch alles ! Das zu denken , auch jetzt zu denken , war längst ihre Art , und so elend ihr zu Muthe blieb , aufstehen würde sie doch , wenn nicht gleich jetzt , doch noch vor Abend ; und zurückdenken mochte sie am wenigsten ; aufrichtig beklagen , sich etwas vorwerfen , bereuen , das hatte sie nie vermocht , und wenn sie sonst gestraft worden war , Thränen kannte sie auch da nicht . Ihr Vater weinte wol dann statt ihrer und seufzte : Die Mutter ! Nach einer halbstündigen Ruhe raffte sie sich wieder in die Höhe . Sie ordnete ihr Haar , soweit es ging , erschrak zwar über den Zustand ihres Kleides , versuchte aber weiter zu kommen . Sie hielt sich an die Zweige und Stämme . Einen Weg fand sie nicht . Sie war gauz im Dickicht , und doch war ihr's manchmal , als läutete von irgendwoher eine Glocke . Dann war 's blos wieder ein Summen im Grase oder im Ohre . Einige hundert Schritte brachte sie so vorwärts ; weiter trug sie ihre Kraft nicht mehr ... Es war an einem wunderschönen Platze , wo sie zusammensank . Der Wald wurde lichter , die Birken ragten wieder , Erlen , auch Weiden kamen . Sie sah sogar in der Ferne Schilf , dicht verwachsen ; nun mußte doch ein Wasser kommen . Sogar Schwalben schossen daher , die sonst im Walde nicht wohnen . Auch eine Lerche wirbelte ein Abendlied in der Luft . Aus dem Schilfe blickte manche dunkelblaue Blume ihr entgegen . Weiße Nymphäen sah sie auf kleinen Wässerchen . Das Gras um sie herum war von Vergißmeinnicht gezeichnet ... Immer müder und müder wurde ihr . Rings der große schweigende Kranz des Waldes , hier ein kleines Wassereiland , drüber der blaue Himmel mit einigen wie durchsichtigen Rosawölkchen in allerhöchster Höhe . Sie blickte noch einmal empor , dann faßte sie , wie um sich zu halten , einen Büschel blauer Glockenblumen , und lag dann so , diese in der Hand haltend , ohne Bewußtsein . Eine grüne , behend dahinschlängelnde Eidechse , die sie im Sinken unter einem feuchten , moosbewachsenen Steine aufscheuchte , sah sie wol noch , aber fürchtete sie nicht mehr . Als Lucinde erwachte , war es dunkler Abend . Ihre Ohnmacht war in Schlummer übergegangen . Sie erwachte an derselben Stelle . Obgleich sie schwer geträumt hatte und im Traume weit entrückt gewesen war in ferne Lande , so erkannte sie doch sogleich den Ort wieder trotz der Dunkelheit . Nur Gesellschaft hatte sich eingefunden . Es saß ein Mann neben ihr . Es war ein ihr völlig Fremder , und doch erfüllte er sie nicht im mindesten mit Schrecken . Seine Geberde war auch zu sprechend für die Gefahrlosigkeit seiner Nähe und seiner Absicht . Er lag auf den Knieen , faltete die Hände , die er lässig niedergleiten ließ , und betrachtete die Erwachende , wie wenn er eine überirdische Erscheinung angebetet hätte . Ihr Erwachen schien den Fremden mit großer Freude zu erfüllen . Er war hoch und stark , ein Mann eher noch in jungen als in mittlern Jahren . Sein Antlitz , soweit es der schon nächtlich gedunkelte Abend erkennen ließ , war voll , geröthet , beides fast im Uebermaß . Die Art und Farbe der Augen ließ sich vor dem Schirm einer leichten Sommermütze , die er trug , nicht erkennen . Auch seine übrige Tracht war von leichtem , hellem Sommerstoffe , bis zu Gamaschen hinunter , die er trug . Das Halstuch war mit einem Ring zusammengebunden , dessen weiße Steine wunderbar funkelten . Eine schwere goldene Kette hing über die offene Brust hinweg über ein sauber gefälteltes Hemd . Von der grünen Waldeseinsamkeit stachen die weißen Glacéhandschuhe ab , die auch dieser Fremde wie Oskar Binder trug und trotz seines Knieens und seiner wie anbetenden Geberde nicht ausgezogen hatte . Noch ehe Lucinde sich in diesen seltsamen Anblick gefunden , wurde sie von dem fremden Manne angeredet . Es war in einer fremden Sprache , die aber einige deutsche Laute untermischt hatte , und das so richtige und volltönende , wie wenn ihm jene doch nicht