1 Er ist ein einsamer Wanderbursch , der kleine Fluß , er läuft durch die stille Heide . Seine schwach klingenden Wellchen kennen nicht das tolle Jauchzen thaleinwärts stürzender Wasser ; sie trollen sich gemächlich über widerstandslose , flach gewaschene Kiesel , zwischen seichten , mit Weiden und Erlen bestandenen Borden . Das Gebüsch aber verschränkt seine Zweige so undurchdringlich , als dürfe nicht einmal der Himmel droben wissen , daß die kleine Ader voll rieselnden Lebens in der verrufenen Heide klopfe . Und das ist so recht im Sinn vieler böser Zungen , die draußen in der Welt diese weiten Flächen germanischen Tieflandes verlästern . Lieber , sieh dir einmal das vielgeschmähte Proletarierweib , die Heide , im Hochsommer an ! Freilich , sie hebt die Stirne nicht bis über die Wolken , das Diadem des Alpenglühens oder einen Kranz von Rhododendren suchst du vergebens ; – sie trägt nicht einmal die Steinkrone des Niedergebirges ; auch schmiegt sich nicht der breite funkelnde Stahlgürtel eines gewaltigen Wasserstromes unter ihren Busen ; aber die Erika blüht ; ihre lila- und rotgemischten Glockenkelche werfen über die sanften Biegungen des Riesenleibes einen farbenprächtigen , mit Myriaden gelbbestäubter Bienen durchstickten Königsmantel – und der hat einen köstlichen Saum . Weit drüben schwillt die humusarme , sandige Fläche , die allerdings nur für das genügsame Heidekraut einen Nahrungsquell hat , zur mäßigen Anhöhe empor ; in dem Boden steckt Kraft und Mark ; der lange dunkle Streifen , mit welchem er die rotflimmernde Ebene plötzlich abschneidet , ist Wald , tiefer majestätischer Laubwald , wie er seinesgleichen sucht . Stundenlang schreitest du durch die dämmernden Säulenreihen , die der verachtete Heideboden gen Himmel treibt . In dem Geäst , hoch über deinem Haupte , nisten Finken und Drosseln , und aus dem Dickicht äugt das fliehende Wild scheu nach dir herüber . Und wenn endlich der Hochwald in niedriges Kieferngestrüpp ausläuft und dein Fuß zögert , auf die Waldbeeren zu treten , die hier , wie vom Himmel niedergeschüttet , in Scharlach und bläulicher Schwärze den Abhang färben , während von der Bodensenkung draußen liebliches Wiesengrün und das blasse Gold reifender Getreidefelder heraufschimmern – wenn aus dem mitten drin liegenden Dorf , das seine urgemütlichen Wohnhäuser um den ziegelbedeckten Kirchturm schart , menschliches Leben und Treiben und das Gebrüll stattlichen Hornviehs herüberschallt , dann denkst du wohl lächelnd der trostlosen , gottverlassenen Sandwüste , wie sie » in den Büchern steht « . Das Flüßchen freilich , mit welchem diese Niederschrift beginnt , durchmißt eine der dürftigsten , menschenleersten Strecken . Es läuft lange parallel mit der Waldlinie am Horizonte , und erst nach reiflichem Ueberlegen macht es eine selbständige Schwenkung nach ihr hinüber . Bei aller Sanftmut nagt und wühlt es doch am weichen Uferboden , und einmal sogar gelingt es ihm , ein Miniaturbecken zu bilden , in welchem die langsam rinnenden Wasser scheinbar rasten . Hier weiß man nicht , wo die Luft aufhört und das Wasser beginnt , so klar abgezeichnet liegen die weißen Kiesel drunten , und so wenig bewegt schwimmt das Nixenhaar darüber hin . Das kleine Rund treibt die Erlenbüsche auseinander , eine lichtbedürftige Birke hat sich um einen Schritt hinausgeflüchtet und steht da wie ein holdes Sagenkind , dem die Sommerlüfte unaufhörlich blinkende Silberstücke aus den Locken schütteln . Es war in den letzten Tagen des Juni . In dem kühlen Wasser des kleinen Beckens standen ein Paar brauner Mädchenfüße . Zwei ebenso sonnverbrannte Hände zogen das schwarze grobwollene Röckchen fest und vorsichtig um die Kniee , während sich der Oberkörper neugierig vornüber bog . Schmale , mit weißen Linnen bedeckte Schultern und ein junges , braun angehauchtes Gesicht – in der That , es war wenig und winzig genug , was der Fluß zurückwarf ; immerhin – den zwei Augen im Wasser war es sehr gleichgültig , ob das Gesicht , in welchem sie saßen , griechische Regelmäßigkeit oder den Hunnentypus zeigte . Hier auf dem einsamsten Fleck der Heide gab es keinen Maßstab für weibliche Schönheit , keine Anregung zum Vergleich ; nur daß alles , was im unverfälschten Tageslicht » natürlich « und altgewohnt erschien , aus dem Wasserspiegel so fremd heraufsah , das machte ihn verlockend . Draußen im Sonnenschein , im sausenden Heidewind flatterte das ziemlich kurz verschnittene Lockenhaar lustig um Stirn und Nacken – hier unten wurde es zu schwer niederhängenden Rabenflügeln , unter denen hervor die kleinen , roten Glasperlen der Halskette wie dunkelglühendes Blut tropften , und das grobe derbe Leinenhemd gar leuchtete geschmeidig und seidenweich , als schwimme eine einzige große , schneeweiße Glockenblume drunten im Wasser – es verwandelte sich eben alles wie in der allerschönsten , alten Zaubergeschichte . Meist füllte ein Stück dunkler Himmelsbläue die Bresche der Büsche , das gab der Wasserfläche eine harte Stahlfarbe und dem Mädchenbilde einen eintönigen Hintergrund . In diesem Augenblick jedoch liefen plötzlich glühende Dunstgebilde über den Spiegel – es war unglaublich , aber trotz allem dem quollen sie unmittelbar aus den Haarspitzen des Lockenkopfes . Das kämpfte durcheinander und glühte immer höher auf , als solle allmählich die ganze Welt von Purpur triefen . Nur das heimliche Düster um die Wurzeln des Buschwerks vertiefte sich zur finsteren Höhle , aus der einzelne Zweige