Erstes Kapitel Ich eröffne dieses Buch recht passend mit einer kleinen Reiseerinnerung und durch dieselbe mit einer Erklärung und Rechtfertigung des Titels , um nicht späterhin , d.h. im Laufe der Erzählung , allzuoft über diesen Titel zu stolpern oder mit Vergleichen , Folgerungen und Nutzanwendungen an demselben hängenzubleiben . Einige Male wird das letztere freilich doch wohl geschehen . Ich war mit dem Postwagen in einem hellen , lustigen norddeutschen Städtchen , dessen Namen ich deshalb verschweige , um nicht den Neid und die Eifersucht anderer Gemeinwesen zu erregen , angekommen , hatte zu Mittag gegessen und zwei bis drei Stunden zur vollkommen freien Verfügung , ehe der frische Schwager die frischen Gäule zur Weiterfahrt aus dem Stalle zog . In solchen Fällen widmet sich jeder , der nicht ein Geschäftsreisender ist , einer ganz behaglichen innerlichen Beschaulichkeit , die jedoch bald in eine sonderbare Ruhelosigkeit überzugehen pflegt . Man dehnt sich , man gähnt eine Weile auf der Bank unter der Laube vor dem Gasthofe , man erhebt sich , schlendert die nächste Gasse bis zur nächsten Ecke hinauf , guckt träumerisch auf die verstaubten toten Fliegen hinter dem Ladenfenster eines Krämers und kehrt zurück zu seinem Tische und seiner Bank vor der Tür , um von neuem einen muntern Kampf mit den lebendigen Fliegen des Ortes aufzunehmen . Die meisten Reisenden verfallen nunmehr in ein etwas stupides Hindämmern und ermuntern sich erst wieder , wenn die Pferde angeschirrt werden ; ich dagegen , der von vielem Gebrauch macht , was andere Leute verachten , ich erkundige mich nach den nächstgelegenen Merkwürdigkeiten des Munizipiums ; natürlich reservatis reservandis , d.h. unter Vorbehalt alles dessen , was der verständige Mann sich eben vorbehält , nämlich ob er die Kuriositäten besichtigen will oder nicht . Ich stellte eine ähnliche Erkundigung also auch diesmal an und kann gerade nicht sagen , daß es mich tief bekümmerte , als der Wirt , ein behaglicher Mann , sich hinter den Ohren kratzte und Merkwürdigkeiten , sei es der Natur oder der Kunst , in seiner Umgebung nicht vorzuführen wußte . Schon lehnte ich mich mit einem unwillkürlichen Seufzer der Befriedigung zurück in den Lindenschatten , als ein kleines schwarzes Männlein , welches auf der Bank an der andern Seite der Tür saß , eine kleine , kurze schwarze Pfeife rauchte und deshalb von den Fliegen mit hohem Widerwillen vermieden wurde , mich melancholisch ansah und leise und scheu sagte : » Wir haben noch einen Schüdderump . Wenn der Herr den sehen will , so ist er willkommen dazu ; und die Zeit langt auch , und ich will , mit Respekt zu sagen , den Herrn hinführen . « » Ein Schüdderump ? Was ist ein Schüdderump ? « fragte ich , von dem Wort ungemein angezogen . » Gehe der Herr nur mit mir « , sprach der Melancholische noch schwermütiger als zuvor . » Es kostet nichts , als was dem Herrn zu geben beliebt . Ich bin der Totengräber der Stadt , und da des Herrn Forstschreibers Grab fertig und parat steht und der Herr Forstschreiber erst um vier Uhr bei mir arrivieren wird , so langt , wie gesagt , die Zeit für den Postwagen und item für des Herrn Forstschreibers Leichenkondukt . « Ich rückte auf der Bank . Dieser kleine Schwarze , der diese beiden Fahr- und Reisegelegenheiten so gleichgültig und mit so trübsinniger Verständigkeit zusammenbrachte , wurde mir ganz unbehaglich ; allein der Grundstoff unseres Gespräches gewann dadurch an Interesse . In welcher Verbindung stand der Schüdderump mit dem Herrn Forstschreiber ? Stand der Herr Forstschreiber in irgendeiner Verbindung mit dem Schüdderump ? Ich brachte eine ganze Reihe ähnlicher Fragen dadurch zum Abschluß , daß ich aufsprang , den Hut ergriff und meine Meinung dahin aussprach : ich sei fertig und parat für den Schüdderump . Da aber sah mich der Melancholische bedenklich von der Seite an , schüttelte das Haupt und flüsterte , während er Feuer für seine Pfeife schlug : solches wolle er nicht verhoffen ; aber er sei bereit für mich . – Damit gingen wir quer durch einen Teil des Ortes der Kirche zu . Hinter der Kirche befand sich der Kirchhof ; dicht am Kirchhofe lag meines Begleiters Amtswohnung , und dicht neben meines Begleiters Amtswohnung war ein uraltes steinernes Gewölbe , abgesperrt durch eine rostige , schwarze eiserne Gittertür . Diese Tür schloß der Traurige auf , deutete in den dunkeln Raum und sprach unheimlich hohl : » Da steht er ! « Und mit unheimlichstem Behagen fügte er hinzu : » Und jedermann muß sagen , daß er eine große Merkwürdigkeit ist und für jedes Mausoleum eine große Ehre wäre ! « Da stand er wirklich – ein hoher , schwarzer Karren auf zwei Rädern , mit einem halb erloschenen weißen Kreuz auf der Vorderwand und der Jahreszahl 1615 auf der Rückwand . Mein Begleiter legte zärtlich die Hand darauf und sprach : » Trete der Herr nur näher ; man sagt , und es steht auch davon geschrieben , er sei der einzige in der ganzen Welt . Anno 1665 ist er zum letzten Male gebraucht worden – sieht der Herr – so ! « Und der heitere Bursche zog den Karren herum , schlug einen Riegel weg , und die abscheuliche Maschine tat einen Ruck und kippte über und schüttete eine imaginäre Last von Pestleichen in die Grube . » He , he « , kicherte der Alte . » Was sagt der Herr dazu ? Das war bequem und ersparte unsereinem manche Arbeit – was ? Ei freilich , vor zwei Jahren in der Cholerazeit , da hätten wir ihn beinahe wieder hervorgeholt und zu Ehren gebracht ; aber der löbliche Magistrat und der Kirchenrat und am allermeisten die hochlöbliche Bürgerschaft fürchteten sich allzusehr vor ihm , und so blieb's , wie's war , und unsereiner hatte die Plackerei davon . Ein gut Stück Arbeit hätt er uns gespart . Will der Herr vielleicht einmal die Maschinerie selber probieren ? Ich versichere den Herrn , es ist bequem für beide Parteien . « Ich dankte herzlich , aber mit unverhohlenem Schauder für das Vergnügen und gab ein reichliches Trinkgeld , um alle ferneren Anmutungen dadurch abzuschneiden ; allein es freute mich doch , daß ich von nun an ganz genau wußte , was ein Schüdderump sei , und ich hielt ihn in der Tat für eine große Merkwürdigkeit . Jetzt sah ich noch einen Augenblick in die Grobe des Herrn Forstschreibers , die neben dem Hügel seiner seligen Frau gegraben war ; dann blies vor der Posthalterei der Schwager , ich eilte zurück , stieg ein und fuhr ab und weiter durch Wiesengrün und Sonnenschein der Goldenen Au entgegen , aber den Schüdderump behielt ich für immer im Gedächtnis . Ja für immer , und trotzdem daß auch ich in meinem Leben mancherlei sah , hörte und bedachte , was dem uralten Gespenst durch lebendigen Schrecken und Schmerz wohl ein Paroli bot ! In mancherlei Glanz und Licht sah ich seinen Schatten fallen , in allerlei Flöten- und Geigenklang vernahm ich sein dumpfes Gepolter , und manch einen herzerfrischenden braven Wunsch , aber auch verschiedenes andere wurde ich von der Seele los , indem ich wie jener kleine schwarze Mann die Kette aushob , den Karren überkippte und die Last hinabrutschen ließ in die große , schwarze , kalte Grube , in der kein Unterschied der Personen und Sachen mehr gilt . So ist mir der Schüdderump allmählich zum Angelpunkt eines ganzen , tief und weit ausgebildeten philosophischen Systemes geworden , und es würde mich recht freuen , wenn ich im Laufe dieses Buches einige Anhänger , Schüler und Apostel für mein System heranbildete . Wo das Harzgebirge seine Vorberge gleich lustig grünen Vorwachten hinausschiebt in die norddeutsche Ebene , da spürt man 's in jedem Wasser und Wässerlein , das hervorsprudelt aus den Tannenwäldern und Buchenwäldern und dem Laufe der Täler folgt , wie eine Ahnung in jeder Welle , daß der gewaltige ewige Reigentanz dieses Elementes , das Meer , nicht allzu fern und nun kein Fels und Abhang mehr zu überspringen sei , um die Heimat , den lustigen Festplatz , zu erreichen . Mit verhaltenem Jauchzen und einem allerliebsten , lachenden Leichtsinn , wie vierzehnjährige Mädchen aus der Schule , hüpfen die Bäche und kleinen Flüsse hervor : die Ilse und die Bode , die Oker und die Radau , die Selke und die Holzemme , und keine der ausgelassenen Dirnen weiß ihrer Lust genugzutun bis mitten in das flache Land . Hier beginnt dann freilich ein etwas altjüngferliches , fast matronenhaftes Schlurfen und Schleichen , bis die beiden alten Muhmen , die Weser und die Elbe , den gesamten Schwarm einfangen und ihn richtig der wackeren und munteren Großmutter , der Nordsee , abliefern , welche bei Bremerhaven und Kuxhaven ihre Türen weit genug offenhält . – An einem dieser Wasserläufe , inmitten der letzten Hügelreihen des berühmten Gebirges , liegt das Dorf Krodebeck und dicht daneben das adlige Gut , der Lauenhof , auf welchem die Herren von Lauen sitzen und seit geraumer Zeit saßen . Die Gegend ist angenehm und ziemlich fruchtbar , die Bauern sind fett , wenn auch gerade nicht fromm ; an Ackerfeldern , Wiesen und Wald ist kein Mangel , und der alte Brocken sieht sowohl den Bauern wie den Rittern ganz gemütlich über den Zaun und steht als Wetterprophet seit des Götzen Krodos Zeiten in dem größesten Ansehen . Krodo – Krodebeck , Bach des Krodo – etymologisiert ein nicht unbekannter und nicht unrühmlich bekannter antiquarischer Gelehrter der Umgegend , und wir wissen dadurch nunmehr sicher , auf welchem uralten und urheiligen germanischen Kulturboden die Männer des Ortes den Pflug zu Felde führen . Ein Bach plätschert freilich durch das Dorf und ergießt sich in das schon erwähnte Flüßchen , allein das Wässerchen heißt heute nur der » Bach « oder vielmehr die » Beke « an und für sich und trägt auf den ältesten Flurkarten und in dem Gedächtnis der ältesten Leute keine andere Bezeichnung . Auch von dem Lauenhofe und den Herren von Lauen weiß der antiquarische Gelehrte einiges zu sagen : es hat sich das Geschlecht aber auch in frühern Zeiten von Goslar bis Quedlinburg der Pfaffheit und der Reichsbürgerschaft so bekannt gemacht , daß da – wie man heute in der Reichshauptstadt zu reden pflegt – alles aufhörte . Damals saß das Geschlecht jedoch weiter oben im Gebirge auf einer Burg , deren Trümmer der Liebhaber heute noch findet , wenn er vom Stubenberg bei Gernrode seinen Weg durch das wilde Hasseltal dem Hexentanzplatz zu nimmt . Leider hab ich vergessen , welcher Dynast , Bischof oder welche Stadt sich einst das Verdienst erwarb , mit dem Nest eine ganze Brut bis auf das jüngste Nestküchlein auszuräuchern ; was aber dieses jüngste Nestküchlein anbetrifft , so habe ich eine dunkle Ahnung , daß es wie gewöhnlich durch einen treuen Diener gerettet wurde und sich unter den Schutz einer frommen Tante , einer Domina zu Gandersheim , flüchtete . Hier , unter der frommen Obhut und geistlichen Fürsorge wuchs der Knabe zu einem biderben Jüngling heran , sammelte später einen Haufen ihm an Flegelhaftigkeit und Frommheit nichts nachgebenden Gesindels , bemächtigte sich des Dorfes Krodebeck , richtete den Lauenhof auf , schlug sich weidlich herum mit Askaniern und Welfen , mit Stolbergern und Halberstädtischen und verschied seliglich als der Stifter einer neuen Linie , welche auch heute noch den Lauenhof festhält und wohl festhalten wird , obgleich sie auf zwei Augen und zwei Beinen steht , aber auf ganz muntern und soliden . Von dem Lauenhof aus plagten die Ritter das Land bei weitem weniger als von der Lauenburg . Dagegen erzeugten sie mehr Korn , auch Obst aller Arten und vorzüglich viele Kirschen , die heutzutage in guten Jahren gern von Berliner Händlern auf den Bäumen gekauft werden . Sie brauten und brauen ein nicht zu verachtendes Bier , und ihre Viehzucht erhielt sich stets auf der Höhe der Zeit . Ihre Kinderzucht war weniger zu loben , denn das Geschlecht lernte erst gegen den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts das Lesen und Schreiben ; allein jeweilig fand sich ein biederer Junker , der gern und aufmerksam zuhorchte , wenn berufene Leute , Kleriker oder Laien , die Rede auf ästhetische oder wissenschaftliche Dinge brachten . Glaubwürdige Zeugen dafür könnten wir vorführen , wenn es uns gestattet wäre , diesen oder jenen Stein auf den Gräbern der Mönche zu Walkenried , Michaelstein , Schlanstedt und so weiter umzuwenden und die ehrwürdigen Schatten der gelehrten geistlichen Herren heraufzubeschwören . Sie saßen gern nieder an dem Herd der Lauen , die Mönche , die fahrenden Schüler , und manch einer der letzteren , welchen der harte Winter auf den Lauenhof trieb , blieb auch den lustigen Sommer über drauf hängen , zog mit auf die Falken- und Schweinsjagd und setzte , falls sich Dinte , Pergament und späterhin Papier fand , zum Dank für gut Futter und Losament die Familienchronik fort . Welcher Art aber diese Aufzeichnungen waren , das will ich zum Lobe des guten Geschlechtes kurz , jedoch nicht unvergnüglich mit einer Probe belegen . » Anno domini 1578 war Hilmar Juncker zu Krodbke und auf dem Lawenhofe , mit dem hat sich ein Sonderliches zugetragen und hat es eine merkwürdige Ehr und weitruchbar Gloriam auf ihme gebracht . Das lief folgendermaßen : Als in bemeldtem Jahr Herr Friedrich des Namens der Viert von Liegnitz mit Dem von Schweinichen zu Herzogen Julium kamen , daselbsten einen Zehrpfennig zu holen , hat sich die Fama , daß die beiden Herrn im Land seyen , gar balde verbreitert , und ist ein mächtig Aufsehen auf jeglichem festen Haus geworden ; sintemalen es kein Kleines war , wann der Herr von Schweinichen mit seinem Liegnitzer Herzogen in ein Thor einritt . Und ist ein Kehlenräuspern und Greifen nach denen Gurgeln gewesen , und wurde manch gut Rößlein aus dem Stalle gezogen zum Ritte nach Wolfenbüttel für des hochlöblichen Kreises Ritterehre und Ruhm . Und ist der Ruf auch auf den Lawenhof gekommen zum Juncker Hilmar , und nach dreyen verdrießlichen Tagen voll Kopfreibens und unnöthlichen Bedenklichkeiten hat auch er gesattelt zum großen Turney und ist mit denen anderen Herren und seinem Knecht Zwiebrecht Affen gen Mitternacht gezogen zu des Herzogen Julii Hoflager . Nun haben Fürstliche Gnaden wohl zu solchem Zusammenfluß ein wenig scheel gesehen , denn Sie waren ein gar genauer Herr und den Conviviis und Poculationes wenig ergeben , und mit der Ritterschaft hatte es auch sonsten einen Haken , von wegen der verpfändeten Schlösser aus der Erbschaft des Herzogen Erich , so Sie einlösten , und welche die Juncker nicht in Güte räumen wollten . Haben aber doch Schanden halber ein gut Auge zum bösen Spiel und Dem von Schweinichen und der Liegnitzer Liebden sammt der Ritterschaft des niedersächsischen Kreises machen müssen . So ist das Saufen angegangen auf dem Schlosse in dem Saale , so man den burgundischen nennt , und hat zum guten Anfang gewähret drey Tage und drey Nächte in Einem fort . Am vierten und fünften Tag hat man den guten Rausch verschlafen , und am sechsten Tag hat man unter Fürstlicher Gnaden Fürtritt des Ortes Merkwürdigkeiten visitiret , und ist allda des Herrn von Lawn Ehr mit Gottes gnädiger Zulassung auf dem Tisch gehoben . Nämlich nachdem dem Liegnitzer und Dem von Schweinichen Pulver und Geschütz , Bley und Kostbarkeiten aller Art gezeiget worden sind , hat ihnen Herr Julius den Mund zum Beschluß am wässerigsten machen wollen ; da sie doch ja nur auf einer Bettelfahrt da waren . Hat man ihnen nämlich im Provianthaus die große gerauchte Bratwurst , so ein viertel Meyl Weges lang gewesen ist , gezeiget ! Sind dem Schweinichen freylich die Augen übergegangen , und der Herzog Julius hat sich des baß ergötzet ; aber nicht lange ; denn auf die Frag , wie viel Zeit ein Mann zu thun hätt mit dem Wunderstück , ist mein Juncker Hilmar von Lawen vorgetreten und hat gesprochen , mit Gott's gnädigem Beystand verhoff er 's fertig zu bringen in vieren Tägen ; allein es müsse der Trunck nicht darzu fehlen . Da hat man laut aufgeschrien vor Wunder , und Jeder hat seine Meinung gehabt und der Herzog Julius die seinige , nämlich er hätt seine Wurst nicht gern an die Probe gesetzet . Allein wiederumb der Schanden halber , und weilen die Ritterschaft mit Heimtücke zugestachelt hat , mußte er den Liebling dranrücken , und am sechsten Tag der Festlichkeit ist dem Juncker von Lawen der Zipfel in den Mund gegeben und haben die Anderen im Kreise das Bacchanalium mit großer Lust aufgenommen . Ist nun freylich des Herzogen Gesicht um so länger geworden , je kürzer die Wurst wurd ; aber die Juncker haben mit heimlicher böser Lust dem zugesehen und den Herrn von Lawen mit gutem Trost und Zuspruch ermuntert . Es war die Wurst um eine Säule gelegt , und vier Tage lang hat sich der Herr Hilmar um gemeldte Säule fort und fort herumgefressen , und am dritten Tag schon ist ein Eilbot an den ehrbaren Rath zu Braunschweig um einen Schilderer abgesendet , daß er den Juncker mit dem letzten Zipfel der Wurst zum ewigen Gedächtnuß abconterfeie . Am vierten Tag mußte der Herzog richtig mit saurer Miene alle Drommeter und Heerpauker dem Herrn Hilmar zu Ehren posaunen und pauken lassen , und die Ritterschaft hat den Juncker mit Triumph auf den Schultern in sein Quartier getragen und ihn auf das Stroh gelegt zum Verdauen . Der Liegnitzer und Der von Schweinichen sind am folgenden Tage abgezogen , nachdem sie den Wirt kahl genug gemacht ; allein Der von Lawen lag acht Tage und grunzte im Schlaf , und sein Knecht Zwiebrecht Affen pflegte ihn lieblich . Der Liegnitzer und Der von Schweinichen ritten zu Herzogen Heinz von Dannenberg auf das nämbliche Spiel , aber mein gnädiger Juncker Hilmar kam auf einem bekränzten Leiterwagen mit Geschnarrch und im tiefsten Schlaf auf dem Lawenhofe an , und hätt der getreue Knecht Zwiebrecht der Frauen nicht verzählet , was der Gestrenge ausgeführet und zu ewigem Ruhm des Hauses Lawen ausgefressen , mein gestrenger Juncker selber hätt wenig darvon sagen können . « Zweites Kapitel Auf einem etwas später geschriebenen Blatte der Chronik des Lauenhofes ist zu lesen , daß der Herzog Julius eine heftige Abneigung gegen das Geschlecht der Lauen bekommen habe und daß er den Namen nie hören konnte , ohne einen argen Verdruß und Widerwillen kundzugeben ; wir aber hoffen fest , daß jene große Wurst weder in dem Magen noch in dem Gemüte einer unserer zartsinnigen Leserinnen einen Ekel an dem guten Geschlechte und unserer Geschichte erregte , und verpfänden unser Wort , daß ein ähnlicher Diätfehler im fernern Verlaufe ebendieser Geschichte nicht wieder vorfallen soll . Das silberne Glöcklein erklingt , und auf das etwas schauerliche mittelalterliche Schattenspiel , welches doch ein wenig gegen unsern Willen an der Wand aufdämmerte , folgt das Schattenspiel der süßen Gegenwart , die ihrer Verdauungskraft sicher nicht auf eine Viertelmeile Weges hinaus trauen dürfte , allein dafür in anderer Weise Taten ausübt , auf welche sie ebenso stolz sein darf wie der Junker Hilmar auf die seinige im Provianthause zu Wolfenbüttel . Auf den Junker Hilmar folgte der Junker Asche , der noch ziemlich weit in den Dreißigjährigen Krieg hineinreichte und welchem es hundeelend darin ging . Auf diesen folgte Jobst und auf diesen wiederum ein Asche , der unter den Brandenburgern vor Turin das Leben verlor , allein glücklicherweise vorher einen Sohn erzeugt hatte , welcher den Alten Fritz noch als blutjungen Burschen zu Küstrin aus dem Fenster gucken sah und von dessen sechs Söhnen fünf im Siebenjährigen Kriege fielen . Der Überlebende tat das Seinige , den Verlust auszugleichen ; doch auf dem Lauenhofe regierten nur noch zwei Herren von Lauen bis zu Hennig , der bei Beginn dieser Geschichte Stammhalter des Geschlechtes ist und gewissermaßen eine Rolle darin spielt , zuerst freilich nur eine Rolle unter der Vormundschaft seiner Frau Mutter , die sich selber einführen mag , sobald sich die Gelegenheit dazu bietet . Die gnädige Frau ist resolut genug dazu , und wir haben andere Leute , welche einer teilnahmsvollen Einführung eher bedürftig sind als jene . Da ist zuerst und vor allen Dingen mit dem größten Respekt Herr Karl Eustachius von Glaubigern , ein westfälischer Edelmann und armer Vetter , der nach Abschluß des zweiten Pariser Friedens aus dem Kriege verwundet , mit Rheumatismen behaftet und sehr kahl in Beutel und Hoffnungen auf dem Lauenhofe einrückte und – nebst dem Kinde der schönen Marie – den höchsten Anspruch auf Achtung in dieser Historie hat . Er ist langen Wuchses , hält sich ungemein reinlich und nimmt sowenig als möglich Dienstleistungen an . Er geht und spricht langsam , sammelt Wappen , weiß darüber zu reden und zu schreiben und ist der einzige , welchen die gnädige Frau nach dem Tode ihres Gemahls dann und wann um Rat angeht und welcher diesen Rat auch wirklich zu geben weiß . Die Nachbarschaft gibt ihm den Ehrentitel des Ritters , und das Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin nennt ihn den Chevalier ; er aber verdient die Bezeichnung , und zwar nicht allein deshalb , weil er in einem Kürassierregimente gegen die Franzosen zu Felde zog . Das Fräulein Adelaide Klotilde Paula de Saint-Trouin kam einige Jahre früher als er auf dem Lauenhofe an , ist auch einige Jahre älter als er und würde ohne die abscheuliche französische Revolution von 1789 nicht unter den Barbaren des Herzynischen Waldes leben . Sie ist die Tochter des Grafen von Pardiac , der im Anfang dieses neunzehnten Jahrhunderts einer der tüchtigeren Zeichenlehrer zu Berlin war , aber doch in großer Armut starb und seine Tochter dem Großvater des Junker Hennig vermachte . Das Hofgesinde bezeichnet sie kurz als » Frölen « oder höchstens » Frölen Trine « ; aber sie selbst nennt und schreibt sich : Très noble et très puissante Dame Comtesse de Pardiac , Dame Haute-Justicière du Comté de Valcroissant , née Chevalière de Malte par privilège accordé par le Pape Honorius III à la très illustre famille de Jehan de Brienne , premier Prince de Tyr et ensuite Empereur de Constantinople . Zu deutsch : Sehr edle und mächtige Frau Gräfin von Pardiac , Frau und Gerichtsherrin der Grafschaft Valcroissant , geborene Ritterin von Malta zufolge des Privilegs des Papstes Honorius des Dritten , verliehen der sehr glorreichen Familie Johanns von Brienne , ersten Fürsten zu Tyrus und späterhin Kaisers von Konstantinopel . Die Last aller dieser Titel und Würden , welche alle , bis auf die Malteserritterschaft und den Papst Honorius , dem Chevalier ungemein » plausibel « erschienen , hat nicht in der vorteilhaftesten Weise auf den Charakter des Fräuleins eingewirkt . Es fühlt sich selbstverständlich leicht in seiner Würde gekränkt und ist etwas zänkischer Natur . Der Chevalier hat am meisten unter den Launen der Chevalière zu leiden , denn die Gutsfrau hat selten Zeit , darauf zu achten , und weist noch dazu alle Zumutungen mit ihrem Lieblingsworte ab : » Herze , das ist alles dummes Zeug , und darauf kann ich mich nicht einlassen . Wissen Sie was ? Gehen Sie damit zu dem Ritter . « Das Fräulein folgt fast immer diesem Rate , wenn es sich nicht mit irgendeinem französischen Romane , Memoirenwerk oder , seltsamerweise , mit Hufelands » Kunst , das Leben zu verlängern « in einen Winkel zurückzieht , um das Leben zu verachten . In den sonnigeren Momenten seiner Existenz beschäftigt sich das Fräulein mit allerhand leider meistens vergeblichen Versuchen , von der Höhe des Daseins herabzusteigen und sich dem gemeinen Volke , dem Rest der Menschheit , soweit er durch die Bauern von Krodebeck vertreten wird , zu nähern und von » wohltätigem Einfluß « auf ihn zu sein . Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin hat das heftige Bedürfnis , gute Lehren zur unrichtigen Zeit und an dem unrichtigen Orte zu erteilen , wie sie immer noch imstande ist , eine Stunde nach Mitternacht plötzlich die Gitarre am blauen Bande umzuhängen und zum Entsetzen sämtlicher Bewohner des Lauenhofes zu beginnen : A Toulouse il fut une belle ; Clémence Isaure était son nom : Le beau Lautrec brûla pour elle , Et de sa foi reçut le don . Für die Stunden der Nacht ist der » schöne Lautrec « zwar sehr angenehm ; allein für den langen Tag genügt er doch nicht , und das Fräulein hat einen angemessenen Raum im Busen übrig für sein Hündchen Peccadillo , welches gleich seiner Herrin sehr nervöser Natur ist und mit dem stattlichen ruhigen Kater Mystax , dem Stuben- und Studiengenossen des Ritters , auf einem ähnlichen Fuße lebt wie das Fräulein selber mit dem Chevalier . Das ist ein Schattenspiel , aber ein etwas chinesisches , und der junge Herr Hennig von Lauen hat ausnehmenden Nutzen davon ! Das trippelt und tänzelt und ziert sich wie die Figuren auf einem Rokokodamenfächer . Wie auf alten Punschschalen und Teetassen lächelt und verbeugt sich das und führt unter den sehr abnormen Bäumen und Büschen der Phantasie sehr abnorme Tierlein spazieren , während erstaunlich merkwürdige Vögel die Luft durchschwirren und bedenkliche Nester in dem Flachskopfe des Junkers Hennig bauen würden , wenn die gnädige Frau Mutter nicht manchmal mit einem verständigen Holla ! und Halt da ! dazwischenführe . Es arbeitet mancher und manche an der Erziehung des kleinen Hennig ; denn viel Leute : Bergleute , Schäfer , Jäger , Bauern und Bettler , kommen und gehen auf dem Lauenhofe , und der Vagabund , der euch einst – vor langen , langen Jahren vielleicht – am Weidenbach die erste Pfeife schneiden und blasen lehrte , war oft von größerem Einflusse auf eure Erziehung und euer Leben als der sehr gelehrte und ernste Mann , welcher zuerst die lateinische und griechische Grammatik euch vor der Nase aufschlug und behauptete : nur in ihr sei das wahre Arkanum des Wandels im Fleisch zu finden und ohne sie kein Heil und Vergnügen auf Erden weder in den Tagen der Jugend noch in denen des Alters . Bergleute , Fuhrleute , Schäfer , Jäger , Bauern und Bettler hielten sich gern auf dem Lauenhofe auf , denn es war von jeher ein nahrhafter Hof , und die Geschichte weiß nur von einem einzigen Herrn von Lauen , der ein geiziger Hund war und deshalb in größter Mißachtung bei seinen Stammesgenossen steht . Menschen und Tiere haben es gut auf dem Lauenhofe , so wie auch die Geistlichkeit stets das Ihrige bekam , sowohl früher in katholischer wie jetzt in lutherischer Zeit . Freilich , was der Pastor von Krodebeck ein » inniges , gottgefälliges Verhältnis « nennt , findet nicht statt . Die gnädige Frau geht so resolut an ihre Erbauung wie an ihre Arbeit , bringt einen merkwürdig scharfen und geraden Blick sonntags in die Kirche mit und hat häufig nach der Predigt ihrerseits ihrem frommen Seelenhirten den Text gelesen . Der Chevalier und das Fräulein sind katholischen Bekenntnisses , wovon jedoch der Chevalier nie Gebrauch macht , während das Fräulein sich häufig eines etwas enzyklopädistischen Anhauches nicht erwehren kann , was nicht immer vollständig zu ihren Verpflichtungen gegen den Papst Honorius den Dritten paßt . Der Pastor von Krodebeck speist nicht selten mit seiner Gattin auf dem Lauenhofe zu Mittag , aber der Ritter von Glaubigern spricht immer das Tischgebet . Drittes Kapitel Die Landstraße führt durch das Dorf Krodebeck , und jenseits des Dorfes , dem Norden zu , liegt ein wenig abseits der Straße ein kleines ärmliches Haus oder vielmehr eine niederträchtige verwahrloste Hütte neben einem Wassertümpel und dem Kirchhofe : das Armen- und Siechenhaus der Gemeinde . Unmalerisch ist das Ding nicht . Die Eschen- und Holunderbäume des Kirchhofs bilden einen ganz freundlichen Hintergrund für das graue Strohdach ; allein ein Vergnügen ist es keineswegs , in dem Siechenhaus von Krodebeck leben und dem Dorfe zur Last liegen zu müssen . Die Hütte enthielt zwei Gemächer , das eine rechts , das andere links von der morschen Eingangstür , dazu eine sehr primitive Zigeunerküche und unter dem Dache einen engen Bodenraum , in welchen Wind , Regen und Sonnenschein nach Belieben eindringen konnten . Manch liebes langes Jahr hatte an den schwarzen klebrigen Pfosten gerüttelt , und niemand zählte die schleichenden Schritte der Verlorenen , welche diese unglückselige Schwelle ausgetreten hatten . Von den kahlen Wänden hatte sich der Kalküberwurf längst abgelöst . Die Scheiben in den niedrigen Fenstern schillerten in jenen ironischen Regenbogenfarben , welche ein so arger Hohn auf jenes lieblichste Himmelszeichen sind , das einst der liebe Gott als den Bogen des Friedens über die ertränkten Geschlechter ausspannte ; und gerade weil das alles so war , so hatte das Haus seine Geschichte wie das stolzeste Königsschloß , so gut wie das Heidelberger Schloß , die Alhambra , und was es sonst für Ruinen in der Welt gibt . Aber niemand hatte diese Geschichte aufgezeichnet , und so müssen wir uns an der melancholischen Moral genügen lassen , welche aus allen Ruinen aufwächst , einerlei ob sie einen Historienschreiber fanden oder nicht . In dunkeln windvollen Herbst- und Winternächten tastete etwas wie mit unsichern Händen an den Wänden hin , klopfte an die Fenster und ächzte und stöhnte in den Winkeln oder gab sich mit einem dumpfen Fall und schnellem Laufen und Trappeln auf dem Dachboden kund . Dann kam es auch wohl häufig mit dem Ruß im Schornstein wie ein Schnarchen und Schnauben herunter , wie ein Fluch auf die harte , böse Welt , die solche Zufluchtsorte für ihre Armen , Kranken und Beladenen bauen kann ; dann – ja dann war es Nacht und Winter und nicht heller Tag und Sommer wie damals , als das alte Weib , in jener Zeit die einzige Bewohnerin des Siechenhauses , am offenen Fenster in der Sonne saß und auf der Landstraße jenen Karren , der eine so große Ähnlichkeit mit dem Schüdderump hatte , vorbeikommen sah . Das wäre die rechte Historiographin für die Hütte gewesen , diese alte Frau , welche an jenem Tage das Reich allein hatte im Siechenhaus zu Krodebeck und welche schon so manche Generation in dem armseligen , häßlichen Asyl hatte kommen und schwinden sehen ! Es ist die Eigenart solcher Häuser , daß sie manchmal voll bis zum Überlaufen und manchmal leer sind wie das Gehirn eines Narren oder wie das Herz eines Klugen . Es hatte Zeiten gegeben , wo der Raum für die Bewohner des Hauses durch Kreidestriche auf dem Fußboden nach Zollen abgemessen war , wo das Alter in jedem Winkel hockte und mummelte , wo die Krankheit bis unter das Strohdach sich wand und wimmerte und wild hinausschrie , wo unter den Lagerstätten der mit dem Nervenfieber Behafteten die Kinder krochen , kreischten und zappelten , bis der Tod und der Gemeinderat aufräumten . Der letztere pflegte nämlich in den Nervenfieberzeiten Erd- und Strohhütten auf dem Anger vor dem Dorf zu errichten . Der Säuferwahnsinn , der Blödsinn und die gemeine verkommene Brutalität des aus dem Zuchthause entlassenen Verbrechers waren in dem Siechenhause zusammengehäuft worden , und das alte Weib hatte damit hausen müssen und hätte darüber reden und schreiben können . Sie tat aber selbst das erstere nicht gern ; denn sie hatte sich leider diesen Dingen und Zuständen gegenüber nicht die gehörige Objektivität bewahrt , sondern ganz jämmerlich und subjektiv darunter gelitten und schauderte sprachlos , wenn sie daran dachte . Es war lächerlich , allein dessenungeachtet doch wahr : die alberne alte Person hatte unter dem Geschrei und Gestöhn , den Zoten und Flüchen an ihren Nerven gelitten wie die vornehmste Dame , die nicht zwanzig lange Jahre hindurch dergleichen ertragen und anhören mußte . Man konnte nicht verlangen , daß , als endlich der Alte da oben ein Einsehen tat , gesunde und nahrhafte Jahre schickte und die Bevölkerung des Siechenhauses zu Krodebeck auf die eine oder die andere Art lichtete , daß , sage ich , die Alte hier unten sich hinsetze , ihr Elend beschreibe und den Schüdderump als das einzig echte und wahrhaft philosophische Vehikel für alle Dinge und Vorkommnisse auf Erden hinstelle ! Sie versuchte höchstens , die Stille und Einsamkeit zu guter Letzt noch einmal zu einem kurzen Nachdenken über ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod zu benutzen ; allein auch das ging schlecht genug , und das war kein Wunder in Anbetracht der übermäßigen Betäubung . Die Landstraße lag in der vollen Glut der Julisonne da , und man übersah sie von dem Fenster des Armenhauses aus eine ziemliche Strecke , bis sie in einem Buchengehölz und Tannenwalde verschwand . Aus diesem Gehölz und Wald hervor kroch in einer Staubwolke der Karren , von dem wir eben redeten , und der uniformierte und mit einem großen Säbel bewaffnete Reiter , der ihn geleitete , ließ sein Pferd neben ihm im Schritt gehen . Es war ein grau angestrichener Karren mit einem grauen Leinwanddach , und er wurde von einem magern Gaule gezogen , dessen Lenker in einem blauen Leinwandkittel verdrießlich nebenherschritt . Er kroch langsam heran , aber die alte Frau im Siechenhaus hatte Zeit , ihn zu erwarten , und tat es in stumpfsinnigem Hinbrüten , indem sie die Hand über die blöden Augen hielt und mit schläfrigem Nicken ihm entgegensah , bis er dicht vor ihrem Fenster angelangt war und der Landreiter ironisch grüßend die Hand an die Pickelhaube legte . Da blieb der zahnlose Mund offenstehen vor Schrecken , die alten , hagern , braunen Hände fingen mehr als gewöhnlich an zu zittern , und die Herrin des Siechenhauses zu Krodebeck hinkte mit leisem Ächzen vom Fenster weg , verkroch sich wieder einmal im dunkelsten Winkel und seufzte : » O liebster Herrgott im Himmel , hol mich doch endlich ab aus der Welt , wenn du mir absolut keine Ruhe lassen willst ! « Der Karren fuhr dem Dorfe zu ; die Grillen zirpten ruhig weiter in den Gräben , die Schwalben fuhren über den Weg , die Spatzen zankten sich in den Apfelbäumen ; die Uhr auf dem Kirchturm schlug fünf , und es kam nicht das geringste darauf an , ob die Alte im Siechenhaus Ruhe haben sollte oder nicht . An diesem nämlichen Nachmittag hatte die Familie auf dem Lauenhofe ihre Siesta ohne Störung gehalten , dann den Kaffee in einer der schattigen Lauben des Gartens eingenommen , und darauf war jeder seinen eigenen Wegen und Geschäften nachgegangen , ohne von dem andern gehindert zu werden – alles nach gewohnter Sitte und Weise . Es war ein ziemlich heißer Tag ; aber es war ein schöner und , sozusagen , nahrhafter Tag . Die Harzberge erhoben sich lachend im blaugrünen Glanz , über den Feldern und Wiesen lag jenes Flimmern und Zittern , welches auch über den Werken der großen Dichter liegt und überall die Sonne zur Mutter hat . Jeder Bauer verspürte den Tag wie einen Handschlag auf das Versprechen einer guten Ernte ; jede Bäuerin schwitzte mit Behagen in den Abend hinein . Selbst aus den Ställen erklang das Gegrunz der Schweine wie ein mit Mühe unterdrückter behaglicher Jubel über die schönen Würste und fetten Schinken , welche die lieben Tiere für den Winterkohl des Jahres mit Selbstgefühl in der Stille heranbildeten . Gutmütig heiter sprudelten die Dorfbrunnen trotz der Wärme hervor , in den Baumgärten wälzten sich die Kinder im hohen Grase ; die Hühner und Gänse gackerten und schnatterten im Schatten der Ackerwagen und der Hecken , und auf der Terrasse des Gutsgartens las Fräulein Adelaide von Saint-Trouin die Korrespondenz der Marquise de Pompadour , durch deren Erdichtung sich der jüngere Crébillon ein so großes Verdienst um die gebildete europäische Welt am Ende des vorigen Jahrhunderts erwarb . Es stand ein chinesischer Pavillon auf dieser Terrasse , von welcher aus man die Dorfstraße und den Platz vor dem Hause des Schulzen überblickte . Schläfrig träumerisch sahen Peccadillo und Mystax von der Mauerbrüstung auf das Dorf hernieder , und mit höhnischem Behagen sah von Zeit zu Zeit das Fräulein über seinen Crébillon weg auf den Band des Télémaque , welchen es dem Chevalier zur eigenen nützlichen Nachmittagslektüre und zur Bildung des jungen Hennig in die Hand gegeben hatte und welchen er sowohl wie der junge Hennig mit höflichem Mißbehagen in Empfang genommen hatten . Da ein jeder der im Pavillon Versammelten die Aussicht kannte , so bekümmerte man sich durchaus nicht um sie , und das Gepolter eines vorbeifahrenden Karrens konnte die Aufmerksamkeit auch nicht erregen ; aber der junge Hennig hatte , auf dem Knie des Chevaliers sitzend , soeben eine ziemlich anzügliche Bemerkung über den ehrenwerten Herrn Mentor gemacht , als ein von der Gasse herauftönendes Lärmen , ein verwirrtes Geschrei und Johlen sowohl den Fénelon als auch den Crébillon für den heutigen Tag vollständig zu den Akten legte . Jener Karren , welcher dem alten Weibe im Siechenhaus einen so argen Schrecken eingejagt hatte , hielt jetzt vor dem Hause des Gemeindevorstehers , und ein guter Teil der Dorfbewohner war bereits um ihn versammelt und machte seinen Gefühlen durch das eben erwähnte Getöse Luft . Der Dorfschneider , welcher noch in dem süßen Kreise gefehlt hatte , kam eben eilig , um die Lücke auszufüllen , und rief im Vorüberlaufen dem Ritter eine Neuigkeit zu , welche auch das Malteserfräulein aber die Marquise von Pompadour hinaus merkwürdig interessierte . » Mon Dieu , das ist das Widerlichste , welches mir heute begegnen konnte ! « rief das Fräulein , die Pompadour in den Pompadour schiebend . » Mais , Chevalier , ich glaube , es ist unsere Pflicht , hinabzusteigen , um – um – « » Um unnötige Aufregung und Roheiten der Menge zu verhüten ! « schloß der Ritter höflich und bot der Dame den Arm , um sie samt dem jungen Hennig die Treppe hinabzuführen , welche von der Terrasse in die Dorfgasse hinunterlief . Sie gingen auf den Haufen zu , welcher sich vor der Tür des Schulzen angesammelt hatte , und selbstverständlich machten die Leute ihnen gern Platz . Auf der Vortreppe des Hauses stand der Landreiter , der das Fuhrwerk geleitet hatte , mit einer braunroten Feldwebelbrieftasche in der Hand , und neben ihm stand Klodenberg , der Ortsvorsteher , und sah aus – sah aus wie ein Bauer , der Ja zu einer Sache sagen muß , ohne vorher einen jahrelangen Prozeß darum führen zu dürfen . » Das hilft Euch nun weiter nichts , Klodenberg ; also nehmt Vernunft an « , sprach der Reiter . » Raus mit der Bescheinigung für richtige Ablieferung , und nachher wünsche ich recht viel Pläsier und die wenigsten Unkosten mit der Bagage . Ziert Euch nicht , Vadder , und macht 's kurz und propre . 's ist ein durstiger Dienst , und ich hab so kaum Zeit für eine Pfeif Tobak im Krug . Aufgesessen ! Marsch ! « » Das sagen Sie wohl , Wachtmeister ; auf der Zierlichkeit kommt 's mich freilich nicht an , und ein Präsedenzfall ist 's auch nicht , denn es ist schon zu oft dagewesen ; aber eine Schande ist's und bleibt's mit und ohne die Kosten « , brummte der Schulze der wohl wußte , daß die halbe Gemeinde und der ganze Gemeinderat ihn auf eine derartige Gemütsäußerung ansehe . » So ist es. Klodenberg ; und in den Schein könnt Ihr 's auch setzen , daß es so ist ! « brummte der Kreis nach . Lang und dünn hob sich jetzt das maltesische Fräulein auf den Zehen und guckte mit der Lorgnette unter die Leinwanddecke des Wagens ; über die Schulter des Fräuleins sah der Chevalier , und der junge Hennig wurde von einem Knecht des Gutes in die Höhe gehoben , damit er ebenfalls von dem Wunder und Vergnügen zu genießen bekomme . Ei mein Himmel , sie ist 's « , murmelte das Fräulein giftig und erbarmungslos ; der Chevalier nahm eine Prise und zog die Achseln in die Höhe und schüttelte den Kopf mit einem bedenklichen : » Hm , hm ! « Der junge Hennig aber sperrte den Mund weit auf und griff mit beiden Händen seinem Träger in das Halstuch . Das Schauspiel konnte nicht erfreulich genannt werden , und die Bemerkungen Klodenbergs waren , von einem gewissen Standpunkt aus , gar so unbegründet nicht . Ein Weib lag , in sich zusammengezogen , unter dem Tuch auf einem Bündel Stroh und vergrub das Gesicht in dieses Stroh , als könne es nichts mehr von der Welt brauchen und wolle nichts mehr von ihr sehen . Und von der Brust oder aus den Armen des Weibes war ein Kind , ein kleines Mädchen , gegen das Fußende des Wagens hinabgerutscht , hatte sich an dem Wagenrand emporgehoben , klammerte sich mit beiden Kinderpfötchen krampfhaft da fest und sah mit großen , schwarzen und merkwürdig ruhigen Augen unter dem Verdeck hervor auf die höhnische erboste Menge , als könne es nie genug von dieser Welt bekommen , von der die Mutter genug , übergenug , viel zuviel bekommen zu haben schien . » Wer ist das ? Ist das wirklich Marie Häußler ? « wendete sich der Chevalier an die Autoritäten des Ortes , welchen natürlich das böse Weib des Dorfes das Wort abschnitt , ehe sie den Mund zum Antworten öffneten , indem es kreischte : » Die Marie , die schöne Marie ist's , wirklich und wahrhaftig , obgleich man 's ihr nicht mehr ansieht , Herr von Glaubigern . Marie Häußler mit ihrem Balg ist's , und nun ist's gekommen , wie wir 's lange verhofft und wie das gnädge Frölen es lange vorausgesagt haben , und sie kommt in der Kutschen und mit zweien Bedienten ins Dorf zurück , wie sie es selbst vorausgesagt hat , Herr von Glaubigern , und hier sind wir alle miteinander , um sie nach Gebühr mit Vivat und Musik wie 'n neuen Pastor zu empfangen . « Das Volk von Krodebeck pfiff und schrie selbstverständlich nach diesen anregenden Worten , aber der Wachtmeister rief wütend von der Treppe herab : Haltet das Maul , ihr Rüpel und Lümmel , und der Hexe da schlage ich auf das Maul , wenn sie es nicht halten kann ! Noch steht die Fracht und Fuhre unter meinem Kommando , und da duld ich keine Anzüglichkeiten . Wann ich die Quittung hab , mögt ihr Bauern sagen und tun , was ihr wollt ; mich geht 's weiter nichts an . « Ein für die arme Heimkehrende viel Übel bedeuten des Murren und stilles Schimpfen lief durch den Haufen . Die Kranke verkroch sich darob tiefer in ihr Stroh , nachdem sie einen matten Versuch gemacht hatte , das Kind zu sich hinzuziehen . Das Kind sah sich auf das Rascheln des Strohes um nach seiner Mutter und lachte dann , als ob es meine , die Mutter wolle nur Verstecken mit ihm spielen ; es ließ von seinem Halt ab , purzelte zurück und kroch mit glückseligem Kreischen zu ihr hinauf . » Ich verbitte mir gleichfalls alle Anzüglichkeiten , denn was ich in betreff dieses Weibes gesagt habe und sagen werde , werde ich selber bemerken « , sprach plötzlich mit sehr schnarrendem Ton Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin auf der Höhe ihres Standpunktes als Haute-Justicière der Grafschaft Pardiac und klopfte , um ihren Worten mehr Nachdruck zu geben , mit dem jüngern Crébillon , den sie wieder hervorgezogen hatte , auf den Rand des Karrens . » Herr Wachtmeister , ich bitte – « » Zu Befehl , gnädiges Frölen « , sagte der Landdragoner , ordonnanzmäßig die Hand an die Pickelhaube legend . » Herr Wachtmeister , ist dieses Frauenzimmer wirklich die Marie Häußler hier aus dem Ort ? Ist dieses in der Tat das Kind der Marie Häußler ? « » Zu Befehl , gnädiges Frölen . Die Papiere sind in schönster Ordnung , und Klodenberg weiß , daß er nichts dargegen machen kann . Aberst