recht geläufig war . Die sich gleichbleibende Stellung und ehrfurchtsvolle Anrede des Fremden überraschte Lucinden jetzt so , daß sie sich erhob und einige Worte sprach : Wer sind Sie ? Wo bin ich ? In diesem Augenblicke kamen aber auch schon aus dem Walde einige Leute und brachten einen großen Tragsessel . Ein älterer , schwarzgekleideter Mann führte sie und näherte sich mit Anweisung der Stelle , wohin sie ihm mit dem Sessel folgen sollten . Da er Lucinden schon aufgestanden und jetzt wie auf der Flucht fand , rief er ihr entgegen : Mein junges Kind ! Fürchten Sie sich nicht ! Sie sehen hier nur die Sorge des Herrn Kammerherrn ! Wir waren im Begriff , Sie auf diesem Stuhl in meine Wohnung zu bringen ! Lucinde war sich ihrer eigenen Abenteuerlichkeit zu gut bewußt ; wie hätte sie von den Männern , statt Aufklärungen zu geben , welche verlangen können ! Sie müssen ermüdet sein ! Setzen Sie sich ! Diese Leute sind stark genug , Sie den Weg , der nicht zu kurz ist , in meine Wohnung zu tragen ! So sprach wiederholt der Neuhinzugekommene , ein hagerer , langer Mann , von gelassenem Wesen . Sie mußte nach Tracht und Haltung in ihm einen Dorfgeistlichen vermuthen . Der als Kammerherr Bezeichnete war aufgestanden und hielt sich immer nur in einiger Entfernung , faltete die Hände und betrachtete Lucinden wie ein Wunder , das sie in dieser Umgebung , in ihrem wilden und doch eleganten Aufzuge allerdings auch war . Ermüdet und schwach bis zum Umsinken , ließ sie sich die Dienstleistungen der Leute gefallen , duldete , daß man sie auf den Sessel hob , diesen dann kräftig erfaßte und sie so aus dem jetzt schon vom Monde beschienenen und von Leuchtkäfern und schwärmenden Phalänen belebten Schilfmoor in den dunkeln Wald zurücktrug . Die Träger sprachen nichts als was zur Verständigung des bessern Handhabens des Stuhles gehörte ; auch die beiden andern , der Kammerherr und der , den sie für einen Geistlichen hielt , folgten schweigend . Lucinde , so dahingetragen den schmalen düstern Waldweg , glaubte noch immer zu träumen , und doch war alles Wirklichkeit . Diese geisterhaften Lichter , die der Mond zwischen die hohen Stämme warf , waren zu natürliche . Aber das Gefühl , einer Gefahr entgegenzugehen , konnte hier nicht aufkommen . Die beiden Männer blieben zwar in lebhaftem , wie sie hörte , jetzt in vollkommenem Deutsch geführten Gespräch zurück , aber die gutmüthigen Mienen ihrer Träger ließen auf ehrliche Dorfbewohner schließen . Lucinde war so angegriffen , daß sie mit sich geschehen ließ , was man thun wollte . Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels und hörte nur . Endlich vernahm sie das Schlagen einer Thurmuhr und Hundegebell . Sich ein wenig aufrichtend , sah sie einige Lichter blinken , auf die man in gleichmäßiger Bewegung zuschritt . Der kleine Zug kam in ein stilles , schon in nächtlicher Ruhe sich wiegendes Dorf . Die hintern Begleiter hatten eine Straße abgeschnitten und waren den Trägern voraus . An der Kirche lag ein stattliches Haus , dem letztere durch ein zur Seite liegendes großes Hofthor schneller beikommen wollten ; doch der Kammerherr sprang heran und rief ein gellendes : Nein ! indem er auf den Haupteingang des Hauses selber zeigte . Seine Gestalt und Stimme bot in diesem Augenblicke einen ängstlichen Eindruck . Lucinde hätte gewünscht , von ihm minder geräuschvoll geehrt zu werden . Daß sie sich in einem evangelischen Pfarrhause befand , bemerkte sie bald an der Umgebung , die immer lebhafter und zahlreicher wurde . Eine freundliche Frau beklagte sie , erklärte sie ohne Zweifel für verirrt , für krank , und rühmte den Kammerherrn , der die Unglückliche entdeckt hätte , die an jener Stelle im Walde unfehlbar die Nacht würde haben verbleiben und sich vollends verderben müssen . Man trug Lucinden eine Treppe hinauf , in ein zwar niedriges , aber freundliches und sehr geräumiges Zimmer , neben welchem ein Cabinet mit Bett sich befand . Alles war schon hergerichtet zu ihrem Empfang . Jeder griff zu , jeder bot ihr Hülfleistung ; nur der Kammerherr stand unausgesetzt von fern und betrachtete , was er sah , wie eine Märchenerscheinung . Jetzt übersah Lucinde die ganze lange , starke , breitschulterige Persönlichkeit , deren zartes , fast süßes Benehmen mit diesem Aeußern in einem fast komischen Contraste stand . Ihre Erklärung , daß sie sich verirrt hätte , genügte vorläufig und verhinderte alle weitere Nachforschung . Man war bedacht , sie mit Speise und Trank zu versorgen und ihr die Ruhe eines weichen Lagers zu gönnen . Sie unterwarf sich auch jedem , was man zu ihrer Stärkung und Bequemlichkeit ersann . Sie war nur das willenlose Echo jedes gesprochenen Wortes bis auf das : Gute Nacht ! das man ihr zurückließ und das sie ebenso erwiderte . Sie hörte noch etwas wie den gezogenen Ton eines Wächterhorns und entschlief . Die weniger kräftige als zähe Natur Lucindens hatte sich am folgenden Morgen vollständig wieder erholt . Von einem wohlthätig über Nacht ausgebrochenen Schweiße merkte sie jetzt kaum noch etwas , als die gewonnene Stärkung . Sie richtete sich , wie die Sonne hell in die sehr niedrigen , aber wohnlichen Zimmer schien , hoch auf und lachte schon wieder über die Situation , in der sie sich befand . Man war schon um sie her beschäftigt gewesen . Sie fand schon Kleider , Wäsche , Hülfsmittel ihre Toilette zu machen , erfrischendes kaltes Wasser . Sie konnte annehmen , daß sie mit Oskar Binder in den von ihm so hochgerühmten Hotels der Seestadt Bremen angekommen und eine Gräfin war , als welche er sie überall behandeln zu wollen versprochen hatte . Bei dem Gedanken , ob der junge Mann nicht schon auf dem Wege ins Zuchthaus war , überlief sie eine peinliche Furcht . Sie erwog indessen ihren Antheil an seiner Schuld und durfte sich freisprechen bis auf den verlorenen Ruf . Letztere Betrachtung störte sie nicht zu lange : ihrer Natur widersprach es , sich um irgendetwas allzu viel Sorge zu machen . Die Kleider , die sie vorfand , entsprachen freilich der Vorstellung von einer reisenden Gräfin sehr wenig . Es waren leichte , vielfach gewaschene und von der Sonne ausgebleichte Kleider der Frau Pfarrerin . Sie zog einen der Röcke an und lachte über sich selbst , als sie in den Spiegel geblickt , von dem sie erst zwei sich kreuzende Pfauenfedern und eine Anzahl Visitenkarten und geschriebene Einladungen zu Mittagessen und Kaffeegesellschaften in der Umgegend wegnehmen mußte . Wie eine Großmutter ! sagte sie , von diesen Familienbezügen angeregt , zu sich selbst . Sie sann hin und her , wie sie sich helfen konnte , denn vollkommen gegenwärtig war ihr die Anwesenheit eines Mannes , den man Kammerherr genannt und der ja vor ihr anbetend auf den Knieen gelegen und sie wahrscheinlich spanisch oder arabisch begrüßt hatte . Leise hatte sie auch schon die an den Fenstern dicht herabfallenden gemusterten und roth umsäumten Musselingardinen gelüftet und richtig schon ihren Verehrer in dem kleinen Garten vor dem Hause auf- und abwandelnd erblickt . Lucinde war eitel genug , die glänzende Toilette , in der er erschien , auf ihre Veranlassung zu setzen . Er trug eine hellblaue Uniform mit goldgesticktem Kragen , mehrere Orden auf der Brust und einen dreieckigen Tressenhut auf dem schon wieder sehr rothen Antlitz . In gravitätischer Würde ging der Kammerherr durch die zierlichen Wege des kleinen Blumengärtchens auf und nieder und brach nur dann und wann zu einem Bouquet , das er schon in Händen hielt , noch eine Rose oder aus den Einfassungen der Beete eine Federnelke . Zunächst ordnete sie ihr verwildertes Haar . Sie legte es wie sonst wieder in Scheitel und Flechten . Um Locken zu machen , fehlte die Feuerzange ihrer Schwester . Diese Umwandlung dauerte lange . Sie wurde ihr aber angenehm durch eine ganz