wie schwarze Stalaktitenzacken in das schwimmende Feuer hineinragten – eine neue , blitzschnelle Wendung der alten Zaubergeschichte . Aber sie erzeugte einen heillosen Schrecken . Nahm doch selbst der Schatten , den das vorgeneigte Mädchen warf , Brunnentiefe an , aus der herauf zwei übergroße , entsetzte Augen glitzerten . Die braunen Füße gehörten zu keiner Heldenseele ; mit einem wilden Satze sprang sie an das Ufer – welch eine lächerliche Flucht ! Draußen über der Heide entzündete sich der Abendhimmel in roten Flammen , eine feurige , sanft zerfließende Wolke zog über die Bresche hin , das war der gespenstige Nimbus – und die Augen ? Hatte wohl die Welt solch einen Hasenfuß wie mich gesehen ? Solch ein kindisches Ding , das vor seinen eigenen Augen davonlief ? Zunächst schämte ich mich vor mir selber und dann vor meinen zwei besten Freunden , die Zeugen gewesen waren . Meine gute Mieke zwar hatte sich weiter nicht stören lassen – sie war der weniger intelligente Teil . Die schönste schwarzbunte Kuh , die je über die Heideflächen gelaufen , stand sie breitspurig unter der Birke und riß und zupfte schwelgend an dem Grase , das der feuchte Uferboden in einem dünnen Streifen emportrieb . Sie hob den langen , schmalen Kopf , kaute mit unverkennbarem Appetit weiter an den fetten Halmen , die ihr zu beiden Seiten des Maules niederhingen , und sah nur einen Moment dummverwundert nach mir hin . Spitz dagegen , der sich faul und schläfrig unter das kühle Gebüsch geduckt hatte , nahm die Sache tragischer . Er fuhr wie besessen in die Höhe und bellte in das zurückklatschende Wasser hinein , als sei mir der böse Feind auf den Fersen . Er war nicht zu beschwichtigen ; die Stimme sprang ihm über vor Alteration und Kampfeswut – und das war urkomisch . Lachend sprang ich in das Wasser zurück und sekundierte ihm , indem ich mit beiden Füßen den lügnerischen Spiegel in hochaufspritzende Atome zerstampfte . Es war aber auch noch ein dritter Zeuge hinzugetreten , den weder ich noch Spitz bemerkt hatten . » Nu , was macht denn mein Prinzeßchen da ? « fragte er in jenen knurrenden , halbzerrissenen Tönen , wie sie aus einem Munde kommen , dem die unzertrennliche Tabakspfeife wie festgemauert zwischen den Zähnen sitzt . » Ach , du bist's , Heinz ? « – Vor dem schämte ich mich nicht , er lief selber wie ein Hase vor allem , was nicht ganz geheuer . Freilich , das glaubte keiner , der dies alte , gewaltige Menschenkind sah . Da stand er , Heinz , der Imker Bienenzüchter . , auf Sohlen , so massiv und wuchtig , daß sie den Erdboden schüttern machten . Sein Scheitel rührt an Aeste , die für mich himmelhoch hingen , und der breite Rücken verschloß den Ausblick nach der Heide so vollkommen , als habe sich plötzlich eine Granitwand zwischen die Außenwelt und meine kleine Person geschoben . Dieser Riese gab Fersengeld vor dem ersten besten weißen Laken im dämmernden Zwielicht – und das machte mir Vergnügen . Ich erzählte ihm so lange haarsträubende Sagen und Spukgeschichten , bis mich selber eine Gänsehaut überlief , und ich allen Mut verlor , auch nur in den nächsten dunklen Winkel zu sehen – wir fürchteten uns prächtig um die Wette . » Ich zertrete ein Paar Augen , Heinz , « sagte ich und stampfte noch einmal fest auf , so daß die sprühenden Wassertropfen an seinem mißfarbenen Drellrock hängen blieben . » Du , da drin ist 's nicht richtig – « » Ei beileibe – am hellen Tage ? « » Ach , was fragt denn die Wasserfrau nach dem hellen Tage , wenn sie böse ist ! « – Mit einer wahren Wonne sah ich , wie er halb ungläubig , halb mißtrauisch nach dem rotgefärbten Wasser schielte . – » Wie , du glaubst es nicht , Heinz ? ... Ei , da wollt' ich doch , sie hätte dich so angesehen , so schlimm – « Jetzt war er überwunden . Er zog die Tabakspfeife aus dem Munde , spuckte heftig aus und richtete in einem lächerlichen Gemisch von Triumph und Besorgnis die zerkaute Pfeifenspitze gegen mich . » Was hab' ich immer gesagt , he ? « rief er . » Ich thu 's aber auch nicht wieder – nein , ich thu' es ganz gewiß nicht wieder ! ... Meinetwegen können die Dinger haufenweise da drin liegen , ich rühre sie nicht wieder an – beileibe nicht ! « – Da hatte ich ja etwas Schönes angerichtet mit meiner Neckerei . Der kleine Fluß , der Wanderbursch , der so einsam durch die Heide lief , war reicher , als so mancher stolze Strom , der an Palästen und Menschengewühl vorüberrauschte – er hatte Perlen in der Tasche ; allerdings in nur geringer Anzahl und bei weitem nicht brillant genug , um ein Königsdiadem oder auch nur einen eleganten Ring zu schmücken . Aber was verstand ich davon ! Ich liebte die kleinen mattglänzenden Dinger , die so rund und beweglich über meine Handfläche liefen . Stundenlang watete ich durch das Wasser und suchte nach Muscheln ; ich brachte sie Heinz , der sich auf das Oeffnen der Schalen verstand – wie er das machte , war sein Geheimnis . Nun aber kündigte er mir kurz und bündig den Dienst , weil er sich steif und fest einbildete , die Wasserfrau werde uns als Spitzbuben den Prozeß machen . » He , Heinz , es war ja nur ein dummer Spaß ! « sagte ich kleinlaut . » Lasse dir doch nichts weis machen ! « – Ich bog mich über das Wasser , das bereits anfing , sich wieder zu glätten . » Da sieh selber – was guckt da herauf ? ... Nichts , weiter gar nichts , als meine zwei eigenen schauderhaften Augen ... Warum sie nur so unmenschlich weit offen sind , Heinz ! Bei Fräulein Streit war es nicht so schlimm und