er tut 's und versucht's doch , und das ist « ( mit einem verächtlichen Blick im Kreise umher ) » einmal ihre Art so . Wissen Sie , gnädges Frölen – Marie Häußler – Krodebeck – Heimatsberechtigung – schleichendes Zehrfieber – ärztliches Attestat – und kurzum – alles in schönster Ordnung . « » So mache man dem Skandal endlich ein Ende und bringe die Person und das Kind unter Dach « , befahl das Fräulein , während der Chevalier wiederum ein kopfschüttelndes » Hm , hm « hören ließ . » Jaja « , brummte der Schulze , » schon recht ! Alles in Ordnung ; und wenn der Mensche alles gesagt und getan hat , was sein muß , so gibt er sich , weil er freilich nicht anders kann . Kommt herein , Wachtmeister , Ihr sollt die Bescheinigung haben und einen Nordhäuser dazu . Holla , ihr andern da , schiebt den Karren nur nach dem Siechenhaus ; es ist nicht das geringste dagegen zu machen . Die Herrlichkeit ist da , die Kosten sind nicht wegzudisputieren ; also – macht euch ein Verdienst aus dem Verdruß und macht dem Volk das Ding so bequem , als es eben angeht . « Er trat mit dem Reiter in das Haus , und von neuem erhob sich das Geschrei , das Pfeifen und Grunzen von Krodebeck . Ein Dutzend Hände griff in die Speichen der Wagenräder , und ein Dutzend Hände griff dem Fuhrknecht in die Zügel seines hagern Gauls . Daß dieses doch nicht ohne Unbequemlichkeiten für die schöne Marie und ihr Kind abgegangen wäre , ist sicher ; allein der Chevalier und die Nachkommin des tapfern Johann von Brienne legten sich mit ihrem ganzen Ansehen ins Mittel , und der junge Herr von Lauen half durch ein helles Gezeter . So wurde der Karren vor das Siechenhaus von Krodebeck gezogen und geschoben , ohne daß – wenigstens auf diesem Wege – Mutter und Kind weiter zu Schaden kamen . Viertes Kapitel Adelaide von Saint-Trouin , welche eine zarte , eine zierliche Antipathie gegen jeden nahen Verkehr mit den untern Klassen der Gesellschaft hatte und aus gewissen Gründen eine unaussprechliche Abneigung gegen die schöne Marie zu hegen berechtigt war , ging nicht mit in das Siechenhaus , hielt auch den jungen Hennig fest an der Hand zurück , sowohl während der Karren abgeladen wurde , wie auch nachdem mit Hülfe einiger gutherziger Männer – nicht Weiber – die Kranke und ihr Kind in die Hütte geschafft worden waren . Der Ritter von Glaubigern , weniger zart organisiert , steuerte nach Kräften den noch immer sich wiederholenden Roheiten des Volks von Krodebeck , und es gelang ihm auch , den jetzt nachkommenden Vorsteher zu bestimmen , sein Ansehen in dieser Richtung walten zu lassen . Es zeigte sich , daß die alte Praktik des Gellertschen Amtmanns noch immer Geltung hatte . Der Dorfgewaltige wußte überzeugend zu sprechen . Vor seinen Ochsen , Eseln und Flegeln zerstreute sich der Haufen , bis auf das Malteserfräulein , welches sich keinen der mannigfachen Ehrentitel zurechnete und mit dem jungen Herrn von Lauen seinen Standpunkt auf der Landstraße behauptete , während der Chevalier jetzt hinter der Tür das alte Weib zu beruhigen suchte , welches , bis zum Zittern bestürzt über die neuen Ankömmlinge , die Hände rang und dumpfe Angsttöne hören ließ . » Es wäre vielleicht angemessener , wenn wir nach Hause gingen , Hennig « , sagte das Fräulein . » Solche Szenen haben etwas Widerliches und Unschickliches , und diese vor allen kann mir nur peinlich sein . Auch sehe ich eigentlich nicht , welche Moral für dich , mein Kind , in diesem häßlichen Fall liegen könnte . « » Ich gehe nicht nach Haus ohne den Herrn von Glaubigern « , sagte Hennig fest . » Mon Dieu , der Chevalier ! Ich begreife den Chevalier wirklich nicht . Er weiß doch , daß er hier auch einige Rücksicht auf mich zu nehmen hat . « » Er wird der kranken Frau Geld geben , und ich will dem kleinen Mädchen meinen neuen Ball geben . Sagen Sie , Frölen Trine , weshalb schrien und schimpften die Leute so sehr über die kranke Frau und das kleine Mädchen ? « » Hennig « , sprach die Abkömmlingin der Kaiser von Konstantinopel mit Würde und Entrüstung , » Hennig , wie oft habe ich mir schon diese pöbelhafte und zugleich alberne Bezeichnung meiner Persönlichkeit verbeten ? Das ist unaussteh- nun , Vorsteher , sind Sie endlich mit Ihrem Arrangement da drinnen fertig ? « Frölen Trine « , sagte der Vorsteher , sich den Schweiß von der Stirn wischend , » das sind kuriöse Sachen da innenwendig . Wer offiziell nichts d'rmit zu tun hat , der ist wohl dran , und wenn ich , mit Permission zu sagen , der Herr von Glaubigern wäre , so tät ich was Besseres , als mir darmit zu vermengelieren . Der Herr Ritter sind aber zu gütig , und so habe ich jetzo die Angelegenheit in seine Hände refüsiert , und er muß nun zusehen , wie er die Alte zur Ruhe und die Junge mit ihrer Krabbe in ein angenehmliches Verhältnis zu ihr bringt ! ' pfehle mich , Frölen Trine . « » Er hat auch Frölen Trine gesagt ! « schrie Hennig , dem abmarschierenden Schulzen nachdeutend . » Alle im Dorfe sagen es , und ich bin auch aus dem Dorfe , und es ist ganz die Geschichte vom kleinen Töffel , sagt der Herr Ritter ! « Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin erwiderte nichts . Sie schritt mit dem Crébillon im Pompadour und mit den Händen auf dem Rücken auf und ab vor dem Siechenhause , um das Wiedererscheinen des Chevaliers zu erwarten und von ihm ohne weiteres über den kleinen Töffel und das Verhältnis desselben zu ihr bedingungslosen Aufschluß zu fordern . Hätte sie eine Ahnung davon gehabt , daß der Schulze , im Weitereilen über die Schulter zurückblickend , tief geschichtsphilosophisch bemerkte : » Ein Frauensmensch ist genug , um sämtliche Nationen des Erdbodens in einen Knäuel drum aufzuwickeln ! « , so würde sie sich auch zu dieser Unverschämtheit jedenfalls eine Erläuterung ausgebeten haben . Die verscheuchten Dorfkinder lauschten verstohlen hinter und an den Hecken und suchten auf alle Weise die Aufmerksamkeit des Stammhalters der Herren von Lauen auf sich zu ziehen . Allein Hennig konnte sich jetzt nicht mit den Spielgenossen beschäftigen . All dieser Aufwand von Unruhe , Lärm , Ärger , geheimnisvollem Kopfschütteln und Ohrenkratzen beunruhigte sein junges Herz immer mehr , so daß er endlich in fast atemloser Spannung mit Auge und Ohr an den erblindeten Fenstern des Siechenhauses hing . Er fuhr ordentlich zusammen , als jetzt das eine dieser Fenster aufgerissen wurde und das gelbe traurige Gesicht des Ritters sich vorbeugte nach einem Atemzug frischer Luft . » Ich bitte , Herr von Glaubigern « , rief das Fräulein , » die Atmosphäre hier ist drückend ; – werden wir bald die Ehre haben – ? « » Sogleich , Gnädigste ! « erwiderte der Chevalier mit artigstem Gruß und verschwand in demselben Augenblicke von neuem . » Unausstehlich ! « rief das Fräulein und zog den kleinen Hennig fast zornig über den Weg zu dem geöffneten Fenster hin . » Man scheint nicht die mindeste Zeit und Höflichkeit für uns überzuhaben « , murmelte Adelaide , während sie sich niederbückte und während Hennig sich auf den Zehen hob , um feurig neugierig in das Fenster gucken zu können . » Also hier hängt der Schwarm am Zweig ? « rief jetzt aber eine helle , sehr metallreiche Stimme hinter den beiden Lauschern . Mit aufgerichteter Nase , aufgestecktem Schurz und trotz der Hitze mit ungemein elastischem Schritt , welcher am ganzen nördlichen Abhang des Harzes seinesgleichen suchte , kam eine Dame über den Weg vom Dorfe her , der man es schon auf vierzig Schritt ansah , daß sie sich zur Herrin der Situation machen würde . Frau Adelheid von Lauen , die Herrin des Lauenhofes , war vor zehn Minuten auf dem Hofe von einem Ackerwagen niedergestiegen , hatte vernommen , was sich begeben hatte während ihrer Abwesenheit , hatte ihre Haube mit einem Ruck zurechtgeschoben und stand nun vor dem Siechenhause , um auch hier Ordnung zu stiften . Zuerst bekam Hennig ihre wackere Hand zu kosten ; im Vorbeimarsch fuhr sie ihm durch die Haare , zog ihm die Jacke zurecht und gab ihm durch einen wohlgemeinten Klaps zu verstehen , daß seine Erscheinung wie gewöhnlich mancherlei zu wünschen übriglasse . Sodann nahm Fräulein Adelaide einige geflügelte Worte in Empfang . » Nichts für ungut , Base , aber ich wäre dem Dinge doch etwas näher gegangen und ließe mich jedenfalls nicht unnötig hier in der Sonne braten . Also die Marie ist wieder da ? Das hat Sie wohl recht gefreut , Beste ? Na , den Tag , an welchem sie kommen würde , konnte ich nicht vorauswissen ; aber gewartet hab ich seit Jahren drauf . Jawohl , es ist auch für Sie eine recht nachdenkliche Geschichte , Fräulein Adelaide . Munter ! « Mit dem letzten Wort , welches sie nicht selten sowohl an ihre Reden vor dem Volk wie an ihre Selbstgespräche hing , nahm die Frau Adelheid das Siechenhaus mit Sturm , und zwar mit dem besten Willen , Ordnung , Friede und Sicherheit mit oder gegen den Willen der Leute darin aufzurichten . Fräulein Adelaide dagegen faßte das Handgelenk des jungen Hennig fester , drehte ihn mit einem ärgerlichen Ruck um und führte ihn zurück auf die Gartenterrasse des Lauenhofes unter den chinesischen Pavillon . Hier angekommen , ließ sie den kleinen Junker nach einem zweiten Ruck frei , sank sodann auf den nächsten Sessel und befand sich bereits im nächsten Augenblicke in der Gesellschaft des jüngeren Crébillon tief in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit Peccadillo auf dem Schoße und Mystax in angemessener Entfernung zu ihren Füßen ; – ach ja , Frau Gräfin von Baschi , ma vie est une mort continuelle . Je devrois , sans doute , me retirer de la cour : mais je suis foible , et je ne puis ni la souffrir ni la quitter . Es zeugte freilich von einer großen Mäßigung und Duldsamkeit , von einer höchst anerkennenswerten Milde im Charakter des Fräuleins , daß es so großes Elend so sanft ertrug und nicht längst den Hof , nämlich den Lauenhof , verlassen hatte , um in die orientalische Frage einzugreifen und als Prätendentin für den Thron von Byzanz aufzutreten . Der junge Hennig , dessen Leben noch nicht ein ununterbrochenes Sterben war , vergaß bald die Ereignisse des Nachmittags , den Karren , den Wachtmeister , die kranke Frau mit dem kleinen Mädchen über wichtigeren Angelegenheiten , Die Verwalter ritten von den Feldern heim , und in ihrer Begleitung begann er die gewohnten Inspektionswege durch Kuh- und Pferdeställe . Dann war die Klappermühle im Bach , welche er am Morgen aufgerichtet hatte , im Gange zu halten ; der Hühnerhof verlangte sein Recht , und mit der Dämmerung meldete sich das nicht ungerechtfertigte Verlangen nach dem Abendessen . Der Tag war hingegangen , ohne daß er sowohl für das Fräulein von Saint-Trouin wie für den Knaben etwas absonderlich Merkwürdiges mitgebracht hatte . Eiligen Schrittes kam die Gutsfrau vom Siechenhause zurück und stürzte sich von neuem in die gewohnteren Sorgen . Einige Zeit später kam der Chevalier langsam , melancholisch nachdenklich heim , stand einige Minuten wortkarg in dem Getümmel , der Unruhe , die auf dem Lande dem Feierabend voranzugehen pflegen , und schloß sich dann bis zum Klange der Tischglocke in seinem Zimmer ein . Nachdem diese Glocke er- und verklungen war und der sonst so pünktliche Ritter noch immer nicht erschien , stieg Mystax die Treppe hinauf , um ihn zu holen , und kratzte leise an seiner Zimmertür . Ihm gelang es , den Ritter aus seiner trüben Mutlosigkeit emporzuziehen , und unter seiner Führung erschien der Herr von Glaubigern in dem Gartensaale , in welchem der Tisch gedeckt stand . Es war ein schöner Abend . Die Fenster und Flügeltüren des Saales waren weit geöffnet . Unter ihren hellen Glasglocken flackerten die Lampenflammen nur ganz wenig im kühlern Abendwinde , und vergeblich versuchten die verirrten Nachtschmetterlinge im taumelnden Flug gegen das Licht zu ihrem Verderben zu gelangen . Draußen rauschte und lispelte der Garten , die Frösche ließen sich bald näher , bald ferner vernehmen , und die Leute vom Lauenhofe hatten alle einen guten Appetit – alle , bis auf den Ritter von Glaubigern , welcher durchaus gar keinen Appetit bewies und gegenüber den freundlichsten Ermutigungen der Gutsherrin nur die Hand auf den Magen legte und mit stummem Achselzucken um Entschuldigung bat . Nach dem Essen kam die Stunde , in welcher die Zeit , vorzüglich nach einem solchen heißen Tage , stillzustehen scheint , die Stunde , in der selbst der gefürchtetste und gehaßteste Anekdotenerzähler es wagen darf , sich noch einmal ungestraft seinem Laster hinzugehen , weil jedermann , geschaukelt zwischen dem Bewußtsein , daß es heute sehr heiß war und jetzt so angenehm kühl sei , manches ruhig hinnimmt , wogegen er sich in muntereren Minuten auf das hartnäckigste wehren würde . Zwischen Schlafen und Wachen , mit der Stirn auf dem Knie des Chevaliers liegend , vernahm Hennig von Lauen die Geschichte der schönen Marie Häußler , verstand jedoch wenig mehr davon , als daß sie für die meisten Leute sehr traurig und unbehaglich war , aber dem Fräulein Adelaide von Saint-Trouin zu vielen ausgesuchten und treffenden Bemerkungen Anlaß gab . Plötzlich fühlte er eine Hand in seinen Haaren und vernahm blinzelnd auftaumelnd die Worte der Mutter : » Der Junge schnarcht doch zu greulich ! Marsch zu Bett ! Munter ! « Am folgenden Morgen wußte er weder von der Geschichte noch von den Bemerkungen das geringste mehr , und das war in mehrfacher Beziehung recht gut . Fünftes Kapitel Die Alten und die Jungen , die Patrizier und die Plebejer , die Klugen und die Narren , die ehrbaren Frauen und jene muntern Frauen in roter Haube oder gelbem Mantel zogen sie hervor aus den Häusern oder huben sie auf in den Gassen und luden sie auf jenen schrecklichen schwarzen Karren , den Schüdderump . Das ist lange her . Der schwarze Wagen ist zu einer unvergleichlichen Merkwürdigkeit geworden und wird dem durchreisenden Fremden als die einzige Kuriosität des Städtchens , welches das Glück hat , ihn zu besitzen , gezeigt ! Es ist lange , lange her , seit er zum letztenmal in Gebrauch war , seit zum letztenmal die Lebendigen vor dem dumpfen Geknarr seiner Räder vom Fenster wegstürzten und scheu einander ansahen und sich die Ohren verstopften ! Wir haben eine sich selbst nicht wenig lobende Gesundheitspolizei , die Sitten sind andere und bessere geworden , selbst der Ungebildete weiß , daß grüne Pflaumen und Gurkensalat zur Zeit der Brechruhr nicht zu den gesunden Nahrungsmitteln gehören . Gesundheitstlanell , wollene Leibbinden und Korksohlen werden täglich in den Intelligenzblättern angeboten und von den verständigen Leuten gekauft . Selbst der Ungebildete vermag , wenigstens in Deutschland , die Intelligenzblätter zu lesen , für die Gebildeten haben Lessing , Herder , Schiller , Goethe und Jean Paul gelebt , und – um so erstaunlicher ist es , wie nahe wir trotz alledem doch noch dem Schüdderump stehen ! Wer sich eingehender damit beschäftigt , dem vermischen sich endlich die Vorstellungen derartig , daß er kaum noch die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden Vermag . Es war ein schönes , halbnacktes Mädchen , dem nicht einmal der schwarze Tod alle Reize hatte nehmen können , und selbst auf dem Schüdderump wehrte es sich noch gegen die scheußliche Grube , gegen die Verwesung mit und in dem Haufen der andern Leichen . Ich habe sie im Traume gesehen ; – die im letzten Krampf starr und steif gewordenen Arme klemmten sich zwischen den Leisten der Seitenwände des schwarzen Wagens , ein Nagel hatte ihr Gewand gefaßt und es ihr von den Schultern gezogen . Als die wilden , rohen Knechte den Karren umstülpten , schien diese Tote allein den andern Leichnamen nicht folgen zu wollen . Die Knechte mußten sie mit ihren eisernen Haken losreißen und sie den übrigen nachschieben , und sie lachten dabei und wiesen die Zähne und die Zungen ; denn es war ein sehr schönes Mädchen und war noch schön auf dem Schüdderump – und so ist auch Marie Häußler , die Tochter des Dorfbarbiers zu Krodebeck , ein sehr schönes Mädchen gewesen . Zieht den Hut ; der eigentliche Held und Triumphator dieser Geschichte erscheint für einen Augenblick im Hintergrund und schleicht leise über die Bühne ! Dietrich Häußler wurde zu Anfang des Jahrhunderts in Krodebeck geboren . Er verheiratete sich im Anfange der zwanziger Jahre und zeugte die schöne Marie . Im Jahre achtzehnhundertneununddreißig starb seine Frau , nachdem er im Jahre vorher mit seiner Tochter aus dem Dorfe verschwunden war . Die schöne Marie kam im Jahre fünfzig mit ihrer kleinen Antonie zurück nach Krodebeck ; der Stammherr des Geschlechtes Häußler Von Haußenbleib , dem freilich Schild und Schwert sogleich mit in die Grube gegeben werden muß , wird im Jahre einundsechzig zurückkommen , wenn Antonie Häußler eine schöne Jungfrau geworden ist , und dann – dann wird der Titel des Buches seine volle Lösung finden . Dietrich Häußler hatte mit dem Kollegen von Sevilla nur die leichte Hand , doch nicht den leichten Sinn gemein . Er rasierte eigentlich vortrefflich ; allein da er den Gott in seinem Busen kannte und eine Ahnung davon hatte , zu welch großen Dingen er berufen sei , so rächte er sich für jetzt dadurch an seiner niedrigen Lebensstellung und an der Menschheit , daß er so schlecht als möglich rasierte . Blutgierig zog er an jedem Sonnabend den Bauern von Krodebeck die Haut ab , machte in dieser Hinsicht sein Handwerk wirklich zur Kunst und konnte so mit ganzer Seele sich seinem Geschäft hingeben , grad wie in früheren Jahrhunderten ein schwärmerisch entflammter Folterknecht dem seinigen . Er war gewiß nicht dumm , sondern ein hinterlistiger , heimtückischer Gesell , welcher seine Lehrzeit und drei Jahre drüber in Berlin zugebracht hatte und einen großen Teil seiner Lebensanschauungen und Grundsätze auf diese fromme und vergnügte Zeit begründete . Sein Weib und seine Kinder führten ein gar elendes Leben unter seinem Regimente . Sein Weib , von dem weiter nichts zu sagen ist , starb , und seine Kinder verdarben bis auf diese Marie , welche man in Krodebeck die schöne nannte und welche ebenfalls starb und verdarb , aber auf eine andere Art als die übrigen , denn die übrigen versanken nach einem kurzen Taumeln und Quälen in Krodebeck selbst ; Marie aber kam in die weite Welt hinaus und erlebte viele Dinge , ehe sie nach Krodebeck zurückgebracht wurde , um ebenfalls daselbst unterzugehen . Wie gesagt , hatte Dietrich die Verhältnisse der großen Stadt , da seine eigenen Neigungen schlecht waren , von der schlechtesten , erbärmlichsten Seite angesehen , und noch dazu von der erbärmlichsten Seite in der geringen Sphäre , in welche ihn sein Schicksal hingestellt hatte . Aber er war dazu mit einer gewissen Phantasie begabt , welche ihm die Dinge oft in einem absonderlichen Lichte erscheinen ließ . Er konnte so gut wie ein anderer träumen und die Wirklichkeit idealisieren und die Welt vollständig auf sich als den Mittelpunkt der Welt beziehen und in seinen einsamen Stunden gradeso glücklich sein wie ein anderer . Das ist das erfreuliche am Leben , daß der Mensch für seine Natur kaum verantwortlich zu machen ist , und so werden wir gewiß nicht auf den Meister Dietrich Häußler um das , was er war , und um das , was er wurde , mit zu finsterm Auge und zu tiefem Stirnrunzeln blicken . Nun hat ein Barbier in einer großen Stadt , der sich auch ein wenig aufs Frisieren versteht , Gelegenheit , allerlei zu sehen und zu hören , worüber sich nachdenkliche Betrachtungen anstellen lassen , Das Ideal tritt in erstaunlichen Formen auf , und schon in Berlin lag das Ideal für Dietrich in der Vorstellung , eine schöne Tochter zu haben und beliebig über dieselbe verfügen zu dürfen . Da er ein ganz stattlicher Bursche war , gelang es ihm , in der preußischen Hauptstadt in ein Geschäft hineinzuheiraten und dasselbe in zwei Jahren zu ruinieren . Er kam nach Krodebeck zurück , imponierte den Bauern mächtig in der ersten Zeit , log fürchterlich und wurde allmählich zu einer Persönlichkeit , welcher das Dorf alles in der Welt zutraute , jedoch nicht das Allergeringste anvertraute . Man lachte über ihn und fürchtete ihn ausnehmend , man glaubte seiner Versicherung , daß er morgen vierspännig fahren könne , wenn er wolle ; allein man glaubte nicht , daß er morgen die fünf Silbergroschen , die er heute borgte , zurückzahlen werde . Man schenkte ihm heute die vollste Bewunderung und warf ihn morgen aus der Kneipe , und der , welcher ihm dabei den grimmigsten Fußtritt gab , schlich übermorgen zu ihm und schob die Schuld auf einen andern . Daß er seine Gelegenheit in allen Dingen abzuwarten wußte und nach Jahren noch jede Beeinträchtigung und Beleidigung heimzahlte , war jedermann bekannt , und da jedermann bekanntlich dem andern gern von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Schabernack spielen läßt , so behauptete der Meister Dietrich Häußler seine Stellung in Krodebeck , bis er selbst es für angezeigt hielt , sie aufzugehen . Er zeugte drei Söhne , die , wie gesagt , in früher Jugend verkamen , da er nichts mit ihnen anzufangen wußte . Nachher wurde Marie geboren und wuchs auf in Schmutz und Lumpen und hatte schon in ihrer Kindheit ein übel Leben ; denn es wiederholte sich mit ihr eine alte , alte Geschichte , nämlich die von der Schönheit , welche in die Welt hineingeboren wird und natürlich von denen , die sich am heftigsten nach ihr sehnten , anfangs auf das stumpfsinnigste verkannt werden muß . Es haben viel größere und edlere Leute als der Barbier von Krodebeck ihr Ideal verkannt , ja blieben sogar noch hinter dem Barbier zurück ; denn als diesem die Augen geöffnet worden waren , da glaubte er an sein Ideal und begrüßte es mit Jauchzen , was sehr hohe Geister und herrliche Charaktere sehr häufig nicht über sich gewinnen konnten . Die Augen gingen ihm übrigens nicht sogleich auf und vor Vergnügen über . Das kleine Mädchen erschien anfangs in seinem Schmutz und seinen Lumpen , in seiner vollen und abscheulichen Verwahrlosung häßlich genug und wurde daher auch in den ersten Kinderjahren fast noch ärger mißhandelt als die unnützen Buben . Es bekam wenig zu essen , aber viele Fußtritte und Schläge . Was die Bauernschaft von Krodebeck dann und wann an dem Vater Häußler sündigte , kam der Familie des Barbiers in ganz logischer Folge heim , und oft vernahm man das Geheul und Wimmern dieses häuslichen Herdes in ruhigen Nächten durch das stille Dorf . Oft , sehr oft fanden die gnädige Frau vom Lauenhofe , welche damals noch eine viel jüngere und in behaglicher Ehe lebende gnädige Frau war , und der Chevalier von Glaubigern , welcher ebenfalls in jener Zeit ein noch viel rüstigerer Ritter war , Gelegenheit , hier ihre Autorität geltend zu machen , jedoch ohne großen Nutzen . Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin hielt es unter ihrer Würde , in solchen Fällen ihre Autorität geltend zu machen . Von einer Dame , welche eigentlich berechtigt war , Byzanz zu regieren und den Sultan Mahmud den Zweiten für einen niederträchtigen Usurpator zu erklären , von der konnte man doch nicht verlangen , daß sie sich so weit herunterlasse , um die Verhältnisse im Hause des Barbiers von Krodebeck zu regeln und sein Weib vor Prügeln , sein Kind Vor Fußtritten zu schützen . Und doch trug nur die sehr noble und sehr mächtige Chevalière von Malta die Schuld davon , daß der Meister Dietrich sein Ideal erkannte . Es war an einem schönen Sommermorgen , als das Fräulein , von einem romantischen Spaziergange in die Wälder durch das Dorf nach dem Lauenhofe zurückkehrend , durch einen argen Lärm im Hause des Barbiers aus seinen hohen Träumen aufgeschreckt und der trivialen Gegenwart gegenübergestellt wurde . In dem Hause dauerte zwischen Mann und Weib der Kampf um den täglichen Frieden noch fort ; doch vor dem Hause am Brunnen wusch Marie Häußler bereits die Tränen aus den Augen und das Blut von der Nase . Ein schicksalvoller Sonnenstrahl fiel auf die Stirn , das Haar und die nackte braune Schulter des Mädchens , und statt in das Haus zu stürzen und dem Barbaren den Prügel aus der Hand zu nehmen , stand das Fräulein sehr still und hob die Lorgnette und winkte lächelnd hinüber : » Himmel , welch ein Bild ! « Es war freilich ein Bild , ein reizendes Bild , und Adelaide bewährte das feinste Gefühl für den Zauber desselben . Sie ging langsam näher und hob mit den äußersten Fingerspitzen das Kinn der Weinenden empor , ließ das Augenglas herabfallen und rief : » Es ist in der Tat keine Täuschung ; – es ist wirklich überraschend ! Und das ist heraufgekommen wie die Blumen unter der Hecke . Mon Dieu , Kind , wie kommst du unter die Kanaille ? Weißt du genau , wer du bist und woher du kommst ? « Mit ziemlich weit geöffnetem Munde , aber noch immer schluchzend , deutete Marie Häußler auf die Tür ihres Vaterhauses , in welcher jetzt der Meister Dietrich stand und , gleichfalls sehr verwundert , nicht zu wissen schien , ob er sich näher heranwagen oder sich so tief als möglich vor der Malteserin in das Innere zurückziehen solle . Aber Fräulein Adelaide winkte , und der Barbier von Krodebeck trat oder kroch vielmehr mit den höflichsten Bücklingen näher und wünschte dem Fräulein einen guten Morgen , worauf dieses jedoch entgegnete : » Er ist ein elender , ein flegelhafter , nichtswürdiger und zu gleicher Zeit ein dummer Gesell , Häußler . Ohne Komplimente , Häußler , Er ist ein widerlicher , brutaler Patron , und wenn die Welt noch regiert würde , wie es sich gebührt , so würde Er sicherlich nicht einen solchen heitern Morgen durch seine Roheiten ungestraft verstören dürfen . Übrigens hab ich Ihn nicht gerufen , um Ihm das zu sagen , denn es ist kaum noch etwas darüber zu sagen ; aber das will ich Ihm mitteilen , daß ich dieses junge Mädchen von jetzt an unter meinen besondern Schutz nehme . Weiß Er , Häußler , daß Er eine sehr hübsche Tochter hat , welche nicht in Krodebeck unter dem Bauernpöbel verkommen soll ? Sieh auf , Kind , und schäme dich nicht , mein feines Lärvchen . Komm im Lauf des Tages zu mir , nachdem du dich gewaschen hast . Bringe deine Schulbücher mit , wir wollen ein kleines Examen anstellen und sehen , ob die Stirn hält , was sie verspricht . Bist du willig , so sollst du bei mir bleiben als Chambrière ; – ja , ich will dich erziehen , Kleine , und dein Glück zu machen suchen . Eine Kammerfrau der guten alten Zeit sollst du werden ; ach , auch das Geschlecht ist vergangen mit allem übrigen Guten und Schönen ! O mon Dieu , ich will mir ein Verdienst daraus machen , der Welt eine wirkliche Kammerjungfer zu bilden . Bonjour , Marion , weine nicht länger , mein Miezchen , und vergiß nicht , im Sonntagskostüm zu erscheinen . « Mit graziösem Kopfneigen schritt die Enkelin so hoher Ahnen weiter und ließ den Barbier Dietrich Häußler in dem ungeheuersten Erstaunen an der Seite seiner Tochter zurück . Er blickte der Dame nach und sah auf seine Tochter ; er sah lange und von den verschiedensten Standpunkten aus auf seine Tochter , rieb sich die Augen und die Stirn , blickte wie zweifelnd nach seinem Hause hin und blickte von neuem auf seine Tochter . Auch er hob jetzt ihr Kinn empor , wenn auch nicht mit den zartesten Fingerspitzen , und endlich trat er drei Schritte weit zurück , schlug mit der geballten rechten Hand in die offene linke und rief : » Alle Donner – ob sie recht hat ! Dreimal hat sie recht ! Und ich bin ein Esel , ein Rindvieh , ein elendiger Tropft ! Fünfzigmal hat sie recht , die hochnäsige Gans , und nun , marsch mit dir ins Haus , du nichtsnutziges Balg – nein , wollte ich sagen , geh rein , mein Herzchen , mein Püppchen , und sag der Alten , ich käm sogleich nach ; aber vorerst müßte ich mich noch ein wenig erholen von allen Alterationen und angenehmen Überraschungen ! « Marie ging , wie ihr befohlen war ; der Barbier aber lief dreimal um das Dorf und kam ganz kühl und ruhig heim , half selbst mit merkwürdig milder Hingebung an der Toilette der Tochter und schickte sie am Nachmittag mit dem schönsten Gruß auf den Lauenhof zum Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin . Von dieser Unglücksstunde an aber kam eine große Veränderung in das Haus Häußler . Der Vater Dietrich wurde immer höflicher und immer zärtlicher gegen sein Kind und stieg durch tiefe Unterwürfigkeit allmählich auch immer höher in der Achtung , Gunst und Neigung der Gerichtsherrin von Valcroissant . Ober ein Jahr blieb und studierte Marie Häußler in Adelaides Zucht und Schule , und nicht ein einziges Mal während dieser Zeit gab der Vater Häußler nach der gewohnten Art dem Dorfe Stoff zum Skandal oder Zorn . Es wurde merkwürdig still in seinem Hause ; auch Dietrich studierte , und zwar die sonderlichsten Dinge ; sein unglückseliges Weib quälte er schlimmer als je , doch ebenfalls auf eine andere Weise , ganz ohne alles fernere öffentliche Aufsehen und Ärgernis . Was der Lauenhof über das Verhältnis denken mochte , welches sich zwischen dem Fräulein Adelaide und dem Hause Häußler angesponnen hatte , wie der Ritter von Glaubigern auch den Kopf schütteln mochte ; es hatte niemand das Recht , sich zu verwundern , als am zehnten September des Jahres achtzehnhundertachtunddreißig plötzlich das Geschrei im Dorf erging , der Barbier sei über Nacht verschwunden und habe seine Tochter , die schöne Marie , mit sich genommen , und niemand wisse , wo er geblieben sei , seine Frau am allerwenigsten . Betäubt und verstört erschien die Frau auf dem Lauenhofe und verlangte hustend und heulend ihr Kind und ihren Mann von Adelaide von Saint-Trouin . Das Fräulein jedoch war durchaus nicht in der Stimmung , sich auf dergleichen Zumutungen einzulassen ; es lag in Krämpfen auf seinem Sofa , winselnd über sein allzu gutes Herz und die Undankbarkeit der Welt , trotzdem daß es bereits all seine Schiebladen , Kasten und Kisten genau durchgesehen hatte und sich der Überzeugung hingehen konnte , Marie Häußler habe den Dienst verlassen , ohne sich an andern Köstlichkeiten als eben dem guten Herzen ihrer Gönnerin zu vergreifen . Ohne den Chevalier und die gnädige Frau würde das arme Weib des Krodebecker Barbiers nicht den geringsten Trost vom Lauenhofe heimgebracht haben ; so aber nahm sie wenigstens die Versicherung mit , man werde nach Kräften für sie sorgen , und was der Chevalier und die gnädige Frau versprachen , das hielten sie auch . Sie brauchten jedoch nicht lange für die Verlassene Sorge zu tragen , denn sie starb an der Schwindsucht und wurde begraben und vergessen . Auch der Meister Dietrich und die schöne Marie wurden vergessen ; wenn auch nicht so bald . Diejenigen , welche das Unglück haben , in die Mäuler der Leute zu geraten , mögen sich damit trösten , daß die Leute sehr beschäftigt sind und ungemein viel mit sich selber zu schaffen haben und daß der größte Skandal in Dorf und Stadt in demselben Augenblick beiseite gelegt wird , in welchem das Schicksal jeden einzelnen stillvergnügten Schwätzer an den Schultern faßt und ihn selber zurechtschüttelt . Man vernahm , daß der Meister Häußler mit seiner Tochter zuerst sich nach Berlin gewendet habe , und natürlich erkundigte jeder , der aus Krodebeck nach der Reichshauptstadt kam , sich nach den beiden Ortsangehörigen . Es gelangten freilich nur wenige Krodebecker nach Berlin , und diesen imponierte die große Stadt so sehr , diese verloren in dem ungewohnten Gewirr und Getümmel so vollständig ihre schlaue ländliche Unbefangenheit , daß ihre Aussagen vor Gericht kaum einigen Wert gehabt haben würden . Die Nachrichten , welche sie heimbrachten , waren so unbestimmt und schwankend und widersprachen einander häufig derartig , daß jedermann alles daraus machen konnte und machte , ohne sich zu überheben , das heißt ohne mit dem Daumen über die Schulter auf jene hinzuweisen , die seit den Tagen der Keilschriftsteller von Babylon und Ninive Weltgeschichte zu unserm Nutzen und Vergnügen zusammentrugen und niederschrieben . So war die schöne Marie in Krodebeck heute eine vornehme Dame , welche in ihrem eigenen Wagen durch die Straßen fuhr und ihren Herrn Vater zum Geheimen Oberhofbarbier am Hof von Schaumburg-Oder-Lippe gemacht hatte ; morgen dagegen war sie eine Lumpensammlerin , und der Papa , der Lump , saß ruhig in Spandau und zupfte Wolle und spann Trübsal . Die guten Krodebecker hatten einen gewaltigen Respekt vor den , Meister Häußler und allem , was zu ihm gehörte . Sie konnten sich eine solide mittlere Le bensstel !ung für ihn durchaus nicht vorstellen , und so hatte er nur die Wahl zwischen der höchsten Höhe und der tiefsten Tiefe des Daseins . Friedrich Wilhelm der Dritte ging nach Charlottenburg und zu seinen Ahnen ; der Professor Krüger malte das unsterbliche Huldigungsbild Friedrich Wilhelms des Vierten , welches der Unendlichkeit gegenüber nur den einzigen Mangel hat , daß es auf der Tribüne im Vordergrund den Meister Dietrich noch nicht mit zur Darstellung bringt . Daß er darauf gehörte , bewies er später zur Genüge , wie wir selber beweisen werden . Für jetzt freilich kam nur die erste authentische Nachricht über ihn nach Krodebeck vermittelst eines Steckbriefes , der ihn in ganz seltsamer Weise mit dem in der Angelegenheit des Erzbischofs von Köln begangenen Dokumentendiebstahl in Verbindung brachte . Wer kann übrigens sagen , auf welche Art dieser Steckbrief in die Amtsblätter kam ? Er tat gewiß Herrn Dietrich Häußler keinen Schaden ; denn schon in der nächsten Woche zeigte der Brave in den nämlichen Blättern an ; es sei ihm nie eingefallen , durchzugehen , und er sei immer noch in Berlin , Große Friedrichstraße Nummer soundso , zu finden für jeden , der ihn aufzusuchen wünsche . Zugleich machte er Anspielungen auf den neukreierten Bischof von Jerusalem , welche ganz heimtückischer Natur waren . Der Exbarbier von Krodebeck hatte seine Verbindungen mit Ober-Lippe ; allein schon im nächsten Jahre übertrug er dieselben nach Hannover , und der mythische Nebel , der bald um alle großen Menschen aufsteigt , zog sich nunmehr immer dichter über ihm zusammen . Immer undeutlicher und deshalb auch immer phantastischer tanzte der Meister Dietrich in dem sonderbaren Dunst und Duft , und als man einmal wieder schärfer hinsah , war er vollständig verschwunden und blieb es für lange Jahre . Man vernahm , er habe sich nach Österreich gewendet , doch ohne die schöne Marie . Heinrich Heine soll sie auf seiner berühmten Reise nach Hamburg im Zuchthaus zu Celle gesehen und mit Entzücken seinen Pariser Freunden von ihr gesprochen haben ; doch dieses müssen wir dahingestellt sein lassen , denn Heinrich Heine besah und besang so manche schöne Damen in so mannigfachen Situationen , daß eine Verwechslung der Persönlichkeiten hier wohl zu entschuldigen ist . Daß Marie Häußler vier Jahre später sich in königlich preußischer Untersuchungshaft befand , ist urkundlich nachzuweisen , ebenso , daß sie aus derselben entlassen wurde , ohne daß der preußische Staat darüber zusammenfiel , und drittens , daß sie in ihre Heimat verwiesen wurde , aber daselbst nicht anlangte . Vom Februar des Jahres achtzehnhundertachtundvierzig bis zur Präsidentschaft , das heißt der Polizeipräsidentschaft des Herrn von Hinckeldey lebte sie zum zweitenmal in Berlin , und zwar mit einem unmündigen Kinde , der kleinen Antonie . Vor dem Herrn von Hinckeldey flüchtete sie im Januar achtzehnhundertfünfzig nach Braunschweig , und von Braunschweig kam sie im Sommer des nämlichen Jahres auf dem Schub heim nach Krodebeck . So spann Lachesis , welche von vielen für die liebenswürdigste und behaglichste der drei sonderbaren Schwestern gehalten wird ! Sechstes Kapitel Wenn der Junker Hennig von Lauen traumlos die Nacht durchschlief , so erwachte er am folgenden Morgen mit einem fressenden Appetit , gleich allen seinen Ahnen . Und da am Frühstückstisch natürlich wieder von dem Ereignis des vergangenen Tages , der Heimkehr der schönen Marie und ihres Kindes , die Rede war , so fiel unter dem Kauen und Schlucken auch dem Junker der Karren mit der kranken Frau und dem kleinen wildäugigen Mädchen ein , und zwar begleitet von jenem eigentümlichen Grauen der Kinder , welches oft so unerklärbar ist und meistens doch viel mehr bedeutet als das Grauen der Erwachsenen . Hier freilich war des Kindes Abneigung und Furcht nicht unerklärlich , und wird an dieser Stelle die passende Gelegenheit gekommen sein , einige Worte über die Erziehung Hennigs zu sagen . Der Einfluß des Vaters auf dieselbe bestand darin , daß der biedere Landedelmann mit großem Erstaunen in die Wiege des Stammhalters sah und seine Verwunderung darüber aussprach , wieviel der Mensch in seinem Leben erleben könne . Hennig hatte nur ein dumpfes Bewußtsein davon , daß ihn ein großer Mann mit großem , wehendem rötlichem Schnauzbart vor sich im Sattel gehalten habe und mit ihm durch den Wald , entlang dem Rande des Waldes und über das Stoppelfeld im vollen Galopp gejagt sei und daß er in Angst und Wonne , schreiend und lachend , umflattert von der schwarzen Mähne des Gauls , die Bäume , die Ackerstiere , die Menschen , die ganze weite Welt mit dem blauen Gebirge in der Ferne , vorüberfliegen sah . Der Tod hatte den braven Herrn von Lauen leider allzufrüh selber aus dem Sattel gehoben , und die Frau Adelheid regierte an seiner Statt auf dem Lauenhofe . Wir wissen bereits , daß sie das Regiment ernst nahm , allein in die Erziehung ihres Sohnes griff sie nur selten , dann aber jedesmal an dem rechten Orte und in der rechten Weise ein . » Munter ! « sprach sie , dem Jungen in den Haarbusch greifend und ihn mit Energie auf den Standpunkt des gesunden Menschenverstandes zurückschüttelnd , wenn der Chevalier oder das Fräulein den » Taps « ihrer Meinung , d.h. der Meinung der gnädigen Frau nach zu hoch von demselben weggehoben hatten . Sie jagte ihn in das kalte Wasser und im Notfalle mit der Haselgerte dreimal um die Mauern des Lauenhofes . Sie war's , welche das Kopfschütteln des Ritters von Glaubigern in Worte übersetzte und der Malteserin damit in den Weg trat : Nun , Frölen , jetzt tun Sie mir die einzige Liebe an und machen Sie mir den Bengel nicht ganz verrückt . Weiß der Himmel , nächstens muß ich ihn noch mit den Hämmeln auf die Weide schicken , damit er nicht verlernt , daß das Gras grün ist und daß der Regen naß macht ! « Der Chevalier stand ihrer Anschaunngsweise am nächsten , und wahrlich , solche Lehrmeister wie er sind sehr selten in dieser erziehungsbedürftigen Welt ! Er hatte den Krieg gesehen und über den Frieden nachgedacht . In Einsamkeit und Stille , in Geduld und Entsagung hatte er an seinem eigenen Wesen wenn auch nicht gebaut und gemeißelt , so doch geschnitzelt und gedrechselt , und damit soll gewiß kein Tadel ausgesprochen sein , sondern das höchste Lob , was einem guten Mann in seiner Lage gegeben werden mag . Ein altes , wunderlich kluges Kind ! Und der Lauenhof , das Dorf Krodebeck und vor allem die Frau Adelheid wußten , was für einen Schatz sie an ihm besaßen , und überlegten es dreimal , ehe sie einem Worte oder Winke von ihm entgegentraten . Selbst seine größeste Widersacherin , das Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin , fürchtete sich im geheimen unendlich vor ihm , wenn es das gleich im gegebenen Falle nur durch höheres Aufwerfen der Nase , kläglichere Seufzer und anzüglichere Bemerkungen kundgab . Der Ritter von Glaubigern hatte viel studiert seit seiner Ankunft auf dem Lauenhofe . Er hatte seinen Sinn darauf gesetzt , zu erfahren , wie es eigentlich bei den Römern zu Hause aussah , und er hatte wirklich Latein gelernt , und zwar nach Johann Amos Comenius . Er hatte alle seine Wissenschaften nach dem Rezept des alten berühmten Rektors von Lissa zusammengetragen , und er gab sie nach demselben Rezepte wieder von sich ; die Herren von der Domschule zu Halberstadt konnten freilich nachher die Hände über den Köpfen zusammenschlagen , als der Junker von Lauen in ihre Lehre geriet . Die Bilder fanden sich überall , im Hause und draußen und zu jeder Zeit , und der Kommentar fand sich ebenfalls am Rande ein , wie in jenem wunderlichen lateinischen Orbis pictus , den selbst die Türken , Perser , Araber und Mongolen seit 1641 handschriftlich weitergaben . Wenn von dem Gebirge her die Schneewolken sich über das flache Land wälzten ; wenn die Wetterfahnen des Lauenhofes wehklagend sich im Kreise drehten ; wenn die Schornsteine mit Stimmen begabt wurden , die lebhaft an die Hexentänze des Blocksbergs , der so nahe in die Fenster guckte , erinnerten ; wenn der Regen der Tagundnachtgleiche über den Hof , durch das Dorf und über die Felder in Stößen fuhr ; wenn im Walde die ersten Anemonen und Leberblumen aus dem welken Laub unterm Gebüsch aufsahen und wenn der Wald so grün stand , wie das freudigste Kinderherz nur irgend verlangen konnte : so – hatte das alles stets seinen besondern Zusammenhang mit dem alten Comenius , und der Chevalier verfehlte nicht , den Finger an die Nase zu legen und diesen Zusammenhang ernstlich hervorzuheben . Der Comenius war für alles brauchbar , nur nicht für das Fräulein von Saint-Trouin . Dieses zog seine Weisheit und Lehrhaftigkeit aus anderen Quellen und ließ sie über die junge Seele des junkers laufen trotz der Dämme , welche der Ritter wehmütig , kläglich und bescheiden dagegen zu errichten beflissen war . In der Politik wie in der Pädagogik begegneten sich der Chevalier und das Fräulein wie Mystax und Peccadillo bei einem Knochen . Wenn jener , d.h. der Herr von Glaubigern , die reichsunmittelbare Herrlichkeit des Rittertums im westlichen Deutschland und vorzüglich in seinem Stammlande Westfalen für die Krone auf dem Tempel der Weltgeschichte hielt , so setzte das Fräulein den großen König Ludwig den Vierzehnten als alleinigen wahren Gott in diesen Tempel und berief sich auf dieselbe Memoirenbibliothek , aus welcher es zugleich in seiner Weise die Erziehung Hennigs mitleitete . Diese Memoiren haßte der Ritter , und die gnädige Frau Verachtete sie . Letztere – deren allergrößester Stolz und allerherrlichste Familienzierde jener bei Zorndorf gefallene Oberstleutnant Von Lauen war , der sich durch diesen Fall die ganze Approbation des Alten Fritz erwarb – half sich durch ein erhöhtes Geklapper ihres Schlüsselbundes gegen den großen Louis . Der Ritter , welcher als feiner Kavalier nie vor den Damen mit irgend etwas klapperte , fand sich ziemlich wehrlos gegen denselben , zog nur im verborgenen die Achseln in die Höhe und sagte Bah ! im geheimen . Auf diese Interjektion hin sah der junge Hennig den treuen Mentor fragend an , aber der Chevalier warf sich jedesmal mit entsagungsvoller Energie auf die Historie vom Herzog Wittekind und trieb ihn nebst seinen Sachsen melancholisch in die Enge und in die Weser . Dem jungen Hennig wurde erst ziemlich spät klar , was jenes Bah bedeutete , aber auch dann sah er freilich lange nicht vollständig ein , wieviel Philosophie der Geschichte darin verborgen lag . Das Grauen , von welchem im Anfange dieses Kapitels die Rede war , wurde diesmal einzig und allein durch die Prätendentin des oströmischen Kaiserthrons in die junge Seele gepflanzt . Adelaide verspürte es ja selber vor vielen Dingen und Verhältnissen , die verständigeren Leuten nur merkwürdig , achtbar , beklagenswert oder gleichgültig erscheinen können . Adelaide stand viel zu hoch , um die Welt zu nehmen , wie sie war , und da sie also naturgemäß in recht ungemütlicher Verlassenheit wandelte , so suchte sie andere zu sich emporzuziehen , sei's , um eine Kammerjungfer der Vergangenheit , sei's , um den Kavalier der Zukunft für diese tief gesunkene erbärmliche Welt heranzubilden . Im Winter behielt der Chevalier gewöhnlich die Oberhand im pädagogischen Wettstreite . Die lieblichere Zeit des Jahres war , dem alten Comenius zum Trotz , selbstverständlich auch die Zeit der lieblicheren Belehrung . Da wurde allerdings dann dem Kinde vieles klargemacht , was dem Herrn von Glaubigern in alle Ewigkeit dunkel blieb , und umgekehrt wurde manches in Nebel und Dunst gehüllt , was der Ritter eben erst mit vieler Mühe dem Kinderkopfe in ein helle res Licht gerückt hatte . Wenn der Herr von Glaubigern auch das Bewußtsein des Standes und des durch den Stand bedingten Interesses im höchsten Grade besaß , so war er doch zu verständig und billig , um nicht einzusehen , daß die Welt sich doch nicht ganz seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zum Schlechten verändert habe . Trotz aller Sehnsucht nach verlorenen bessern Zuständen konnte er auch den gegenwärtigen Tag gelten lassen und hielt es unter seiner Würde , die Gegenwart durch jenen bekannten , mehr oder weniger geschickt und feierlich verhängten Standesegoismus hinter das Licht zu führen . Er konnte sich immer noch an der Lebendigkeit , der Bewegung des Tages freuen , und wo er ihn nicht mehr verstand , da suchte er den Widerspruch lieber im stillen zu verdauen , als daß er sich mit seiner harmlosen Umgebung in einen zwecklosen und unfruchtbaren Kampf darüber eingelassen hätte . Er sagte sich , daß von Krodebeck aus die Weltenuhr sich wahrscheinlicherweise nicht vor- oder zurückstellen lassen werde , und verdiente somit die Verachtung des Frölens im vollsten Maße . Mit Verachtung blickte das Frölen selbst auf den Kürassierharnisch , welchen der gute Ritter bei Ligny trug und über welchem er mit so heißen Tränen die Arme gekreuzt hatte , als er in der Nacht verwundet auf dem Schlachtfeld lag und der Rückzug seines Volkes an ihm vorüberrauschte . Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin , Gräfin von Pardiac und allen möglichen und unmöglichen andern Grafschaften , hielt es unter allen Umständen für ihre Pflicht , selbst da nein zu sagen , wo niemand verlangte , daß sie ja sage . Einmal in jedem Jahre wallfahrtete sie sicher nach Blankenburg , um auf dem Schloß und am Fuß der Teufelsmauer eine stille Andacht zu halten . Auf dem Schloß hatte ja Seine geheiligte Allerchristlichste Majestät der König Ludwig der Achtzehnte , leider recht bescheiden , selbst hofgehalten , und an der Teufelsmauer zeigte man eine Felsenfratze , welche dem dicken Herrn wie aus dem Gesichte geschnitten war und die bourbonische Nase sowie das bourbonische Kinn in wahrhaft genialer Weise zur Schau trug ; wobei übrigens die Bemerkung gestattet sein wird , daß man in Deutschland kaum eine größere Felsenpartie bereisen kann , ohne daß die Reisehandbücher und die Führer aus der bourbonischen Physiognomie Kapital schlagen : vorzüglich in Gegenden , wo der Sandstein vorherrscht . Vor dieser Blankenburger Felsennase betete das Fräulein im vollsten Sinne des Wortes an und versank in eine Verzückung , welche den Schwarzen braunschweigischen Jägeroffizieren , die es zuerst auf das loyale Naturwunder aufmerksam gemacht hatten , großen Spaß bereitete . Daß der junge Hennig von Lauen sehr bald an diesen Wallfahrten teilzunehmen hatte und auch ein großes Vergnügen dran fand , war vorauszusehn . Es wurde ihm der Glaube an noch ganz andere Wunder zugemutet , und da er sich in jener Lebensepoche befand , in welcher man vorzüglich gern an alles Wunderliche und Wunderbare glaubt , so hatte er häufig einen größern Genuß davon als von dem grimmigen Amos Comenius , jedoch nicht immer . Den ausgezeichneten Jüngling Télémaque zum Beispiel haßte er viel ausbündiger als den Comenius . War aber nicht der Klang der Fanfaren und Pansflöten von Marly und Versailles am Fuße dieser Harzberge ein Wunder , welches die junge Seele mit Lust und Behagen erfüllen mußte ? Mit Begeisterung folgte Hennig dem Ritter von Glaubigern auf die wirkliche Hasenjagd ; allein der barocke Zauberspuk des achtzehnten Jahrhunderts , welchen Adelaide heraufzubeschwören wußte , hatte gleichfalls seine innigen Reize . Ehe der Junker von Lauen die ersten Hosen aufgetragen hatte , war er zeitweise vollständig in einen Kreis gebannt , um welchen der Chevalier ängstlich genug herumtrippelte und von welchem aus er , d.h. Hennig , vorzüglich jenes ekle Grauen vor den ungewaschenen , lärmenden Erscheinungen der Wirklichkeit – das Grauen der Unmündigen und – der verzogenen und verzärtelten Erwachsenen empfand . Mit Ekel , Abscheu und ohne die geringsten Gewissensbisse hatte sich das Fräulein von Saint-Trouin von dem Elendskarren der einst so schönen Marie Häußler und ihrem armen Kinde abgewendet ; Furcht und Ekel erweckte das Bild dieser drei » Gegenstände « dem Junker von Lauen am Frühstückstisch auf dem Lauenhofe . Sogar die Neugier , welche das kindliche Alter allen Dingen entgegenträgt , wurde hier durch die Furcht überwogen , und mit heftigem Mißbehagen horchte der Knabe auf das , was die Mutter und der Ritter über die Leute im Siechenhause zu sagen hatten , während das Fräulein appetitlos , mürrisch-weinerlich dasaß und in allem , was gesprochen wurde , eine tiefe Kränkung seiner eigenen Persönlichkeit fand . Der Herr von Glaubigern und die Frau Adelheid nahmen allerdings auf die Gefühle und Anschauungen des Fräuleins keine Rücksicht . Der Chevalier setzte auseinander , was geschehen könne , um die Aufregung des Dorfes Ober die heimgekehrte Gemeindegenossin so schnell als möglich zu verwischen . Er sprach sehr nüchtern von den Bauern von Krodebeck und gab sich darüber keinen Täuschungen hin ; allein er sprach jeden falls wie ein guter Mann , der ein unter seinen Augen begangenes Unrecht , welches er nicht verhindern konnte , nach Kräften auszugleichen bestrebt ist . Daß er bei seinen Vorschlägen und Ratschlägen nicht die Malteserin ansah , sondern lieber seinen Teller , war sicherlich ebenfalls ein Zeichen eines gutmütigen und feinfühlenden Herzens . Die gnädige Frau blickte auf den grauköpfigen braven Hausgenossen mit den hellsten , glänzendsten , freundlichsten Augen und nickte von Zeit zu Zeit vergnügt in seine Worte hinein . Als er aber geendet hatte , knüpfte sie ihre Schürzenbänder fester , schüttelte sich in ihren Röcken zurecht und rief : » Man muß eben sein Bestes tun ! « Dann nickte sie auch dem Fräulein zu und sprach , durchaus nicht die Rücksichten des Chevaliers nehmend : » Was machen Sie denn eigentlich wieder für 'n Gesicht , Frölen ? Herrgott und alle Klagelieder Jeremiä , eine Ananas haben Sie damals nicht aus der Krodebecker Gurke gezogen ; aber – aber nun heulen Sie nur nicht ! Ich will ja gern Abbitte tun , wenn ich zuviel gesagt habe ! – Ach du liebster Himmel , da geht sie wieder hin ! « Da ging sie wirklich wieder hin mit dem Taschentuch vor den Augen , schwankend und stöhnend wie die Clairon in der Rolle der Phädra . Den Junker von Lauen hatte sie am Handgelenke gepackt und zog ihn hinter sich her . Belfernd und kläffend folgte Peccadillo ihr , während Mystax mit Bedacht auf ihren Stuhl sprang und mit ruhiger Würde sich der gnädigen Frau und dem Chevalier gegenüber niederließ . Nun bitt ich Sie , Glaubigern ! « sagte die Frau Adelheid und fügte nach einigen Augenblicken hinzu : » Alter Freund , lassen Sie mir den Jungen nicht aus den Augen ! « Siebentes Kapitel Wir haben bis jetzt mit dem Fräulein von Saint-Trouin und dem kleinen Hennig nur von der Landstraße aus in das Fenster des Krodebecker Siechenhauses gesehen und haben also noch über einiges zu reden , was sich am vorigen Abend hinter den erblindeten Scheiben begab . Der » Homeister « , welcher unter der Oberaufsicht der gnädigen Frau eine zweite Bettstatt in der Hütte aufschlagen mußte , hatte sich entfernt mit seinem Handwerkszeug . Die gnädige Frau hatte der schönen Marie noch einmal das Kopfkissen zurechtgezogen und sich sodann gleicherweise mit dem Herrn von Glaubigern entfernt . Sie hatte die neugierigen Gaffer vor der Tür auseinandergejagt , und es war still in der Hütte geworden ; – die alte Erbherrin und Burgfrau des Siechenhauses von Krodebeck fand sich zum erstenmal mit ihren neuen Hausgenossen allein , saß im Winkel und starrte auf das Bett . Marie Häußler hatte die Decke über den Kopf gezogen ; das Kind kauerte neben dem Bette auf dem Erdhoden und starrte auf die Alte . Krieg oder Frieden ? Die Atmosphäre war dumpf , schwül und drückend wie vor allen größern Auseinandersetzungen , sei 's zwischen zwei dummen nichtsbedeutenden Weibsbildern oder zwei klugen mächtigen Nationen ! Diese Auseinandersetzung mußte kommen , und sie begann in einer höchst drolligen , aber durchaus bezeichnenden Weise . Wie ein Käfer , der in einer gefährlich erscheinenden Situation wieder Mut faßt , regte die Alte allmählich wieder Glied um Glied . Wie eine Henne , über welche der Habicht hinrauschte , zog sie den Kopf wieder unter dem gesträubten Flügel hervor . Leise und scheu streckte sie den Hals aus ihrem Winkel vor und wiegte immer schneller den Oberkörper hin und her . Sie stöhnte laut und unterbrach sich dabei , nach dem Bett hinhorchend ; und als ihr Seufzer von dem Lager her ein Echo fand , erhob sie sich und stand gebückt , wiederum lauschend . Sie hielt die Hand an das Ohr , und das Kind , welches sich immer mehr vor ihr fürchtete , fing an zu weinen , an zu schreien . Die Alte richtete ihre Aufmerksamkeit von der Mutter auf das Kind und murmelte ununterbrochen durch zwei Minuten : » Oje , oje , oje ! « Es dauerte zwei volle Minuten , ehe sie in jenes Stadium übertrat , in welchem der Käfer anfängt , seine Fühlhörner zu putzen und zu » zählen « . Dieses Stadium fand endlich seinen Ausdruck durch die Interjektionen : » O du lieber Gott ! O Gott , Gott , Gott ! « Im dritten Stadium entfaltet der Käfer seine Flügel decken und schnurrt davon , die Henne schüttelt sich und gackert hell auf ; die alte Burgfrau im Siechenhaus aber , von einem ganz außergewöhnlichen Entschluß , von einem von Thor und Wodan zu gleicher Zeit gesandten Mut ergriffen , fuhr mit einem Kamm auf das angstvolle Kind los , packte es mit ihren knöchernen Händen , zog es trotz seines Widerstrebens zwischen die Knie und fing an , es mit gespanntestem Nachdruck zu kämmen . Die Lage der Dinge hatte sich mit einem Schlage geändert . Der Standpunkt für den fernern Verkehr war auf die natürlichste Weise gewonnen . Auf das Geschrei des Kindes hob Marie ein wenig die Decke vom Gesicht , um zu sehen , was vorgehe , sagte jedoch nichts und sagte auch nichts , als die Alte , nachdem sie ihr Werk vollendet hatte , die kleine Antonie zu dem Stuhl am Fenster führte , um ihr das heimkehrende Dorfvieh zu zeigen . Die Sonne war nunmehr untergegangen , und die Glocken der Kuhherde ertönten bereits in der Ferne . Antonie stand wieder zwischen den Knien der Alten , doch jetzt ohne Zwang ; die alte Frau wie das Kind warteten beide mit gleicher Spannung auf die Heimkehr des Viehs , und wenn wir den guten Gebrauch , jeden Abschnitt durch eine passende Überschrift zu bezeichnen , in diesem Buche zur Anwendung bringen wollten , so würden wir über dieses Kapitel die Worte : Das liebe Vieh ! setzen und mehr als einen Grund dafür bereit haben . Ein recht schöner Grund lag zum Exempel schon in dem plötzlichen Angriff mit dem Kamm auf den verwilderten Kinderkopf ; allein das war , wie gesagt , nicht der einzige . Die Alte , welche den Menschen wenig Dank schuldete und noch weniger Zutrauen , besaß eine große und innige Neigung für das Vieh und stand mit demselben auf dem allerbesten Fuße , vorzüglich soweit es , in Herden versammelt , am Morgen und am Abend an der Tür des Armenhauses vorbeizog . Sie hatte nicht den geringsten Teil daran und sah deshalb gewöhnlich ganz philosophisch unbefangen in das Getümmel ; und da der Stall , die Weide und die Schlachtbank nicht nur im Leben der Tiere , sondern auch im Menschenleben ihre Rolle spielen , so kann man wohl über das » liebe Vieh « und seine Geschicke die merkwürdigsten philosophischen Betrachtungen anstellen . An diesem Abend jedoch sah Hanne Allmann nicht unbefangen dem Heimzug ihrer Freunde zu . Sie saß und hielt sich die Stirn mit der Hand und wiederholte immerfort : » Das liebe Vieh ! Das liebe Vieh ! « Sie zogen alle vorbei . Zuerst die beredsamen Gänse , die Glück bedeuten , wenn man ihnen begegnet auf dem Wege . Sodann die zappelhaften , dummunruhigen Schweine , welchen man nicht begegnen soll , wenn man es irgend vermeiden kann , da sie Verdrießlichkeit . Hader , Zorn und Unglück anzeigen . Es kamen , geführt vom gewaltigen Dorfbullen , die stattlichen Kühe mit den Rindern und Kälbern , und den Beschluß machten die dummen , aber sehr viel Staub aufwühlenden Schafe samt den nervösen Ziegen . » Das liebe Vieh ! Das liebe Vieh ! « Verschiedene der Tiere kamen als nähere Freunde an das alte Weib heran , um es mit den feuchten Schnauzen anzublasen oder ihm die Hand zu lecken , die es ihnen aus dem Fenster hinhielt : » Guten Abend , Hanne ! Guten Abend , Hanne Allmann . Wie ging es den lieben langen Tag über ? Und was für zwei junge , unbekannte Augen hat Sie da bei sich ? « Das Kind schlug die Hände zusammen und fragte , ob das an jedem Abend so sei ; und Hanne Allmann – sie hatte wunderlicherweise wirklich auch einen Namen ! – strich der Kleinen freundlich über die gekämmten Locken : freilich sei das so , vom Frühjahr bis in den späten Herbst . Da lachte Antonie und meinte , das sei schon recht , und die Alte lächelte auch . » Ja , es ist schon recht ! « sagte sie . » Siehst du , das ist des Vorstehers vornehme Schwarze , die kommt aus einem fernen Lande , ist allmächtig berühmt wegen ihrer Herkunft und kommt doch alle Abend und grüßt und nimmt nichts dafür , daß sie das alte Bettelweib im Siechenhaus kennt . Da ist Ulenbrinks Blesse , die ist auch aus einem reichen Hause , und da kommt des Barbiers Scheckichte , die ist die Schönste und Klügste in der ganzen Herde – « Die Alte fuhr schreckhaft zusammen und blickte schnell und verstohlen nach dem Bett hinüber . Die Ideenverbindung hatte trotz aller Tragik etwas unendlich Komisches ; doch die schöne Marie war zu krank und elend , um die Komik oder die unwillkürliche Beleidigung zu fühlen . Aber sie verkroch sich wieder tiefer unter ihrer Decke und fürchtete sich vor der alten Hanne Allmann schrecklich und nicht ohne Grund , soweit es das eigene böse Gewissen betraf . Von allen Krodebecker bösen Kindern hatte sie in ihrer Jugend der verachteten Bewohnerin des Siechenhauses die ärgsten und abgefeimtesten Possen gespielt , die schlimmsten Schimpfworte nachgerufen . Und sicher hatte sie gewußt , daß sie das klügste Kind im Dorfe sei , und deshalb in allen Boshaftigkeiten die übrigen angeführt . Außer dem Dorfbüttel , welcher zugleich den Armenvogt von Krodebeck vorstellte , fürchtete Hanne Allmann das hübsche Kind des Barbiers Häußler am meisten . Das war nun vor ihrer Tür abgeladen worden ! Das sollte von nun an mit ihr unter demselben Dache wohnen ! Zu Ende war die kurze Ruhestunde , der armselige verlorene Frieden ; – die alte Unruhe , der alte Lärm und Schmutz , die alte Unzucht richteten von neuem ihr Reich in dem Siechenhause von Krodebeck auf ! O es war , um sich unter die Erde in die letzte Ruhe , in den letzten Frieden – in den feuchtesten , schlechtesten Winkel des Kirchhofes , unter die Nesseln , welche der Totengräber in der Mauerecke aufhäufte , hinabzuwünschen ! – Das liebe Vieh ! Ach ja , das liebe Vieh ! Schreckhaft war Hanne Allmann über ihr unbedachtes Wort zusammengefahren ; doch sie mochte sich beruhigen : das kluge Kind des Barbiers war nicht mehr imstande , so feinen , wenn auch unwillkürlichen Spielen des Witzes zu folgen . Marie Häußler konnte nur noch das Allergemeinste , das Allergewöhnlichste , das , um welches auch die Dümmsten und Einfältigsten lachen und zittern , in Sinnen und Gedanken begreifen und festhalten . Sie wendete sich mühevoll auf die Seite , sah auf die beiden am Fenster und rief weinerlich : » Hanne ! – Hanne Allmann ! « » Ja , was , Marie ? « » Da bin ich ! « sagte die schöne Marie . » Oh ! Ja , da bist du « , sagte die Alte und versuchte vergeblich , zu lächeln . Marie Häußler lachte , und ihr Kind , welches glaubte , es sei etwas zum Lachen vorhanden , lachte auch ; aber Hanne Allmann wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn . Es entstand wieder eine Pause in der Unterhaltung , bis die Alte es nicht länger aushielt und sich zu der Bemerkung aufraffte : » In Krodebeck läßt es sich auch leben ! « Da griff die schöne Marie im höchsten Fieber , in Wut und Angst ihre Bettdecke mit beiden Händen , als müsse sie etwas zerreißen . » Und sterben läßt es sich auch da , und das ist das beste ! He , alter Uhu , alte Hanne , wo sind die Maulschellen , die Ohrfeigen , welche du mir einst versprochen hast ? Jetzt könntest du die alten Schulden zahlen ! Komm heran , schlage mich – komm , schlage mich tot ! Jawohl , du mußt es wissen , wie es sich in Krodebeck leben läßt ! « Jetzt lachte die kleine Antonie nicht mehr , sondern zeterte hellauf . » Mein Kind ! Mein Kind ! « rief die Mutter . » Hanne Allmann , das ist mein Kind , und es und mich haben sie auf dem Schinderkarren nach Krodebeck geschleppt , und es soll da leben , und ich soll da sterben . Hanne Allmann , vergib mir ; ich kann in meinem Leben nicht wieder in der Gasse hinter dir herrufen . Vergib mir ! Schlage mein Kind nicht ! Schrei es nicht an ! Um Jesu Christi willen , ich bitte dich um Vergebung ! « Für einen anständigen Menschen gibt es nichts Unangenehmeres , als um Verzeihung gebeten zu werden . Die braven Leute werden in solchen Fällen ungemein nervös dem Bittenden gegenüber . Sie liefen am liebsten weg , um dieser heißen Hand , die ihnen nach der Gurgel greift , zu entgehen , und sie fühlen einen Druck auf der Seele , ein vages Schuldbewußtsein , welche ihnen den Standpunkt in jeder Weise verrücken . Der arme Sünder weiß dies gewöhnlich ganz klar und nimmt , seiner Last erledigt , seinen Standpunkt vollkommen danach . Edlen Leuten , die sich mit Vergnügen um Verzeihung bitten lassen , braucht eigentlich niemand , und sei es der ärgste Bösewicht , dieses Vergnügen zu bereiten . Hanne Allmann , welcher der Fall zum erstenmal in ihrem Leben begegnete , geriet außer sich . Es wurde ihr schwarz vor den Augen , sehr schwarz ; sie seufzte , sie stöhnte , und jeder dritte Physiognomiker hätte voraussagen dürfen , daß sie sich im nächsten Augenblick auf die schöne Marie stürzen würde , um die verspätete Züchtigung vollkräftig nachzuholen und zum Anfang wenigstens ihr die Augen auszukratzen und die Haare auszuraufen . Wir aber wissen , daß dies nicht der Fall sein konnte , sondern daß sie jetzt nur noch etwas tiefer in sich die ganze Kleinheit des armen Geschlechtes der Menschen verspürte . Sie hob das Kind von dem Schemel am Fenster herab und humpelte , die Hand desselben haltend , zu dem Lager der Kranken , sah ihr zum erstenmal genau und ohne zu zucken in das Gesicht , setzte sich neben dem Bette nieder und sagte : Sei nur still , Marie . Jag einem nicht solch einen Schrecken ein ; – wir wollen schon miteinander auskommen . « Und weil sie so ein altes Weiblein war , das stets ganz allein und ganz zuunterst in der Weltgeschichte gelebt und seine einzigen und besten Freunde unter dem lieben Vieh hatte , so wußte sie wirklich und wahrhaftig nichts weiter zu sagen . Nachher brachte sie ganz leise die kleine Antonie zu Bett und kroch selber unter ihre Decke und wartete die ganze Nacht mit einem sonderbaren Summen und Singen im Gehirn auf eine große Erleuchtung . Es kam aber nur mit dem neuen Morgen eine Vision ; doch auch diese war nicht zu verachten unter so bewandten Umständen . Achtes Kapitel Mancherlei , und zwar seit uralten Tagen , wußte das Dorf Krodebeck und mit ihm das Siechenhaus von den Leuten zu erzählen , die von dem Gebirge zu ihnen niederstiegen , und das Siechenhaus hatte vielleicht die meisten und wunderlichsten Sachen berichtet , wenn Türen und Wänden die Zungen gelöst werden könnten . Bergleute und Vogelhändler , Kienrußhändler und Kohlenhändler , Jäger und Spielleute zogen durch den Ort und hielten , und zogen durch und hielten an seit mehr als tausend Jahren . Ihr Weg ging meistens immer weit nordwärts und den großen und reichen Städten der Ebene zu , ja oft sogar über das Meer hinaus zu den fremden Völkern , und ganz selten ohne Zweck und Grund . Es schlägt manch ein Fink in der Stadt London , welcher am alten Brocken aus dem cheruskischen Nest genommen wurde , und manch ein munterer Kanarienvogel singt vor ausländischen Ohren das Lied , welches ihm zu Zellerfeld und Andreasberg vorgepfiffen wurde . Wie die Singvögel reisen aber auch die Bäume . Bis hoch hinauf oder vielmehr tief hinab an den Strand der Ostsee und