wunderbare Unterhaltung , die plötzlich durch das Haus ertönte . Eine Musik erfüllte die nicht unansehnlichen Räume desselben , und zwar mit einem Wohllaut , der höhern Sphären angehörte . Jedes Glas auf dem Tische , die Fensterscheiben , die Bilder an der Wand , ja , die klappernde Thür eines gußeisernen Ofens , alles schien von dieser Musik mit ergriffen , so mächtig brausten die Accorde durcheinander , ob sie gleich nur von einem einzigen Instrumente , etwa von einer riesigen Flötenuhr , zu kommen schienen . Was ist das ? fragte Lucinde die Magd , die sie in seltsam fremder , ihr nicht geläufiger , plattdeutscher Sprache um das Frühstück anging , das sie zu haben wünschte . Der Herr Pfarrer spielt ! hieß es . Ja , aber was ? worauf ? Die Magd lächelte verlegen ; ihr guter Wille , Aufklärung zu geben , scheiterte an einem schweren fremdartigen Namen . Die Töne schwollen indeß und lösten sich ab mit einer Weihe und Erhabenheit , die der feierlichsten Kirchenmusik gleichkam . Bald waren es Flöten , bald Oboen , bald die Töne eines Violoncells . Nur einmal hatte Lucinde ähnliche Eindrücke gehabt , damals , als sie zur Osterzeit gelegentlich die kleine katholische Kirche der Residenz betreten , um zu belauschen , wie sich die Frau Hauptmännin anstellte , im Beichtstuhl zu sitzen . Sie erfuhr später , daß die geizige Frau , die den Satan ohnehin für den wahren Herrgott hielt , nur deshalb alle Jahre einmal zur Beichte ging , um ein monatliches gänzliches Fasten zu motiviren , das sie darauf als eine ihrem Hause für ihre Sünden dictirte Strafe einführte . Lucinde dachte auch bei dieser Musik an jene Zeit der bittersten Entbehrungen . Da ihr schönes Kleid einer gründlichen Ausbesserung bedurfte , wenn es nicht gar ganz verdorben war , so blieb ihr nichts übrig , als für ihr Costüm sich den Umständen zu ergeben . Sie bat um eine Haube und erhielt sie . An dem Schnitt ihres Antlitzes , an dem Reiz ihrer Formen war nichts zu entstellen , sie konnte den Eindruck einer eben verheiratheten jungen Frau machen . Sie nahm dann ein leichtes Frühstück von Milch und eilte an die Quelle der berauschenden Töne , die das ganze Haus verzauberten . Man empfing sie unten sehr freundlich und wünschte ihr Glück zu ihrer schnellen Erholung . Ihre Toilette fand man erfindungsreich und entschuldigte sich , ihr nicht mehr bieten zu können . Die Musik hatte denselben Augenblick aufgehört . Auf ihr Befragen , welchem Instrument man verstanden hätte diese wunderbaren Töne zu entlocken , zeigte der Pfarrer auf einen Kasten , in welchem eine Reihe von Gläsern , eins ins andere gesteckt , an einem Bande in der Schwebe gehalten lagen . Durch eine mechanische Vorrichtung bewegten sie sich , geriethen durch ständiges Drehen in Schwingungen und wurden nun mit den Fingerspitzen je nach ihrer Stimmung berührt . Diese Art des Spielens schien anstrengend . Man mußte die Gläser durch Friction in Umschwung erhalten . Der Anblick selbst war lange nicht so poetisch wie die Wirkung . Es war eine , jedenfalls verbesserte , jener alten und echten Harmoniken , die Benjamin Franklin erfunden haben soll , und die schon lange aus dem Gebrauch des Virtuosenthums gekommen sind und nur hier und da noch von einem Freunde ernster und weihevoller Musik gespielt werden . Der Pfarrer und die Pfarrerin , beide waren gleich geschickt darin . Das nächste Gespräch , an welchem in bescheidener Zurückhaltung einige freundliche Kinder , zwei Mädchen und zwei Knaben , theilnahmen , betraf natürlich das gestrige Finden der Verirrten . Der Pfarrer hatte mit dem Kammerherrn , der immer noch im Garten , harrend und seinen Strauß vervollständigend , auf- und niederging , kurz vor Sonnenuntergang noch einen Spaziergang gemacht . An dem Riedbruch , wie die bezeichnete Gegend benannt wurde , hatte man Lucinden überraschend genug und im Schlummer hingestreckt gefunden . Ihr zerrissenes Kleid , die