bei Ilse auch nicht . « » Nein , bei Ilse auch nicht , « gab Heinz zu . » Aber Ilse hat scharfe Augen , Prinzeßchen , scharfe ! « Er hatte mir anfänglich mit seiner furchtbaren Faust gedroht , allerdings unter einem gutmütigen Schmunzeln – Heinz konnte nicht böse werden – bei seiner letzten unleugbar weisen und schlagenden Bemerkung aber kniff er wichtig die Lippen zusammen , zog die borstigen Augenbrauen bis unter den Hut und fuhr sich in die Haarbüschel , die strohgelb und dürr von den Schläfen starrten – sie knisterten förmlich in der heißen Abendsonne . Darauf blies er eine mächtige Rauchwolke vor sich hin , zum Entsetzen der spielenden Mückenschwärme , die sich eiligst aus dem Staube machten ; auch daheim die Ilse » mit den scharfen Augen « behauptete stets empört , das sei ein Kraut zum Umbringen – nur ich hielt stand , und wenn ich hundert Jahre erreichen sollte , der übelberufene Duft wird mich zu allen Zeiten sofort in die warme dunkle Ofenecke versetzen , mit dem ganzen Wonnegefühl des heimischen Geborgenseins neben Heinz auf der Holzbank kauernd , während draußen der heulende Schneesturm über die weite Heidefläche braust und ganze Batterien Eissplitter gegen die Fensterläden tosen . Ich sprang zu ihm an das Ufer , und da kam auch gerade Mieke heran und rupfte zutraulich an einigen Quecken , die halbzertreten unter Heinzens Schuhen hervorguckten . » Je , – wie sieht denn die aus ? « lachte er auf . » O , ich bitte mir 's aus , da wird nicht gelacht ! « schalt ich . Mieke hatte sich prächtig herausstaffiert . Zwischen den weitabstehenden Hörnern hing ihr eine Guirlande von strahlendgelben Ringelrosen und Birkenlaub – ich fand , sie trüge diesen Schmuck so majestätisch und ungezwungen , als sei er mit ihr auf die Welt gekommen – eine Kette aus den dicken Stengelröhren der Hundeblume umschloß ihren Hals , und selbst an der Schwanzspitze baumelte ein Heidesträußchen ; es kollerte lustig über den tonnenförmigen Leib herab , sobald Mieke den Wedel hob und nach den Stechmücken auf ihrem Rücken schlug . » Sie sieht sehr feierlich aus – aber das verstehst du nicht , sagte ich . » Nun paß auf und rate , Heinz : Mieke hat sich geputzt , und auf dem Dierkhofe ist heute Kuchen gebacken worden – also was ist los ? « Aber da hatte ich an seine allerschwächste Seite appelliert ; raten war nicht Freund Heinzens Sache . In solchen Momenten stand er hilfsbedürftig und bänglich vor mir , wie ein zweijähriges Kind – auch in diese Situation brachte ich ihn um alles gern . » Schlaukopf , du willst mir nur nicht gratulieren ! « lachte ich . » Aber das wird dir nicht geschenkt ! ... Lieber , allerbester Heinz , heute ist mein Geburtstag ! « Da flog es wie Freude und Rührung über das gute , dicke Gesicht ; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin , in die ich herzlich einschlug . » Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden ? « fragte er mit konsequenter Umgehung jedweder Glückwunschrede . Ich lachte ihn aus . » Weißt du das wieder nicht ? ... Merk auf : Was folgt auf sechzehn ? « » Siebzehn – was ? Siebzehn Jahre ? ... Ist nicht wahr – solch ein kleines Kind ! – Ist ja nicht wahr ! « – Er hob protestierend beide Hände . Dieser tiefe Unglaube empörte mich . Allein mein alter Freund , der es sich bis zu seinem zwanzigsten Jahre hatte angelegen sein lassen , mit der himmelstürmenden Tanne um die Wette zu wachsen , er war nicht so ganz im Unrecht ... Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genau so hoch , daß es Heinzens starkes Herz pulsieren hören konnte – nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt . Ich war und blieb ein kleines Wesen , das sich gezwungen sah , auf Kinderfüßen durch das Leben zu huschen ; und das nahm mir , nach Heinzens Begriffen von einem normalen Menschenkind , offenbar auch die Berechtigung , mit jedem Jahre älter zu werden . Trotz allem dem zankte ich ihn tüchtig aus ; aber diesmal half er sich als Politikus – er wechselte das Thema . Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd : » Da drüben gibt 's einen Extra-Geburtstagsspaß , Prinzeßchen – sie graben den alten König aus ! « Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches . Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten , so überwältigend flimmerten und brannten die roten Abendgluten . Drüben hinter der fernen Waldlinie schossen sie spießartig durch dünne Dunst- und Wolkenschichten – dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Heide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel . Noch blühte die Erika nicht – glatt , wie über einen Tisch , breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin ; nur fünfmal hob und senkte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünenbetten , über ein großes und vier kleinere . Sie deckten Riesenleiber , wie der Volksmund sagte , ein verschollenes Geschlecht , unter dessen Schritt einst die Erde seufzte , und das mit mächtiger Faust Felsblöcke wie Kiesel umwarf . Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wacholdergebüsch eingenistet , und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster . Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen , oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte , genug , sie stand da , seitwärts auf dem Grat des Hügels , dünn benadelt und windzerzaust , und im Wachstum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters ; aber doch stolz als einziger , unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene , der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte . » Da liegt der alte König begraben ; denn der Baum steht da , und es blühen gelbe Blumen – das haben die anderen nicht , « sagte ich als Kind zu Heinz , wenn wir auf dem Hügel saßen . Und ich wußte , da , wo der Baum stand , lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirne , und der lange , lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke , die sie über seine Glieder gebreitet hatten . Die tiefste Einsamkeit webte um das schlafende Geheimnis , aber die Vögel , die vom Walde herüberkamen und auf dem Wipfel der Föhre rasteten , die um Ginster und Heide taumelnden , blauglänzenden Schmetterlinge und die summenden Bienen , sie alle waren meine Mitwisser . Und still atmend , die Hände unter dem Kopf verschränkt , lag ich im Gebüsch und sah die Ameisen in die Erdlöcher schlüpfen und wieder hervorkommen – sie wußten noch mehr als wir anderen , sie hatten alles drin gesehen und waren wohl gar über die Purpurdecke gelaufen . Ich beneidete sie und fühlte heftige Sehnsucht nach den verborgenen Wundern . Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten , mein Wald , mein unbestrittenes Eigentum gewesen . Der Dierkhof , meine Heimat , lag mutterseelenallein in der Heide ; ein selten betretener Weg , der sie mit der Außenwelt verband , lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen – nie , solange ich denken konnte , war ein fremder Menschenfuß in ihr Bereich getreten ... Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute ; sie rissen große Erdbrocken aus dem Leibe des Hügels . Ich sah die hochgeschwungene Hacke – wie ein feiner , schwarzer Strich hob sie sich vom flammenden Himmel ab , und so oft sie niedersank , war es mir , als schneide sie in das lebendige Fleisch eines geliebten Körpers . Ohne Besinnen lief ich querfeldein , erfüllt von unsäglichem Mitleiden , aber auch getrieben von dem brennenden Verlangen , zu sehen , was dort an das Tageslicht treten würde . Spitz lief kläffend neben mir her , und als ich atemlos an Ort und Stelle Halt machte , da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran . Jetzt erst überkam mich das Gefühl der Scheu , jener kindische Schrecken , den mir ein fremdes Gesicht stets einflößte . Ich wich zurück und griff beklommen nach Heinzens Rockzipfel – das gab mir wenigstens einigermaßen das Bewußtsein von Halt und Schutz . 2 Am Hügel standen drei Herren in schweigender Erwartung , während mehrere Arbeiter gruben und schaufelten . Auf den greulichen Lärm hin , den Spitz machte , wandten sich die Fremden einen Augenblick nach uns um , und einer , anscheinend der jüngste unter ihnen , hob den Stock gegen das Tier , als es Miene machte , ihm näher zu kommen . Dann ließ er seine Augen kalt musternd über Heinz und mich hingleiten und kehrte uns wieder den Rücken . Es war unter der Föhre eingeschlagen worden . Das herausgerissene Ginstergebüsch lag weithin zerstreut ; da , wo es gestanden , klaffte eine weite Oeffnung , und oben aus dem Bruch , aus dem elenden Gemisch von Lehm und gelblichem Sande , hingen dicke Wurzeln , Ausläufer der Föhre herab – sie zeigten das weiße Fleisch , die Hacke hatte sie unbarmherzig zerschnitten . » Da wären wir auf dem Stein , « sagte einer der Herren , als die Werkzeuge klirrend aufschlugen . Man räumte die letzten Erdschollen hinweg , und es wurde ein mächtiger , roher Felsblock sichtbar . Die Herren traten seitwärts , indes die Arbeiter sich anschickten , den Stein wegzuwälzen . Heinz aber rückte gespannt näher ; die Männer machten ihm die Sache offenbar nicht praktisch und handlich genug . Das rechte Bein weit vorgestreckt , hob und senkte er in stillschweigender Mitwirkung die geballten Fäuste , und die Tabakspfeife feierte mittlerweile auch nicht – ich sah plötzlich die Köpfe der Fremden nur noch durch einen bläulichen Nebel . Das aber machte einen Effekt , einen Effekt , den Ilse hätte sehen müssen . Der junge Herr , hinter welchem mein guter Freund stand , fuhr herum , als habe er unversehens einen Schlag erhalten . Er maß den unglücklichen Raucher mit einem langen , vernichtenden Blicke und fuhr voll Abscheu mit seinem seidenen Taschentuch durch die Luft , um die Rauchwolken zu zerstreuen . Heinz nahm wortlos das Corpus delicti aus dem Munde und ließ es schlaff an der Seite niedersinken – er war über die Maßen verblüfft . Einen solchen Eindruck hatte sein Tabak doch noch nicht gemacht . Mich aber hatte das Benehmen des Fremden tief erschreckt und eingeschüchtert ; ich schämte mich und hob eben den Fuß , um das Weite zu suchen , als der Stein aus dem Gefüge wich und unter dumpfem Gepolter einige Schritte vorwärts gerollt wurde . Das fesselte mich sofort wieder an den Boden . Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen , denn die Herren umdrängten die Oeffnung ; aber ich wollte auch plötzlich gar nicht mehr . Das Blut stieg mir beängstigend nach den Schläfen , und unwillkürlich wandte ich die Augen weg , denn ich meinte , jetzt müsse etwas Ueberwältigendes kommen . » Potztausend – das wär's ? « rief Heinz mit dem Ausdruck überwältigender Ueberraschung . Ich sah hinüber – und da war es mir für einen Moment , als seien alle Farben und Lichter der Heide erloschen , als falteten alle blauglänzenden Schmetterlinge die Flügel und sänken zusammen – und die funkelnden Speere am Horizont , wo waren sie hin ? Dort ging nur noch die Sonne unter ... Im Hügel lag nicht der greise König mit dem lang herabfließenden Silberbart , die Riesenglieder unter die Purpurdecke gebettet – eine dunkle , leere Höhle gähnte mich an . Die Fremden schienen dies Ergebnis ganz in der Ordnung zu finden . Einer , der eine Brille trug und auf dem Rücken eine lange Blechbüchse hängen hatte , kroch in die Oeffnung , und der junge Herr folgte ihm , während der dritte , ein großer , schlanker Mann , die innere Fläche des fortgewälzten Granitblockes untersuchte . Sein Gesicht konnte ich nicht sehen , er wandte mir den Rücken ; aber ich hielt ihn für alt ; denn er hatte langsame Bewegungen und der schmale Streifen kurz verschnittenen Haares , der unter dem braunen Hut hervorsah , war entschieden grau . » Der Stein ist bearbeitet , « sagte er , indem seine Hand leicht über die Fläche glitt . » Die anderen Träger auch ! « rief eine Stimme aus dem Hügel . » Und welch einen riesigen Deckstein haben wir über uns ! Ein wahres Prachtstück von einem erratischen Block ! « Der junge Herr erschien wieder in der Oeffnung . Er mußte sich tief bücken , und dabei entfiel ihm der Hut . Bis dahin hatte ich wenige Männer gesehen – außer Heinz , dem alten Pfarrer des nächsten , ziemlich zwei Stunden entfernten Dorfes und einigen dort ansässigen grobknochigen und wortkargen Hofbesitzern war mir nur hier und da ein schmutziger Besenbinderjunge über den Weg gelaufen . Ich hatte mithin keine Gelegenheit gehabt , mich mit dem Begriff von Männerschönheit zu beschäftigen . Aber auf dem Dierkhofe hing ein Bild Karls des Großen ; an das mußte ich denken , als die unbedeckte Stirne dort aus der schwarzen Höhle auftauchte ; wie ein breiter , weißer , fleckenloser Schild glänzte sie unter den aufbäumenden kastanienfarbenen Haarmassen , die mit einem energischen Emporwerfen des Kopfes zurückgeschüttelt wurden . Der junge Mann hielt ein großes Thongefäß von gelblichgrauer Farbe in den Händen . » Vorsicht , Herr Claudius ! « mahnte der Herr mit der Brille , der ihm folgte und selbst verschiedene fremdartige Gerätschaften in der Linken trug . » Im ersten Augenblick sind diese Urnen sehr zerbrechlich ; sie erhärten aber schnell an der Luft – « Dazu kam es nicht . In demselben Moment , wo die Urne auf den Granitblock gestellt wurde , zerbarst sie ; eine Wolke von Asche stiebte auf und halb verkohlte menschliche Gebeine flogen und rollten nach allen Seiten hin . Der Brillenträger stieß einen Laut des Bedauerns aus . Er ergriff mit der zart zugespitzten Rechten behutsam eine der Scherben , schob die Brille auf die Stirne und besah die Thonmasse an dem frischen Bruch . » Ah bah , der Schaden ist nicht groß , Herr Professor ! « sagte der junge Mann . » Da drin stehen noch mindestens sechs Stück , und die Dinger gleichen sich wie ein Ei dem anderen . « Der Professor verzog das Gesicht , als habe er Essig geschluckt . » Ei , ei , das klingt ja recht – laienhaft ! « meinte er scharf . Der andere lachte auf , und das war ein wunderschönes Lachen . Es klang hell und übermütig und doch so wohlthuend beherrscht . Er schien es übrigens sofort zu bereuen , sein Gesicht wurde sehr ernst . » Ich bin ja auch nur ein Laie , wenn auch ein passionierter , « entschuldigte er sich . » Deshalb müssen Sie schon Gnade für Recht ergehen lassen , wenn der Neuling hier und da die strengen Zügel der Wissenschaft verliert und ein wenig querfeldein galoppiert ... Mir lag hauptsächlich daran , mich über den inneren Bau dieser Grabdenkmäler zu informieren , und – ah , wie prächtig ! « unterbrach er sich und nahm eins der seltsamen Geräte , die der Professor mittlerweile auf dem Steine ausgebreitet hatte . Der gelehrte Herr hörte augenscheinlich die Entschuldigung des jungen Mannes gar nicht . In tiefes , man hätte sagen können peinliches Nachdenken versunken , hielt er einen kleinen Gegenstand prüfend bald gegen das Licht , bald dicht unter die Augen . » Hm , hm , eine Art Filigranarbeit von Silber ! Hm , hm , « murmelte er vor sich hin . » Silber in einem vorgeschichtlichen germanischen Grabhügel , Herr Professor ? « fragte der junge Mann nicht ohne spöttische Betonung . » Sehen Sie hier dies köstliche Bronzestück ! « Es war ein Dolch oder ein Messer , was er ergriffen hatte . Er hob und senkte wie zum raschen Stoß die Waffe , dann wog er sie lächelnd auf den Fingerspitzen . » Einer Germanenfaust hätte dies zierliche Ding da sicher nicht genügt – sie hätte es im ersten Augenblick zerdrückt , « sagte er . » Und ebensowenig hat sie den zarten Silberschmuck geschaffen , den Sie da in der Hand halten , Herr Professor ... Schließlich behält Doktor von Sassen doch recht , wenn er diese sogenannten Hünengräber als Begräbnisstätten phönizischer Anführer bezeichnet . « » Doktor von Sassen ! « Wie mich 's durchfuhr bei diesem Namen ! Hatte der Sprecher dort nicht mit dem Finger auf mich gezeigt ? Und richteten sich nicht sofort aller Augen auf meine arme , kleine erschrockene Person ? ... Alle diese Augen ! Ich hätte mich in die Erde verkriechen mögen ! ... Ach , welcher Kindskopf war und blieb ich doch ! Man kümmerte sich so wenig um mich , wie vorher auch – ich wollte aufatmen ; aber o weh , an ihn hatte ich nicht gedacht ! Dort stand er , Monsieur Heinz , der Pfiffikus , nickte mir mit überaus schlauer Miene zu und schrie hinter der hohlen Hand : » He , Prinzeßchen , die Leute sprechen von – « » Still , Heinz ! « fuhr ich ihn an – zum erstenmal in meinem Leben , und zum erstenmal auch trat ich heftig mit dem Fuße auf . Er sah mich einen