die Nordsee entlang flammt die herzynische Tanne am Weihnachtsfest . Harzknaben führen sie bis zur Eisenbahnstation , und der Dampfwagen bringt heutzutage den Kindern in Stettin die Freude und Poesie ihrer schönsten Feierstunde . Die Krodebecker sehen die Vögel und die Bäume vorüberziehen , und wenn die Träger , die Wagen und Schlitten vor dem Kruge anhalten und die klugen und unternehmenden Handelsleute sich durch einen Trunk für das fernere gute oder böse Wetter stärken , so erkundigen sie sich gern nach dem Wetter und den Wegen » da oben « bei den Leuten und geben ihnen vielleicht auch , wenn sie recht guter Laune sind , ein freundlich Wort mit auf die Reise . Was aber durch Krodebeck nordwärts zieht , das muß an dem Siechenhause vorüber , und die meisten aus dem fahrenden Volk haben eine Neigung , ein Verständnis , ja manchmal sogar durch die Verwandtschaft daheim eine gewisse brave , aber klägliche Achtung für dasselbe . Die meisten stehen in einem viel abhängigern , erniedrigenderen Verhältnis zu dem Siechenhaus als das liebe Vieh , welches gleichfalls daran vorüberzieht . Übrigens , wenn in früheren Zeiten das Gebirge unheimliche , schlimme Gesellen : Schafdiebe , Wilddiebe und Diebe und Räuber , die womöglich alles mitnahmen , in die Ebene herniederschickte , so sieht auch der heutige Tag und die Nacht , welche demselben folgen wird , sonderbares Volk genug , welchem der Bauer trotz der guten Polizei , trotz Kirche und Schule nicht über den Weg traut und welchem auf den einsameren Gehöften kein Hausvater gern ein Nachtlager in seiner Scheune oder auf seinem Heuboden gestattet . Auch in dieser Hinsicht könnten die Wände des Siechenhauses von Krodebeck von manchem späten Gast erzählen , der verstohlen hinter den Hecken und Zäunen heranschlich , leise pochte oder pfiff und zu jeder Stunde der Nacht Einlaß erhielt , ohne daß der Baron , der Pfaff oder der Bauernvorsteher vorher Wanderbuch und Paß , die Moral und die Taschen visiert und visitiert hatten . Das war auch noch zu den Zeiten der Hanne Allmann vorgekommen . Wie die Wände hätte das alte Weib davon erzählen können , welchen kuriosen Besuch der lahme Peter , die blinde Kölkenbecksche und der Trippel-Brand bekamen und was für ein gutes und nahrhaftes Leben es dann und wann im Armenhause gab . Da brotzelte freilich mancherlei auf dem Jammerherde , was in einen andern Topf oder an einen andern Spieß gehörte , und zu manchem wackern Trunk kam das Siechenhaus nicht auf dem richtigen Wege . Die Alte im Siechenhaus spricht sowenig davon als die Wände . Sie duckte sich damals , wenn es draußen im Nebel und der Finsternis pfiff oder wenn es am Fenster kratzte und hustete , scheu nieder und verkroch sich unter ihrer Decke . Wenn jedoch die Tür sich wieder hinter dem späten Besucher geschlossen hatte und der heimliche Jubel oder Geschäftsaustausch anhub , dann verstopfte sie beide Ohren mit den Händen , um sowenig als möglich von den Verhandlungen , den Zoten und Schelmenliedern zu vernehmen . Sie hörte trotz der verstopften Ohren genug davon , um das Dorf , die Pfarre und den Gutshof durch Kundmachung in die größeste Aufregung zu versetzen ; allein niemand durfte es ihr verdenken , daß sie nichts davon laut werden ließ ; weder vor Junker , Pfaff und Bauerschaft wäre das nicht ohne Gefahr und gewißlich nicht ohne die beschwerlichsten täglichen und stündlichen Martern , Unbequemlichkeiten , Quälereien und Kränkungen für sie abgegangen . Und jetzt – in den ruhigeren Tagen und seit der Zeit , in welcher sie allein das Armenhaus bewohnte , hatte es für sie weder Sinn noch Nutzen , die alten Geschichten wieder aufzurühren und andern Leuten zum Spaß oder zur Verwunderung das vergangene Gruseln und den alten Ekel wachzurufen . Ebensowenig , doch aus einigen andern Gründen dazu , sprach Jane Warwolf , die jetzt , das heißt seit drei Uhr morgens , im Anmarsch auf Krodebeck war , von den alten Geschichten und vergangenen Zeiten , es müßte denn sein im größesten Vertrauen und im heimlichsten Zusammenhocken mit Hanne Allmann . Um die Zeit , in welcher die Gutsfrau auf dem Lauenhofe aus dem Bett fuhr , fuhr auch die Frau im Siechenhause aus dem einzigen Schlummerstündchen auf , das ihr in dieser Nacht zuteil geworden war und in welchem sie eine Vision von einem alten grauen Unterrock , aus dem sich vielleicht ein Unterröckchen für das Kind der schönen Marie machen ließ , gehabt hatte . Die abbröckelnden Wände der Hütte hätten kaum von einem behaglichern und zugleich leichter in die Wirklichkeit zu übertragenden Traum berichten können ; doch die Wirklichkeit kratzte längst schon wie ein verhungernder Hund an der Tür , und lange ehe der erste Sonnenstrahl über den Horizont schoß , war Hanne Allmann auf aus dem Stroh und in den Kleidern . Die schöne Marie schlief um diese Zeit zuerst ruhiger , während das Kind , welches sich durch nichts hatte stören lassen , ruhig weiterschlief . Unhörbar schlich das Mütterchen umher , die armselige Ausstattung der Wohnung in Ordnung zu bringen . Erst als dieses geschehen und für jetzt nichts mehr zu schaffen war , warf sie einen Blick aus dem Fenster in die stille Frühe und auf die dämmerige leere Landstraße nach beiden Seiten hin , doch ohne das Fenster zu öffnen . Leise kam sie sodann zurück und sah auf die beiden Schlafenden , auf die wegemüden Wanderer , die das Schicksal von dieser staubigen grauen Straße in ihr betrübliches , dumpfes , enges Reich geworfen hatte . Sie blickte von der Mutter auf das Kind und wog Tod und Leben wie je eine Norne unter dem Zeitenbaum am Urdarborn . Jetzt war sie wieder allein , ungestört und ruhig . Die Zweige und Blätter der großen , geheimnisvollen Wunderesche rauschten leise ob ihrem Haupte , und die Verheißung einer noch tiefern Ruhe , eines noch tiefern Friedens war in diesem Rauschen . In dieser stillen Stunde überwand sie den großen Schrecken , die schlimme Angst in ihrer Seele vollständig und gewann einen Sieg , dessen sich kein noch so berühmter Held hätte zu schämen brauchen : sie trat ein für das Leben , wie schwer ihr Wunsch sie auch nach der andern Seite hinüberziehen mochte . » Oje , was lacht das Kind im Schlaf ? « murmelte sie . » Guck einer , dem ist 's noch einerlei , wohin es die Welt schob und was aus ihm werden mag . Ei , ei , hat das der liebe Gott noch auf meine alten Tage mit mir im Sinne gehabt ? Guck , Hanne Allmann , das hättest du gestern um diese Zeit wohl nicht gedacht , daß er dir vor deinem End noch einen Sarg und eine Wiege zu versorgen geben würde . « Sie hatte vorhin in der Hast ihre Strümpfe umgewendet angezogen und schob 's zum größten Teil darauf , daß ihr die Sache jetzt so leicht erschien ; aber was auch die Meinung der Nation darüber sein mag , wir haben jetzt von dem größern Trost zu berichten , der nun vom Harz her heranmarschiert war , und zwar unter einer Form und Gestalt , welcher die meisten scheu ausgewichen wären . Mit dem ersten Strahl der Sonne , als auch das Dorf sich schon regte , doch der Tau noch in voller Frische an Blatt , Gras und Spinngeweb haftete , klopfte dieser Trost an das Fenster des Siechenhauses und sah hinein – ein braun , runzlig Altweibergesicht , mit Stoppeln um das Kinn und Stoppeln um die Mundwinkel , gefurcht gleich einem übelgepflügten Ackerfeld , mit schneeweißen Augenbrauen , doch vollem , rotbraunem Haupthaar , das nach cheruskischer Sitte nach dem Hinterkopf hinübergezogen und in einen Knoten geschlungen war , mit grauen tiefliegenden Augen , die früher noch schärfer gesehen haben mochten , aber auch jetzt noch jedenfalls ihren Weg klar vor sich sahen ! Dieses war Jane Warwolf , und als die Alte in der Hütte ihr Gesicht am Fenster erblickte , verklärten sich ihre Mienen , und mit einem Ausruf der Freude humpelte sie wieder dem Fenster zu . » Glück auf , Hanne ! « rief die Alte draußen , ungeduldig einen kurzen Wirbel an den Scheiben trommelnd . » Still , Jane , sie schlafen ! « flüsterte Hanne Allmann mit einem Blick über die Schulter auf die schöne Marie und das Kind . Im nächsten Augenblicke stand sie vor der Tür , und wie die eine Hexe nun der andern die Hand schüttelte und die Zahnstumpfen zeigte , da mochte die rote Morgensonne ihre helle Freude an den beiden haben . Die wandernde Frau war vielleicht nur um zehn Jahre jünger als die Frau aus dem Siechenhause , allein obgleich sie jetzt unter einer schweren Last gebückt stand , so sah man doch , daß sie sich in jedem Augenblick hoch genug aufrichten konnte . Und obgleich sie sich schwer auf den hohen Weißdornstock mit der künstlich geschnitzten Knopffratze stützte , so unterlag's doch nicht dem geringsten Zweifel , daß sie im Notfall mit ebendiesem Stabe tüchtig dreinschlagen würde . Auf dem Rücken trug sie ihre Harzkiepe voll hölzernen Geschirrs , voll Löffel und Teller und Kinderspielzeug und trat damit jedermann frei unter die Augen . Auf dem Grunde des Tragkorbs jedoch führte sie einige Flaschen , welche sie bedächtig den Augen der hohen Medizinalbehörden entzog . Sie enthielten sehr gesunde Tränke , erprobt seit Jahrhunderten gegen die mannigfaltigsten Gebresten des Leibes , und konnten sich den zu Goslar gebrauten nach Heilkraft und Wohlgeschmack kühn an die Seite stellen . » Da bist du ! Und willkommen bist du wie ein Mairegen ! « rief Hanne . » Glück auf , junge Frau ! « wiederholte Jane » Freilich bin ich da , und den ganzen Weg von Wildemann her hab ich mich auf dies alte Drudengesicht gefreut ; und richtig , ein Gesicht macht sie wie der Uhu vor dem Blitz – ganz wie ich's mir vorstellte , und ganz und gar nichts häßlicher . Nanu nur lustig ! Wie steht 's im flachen Land ? Was macht Bratpfanne und Kuchenblech im Armenhaus zu Krodebeck ? Aber nun sag einmal , Hanne , wie steht 's denn mit unserer Reise ? Raus aus der Schüchternheit ! Sie werden allgemach ungeduldig da oben auf dem Blocksberg . Sie recken nun schon manch liebes Jahr die Hälse nach uns , und länger als bis zur nächsten Walpurgisnacht wollen sie unter keinen Umständen warten . He , he , Hanne Allmann , wie ist's mit dem Besen und der Ofengabel ? Und wer geht noch mit aus euerm Dorf ? Jaja , ich habe da eben im Vorbeihinken mehr als einen Schornstein angesehen ; da kann man sich schon freuen auf das nächste Auffahren . Es werden wenige Besen in der Nacht in Krodebeck zurückbleiben , und wer von den Gevattern einer Ofengabel benötigt sein sollte , der wird dann wohl danach ein wenig bergauf zu steigen haben . « Die alte Hanne duckte sich auch unter diesem Redestrom und ließ ihn über sich hinschießen . Sie wußte , daß die alte Jane sich aussprechen müsse , wenn sie angefangen hatte zu sprechen . Erst als die wandernde Frau ihre Last auf dem Rücken zurechtschob , nahm sie das Wort in der eintretenden Pause oder versuchte wenigstens , die Rede auf etwas anderes zu bringen . » Von Wildemann kommst du , Jane ? « » Von Wildemann ? Hab ich das gesagt , dann wird's freilich wohl seine Richtigkeit damit haben . Aber wo bin ich gewesen ! Rund um den Erdball herum in der schlechten Welt in diesen letzten vierzehn Tagen ! Oben und unten ! In Rübeland und in Wernigerode , in Harzburg , Ilsenburg und in Klaustal , in Goslar und in Wieda , in Sachsa und in Walkenried – als ob es bei unsereinem darauf ankäme , woher er käme und wohin er ginge ! Das Volk bleibt überall gleich , und Hunger und Durst hat man überall umsonst ; die Hunde hängen sich einem überall an den Rock , und die hölzernen Bänke wollen mein Lebtage zu keinen seidenen Polstern unter mir werden . So will ich denn den Weg mal wieder ins Platte nehmen ; das ewige Bergauf , Bergab kriegt man endlich auch satt , und es hat 's nicht jeder so gut wie die gnädige Frau vom Siechenhaus zu Krodebeck . Ja freilich , die Hanne Allmann kann es mitansehen ! Die sitzt hier in Saus und Braus und wartet im Lehnstuhl auf ihre Zeit und lacht auf dem Stockzahn und ziert sich ; denn sie hat's schriftlich , daß der Junker mit der roten Feder endlich doch einmal vierspännig vorfährt , um sie durch die Lüfte mit sich zu nehmen . « » Man könnte dir trotz aller Freundschaft gram werden , wenn man dir auf dein Maul nicht ein gut Stück zugute täte ! Nun sage , wohin geht der Weg jetzund ? Und wenn du alles los bist von der Seele , so höre an , was ich dir zu sagen habe . « » Wohin der Weg jetzund gehet ? Nach Braunschweig zur Sommermesse . Als ob dieses sich nicht von selber verstände ! Hannchen , Hannchen , etwas mehr Einsicht in den Handel mit hölzernen Löffeln wäre dir doch zu wünschen ! Aber still – nun horch , junge Frau , jetzt kann dein Glück blühen , wenn du wenigstens Verstand und Einsicht genug auftreiben kannst , um den richtigen Wunsch aus dem Bettelsack hervorzuholen . Ich habe mir nunmehro fest vorgenommen , dir mitzubringen , was dein Herz begehrt , und sollt 's mich eine Million in barem Gelde kosten . Für alle sechs Nullen darfst du dir was wünschen , nur mit der nichtsnutzigen Eins davor mußt du mir aus alter Liebe , Freundschaft und Gefälligkeit vom Leibe bleiben . Das wäre also gesagt , und da ich dein dankbares Gemüte kenne , so komme ich auf etwas anderes und stelle die höfliche Frage : was kosten die Zichorien in Krodebeck , und was hat der hochgelobteste Gemeinderat fürs erste Frühstück im Korb ohne Boden , im Hotel zum Falschen Mariengroschen ausgeworfen ? « » Komm herein , du sollst dich wundern ! « rief Hanne Allmann . » Das wird mir lieb sein ; denn so leicht wundere ich mich über nichts mehr in der Welt . Aber weißt du , Hannchen , umsonst nehme ich nichts an – unter keinen Umständen ! Dafür hat mein seliger Herr Vater gesorgt – der trug ein ganzes , wirkliches und wahrhaftiges Bergwerk auf dem Rücken mit allen Silbergängen und Goldgängen und wurde ein reicher Mann dabei , wie du weißt , daß er mit seinem Mammon von Tür zu Tür zog und großes Aufsehen erregte . « » Dieses ist wahr , und er wußte wahrhaftig gut dazu zu reden , Jane . « » Und das Kupferbergwerk trug er in seiner Tasche – das war ein Mann , Hanne – und ich bin seine Tochter , Hanne , und habe von ihm gelernt , was sich schickt und womit man sich den Leuten am angenehmsten macht . Es wär doch auch eine rechte Schande , sich lumpen zu lassen , wenn man ganz Peru und Paphlagonien auf dem Buckel mit sich herumschleppt ! « » Nun höre sie einer an ! Wo sie nur all die grausamen und gelehrten Worte herkriegt ? O Jane , Jane , jetzt laß aber auch mich einmal sprechen ! « » Alter Schatz , du tust ja nichts anderes seit einer Viertelstunde , und es scheint dir nur ein heimtückischer Spaß , daß ich dir währenddem mit Jammer und Klage den Sehnsuchtswalzer um eine Tasse Kaffee vorpfeife . « Hanne Allmann , fast zum Äußersten gebracht , faßte die Schwätzerin an der Schulter und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr . Da horchte Jane Warwolf denn doch hoch auf und stieß mit dem Wanderstock einige Male ziemlich fest auf den Boden . Dann ließ sie , wenn auch nicht den Sehnsuchtswalzer , so doch einen langen , bedeutungsvollen Pfiff hören und trat der alten Gastfreundin nach über die Schwelle des Siechenhauses von Krodebeck – ein ganz anderes Weib , als wie sie sich bis jetzt gezeigt hatte . Neuntes Kapitel Mutter und Kind schliefen noch immer . Sie hatten nichts von der oft ziemlich lauten Verhandlung der beiden Alten vor dem Fenster und der Tür vernommen . Hanne ging noch immer auf den Strümpfen , aber Jane Warwolf trat fest auf ; das lachende lustige Gesicht war zu einem fast bösen und zornigen geworden , und sie murmelte mehr als ein Wort , welches die schöne Marie Häußler besser nicht vernahm . Das alles hatte wohl seinen Grund ; denn Jane Warwolf hatte nicht zum erstenmal für die Freundin eintreten und das Gebiß zeigen müssen . Sie hatte die arme Hanne vor Schulz , Schulmeister und Pastor , vor den Bauern , ihren Weibern und Kindern unter ihre Flügel genommen und sie mit großem Gegacker verteidigt : sie versah sich natürlich von der schönen Marie nichts Gutes und hatte sich schnell vorgenommen , sich von Anfang an auf den richtigen Standpunkt ihr gegenüber zu stellen . Auf dem kurzen Wege von der Tür bis zum Bette der Schlafenden spiegelte ihr die Phantasie einen ganzen Reigen von zukünftigen Katzbalgereien der muntersten und hitzigsten Art vor , und so faßte sie ihren Stab fester und handgerechter und schnitt ein Gesicht , scheußlicher als das , welches den Knopf dieses braven Stabes bildete . Am liebsten würde sie die schöne Marie durch eine tüchtige Tracht Prügel erweckt haben , und vor nicht sehr langer Zeit wäre dieses sicherlich auch die zweckmäßigste und wohltätigste Art des Morgengrußes gewesen . Die schöne Marie verdiente leider recht häufig als erste Begrüßung noch etwas viel Eindringlicheres , wenn sich solches hätte ausfindig machen lassen . Doch die Sonne war nun auch schon wieder höher gestiegen , und herrlich war der Morgen . Freudig schimmerte das Gebirge in der Ferne , und freudig glänzten die nahen grünen Hügel und Wälder von Krodebeck . Daß die Vögel in den Bäumen und den Lüften diese gute Gabe eines neuen , anscheinend regelrechten Sommertages besser würdigten und jedenfalls dankbarer empfingen als die Menschen , konnte keinem Zweifel unterliegen , und daß es kaum noch nützt und ergötzt , sich eines weitern darüber zu verbreiten , unterliegt noch weniger einem Zweifel . Aber die Sonne kam in demselben Augenblick durch die niedern Fenster in dem Siechenhause zu Krodebeck an , in welchem die zwei alten Weiber über die Stubenschwelle traten , und das war nicht ohne Einfluß auf den Verlauf unserer Geschichte . Es ist immer ergötzlich und nützlich , es ist immer schön , wenn das Licht , wenn die Sonne sich irgendwo einmischt , und sie weiß das auch und tritt jedesmal lachend im richtigen Moment hervor bei Krönungszügen , Denkmalsenthüllungen , Paraden und so weiter . Da verkriechen sich die Regenschirme , die Begeisterung der Menge steigt , die hohen und allerhöchsten Herrschaften lächeln , und die Sonne lacht sowohl über die hohen und allerhöchsten Herrschaften wie über den Pöbel und die Berichterstatter . Die Sonne traf das Haupt der höchsten Herrschaft , welche in dieser Geschichte erscheint , das Haupt Antonie Häußlers ; und das Kind lächelte ebenfalls , als Jane Warwolf sich nunmehr über es beugte und es aufmerksam betrachtete . » Hm ! Hm ! « machte Jane und warf einen erstaunten Seitenblick auf Hanne Allmann . » Ich hab es auch gesehen « , flüsterte Hanne . » Man findet es nicht zum zweitenmal in Krodebeck . Ich habe es vorhin eine Stunde angesehen und doch nicht genug gehabt , und – die Sonne allein ist nicht schuld daran . « Jane richtete sich wieder empor und zog die weißen Augenbrauen von neuem zusammen : » Ihre Mutter war auch hübsch genug in der Wiege ! Jetzt laß mich die sehen ! « Sie trat an das Bett der schönen Marie und blickte finster auf sie nieder . Nach einigen Augenblicken forschender Prüfung schob sie einige Haarflechten , welche der Kranken über die Stirn gefallen waren , von ihr zurück . Dann lehnte sie leise ihren Stock an den Bettpfosten , dann zog sie die Arme und Schultern aus den Tragriemen ihrer Last und setzte dieselbe mit Hülfe Hannes ab ; dann setzte sie sich selber auf den Schemel neben dem Bette , stützte den Ellenbogen auf das Knie und das Kinn in die Hand ; endlich sagte sie : » Hanne Allmann , ich habe mir die Sache deinetwegen schlimmer vorgestellt , als sie sich jetzo ausweist ; wir wollen deshalb nicht weiter gehen , als recht ist und wie wir vor Gott verantworten können . Nämlich so meine ich : wir haben schon manchen und manche mit solchem Gesichte , wie diese hier , gesehen , und wie mir deucht , kam jedesmal alles auf dasselbe Ende hinaus , nämlich zur Tür hinaus , die Füße voran . Also , Hanne , habe Geduld ; einen weichen Sitz im Himmel hast du dir bereits erworben , nun kannst du dir ein Fußkissen zu noch größerer Bequemlichkeit dazuverdienen . Ich halte mir viel vorgenommen mit ihr und hätte ihr meine Meinung deutlich genug machen wollen ; aber nun fehlt mir doch das Herz , zumal da es doch nichts hilft als zu einem Zank am Sterbebett und – das fehlte mir gerade noch . Jaja , Hanne Allmann , heute rot , morgen tot – Schönheit vergeht , Tugend besteht – und wie die Narreteien sonst alle heißen bei ähnlichen Gelegenheiten . Ich wollte dir mit Vergnügen eine von meinen gesunden Flaschen für sie zurücklassen ; doch das ist nur etwas für die Gesunden . Hätten wir die Lisabeth aus Elend hier , so möchte die vielleicht genauer sagen können , wie lange die arme Kreatur es noch machen wird ; daß dahingegen der lahme Bock von Hüttenrode gestern nachmittag mit seiner Weisheit und seinem Schubkarren voll Apothekenkräuter seitwärts abschob , ist durchaus kein Schaden . Also , sage ich , halt sie nicht zu warm und gib ihr klares Wasser zu trinken , soviel sie begehrt . Hm , Wasser und Erde , daraus entstehen alle Dinge , und alle Dinge haben darin ihr Ende , wes halben es auch kein Fieber gibt , welches sich nicht mit Wasser oder aber mit dem Grabscheit verheilen läßt . Das wäre denn genug gesagt über die schöne Marie ; was jedoch die hübsche Krabbe da anbetrifft , so hat die freilich und wahrscheinlich einen längern Weg vor sich als die Mutter ; aber was das beste für sie wäre , wer mag das sagen ?! « » Still ! « flüsterte Hanne Allmann . » Sie erwacht ! Jetzt sei still und sei gut ; – die Marie Häußler wacht ! « Die Warwölfin nickte , und die schöne Marie richtete sich in der Tat auf und warf