aufgelösten Haare hatten keinen Zweifel gelassen , daß es sich um eine Kranke handelte , und schnell war der Pfarrer zum Dorfe geeilt , während der Kammerherr zur Aufsicht zurückgeblieben war . Zwei fast gleichzeitige Fragen , die ihrerseits nach der wunderlichen Art des letztern , und die Frage der Pfarrersleute , wie und woher sie denn in diese misliche Lage gekommen , durchkreuzten sich eben , als man vorm Hause einen fürchterlichen Lärm hörte , Schimpfreden und Drohungen wildester Art . Ja , was ist wieder ? sagte ruhig der Pfarrer und ging hinaus . Lucinde sah , daß sich der Kammerherr wie ein Tobsüchtiger geberdete und in einige Entfernung hinausschrie : Schlingel , nichtswürdiger Schurke , Tagedieb ! Wo bleibt mein Degen ? Wie lange soll ich nach meinem Degen rufen ? Bin ich der Kammerherr von Wittekind oder nicht ? Da auch die Pfarrerin auffallenderweise sehr ruhig in den Garten ging , so nahm Lucinde keinen Anstand zu folgen . Sie hatte schon die Thür in der Hand , als ihr auffiel , wie schnell das älteste der Mädchen an die Harmonica sprang und einige der Gläser mit dem mühsam ausgebreiteten Spann ihres kleinen Händchens zu reiben sich mühte . Was ist das alles ? fragte sie sich und war um so mehr betroffen , weil der Name Wittekind sie an die monatlichen Geldsendungen der Frau von Buschbeck oder des Fräuleins von Gülpen erinnerte . Auf den fünf Siegeln hatte sie einmal die Worte : » Freiherrlich Wittekind'sche Kameralverwaltung « gelesen ... Die Kleine spielte wohlgeordnet einen Choral . Der Kammerherr riß dazwischen sein Blumenbouquet auseinander , rannte über die Beete , zertrat alles und schlug sogar gegen den Pfarrer , der ihm zuzureden und ihn ins Haus zurückzuführen sich bemühte , mit geballter Faust . Leuten , die draußen am Staket gaffend stehen blieben , winkte der Pfarrer zu gehen . Meinen Degen ! Meinen Degen will ich haben ! rief der Ungeberdige unausgesetzt und drohte nach einer Seite hin , wo sich jemand zu befinden schien , der diesen zu bringen von ihm beauftragt war . Aber den Degen ? rief die Pfarrerin , jetzt doch auch erregter ins Haus zurückkehrend . Wie kann man ihm einen Degen lassen ! Lucinde begriff nun , daß der Kammerherr geisteskrank war . Nie hatte sie Menschen in diesem Zustande gesehen und fürchtete sich , trotzdem daß man versicherte , die Musik würde allmählich seine Tobsucht mildern . In wunderbaren Tönen spielte auch jetzt die Frau Pfarrerin , eine kleine , zarte , aber geistig durchleuchtete und willensstarke Frau . Wie Lucinde nun auch auf dem Sprunge war auf die Treppe zu eilen und sich in den obern Stock zu flüchten , traf sie durch die noch geöffnet gebliebene Hausthür der Blick des Tobenden . Kaum war er ihrer ansichtig geworden , als er augenblicklich in seinen Schimpfreden innehielt , die Hände nach ihr ausstreckte und halb die Knie beugte . Diese Aenderung der Scene war das Werk eines Augenblicks . Die zaubervollen Accorde , die die Pfarrerin dem Instrument entlockte , hoben eine Situation , deren Feierlichkeit von dem Schrecken und Staunen der Näherstehenden unterstützt wurde ; die entfernter Lauschenden freilich lachten . Lucinde blieb eine Weile unbeweglich . Dann aber faßte sie sich Muth und ging auf den Kammerherrn zu , ihm einen freundlichen : Guten Morgen ! wünschend . Er erhob sich , sprach nichts und lächelte voll Ehrfurcht . Daß Sie mich noch wiedererkennen ! fuhr Lucinde wie in unbefangenster Laune fort . Ich habe mich seit gestern verändert , nicht wahr ? Sie gehören jetzt der Erde an ! sprach der wie in einem Bann Befindliche feierlich , langsam , mit sonderbar hochliegender , fast weiblicher Stimme . Nicht wahr , fuhr Lucinde scherzend fort , Sie glaubten gestern , ich wäre vom Himmel gefallen ? Und nun suchte sie die zerstreuten Blumen auf , wobei ihr der Kammerherr behülflich sein wollte . Aber diese steife Uniform ! fuhr sie fort . Pfui ! Pfui !