Moment wie versteinert an , dann wandte er scheu die Augen nach der anderen Seite . Die Arbeiter aber waren aufmerksam geworden ; sie schienen jetzt erst zu finden , daß der Gegenstand da hinter ihnen nicht ein Dornbusch oder dergleichen , sondern ein kleines furchtsames Mädchen war . Sie starrten mich mit einer Art von lächelnder Neugier unverwandt an : ich wäre am liebsten auf und davon gelaufen ; allein es hielt mich etwas unwiderstehlich fest , und ich war damals der unumstößlichen Ueberzeugung , es sei einzig und allein der Wunsch , noch etwas über den Träger jenes Namens zu hören . Zudem beruhigte es mich , daß die fremden Herren Heinzens Bemerkung nicht gehört hatten . Mit den » phönizischen Anführern « waren zwei zündende Funken in die Seele des Professors gefallen . Offenbar ein Gegner dieser Hypothese , verfocht er seinen Standpunkt in leidenschaftlich heftiger Rede , welcher der junge Mann mit pflichtschuldiger Aufmerksamkeit folgte . Der Herr im braunen Hut dagegen beteiligte sich weniger an den gelehrten Auseinandersetzungen . Ruhigen Schrittes wandelte er auf und ab . Er sah lange in das aufgebrochene Hünengrab ; später bestieg er den Hügel und übersah die weite Ebene . Inzwischen war die lodernde Abendröte erblaßt und sank am Horizont in tiefvioletten Tinten zusammen ; nur an dem langen dünnen Wolkenstreifen , der sich wie ein dräuender Arm über die entweihte Totenstätte reckte , lief noch ein rötlicher Hauch hin . Der falsche Flitter eines vergänglichen Schauspiels verflog , und droben breitete sich wieder der ernste Himmel in verdunkeltem Blau . Nun trat auch die bleiche Mondsichel , dieser scheinbare Nebelfleck , den das allgemeine Glutmeer völlig verschlungen hatte , wieder hervor und fing an , sich schwach golden zu färben . Der Herr auf dem Hügel zog seine Uhr hervor . » Es ist Zeit zum Aufbruch ! « rief er hinab . » Wir brauchen eine volle Stunde , ehe wir den Wagen erreichen ! « » Ja , Onkel , leider Gottes eine starkgemessene Stunde ! « antwortete der junge Mann . » Ich wollte , wir hätten dies verwünschte Heidegestrüpp bereits hinter uns , « sagte er mit einem Blick auf seine feinbekleideten Füße mißmutig zu dem Professor , der seine Rede unter einem nachdrücklichen » Eh , wir werden ja sehen ! « eiligst geschlossen hatte . » Müssen wir wirklich auf dem heillos schlechten Wege wieder zurück ? « » Ich weiß keinen besseren ! « versetzte achselzuckend der Gelehrte . Der andere ließ seine Augen finster über die weite Fläche hingleiten . » Es ist so still , die Heide liegt Im warmen Mittagssonnenstrahle « – recitierte er mit spöttischem Pathos . » Ich begreife nicht , wie man die Heide besingen kann . Mir würde der poetische Gedanke im Gehirn , das schildernde Wort im Munde erstarren ... Ist es Ihnen wirklich Ernst mit Ihrer Vorliebe für diese furchtbare Einöde , Herr Professor ? Ich bitte Sie , dann zeigen Sie mir etwas anderes , als Heide und abermals Heide , dieses entsetzliche braune Gespenst ! Hören Sie auch nur einen Ton aus einer Vogelkehle ? Und wohin verkriecht sich das menschliche Leben und Treiben , das doch durchaus existieren soll ? Steckt es unter der Erde ? ... Ich kann mir nicht helfen , Ihre Heide ist das ausgestoßene Kind Gottes in brauner Kutte ! « Der Professor sagte kein Wort . Er schob nur den jungen Mann um einige Schritte seitwärts , dahin , wo die Lehne des Hügels rasch abfiel , faßte ihn an den Schultern und ließ ihn über den Hügel hinweg nach Süden sehen . Dort lag der Dierkhof . Sein festes schweres Dach , mit der Heidegarnitur unter jeder Ziegelreihe , hob sich stattlich inmitten vier mächtiger Eichen . Kräftige Rauchwolken , an brodelnde Töpfe auf dem wohlbesetzten Herd erinnernd , wirbelten durch die Aeste und zerflossen in der weichen Sommerluft , hoch über der schwarzweißen Frau Störchin , die , die nackten Beine im Reisernest , nachdenklich den roten Schnabel über die helle Brust hängen ließ . Es war noch hell genug , daß man das tiefe Grün der sorgfältig gepflegten Rieselwiesen und ein schwaches Glimmen hinter der Garteneinhegung erkennen konnte – es sah aus , als sei dort ein Widerschein des farbensprühenden Abendhimmels liegen geblieben – das waren Ilses Lieblinge , die dickköpfigen orangegelben Ringelblumen ... Und da trabte eben auch Mieke , jedenfalls sehr satt und sehr gelangweilt , auf eigene Faust heimwärts . Sie blieb einen Augenblick dumm und faul vor dem gastlich offenen , hochgewölbten Hausthor stehen und besann sich , ob sie hineingehen solle – dies prächtige Tier vervollständigte das Bild ländlicher Wohlhabenheit . » Sieht das aus , als ob schwachsinnige Troglodyten dort hausten ? « fragte lächelnd der Professor . » Und kommen Sie in einem Monat wieder , wenn die Heide blüht , wenn sie purpurn flimmert und schimmert ! Dann ist sie märchenhaft ! Noch später aber trieft sie von flüssigem Gold , von dem Golde des Honigs – und was wollen Sie ? Das › ausgestoßene Kind Gottes ‹ schmückt sich wie ein Königstöchterlein – viele der kleinen dunklen Heidebäche , wie Sie dort drüben einen sehen , haben Perlen . « » Ja , Milliarden Wasserperlen , die ins Meer fließen ! « lachte der junge Herr . Der Professor schüttelte ungeduldig den Kopf . Ich hatte ihn auf einmal herzlich lieb , den Mann , trotz seines vertrockneten Gesichts , seiner vielen Fremdwörter und der häßlichen , rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken . Er verteidigte ja meine Heide , er hatte mit wenigen Worten den ganzen