verstörte , verwirrte Blicke umher . Erst suchte sie angstvoll ihr Kind mit den Augen , und dann sah sie schier noch angstvoller in die beiden Altenweibergesichter . » 's ist die Jane aus Hüttenrode , die Jane Warwolf , erschrick nur nicht ! « sagte Hanne . » Guten Morgen , Marie , das Kind schläft wie ein Engel , und auch du hast noch einen guten Schlaf gehabt . « » Glück auf , Mariechen ! « rief Jane . » Da sind wir richtig wie der einmal und empfehlen uns höflichst . Gib mir die Hand , ich beiße nicht . Halt den Kopf in die Höhe , Mädchen ; wer in der Welt leben will , muß was ausstehen können . « » War das ein Schlaf und Traum , oder ist mir das wieder passiert , was ich eben erlebte ? Ja richtig , ich habe wirklich geschlafen ; ach , Gott behüte euch alle vor solchem Schlafen ! « » Sieh , Mariechen , da liegt deine Puppe . Die gefällt mir recht , und du kannst wohl stolz auf sie sein . Kennst du mich nicht ? Ich bin wirklich die Warwölfin aus Hüttenrode und hatte mir vorgenommen zu beißen , habe mich jedoch anders besonnen ; also gib mir die Hand und kümmere dich nicht um die vergangenen Zeiten . « » Ja , Marie , tu es ! « sagte auch Hanne Allmann . » Jetzt koch ich uns einen Kaffee , und die Jane setzt sich derweilen zu dir und unterhält dich als ein Frauenzimmer , das auch in der Welt herumgekommen ist und Bescheid weiß in vielen Dingen , die unsereinem zu hoch im Siechenhause zu Krodebeck sind . « » Hussa , sie traktiert ! « rief Jane Warwolf . » Juchhe , jetzt wird's schön in der Welt ! Sie traktiert wirklich und wahrhaftig ; nimm meine dumme Kompanie an , Mariechen , wir wollen ihr um eine Million nicht in den Weg laufen bei so lieblichen und schenerösen Absichten . « Wecke mir nur das Kind nicht « , sagte die alte Hanne und ging zu ihrem Herd , um das Frühstück , so gut es sich tun lassen wollte , zuzubereiten . Mit Hülfe derer von Lauen aber ließ es sich ziemlich gut tun . Die Jane aus Hüttenrode blieb neben dem Lager der schönen Marie sitzen und unterhielt sie in der Tat als eine weltgewandte , weitgewanderte , welterfahrene Frau auf das angemessenste und anmutigste . » Das hätte ich freilich nicht gedacht , dich hier zu finden , mein Mädchen , als ich vorhin in das Fenster guckte . Ehrlich gestanden , die Überraschung war anfangs größer als die Freude ; doch – ärgere dich nur nicht , bei besserer Besinnung findet man wohl das richtige Maß und legt nicht alles und jedes übers Knie wie einen unnützen Buben , zumal wenn man weiß , daß es doch zu nichts hilft . « » Nein , es nützt zu nichts ! « sagte die schöne Marie in einer Weise , welche eine Pause in der Unterhaltung unbedingt nötig machte . Erst nach einem minutenlangen Stillschweigen fing die Warwölfin ganz verschüchtert und mit viel gedämpfterer Stimme von neuem an : » Ich hab einen Bruder gehabt , der kam auch so ähnlich aus der Welt heim , und ich bin zuletzt doch ganz gut mit ihm fertig geworden . Aber der hatte zu Wolfenbüttel im Zuchthause gesessen – fünfzehn Jahre hatte er da gesessen . Und fünf Jahre haben sie ihm geschenkt wegen mildernder Umstände oder weil sie dachten , daß sie ihn doch wohl lange genug festgehalten hatten ; aber das nützte ihm nicht viel mehr ; denn nachher saß er nur noch eine kurze Zeit im Winkel , sah niemanden an , brummte in den Bart und starb . Die Zuchthausjacke war ihm auf dem Leibe festgewachsen , und als man sie ihm auszog , ging die Haut mit , ihn fror gottsjämmerlich , und so starb er . « » Was hatte er getan ? « fragte Marie Häußler . » Nun , es war solch eine Busch- und Berghistorie drüben im Okertal an den Arendsberger Klippen . Du kennst uns ja , Kind ! Frischauf zum fröhlichen Jagen ! weißt du . Einer der Jägerburschen vom Arendsberg holte sich dabei die Brust und Lungen voll groben Schrotes und verblutete sich in den Tannen . Nachher ging denn die Jagd erst recht an , und meinen Bruder fingen sie unter der Harzburg , als er zur Eisenhahn herunterkletterte . Es waren noch andere dabeigewesen ; allein die hatten mehr Glück , und das ist die Moral von der Geschichte : aufs Glück kommt 's an in allen Dingen , Marie Häußler , und du hast auch wenig davon gehabt , also laß dir keine grauen Haare um das wachsen , was hinter dir liegt . « » Ich lasse mir keine grauen Haare wachsen , Warwolfsche ! « rief die schöne Marie , eine ihrer braunen Haarflechten von dem Kissen aufhebend und sie durch die Finger ziehend . » Das ist echte Farbe , dem Spuk darunter zum Trotz . Zum Verbleichen wird jetzt die Zeit nicht mehr langen , und darum gräm ich mich nicht , Jane Warwolf . Ich habe auch noch keinen gefunden , der mich auf einen andern Weg gewiesen hätte , und so bin ich denn aus eigenem Geschmack auf diesem hier angekommen – aber dein Bruder hat 's gut gehabt , Jane . « Die wandernde Frau schnob sich und schüttelte den Kopf und räusperte sich und sah nach der Tür , als ob sie nicht begreifen könne , wo die Hanne so lange bleibe , und als ob ihr die schleunige Rückkehr derselben sehr erwünscht sei . » Ich weiß , was du denkst , Jane ! « rief Marie . » Du hattest dir vorgenommen , ganz anders mit mir zu sprechen . Mit den Fingernägeln wolltest du mir zu Leibe gehen , den Stock da wolltest du mir auf dem Rücken zerschlagen , und nun findest du mich zu elend und jammervoll dazu , und mein hübsches Kind in seinem Schlaf hat dir auch gefallen , und nun bist du wie einer , der sich nach einem Brett umsieht , um es über den schmutzigen Bach zu schieben , daß er drüber weg kann . Lüge nicht – es ist so ! « » Ich lüge nicht ; du hast recht , Marie Häußler , und ich meine , ich hätte auch mein Recht dazu gehabt , und der Hanne Allmann wegen ein dreidoppeltes . « » Ich lüge auch nicht « , schluchzte die schöne Marie : » denn das ist nur vor Gericht meine Art gewesen , wenn sie alle zusammen auf mich eingeschrien haben und ich allein gegen so viele stand . Wenn ich Reue hätte , so würde ich es sagen und dein Mitleid annehmen ; es ist aber keine Reue in mir , und so kann ich auch dein Mitleid nicht gebrauchen . Wer weiß , was ich dir täte , Jane Warwolf , wenn ich nicht so schwach wäre ? Ich habe auch kein Mitleid mit der Welt , ich schäme mich nur , und darüber bin ich wieder so zornig wie ein gehetzter Hirsch , der sich gegen die erbärmlichen Hunde stellt . Das sage mir , du Alte : wozu schämt sich der Mensch , wenn in der ganzen weiten Welt niemand ist , der's verlangt und einem darum näher rückt ? « » Sieh , sieh ! Da hast du dein Kind zur rechten Zeit aufgeweckt , Marie Häußler ! Was fragst du mich ? Da , das dort frage – das weiß dir vielleicht eine Antwort zu geben . Glück auf , klein Mädchen ! Guck , wie das mit den Augen den Mund aufsperrt ! Lustig , du Kobold , der Kaffee kommt gleich , und die Sonne scheint auf das Dach des Siechenhauses zu Krodebeck . « Das Kind streckte die Hände nach der Mutter aus und lachte hell und freundlich , aber die Mutter fuhr zusammen über den lustigen Ruf . Zugleich verkniff sie die Lippen in einer Weise , die jeden tüchtigen Kriminalrichter nachdenklich gestimmt haben würde und der alten Jane Warwolf , welche gleichfalls ein Stück von einem Kriminalrichter in sich hatte , keineswegs entging . Der eine hätte den Zug wahrscheinlich ins Debet geschrieben , die andere trug ihn unbedenklich im Kredit ein : wir , die wir hier bloß nüchtern niederschreiben , was geschah und was gesagt wurde , wir melden einfach , in welcher Weise die schöne Marie nach dieser Unterbrechung durch das Erwachen der kleinen Antonie fortfuhr , und überlassen jedem Leser seine eigene , wohlerwogene Entscheidung . » Du Feind « , schrie die schöne Marie die Alte an » siehst du , daß du mich doch schlagen und mit den Zähnen fassen mußtest ! Ich habe es wohl gewußt , du Teufelin , daß du nur deshalb herzugeschlichen bist ! Lache ihr nicht zu , Tonie , sie wird dir zunicken , um deine Mutter zu schlagen . Sieh weg , sieh weg , Tonie , sie will deine hellen Augen gegen deine Mutter ins Gericht führen . Sieh den bösen Feind nicht an , Kind , er wird auch dich beißen , wenn er deine Mutter totgebissen hat . « Erschreckt fing die Kleine an , laut zu weinen . » Ach , Marie Häußler , was alles mußt du erlebt haben ! « rief traurig Jane Warwolf . » Genug , um Bescheid zu wissen , daß niemand das Recht hat , das Kind gegen seine Mutter zum Gericht aufzurufen ! « » Du hast gefragt , und ich habe geantwortet . « Nun fing die schöne Marie an , bitterlich zu weinen , und das war gut ; denn es zeugte für die Richtigkeit der Auffassung dieses vorliegenden Falles durch die Warwolfsche . Diese meinte nun : » Jetzt will ich dir etwas sagen , Marie . Ich bin ein altes Weib und habe mancherlei durchgemacht , sowohl in den Bergen wie im platten Lande . Ich habe Verkehr mit vielen Leuten gehalten , guten und schlechten , dummen und klugen , und ich weiß , was der Mensch ist . Der Mensch ist ein armselig Geschöpf , und je weniger man von seinen Meriten spricht , desto besser ist's . Dahingegen nützt es aber auch im andern Falle gar nichts , wenn man ihm seine Nichtsnutzigkeiten und Dummheiten zu oft und zu grob vorrückt . Du schämst dich nicht , Mariechen ? Ich will dir sagen , wie es ist , Mariechen ! Du bildest dir ein , die ganze Welt stehe schon tausend Jahre auf den Zehen , um dich am Schandpfahl stehen oder unter diesem elenden Dache liegen zu sehen . Bilde dir nichts ein , Schatz , taxiere die Bauern von Krodebeck nach ihrem Werte , ziehe sie ab von der Welt , und dann rechne nach , wer sich um deinen Hochmut schiert . « » Mein Kind ! Mein Kind ! Ich gehe fort und kümmere mich um nichts ; aber sie lassen mein Kind zahlen , was ich verzehrt habe ! « wimmerte Marie Häußler , und mit einem schweren , schweren Seufzer sagte Jane Warwolf : » Ja , so hat man es freilich seit mehr als tausend Jahren gehalten ! « Der Faden der Unterhaltung war damit abermals abgerissen , und es wurde immer schwieriger , ihn wieder anzuknüpfen ; aber jetzt ging der Alten eine neue Frage wie ein Licht auf . » Du hast schon den Ritter gesehen und gesprochen , Marie ? « » Wen ? « Den Herrn von Glaubigern ! Den Ritter , den Ritter ! « » Ja . Er kam und reichte mir die Hand in den Schinderkarren und ging nebenher , als man uns hierher schob , und er hielt das Volk , als man uns ablud , daß sie uns nicht hier hineinwarfen , mit gebundenen Füßen , wie zwei Kälber in den Metzgerschuppen . « Jane Warwolf strich langsam mit der Hand über das Gesicht , und die alte , sozusagen geniale , weltverachtende Behaglichkeit war im vollen Glanze wieder vorhanden . » Nanu , du Narr , weshalb sagst du denn das nicht gleich ? Na , da wollen wir denn wenigstens von jetzt an mit mehr Seelenruhe das Frühstück und Ihro Hoheit die Frau Erbprinzessin dieses glorwürdigen Siechen- und Armenhauses zu Krodebeck erwarten . Es ist die allerhöchste Zeit mit dem Frühstück , dein Bergkobold dort , Mariechen , sprengt uns sonst noch die vier Wände voneinander . « Das Kind hatte sich in der Tat längst in so ungebärdiger Weise in das Gespräch gemischt , daß Jane Warwolf auch in Rücksicht auf dieses der Hanne ganz wohlgefällig und billigend zunickte , als diese nun endlich wieder eintrat , und zwar mit zwei dampfenden Töpfen in den Händen und einem Brotlaib unter dem Arme . » O du meine Güte , welch ein Aufwand ! « rief Jane . » Aber für uns ist nichts zu gut , nicht wahr , Tonie ? Jetzt sperre den Schnabel nur auf ; richtig , das kannst du gradso gut wie der König von Preußen , der Kaiser von Rußland und der Vorsteher Klodenberg . Aber halt , meine Damen , eine offene Hand hat der Herr lieb , und lumpen läßt die Warwölfin sich auch nicht . Da , klein Mädchen , da hast du einen Löffel in die Aussteuer ; bleib brav und halte ihn in Ehren , wenn er auch nicht von Gold oder Silber ist . Da hast du auch einen , Marie ; und hier habt ihr zwei Schüsseln , alles aufs feinste geschnitzt und gedreht ; weine nicht , Marie , wann der Herr von Glaubigern jetzt anklopfte , sollt 's mir auch für ihn nicht auf einen Löffel ankommen , und wann er Hunger hätte , würde er mit Dank bei uns niedersitzen und mithalten , ohne sich zu schämen . « » Von dem sprecht ihr ? « rief Hanne Allmann , den wackligen Tisch gegen das Bett heranschiebend und die schwarzen wackelnden Schemel dazu . » Von dem könnt ihr nie genug und nicht leise genug sprechen . Ich denke immer , der hat sich aus einer andern Welt in diesejenige verirrt und kann den Weg nicht wieder zurückfinden und geht suchend umher und fragt sich , weiter von arm zu reich , von Tier zu Mensch , durch Sturmwetter und Sonnenschein , und will nichts als diesen Weg und gar nichts von dem , was an diesem Wege zu finden ist und um was sich alles andere zankt und zerrt und mit Hinterlist wegschiebt und stößt und schimpft und das Herz zerbricht ! Da ist die gnädige Frau , die ist schon ganz anders , und das gnädige Frölen – « Die schöne Marie lachte hell und böse auf , und Jane Warwolf schielte böse seitwärts auf die alte Freundschaft und murrte: » Von dem sei still , Hanne , denn niemand hat dich danach gefragt . Von dem einen kann man nicht zuviel und von der anderen nicht zuwenig reden . Du faß den Ritter ins Gemüte , Marie Häußler , und du , Hanne , schneid Brot und schneide dich nicht an Sachen , die dich augenblicklich nichts zu kümmern brauchen . « » O herrje ! « seufzte Hanne Allmann und tat mit Eifer , was ihr geheißen wurde , und alle frühstückten jetzt im Siechenhause zu Krodebeck ; die schöne Marie allein konnte wenig genießen . Lächelnd sah die schöne , große Weltensonne ihnen zu , wie sie auch mit auffälligem Wohlwollen und Behagen auf den Chevalier und Kürassierleutnant a. D. Karl Eustachius von Glaubigern sah , welcher jetzo im Garten des Lauenhofes mit der geöffneten silbernen Dose in der linken und einer Prise zierlich zwischen dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand vor seinen Lieblingsblumenbeeten stand , dazwischen auch wohl an das Siechenhaus und die schöne Marie darin dachte und dann jedesmal die Augenbrauen beträchtlich höher zog und hob . Sie sprachen während des Essens und Trinkens nichts weiter , denn das , nämlich die Ernährung , ist für armes Volk eine zu ernste Sache und muß mit der gehörigen Bedachtsamkeit und Zusammenfassung aller Leibes- und Geisteskräfte betrieben werden . Auch nach dem Frühstück hatte die wandernde Frau wenig mehr zu Marie Häußler zu sagen . Aber sie nahm ganz zärtlich Abschied von dem Kinde und ganz wohlwollend von der Mutter , und man fand später am Tage ein Zehngroschenstück unter ihrer Tasse . Mit der alten Hanne Allmann hatte die Jane Warwölfin natürlich noch ein Gespräch unter der Tür . » Es wird ein heißer Tag , und ich sollte schon längst auf dem Wege sein , doch der Mensch weiß nie , was ihn am Rock zurückehält « , sagte sie . » Das hätt ich mir heut nacht auf meinem Strohbund nicht träumen lassen , wen ich heute morgen bei dir wiederfinden sollt . Ach , Hanne , ein Jammer ist es doch , und mit leichterem Herzen ziehe ich nicht ab . Zwar deine Ruh und Behaglichkeit macht mir weniger Sorge ; allein eine elende Welt ist's , und die Marie tut mir leid ! « » Und um das Kind möcht man gerad herausheulen ! « sagte Hanne Allmann . » Ja , Madamchen , wenn das was nützte , so wollte ich gern mithelfen , wie sehr 's auch meiner Natur zuwider ist ; aber ich hab noch nie gefunden , daß es anders wirkt als auf den Magen und die Verdauung , und wenn du das bei solchen Hungerleidern als wir eine Verbesserung nennen willst , so tu 's auf deine eigene Gefahr . Also gehe ich denn , und zwar auf den Jahrmarkt , auf die Braunschweiger Messe mit Juden und Orgeln , mit Geigen und Meerkatzen , mit Pfeifen und Trompeten , und die schöne Marie laß ich dir zum Sterben zurück , denn ich kann 's nicht hindern . Gib ihr klar kalt Wasser zu trinken , und das Kind das Kind halt reinlich und frag den Herrn von Glaubigern um das Kind . Wenn ich zehn Jahre jünger wäre , wollt ich dir's abnehmen und es auf meine Kiepe setzen und ihm der Welt Wunder auf meine Art zeigen . Das ist nun nichts , also geh den Ritter um sein freundliches Herz an ; wann ich wiederkomme , wollen wir einen neuen Kriegsrat halten ; wer weiß , ob ich nicht von der Messe einen guten Rat darzu mitbringe ?! Es wird ein heißer Tag . – Glück auf , Hanne Allmann ! « » Glück auf , Jane Warwolf ! « sagte beklemmt die Frau vom Siechenhause und hielt die Hand über die Augen , denn die Sonne blendete , und sah der Freundschaft nach , wie sie auf der gelben Straße dem Walde zuschritt . In der Hütte weinte das Kind der schönen Marie ; Hanne Allmann hatte keine Zeit , in diese wunderliche , geheimnisvolle , weite Welt , in welche alle diese Leute hineingingen und aus der sie zurückkamen , der alten guten Kameradin nachzudenken . Zehntes Kapitel In Braunschweig war in dieser Messe ein heftiges Gedränge , großer Verkehr und Handel ; auch die Warwölfin machte treffliche Geschäfte und trieb den Handel mit hölzernem Geschirr ins große . Kuriose Dinge waren zu sehen und zu hören und wurden hell ausgeschrien vor dem Granitpostament , auf welchem nun bald die ehernen Füße Gotthold Ephraim Lessings ruhen sollten , und viel Weisheit und Verstand wurde hin und her ausgegeben unter den Topfweibern rund um den alten Löwen vor der Burg Dankwarderode und unter den Glocken von Sankt Blasius . Aber guter Rat war auch in Braunschweig auf der Messe teuer und rar , und als die Jane aus Hüttenrode auf der Heimkehr nach ihren Harzbergen abermals durch Krodebeck zog , da war die schöne Marie schon tot , und der beste Rat wäre in dieser Hinsicht zu spät gekommen , was das Kind der schönen Marie anbetraf , so verließ sich die Warwölfin immer mehr auf den Ritter , legte nur einen preußischen Taler auf den Tisch des Siechenhauses und versprach , von neuem wieder vorgucken zu wollen , wenn die Umstände und der Handel mit hölzernen Löffeln , Mulden und Quirlen es gestatten würden . Sie hatte nicht einmal die Zeit , das Grab Marie Häußlers , welches doch so dicht neben der Tür des Siechenhauses lag , aufzusuchen . Die blauen Berge zogen sie nach dem Staub und Spektakel der Ebene zu heftig und verlockend an , und wir haben nicht das geringste Recht , der Alten darum gram zu werden , denn sie war eine brave Frau und tat und sagte zu jeder Zeit , was sich schickte . Die schöne Marie war tot und begraben . Hanne Allmann hatte großen Besuch im Siechenhause gehabt , denn das halbe Dorf war gekommen , um die Leiche zu sehen , und alle hatten ihre Bemerkungen leiser oder lauter darüber gemacht . Die einen sagten , es sei kein Schaden , daß das so schnell abgemacht sei , und die anderen meinten , es sei ein Glück . Die geistlichen und weltlichen Behörden , das Pfarramt und der Ortsvorsteher Klodenberg trugen das Nötigste schriftlich über den Fall ein , und die Ernte des Jahres nahm ihren gesegneten Fortgang . Am Begräbnis nahm nur der Lauenhof teil , und zwar durch den Chevalier von Glaubigern ; die Gutsfrau hatte das Leichentuch gern hergeschenkt , aber weiter keine Zeit gehabt , sich um die traurige Geschichte zu kümmern . Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin schenkte nichts her und erschien auch nicht in Person , um ihrem früheren Schützling die letzte Ehre zu geben . Sie schloß sich an dem Begräbnistage in ihrem Gemache ein und beschränkte ihre Bedürfnisse auf ein gebratenes Hühnchen , Kaffee und die Lektüre von Hufelands » Makrobiotik « ; noch am folgenden Morgen aber war sie recht grämlich , bissig und unliebenswürdig und verlangte , daß man ihre Gefühle schone und die » unselige Person « in ihrer Gegenwart fürs erste nicht erwähne oder gar zum Thema der Unterhaltung mache . » Schämen Sie sich , Frölen Trine ! « sagte die gnädige Frau ziemlich kurz . Der Herr von Glaubigern erschien feierlich und in Gala am Sarge und am Grabe und zwang durch seine Erscheinung auch den Pastor , sich herzubemühen , welcher jedoch nicht offiziell kam , sondern höchst ungern und sehr verlegen . Die Grabrede hielt auch der Chevalier , und zwar ganz in der tiefsten Stille seines Herzens ; sie mußte wohl sehr vortrefflich gewesen sein , denn sie rührte ihn selber und wurde von Hanne Allmann bis in die feinsten Abschattungen verstanden . Ein Leichenmahl wurde nicht gehalten , denn diesmal erregten die Tränen den Appetit nicht , wie dies nach dem Wort Jane Warwolfs häufig der Fall sein soll . Aber der Ritter hatte noch ein langes Gespräch im Siechenhause mit der Hanne über die kleine Antonie Häußler , und da wurde verabredet , daß das Kind für jetzt in dem Siechenhause unter der Pflege der Frau vom Siechenhause verbleiben und daß der Ritter Karl von Glaubigern zwischen dem Kinde und dem Dorf Krodebeck und der übrigen Welt stehen solle . Jane Warwolf aus Hüttenrode war eben ein kluges Weib , welches ziemlich genau wußte , wie sich die Dinge auf Erden ineinander zu schicken pflegen ! Der Ritter von Glaubigern stellte sich , wie es ihm beliebte ; aber das Fräulein von Saint-Trouin nahm gleichfalls seinen besondern Standpunkt ein und behauptete denselben mit großer Charakterfestigkeit . Es übertrug seine Abneigung ohne Abzug von der schönen Marie auf die kleine Antonie und suchte in allem , was das Wohl der letzteren anbetraf , dem Chevalier so hinderlich als möglich zu sein , jedoch ohne alle Auffälligkeit . Zugleich zog es die Zügel seines Einflusses auf den Junker Hennig von Lauen fest an und erlaubte sich immer rücksichtslosere Eingriffe in den Teil der Erziehung des Jungen , welchen der Ritter sich fest gesichert hielt . Es fand die humane Bildung des Schlingels grenzenlos vernachlässigt und hielt den alten Comenius weniger als je für einen Ersatz für das Mangelnde . Es führte den Junker häufiger als je zwischen seinem Pompadour und dem Hündlein Peccadillo spazieren und lehrte ihn Weisheit und Tugend auf seine Art . » Was endlich daraus werden wird , soll mich doch wundern , Glaubigern ! « seufzte ärgerlich die gnädige Frau ; aber der Chevalier zuckte nur ganz leise mit den Achseln und sagte : » Ich komme immer mehr zu der Überzeugung , daß wir uns nicht allzusehr zu ängstigen brauchen ; der Junge ist kein Genie , und es würde schwerhalten , selbst für das Fräulein , ihm den Kopf derartig zu verdrehen , daß sein Standpunkt als Gentleman dadurch in Gefahr geriete . Der Lauenhof war immer ein braver , nahrhafter Ort ; man lebt zu gut darauf , um seine Ungereimtheiten weit über die Feldmark hinauszureiten . « » Und ich hoffe , so soll es immer verbleiben , lieber Alter ! rief die Frau Adelheid , treuherzig dem Ritter die Hand schüttelnd . Der Junker Hennig sträubte sich oft heftig , wenn ihn die kalte Hand der ihre Pflicht kennenden Byzantinerin packte , um ihn zwischen den Hecken von Krodebeck und in ihren Idealen spazierenzuführen ; aber auch Adelaide von Saint-Trouin fuhr oft heftig zusammen , wenn es hinter diesen Büschen raschelte und rauschte , die Zweige auseinandergezogen wurden und das Kind der schönen Marie ihr neugierig-furchtsam daraus entgegensah . Sie benutzte die Gelegenheit jedesmal aufs beste , den Zögling von neuem auf die Gemeinheit , Ekelhaftigkeit und Nichtsnutzigkeit der Welt jenseits ihrer Ideale hinzuweisen , und jedenfalls zeigte sie als das Erste und Selbstverständliche der kleinen Antonie ein Gesicht , vor welchem diese schnell genug in die Büsche zurückfuhr . Wie dann endlich der Junker Hennig sich zu diesen Lehren und der kleinen Antonie Häußler stellte , das kam an einem absonderlichen Tage des Spätherbstes zum Vorschein und zeigt , wie mißlich das höchste Ideal , die edelste , zarteste , feinsinnigste An- und Absicht dieser schlechten , gemeinen , nichtsnutzigen und ekelhaften , aber wirklichen Welt gegenüber stets und immerdar gestellt ist . Es war ein Tag im Spätherbst des Jahres . Der Wald war bunt und der Himmel grau , sehr grau . An diesem Tage hatte sich der Ritter dem Fräulein zum Begleiter auf dem gewohnten Nachmittagsspaziergang angeboten , und das Fräulein hatte mit der gewöhnlichen grämelnden , süßlichen Miene die Begleitung angenommen . Verdrossen und mit hängendem Kopfe ging Hennig in der Mitte der beiden , und verdrossen , mit hängendem Kopfe folgte ihnen Peccadillo dicht auf dem Fuße so waren sie abgezogen vom Hofe und hatten sich den Hügeln zugewendet . Es war kein Tag , es war kein Wetter für die beiden alten Herrschaften . Ein unheimlich am Boden hinkriechender Wind trieb ein mattes Spiel mit den welken Blättern , und wenn Johann von Brienne plötzlich aus dem Boden aufgestiegen wäre , um den letzten Sprößling seines erlauchten Hauses dringend vor Rheumatismen und heftigem Gliederweh zu warnen , so würde dieses zwar sehr freundlich von ihm gewesen sein , hätte aber nur bei Leuten , die durch verwandtschafliche Liebe und Affektion nicht verwöhnt waren , Staunen erregen können . Es war kein Tag und kein Wetter überhaupt für alte Menschen . Auch der Herr von Glaubigern fühlte sich gedrückter und durch den engen Horizont befangener als sonst . Beide , das heißt der Ritter und das Fräulein , schritten langsam , erschienen dem Junker sehr langweilig und sprachen ihre Meinung und Absicht dahin aus , daß man nur bis zum Rande des nächsten Gehölzes gehen , sodann still , sittsam und vorsichtig umkehren und den Abend nützlich und anregend hinter den Wänden und hinter den Fensterscheiben des Lauenhofes verbringen wolle , welches letztere gleicherweise dem Junker durchaus nicht interessant und erfreulich erschien , denn es schloß mancherlei unausdrückbaren Jammer für ihn in sich . Weiterhin auf dem Wege wurde Fräulein Adelaide recht gesprächig , doch stimmten Färbung und Stoff ihrer Unterhaltung leider ganz und gar zu der Witterung . Düster und lebenssatt schritt die hohe Dame dahin , mißgelaunt sowohl gegen die Vorsehung im allgemeinen wie gegen ihr Schicksal im besondern und gegen ihr Schicksal auf dem Krodebecker Burghof im allerbesondersten . Sie , die sonst so stattlich auf ihrer Einbildungskraft zu Roß saß , sie zog diese selbe Einbildungskraft wie einen müden Gaul am Zügel hinter sich her . Das närrische , aber doch glänzende Wellenspiel ihrer Phantasie hatte sich augenblicklich in ein bleigraues Gewoge verwandelt ; die tollen Wolken ihres Gehirns hatten den letzten goldnen und silbernen Anhauch von ihren Säumen verloren . Adelaide von Saint-Trouin sah die Welt heute ebenso nüchtern an wie Adelheid von Lauen , wenn dieser ein Unglück in der Milchkammer passierte , wenn ein Viehsterben eintrat oder ein unvermuteter Abschlag der Fruchtpreise einfiel . Ein jeglicher hat solche Tage , an welchen ihn alle Illusionen verlassen , an welchen der Pomp , die Pracht und das Vergnügen seines Daseins stückweise von ihm abfallen , Tage , an welchen er zwar nicht minder sich täuschen läßt , jedoch nicht durch den lachenden Schein und das behagliche Blendwerk , durch welches für gewöhnlich gütige Götter seinen Pfad bunt machen und verkürzen . Und alle schönen Illusionen hatten heute die Erbin des griechisch-lateinischen Kaiserstuhls im Stiche gelassen . Die Spinne hing ihr Gewebe in dem armen Gehirn Adelaides auf ; die funkelnden Kuppeln von Byzanz versanken im Nebel , selbst der Papst Honorius der Dritte verlor seinen Reiz . Tyrus und Malta versanken wie Byzanz , und mit der Grafschaft von Paidiac löste sich die Grafschaft von Valcroissant in Nebel und Dunst auf . Zu ganz gewöhnlichem , mißtönigem Krodebecker Rabengekrächz war der Klang der Jagdhörner des großen Louis geworden , und was neben der Landstraße im Walde rauschte , das waren nicht die schönen Damen , die Marquis , Grafen und Herzöge von Versailles , sondern das war einfach und höchst ärgerlich das winterliche Blasen vom alten langweiligen Brocken und der Heinrichshöhe her . Nun wußte der Chevalier freilich , daß die gnädige Frau sich von ihren ökonomischen Anfechtungen stets sehr bald erholte , obgleich auch sie von ihrem guten Humor immer auf Niewiedersehen Abschied nahm , und daß auch dem gnädigen Fräulein die alte närrische Herrlichkeit schnell von neuem anschießen werde . So konnte er die trübe Gegenwart mit ziemlich weiser Gelassenheit tragen , was der Junker von Lauen nicht vermochte . Der stieg zwischen den beiden Alten immer mürrischer hügelan und verspürte von Schritt zu Schritt immer größere Lust , etwas zu tun , was dem Fräulein diesen Nachmittag für seine ganze spätere Lebenszeit unvergeßlich mache und sein eigenes Rachebedürfnis wenigstens fürs erste befriedige . Was ging es aber auch ihn an , daß doch eigentlich nichts mehr in der Welt auf dem rechten Flecke stehe und daß die Hoffnung , daß alles wieder auf diesen richtigen Fleck zurückgestellt werde , nun doch wohl zuletzt von den glaubenstreuesten Seelen aufgegeben werden müsse ?! Was ging es ihn an , zu erfahren , daß es gar keine Freude sei , in einer so schlechten , gemeinen , plebejischen , demagogischen Judenwelt leben zu müssen ? Was ging es ihn an , daß selbst diese miserable , nichtsnutzige Welt noch erbärmlicher und niederträchtiger werden könne und in der Tat von Tag zu Tag werde ? Was endlich ging es den Stammhalter des Lauenhofes an , daß es den Fürsten von Tyrus und Kaiser von Konstantinopel , Johann von Brienne , nicht im Traume eingefallen war , seine verwandtschaftliche Pflicht zu erfüllen , und daß die Erbin seines Thrones nun wirklich ein bedenkliches rheumatisches Ziehen von Schulterblatt zu Schulterblatt verspürte ? Herr Hennig von Lauen litt bis jetzt noch nicht an Rheumatismus . Der graue Tag brachte ihm keine Weltuntergangsgedanken , und was die Verschlechterung im sozialen Wesen betraf , so fühlte er , wie schon bemerkt wurde , heute selber ein Gelüst , als ein Rebell gegen dasselbe in seinen edelsten Inkarnationen aufzustehen und der Madame de Genlis , der Madame de Campan und so mancher anderen Madame und adeligen weiblichen Autorität was man nennt einen Esel zu bohren oder gar einen Tritt zu geben . Er war eben ganz unvermerkt und trotz aller zarten Sorgfalt und scheuen Vorsicht des Fräuleins auf jenem Standpunkt angelangt , auf welchem er die Gesellschaft und die Ansichten der Bauernjungen von Krodebeck bei weitem dem großen Louis , der Königin Marie Antoinette , dem alten Amos Comenius und sogar dem Herzog Wittekind , dem Liebling des Herrn von Glaubigern , vorzog , und gerade heute war der Tag und die Stunde , die eine ganze Epoche seines Daseins zum Abschluß brachten . Die Lustwandelnden waren , bis jetzt ziemlich geschützt vor dem Winde , zu dem Walde emporgestiegen . Jetzt erreichten sie die Höhe , und der Wind kroch nicht mehr am Boden , zu ihren Füßen , sondern er faßte sie sehr rücksichtlos ganz und gar , kümmerte sich in Hinsicht auf das Fräulein nicht im geringsten um das Dekorum , wirbelte es einen Augenblick höchst frech und unanständig im Kreise umher und drehte es sodann ruckartig mit der verdrießlichen Nase gegen das Tal und Dorf zurück , als wolle er sagen : » So , jetzt marsch nach Hause – bis hierher und nicht weiter ! Für heute haben wir genug von Ihnen ! « Den Peccadillo hob dieser Wind fast von den Füßen ; der kluge Hund drehte ohne weitere Notiz kurz um und ging in wackelndem Trabe heim . Der Chevalier griff mit beiden Händen nach seiner Fuchspelzmütze , um sie tiefer über die Ohren zu ziehen . Was den Junker anbetraf , so wendete sich dieser wie alle übrigen und sah mit tränenden Augen zurück . Da schlängelte sich der graue , steinige Feldweg hinab , da lag das Dorf , wo die Dreschflegel taktmäßig auf den Tennen klappten ; da erhoben sich die spitzen Dächer und Giebel des Lauenhofes , und den Junker Hennig überkam plötzlich ein Widerwillen gegen alles das und ein noch heftigerer Ekel gegen die Heimkehr mit den alten Freunden und gegen die stillen Vergnügungen des Abends im Kreise derselben sowie der arbeitsseligen Mutter und der anderen Haus- und Stubengenossen . Mit einemmal schien dem Jungen ein Licht darüber aufzugehen , wieviel vom Leben er infolge seiner trefflichen Erziehung bereits verloren habe . In einem langanhaltenden dummen Geschrei machte er plötzlich seiner Entrüstung darüber Luft , tat einen Sprung über den Graben , lief den Abhang hinauf dem Walde zu und war verschwunden , ehe der Ritter und das Fräulein im geringsten fähig wurden , den Dämon , welcher ihren Zögling ergriffen hatte , zu begreifen und zu würdigen . Ehe sie sich sogar von dem ersten Schrecken erholt hatten , befand sich der sittsame Knabe schon so tief im Gebüsch unter den wild geschüttelten Eichen , daß die Rufe , die ihm endlich nachgesendet wurden , nur einen schwächlichen Eindruck auf seine Ohren machen konnten und bereits im nächsten Augenblick gänzlich verlorengingen in dem Sausen des Windes und dem Rauschen der Blätter . Hennig war allein , vielleicht zum ersten Male in seinem Leben wirklich allein , und fand keinen andern Ausdruck für das Gemisch von Furcht , Schauder und Wonne , welches ihn ob seiner Freimachung ergriff , als einen abermaligen ziemlich tierischen Schrei , den er so lange stets von neuem ertönen ließ , bis er braunrot im Gesicht und vollständig außer Atem war . Dazu lief er immer fort – blind und rein besessen – , bis auch dazu seine Kräfte nicht mehr ausreichten . Keuchend vor geistiger und körperlicher Aufregung , hielt er inne und horchte . Das Rauschen und Sausen war nun ganz in den Baumkronen . Am Fuße der hohen Stämme war die Luft still und ziemlich warm ; man merkte hier erst recht , wie nahe der Regen war , an welchem die ganze Woche gebrauet hatte . Draußen vor dem Walde war das Fräulein außer sich ; aber der Chevalier rieb sich verstohlen die Hände und vermochte nicht ganz ein Lächeln der Befriedigung zu verbergen . Hätte er den vollen Gewinn des Knaben geahnt , seine Befriedigung würde sich noch heller und deutlicher Luft gemacht haben , aller Wehklage und saueren Bosheit der verzweifelnden Adelaide zum Trotz . Hätte er sich indessen vollkommen klargemacht , wie wenig doch auch bei diesem Gewinn zuletzt herauskommen werde , so würde er zwar auf die Lamentationen des Fräuleins nicht mehr geachtet haben , allein eine große Freudigkeit hätte er sicherlich weder in Mienen noch in Gesten offenbart . Der im Wohlleben aufgewachsene Hennig besaß jenes animalische Gefühl für die Behaglichkeit des Lebens , welches man auch Gemütlichkeit zu nennen pflegt , im hohen Grade . Den Genuß , faul und fett am Fenster oder am warmen Ofen zu sitzen , wenn die Nebel von den Bergen niederstiegen , wenn die Blätter und der Wind und Regen rauschten , kannte er sehr wohl ; und nun riß ihn an diesem dunklen Nachmittag ein anderer Geist zum erstenmal über diese bequemen Stimmungen hinaus . Die Wolken , die ihm über dem Kopf schnell hinglitten , verwandelten sich in Rosse , welche ihn weit fort von Krodebeck und aus der engen Welt seines väterlichen Hauses hinwegtrugen . In dem Winde klang eine muntere Stimme , die nicht an nasse Füße , Schnupfen , Rhabarber und Kamillentee mahnte . Zum erstenmal packte den Knaben das Robinson-Crusoe-Gefühl , das Gefühl der Abenteurer , Entdecker und Eroberer . Noch einmal trug ihm ein Windstoß den schrillen Ruf der Chevalière von Malta herüber , und grinsend warf der Taugenichts seine Mütze in den nächsten Baum und lachte laut auf , erschrak jedoch trotz aller Tollmütigkeit nicht wenig , als dieses Lachen ein helles , fröhliches Echo fand . Schnell und scheu blickte er umher , sah jedoch niemand , was seinen Mut und seine Sicherheit grade nicht erhöhte . In demselben Augenblick aber flog ihm seine Mütze aus den unteren Zweigen einer verkrüppelten Buche ins Gesicht . Auf leicht ersteigbarem bequemem Sitz in diesem untern Gezweig des gebogenen Baumes saß das schöne Kind der schönen Marie und lachte zum zweitenmal den Knaben hell an und der geschickt geworfenen Mütze nach . Es ist schon gesagt worden , wie sich das Fräulein von Saint-Trouin den ganzen Sommer hindurch bemüht hatte , seinem Zögling einen gehörigen Abscheu vor der kleinen Vagabundin einzuflößen , und wie viele treffliche Lehren und Folgerungen sich für ihn an dieses winzige , zierliche Persönchen knüpften . Also war es kein Wunder , daß der Junker ziemlich dumm zu dem Vöglein auf dem Ast emporsah und eine nicht kleine Sehnsucht nach dem schützenden Rock des Fräuleins verspürte . Allein noch schlug das Herz zu hoch in der jungen Freiheit , als daß nicht auch dieses Unbehagen überwunden werden konnte . » Guten Tag , Hennig ! Komm herauf , hier ist Platz für mehr Leute ! « rief Antonie Häußler . » Eh , eh , er fürchtet sich , und er kann nicht klettern , und die gelbe Frau leidet 's nicht . Hu , wie kommst du in den Wald , wenn 's regnen will , und ohne die gelbe Frau ? Komm herauf , oder ich komme herunter und fliege mit dir fort , daß du in deinem Leben nicht wieder in dein Dorf den Weg zurückfindest . « » Untersteh dich ! « rief der Knabe , sehr bestürzt und hastig einen dürren Ast vom Boden aufgreifend . » Er fürchtet sich wirklich ! « jauchzte das kleine Mädchen . » Soll ich dir auf den Kopf fallen , dummer Junge ? « » Ich fürchte mich nicht ! « schrie der Knabe , mit Tränen in den Augen den Stock fortwerfend . » Ich will mich nicht fürchten ! Komm herunter , du ; ich tue dir auch nichts , und das Frölen ist weit genug , vor dem brauchst du dich auch nicht zu fürchten . « Einen kurzen Moment zögerte das Kind , dann stand es auf seinem Aste leicht auf den Füßen , und im nächsten Augenblick glitt und trat es blitzschnell von dem knorrigen Stamm hinunter und stand vor dem Junker von Lauen in seinem flatternden Röckchen , dessen Stoff aus der Plunderkammer der gnädigen Frau stammte und dessen Zuschnitt und solide Arbeit der alten Frau vom Siechenhause alle Ehre machten . Um diese Jahreszeit fängt der Rehbock an , sein Gehörn abzuwerfen , und ein solches Gehörn zog die Kleine hervor und bot es gleichsam als Friedensunterpfand dem Knaben an . » Das findet man im Holze , und ich schenke es dir . « » Das ist nichts Großes , aber gib es nur her , du kannst es doch nicht gebrauchen « , sagte Hennig . » Wir haben zu Hause einen Saal mit Geweihen von Hirschen , einen ganzen Saal voll , die solltest du einmal sehen ! « » Ich frage nichts danach ! « war die Antwort , und das Gespräch stockte bedenklich , bis Hennig es zu letzt von neuem in Gang brachte , und zwar durch die schlaue Frage : » Bist du immer im Walde ? Was tust du im Walde ? Bist du immer allein im Walde ? « Antonie lachte wieder ganz lustig . » Ich denke mir was dabei ; aber das geht dich nichts an , Schafskopf ! Hab ich dich gefragt , weshalb du hierherkommst ? « Nun hätte die Unterhaltung füglich wieder zu Ende sein können und diesmal mit vollem Recht ; allein der gegenseitige Reiz , sie fortzuführen , war doch zu groß . » Was schimpfst du ? « fragte der Knabe . » Habe ich dich geschimpft ? « » Nein . Ich sage auch nur , was mir einfällt ; aber mich schimpfen sie in der Schule und im Dorf , und ich mache mir nichts daraus . Mach du dir auch nichts daraus ! « » Du , Tonie Häußler , weshalb will Frölen Trine nichts von dir wissen ? Weshalb schimpft sie dich und fürchtet sich vor dir ? « » Ich weiß nicht . Frage deinen guten Herrn , den Herrn Ritter . Frag meine Pflegemutter , die alte Frau im Armenhause . Du weißt ja , daß ich im Armenhause wohne , wenn ich nicht im Walde bin . « Das weiß ich . Ich habe dich selbst mit den andern hingebracht , als du in Krodebeck ankamst , und ich habe mit dem Fräulein Adelaide vor der Tür gewartet , bis der Herr von Glaubigern mit der kranken Frau und dir drinnen fertig war . « » Meine Mutter ist tot , und ich wohne im Siechenhause , und ich wünsche mir kein besser Leben . Fürchtest du dich vor mir , dummer Junge ? « » Nein – du gefällst mir ! « » So laß uns laufen . Ich laufe gern . Ich laufe gern mit dem Winde um die Wette . Horch , da oben geht er in den Wipfeln und ruft uns hier unten am Erdhoden . Husch – he , weshalb hast du deinen alten Herrn nicht mitgebracht ? – Der liefe mit uns und lachte wie ich über die gelbe , lange Frau . « » Ich bin ihnen weggelaufen ! « sprach Hennig mit kuriosem Selbstgefühl . » Dem mürrischen Fräulein ? Hussa , das ist recht ! Da , komm , du bist kein dummer Junge . Das wirst du nun noch öfters tun ! « » Läufst du oft weg , Tonie ? « » Jeden Tag , denn sie sind an jedem Tag hinter mir her , sobald die Schule zu Ende ist . Sie machen es schon arg in der Schule , wenn der Kantor den Rücken wendet ; aber auf dem Kirchhof sind sie sehr schlimm . Ich habe keinen , der mir hilft , und deshalb laufe ich – laufe immerzu , immerzu . O ich kann schnell laufen , ich habe es gelernt . « » Von jetzt an will ich dir helfen ! « sprach Hennig von Lauen , und das kleine Mädchen knickste so zierlich , daß selbst die Haute-Justicière von Valcroissant ihre Freude darüber hätte haben müssen . » Ich bedanke mich , junger Herr von Lauen . « Beide Kinder fühlten deutlich die Ausnahmestellung , in der sie sich befanden . Der Zögling des Chevaliers und der Chevalière und die Pflegebefohlene Hanne Allmanns standen seltsamerweise gar nicht so weit voneinander , wie es zuerst den Anschein haben mochte ; denn sie standen beide allein und im vollen Gegensatz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen von Krodebeck . Zwischen beiden und der Dorfkinderwelt lag die Dorfschule , welcher Antonie Häußler zwar gleichfalls angehörte , die aber denn doch nicht das geringste von ihr wissen wollte , in der sie heute nachmittag noch auf Erbsen gekniet hatte , um nachher auf dem Kirchplatz der ganzen jungen , in geordneten tausendjährigen Verhältnissen aufgewachsenen Bande als Spielzeug und Uhu zu dienen , ohne daß die Erwachsenen sich große Mühe gaben , der Quälerei des armen Kindes ein Ende zu machen . Wie der Junker zur Dorfschule stand , wissen wir , da wir die Ehre haben , Adelaide von Byzanz schon jetzt genauer zu kennen , als sie wahrscheinlicherweise sich selber kannte . » Jetzt laß uns laufen , damit sie weder dich noch mich finden ! « rief Tonie . » Ich habe dir das Horn vom Hirsch gegeben ; wenn sie kommen , mußt du dich damit wehren . O es ist schön im Wald , und ich finde mancherlei darin . Aber die meisten Vogelnester waren schon leer , als ich hierherkam , jetzt sind sie alle leer . – Du , frage mal deinen guten Herrn , wohin die Vögel ziehen . Ich möchte es gar zu gern wissen ; denn ich möchte mit ihnen gehen ; aber die alte Mutter im Siechenhause weiß nichts davon ; wenn einer davon weiß , so ist 's dein guter Herr . Eßt ihr auch Heidelbeeren auf dem vornehmen Hofe ? Ich hab mich satt daran gegessen . Hui , jetzt ist nur der Wind da ; aber auch der ist gut ; ich jage mich immer mit ihm , und niemand hat mir was zu befehlen . Der Wald gehört mir , daß du es nur weißt – deiner Mutter gehört er nur auf der Landkarte ; aber mir gehört er , weil ich darin zu Hause bin . Hörst du den Wind , willst du ihn mit mir jagen ? Ich tu dir nichts , fürchte dich nicht ; – kannst du klettern ? « Sie hatte die Hand des Knaben ergriffen und zog ihn mit sich fort .