Zauber und Segen , den sie atmete , zur Geltung gebracht . Der junge Spötter mit dem verächtlich lächelnden Munde aber , der mir mit jedem seiner Worte auf das Herz trat , er mußte beschämt werden . Ich weiß noch heute nicht , woher ich den Mut nahm , aber ich stand plötzlich an seiner Seite und hielt ihm schweigend die Hand hin , in der fünf Perlen lagen . Mir war , als sei ich auf glühende Kohlen getreten ; ich fühlte , wie mir die Lippen zitterten vor Scheu und Angst , und meine Augen hingen fest am Boden . Es wurde dunkel um mich her , man umringte mich ; der Herr , der inzwischen vom Hügel niedergestiegen war , die Arbeiter , alle kamen heran , und neben mir sah ich Heinzens riesenhafte Schuhe . Na , nun sehen Sie mal , Herr Claudius , das Kind da will Sie überführen ! ... Brav , mein Töchterchen ! « rief überrascht und vergnügt lachend der Professor . Der junge Herr sagte kein Wort . Vielleicht war er erstaunt über die Dreistigkeit , mit der sich das Kind der Heide im groben Leinenhemd und kurzen Wollröckchen neben ihn stellte . Langsam , ich meinte , mit Widerwillen griff er herüber – und jetzt erschrak ich erst recht bis ins Herz und schämte mich . Unter diesen elfenbeinweißen schlanken Fingern mit den mattglänzenden Nägeln erschien meine sonnenverbrannte Hand völlig kaffernbraun ; sie zuckte unwillkürlich zurück , und um ein Haar hätte ich die Perlen verschüttet . » Wahrhaftig , sie sind noch nicht durchbohrt ! « rief er und ließ zwei der winzigen Kügelchen über seine Handflächen rollen . » Form und Farbe lassen freilich viel zu wünschen übrig – sie sind sehr grau und unregelmäßig , « entschuldigte der Professor . » Es sind eben kleine Barockperlen ohne sonderlichen Wert ; aber sie bleiben immerhin eine interessante Erscheinung . « » Ich möchte sie gern behalten , « sagte der junge Mann ; das klang wie eine höfliche Bitte . » Nehmen Sie , « antwortete ich kurz , ohne aufzusehen ; ich meinte , man müsse in jedem Wort mein Hasenherz klopfen hören . Er las behutsam die übrigen Perlen von meiner Hand auf , und jetzt sah ich , wie der Herr im braunen Hut , der vor mir stand , ein glänzendes Gewebe , in welchem es leise klirrte , aus der Tasche zog . » Hier , mein Kind , « sagte er und legte mir fünf große , runde , hellglänzende Stücke in die Hand . Zu ihm schlug ich die Augen auf . Ich sah eine breite Hutkrempe , die das halbe Gesicht verdeckte , dann kam eine große blaue Brille , von der ein leichenhafter Schein auf die Wangen fiel . » Was ist das ? « fragte ich , bei aller Befangenheit doch ergötzt durch das Geflimmer und die Form der fremdartigen Dinger . » Was das ist ? « wiederholte der Herr erstaunt . » Wissen Sie denn nicht , was Geld ist , kleines Mädchen ? Haben Sie noch keinen Thaler gesehen ? « » Nein , Herr , das weiß sie nicht , « antwortete Heinz mit väterlicher Autorität für mich . » Die alte Frau leidet kein Geld im Hause ; was sie findet , wirft sie ohne Gnade in den Fluß . « » Wie ? ... Und wer ist denn diese seltsame alte Frau ? « fragten die drei Herren fast zugleich » Nu , dem Prinzeßchen seine Großmutter . « Der junge Mann lachte laut auf . » Diesem Prinzeßchen ? « fragte er und zeigte auf mich . Ich ließ die Silberstücke auf den Boden hinrollen und entfloh ... Böser , böser Heinz ! ... Aber warum hatte ich ihm auch die Geschichte von der überaus zarten und feinen Prinzessin auf dem Erbsen-Prüfstein erzählt , und warum hatte ich's gelitten , daß er mich seitdem » Prinzeßchen « titulierte , weil er sich einbildete , es gäbe nichts Kleineres und Feineres , als das leichtfüßige Menschenkind , das an seiner Seite die Heide durchstreifte ! Ich lief wie gehetzt heimwärts . Das Spottgelächter des jungen Mannes jagte mich , und ich hatte das dunkle Gefühl , als würde es mir nicht mehr in den Ohren klingen , wenn ich meinen Kopf unter das Dach des Dierkhofes stecken könnte . Unter dem Hausthor stand Ilse und schaute offenbar nach mir aus ; denn Mieke war ja allein heimgekommen . Meine Blicke klammerten sich schon von ferne förmlich an die Gestalt , die in harten , eckigen Umrissen aus dem Dämmerdunkel der hinter ihr sich lang hinstreckenden Tenne hervortrat ... Wie hatte ich den blonden Kopf dort so lieb ! Er war genau so strohgelb , wie Heinzens ausgedörrte Schläfenhaare , und die Scheitellinie entlang strebte stets eine eigensinnig krause Wolke aufwärts . Ilse hatte auch dieselbe scharfkantige Nase wie ihr Bruder , und das gesunde frische Blut , das ihr die Backenknochen schön rot lackierte ; aber die Augen , die scharfen Augen , die Bruder Heinz so ängstlich respektierte , sie waren anders , und als ich näher herankam , gefielen sie mir nicht . » Bist du toll geworden , Leonore ? « rief sie mir in ihrer gewohnten knappen Kürze zu – sie war böse , so böse , wie sie bei ihrem außerordentlich festen inneren Gleichgewicht überhaupt werden konnte – , denn sie nannte mich beim Namen , und das geschah nur , wenn sie zürnte . Dann schwieg sie und zeigte nur streng auf den Fleck , wo ich stand . Mein Blick glitt hinab , und da sah ich allerdings etwas , das auch mir äußerst fatal war , nämlich meine nackten Füße . » Ach , Ilse , Schuhe und Strümpfe liegen noch am Fluß ! « sagte ich niedergeschlagen . » Unverstand ! ... Gleich holen ! « Sie schwenkte um und schritt nach dem Herd zurück , der , zwar nach moderner Art als Sparherd eingerichtet , doch seine altgewohnte Stelle im echt niedersächsischen Hause , nämlich am hintersten Ende der Dresch- oder Viehdiele , siegreich behauptete . Ilse hatte Speck auf dem Feuer , er prasselte und duftete kräftig herüber , und in dem brodelnden Kartoffeltopf stiegen die großen Wasserblasen auf . Das Abendbrot war nahezu fertig , ich mußte eilen , wenn ich rechtzeitig zurück sein wollte . Allein aus dem Hausthor trat ich nicht um die Welt wieder . Verließ ich das Haus durch eine der rückwärts gelegenen Thüren , dann war ich gedeckt durch den Dierkhos selbst und konnte den Fluß erreichen , ohne daß die drüben am Hügel mich bemerkten . 3 Ich schritt nach der Seitenthür , die zwischen der Dreschdiele und den Wohnungsräumen ins Freie , in den sogenannten Baumhof , führte . Allein Ilse vertrat mir den Weg und hob abmahnend den Zeigefinger . » Da hinaus kannst du nicht , da steht die Großmutter ! « sagte sie mit unterdrückter Stimme . Die Thür stand offen , und ich sah , wie meine Großmutter den Arm des Pumpbrunnens in rasender Geschwindigkeit auf und nieder schleuderte – ein Schauspiel , das mich sonst nicht befremdete , ich hatte es täglich vor Augen . Meine Großmutter war eine große , starkbeleibte Frau , mit einem Gesicht , das von den Scheitelhaaren an bis auf den breiten Hals hinab zu allen Zeiten eine gleichmäßig brennende Röte überlief . Diese Färbung der ohnehin starken und auffallend gebildeten Züge über der wuchtigen Gestalt mit den weitausholenden Schritten und den energischen , kraftvollen Armbewegungen machte sie zu einer wilden , furchtbaren Erscheinung , und wenn ich sie mir jetzt noch vergegenwärtige in jenen Augenblicken , wo sie unversehens an mir vorüberschoß , und ich höre wieder das Kreischen und Schüttern der Dielen unter ihren Füßen und fühle ein Wehen , als sei ein Windstoß vorbeigebraust , dann muß ich , trotz ihrer schwarzen Augen und der streng orientalischen Profillinie , doch an jene gewaltigen Cimbernweiber denken , die , das Tierfell um den Leib geschlagen und die Streitaxt in der Hand , sich mitten in den wogenden Kampf der Männer warfen . Sie hielt den Kopf unter den dicken Wasserstrahl ; er schoß ihr über das Gesicht und an den außerordentlich starken , grauen Zöpfen herab , die in den Brunnentrog hingen . Das that sie immer , auch im eisstarrenden Winter ; es schien ihr diese Erfrischung so unentbehrlich wie die Lebensluft zu sein . Heute aber befremdete mich ihre Gesichtsfarbe mehr als je ; selbst unter dem kalt niederströmenden Wasser spielte sie in ein tiefes , beängstigendes Braunrot hinüber , und als die gewaltige Frau , die Arme weit ausgebreitet , den Kopf schüttelnd in den Nacken warf und in dem wohligen Gefühl der Erquickung mit weitgeöffnetem Munde einigemal kräftig ausatmete , da hoben sich die Lippen bläulich dunkel von den großen , weißen Zähnen . Ich sah Ilse an ; sie blickte wie selbstvergessen hinüber , und ihre hartblauen strengen Augen schmolzen in dem Ausdruck tiefster Bekümmernis und Trauer . » Was ist mit der Großmutter ? « fragte ich beklommen . » Nichts – es ist schwül heute , « antwortete sie kurz . Es war ihr sichtlich fatal , auf dem schmerzvollen Blick ertappt worden zu sein . » Gibt's denn kein Mittel gegen diesen furchtbaren Blutandrang nach dem Kopfe , Ilse ? « » Sie nimmt nichts , – das weißt du ... Gestern abend hat sie mir das Fußbad vor die Füße geschüttet ... Jetzt geh , Kind , und hole deine Sachen . « Damit schritt sie nach dem Herd , und ich verließ pflichtschuldigst das Haus durch eine zweite Seitenthür . Ich sprang nach dem Flusse , der kaum dreißig Schritte hinter dem Dierkhof hinlief , und versuchte , durch das Ufergebüsch zu schlüpfen . Das war nicht so leicht in dem engen Geflecht , das unberührt von Menschenhand wachsen durfte , wie es Lust hatte . Aber ich wand mich unverdrossen weiter , denn die zähen Weiden , wenn sie auch nach mir zurückschlugen und meine nackten Füße schmerzend rieben , schützten mich doch vollkommen vor den fremden Blicken , und nachdem ich bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte , segnete ich diesen Schutz doppelt ; denn schräg üb er die Heide her kamen die Herren , Heinz voran , und schritten direkt auf den Fluß zu . Noch hoffte ich , vor ihnen die kleine Bucht zu erreichen , wo ich meine Fußbekleidung abgelegt hatte , allein ich kam bei aller Anstrengung nicht so rasch vorwärts , als die Fremden , und kauerte mich resigniert , ziemlich nahe am Ziele , im Gebüsch an den Boden nieder . Was sie hierher führte , konnte ich mir denken : Heinz zeigte ihnen den schmalen , neben dem Ufergebüsch hinlaufenden Grasstreifen . Da ging sich 's freilich anders , als im spröden starren Heidekraut , der Weg war samtweich , wie geschaffen für verwöhnte Füße . Die Herren kamen dicht an mir vorüber , ich hörte das Knistern ihrer Tritte , und leise wurden die Zweige gestreift , die auch meinen Arm berührten . An der Birke blieben sie stehen . » Aha , hier hat das Heideprinzeßchen Toilette gemacht ! « rief der junge Herr . Mir stockte der Atem . Ich bog mich vor und sah , wie er einen der Schuhe vom Boden aufnahm . Nun wußte ich , bei aller Unberührtheit von Welt und Leben , dennoch recht gut , wie ein zarter Frauenschuh aussehen mußte . Ich hatte im Märchen von silbergestickten Pantöffelchen , von kleinen , roten Schuhen gelesen , und das Papier , auf welchem diese reizvollen Zaubergeschichten standen , erschien mir noch viel zu dick und grob als Sohle dieser ätherischen Kunstgebilde aus Samt und Seide . Das Unförmchen aber , das der Fremde dort lachend in die Höhe hielt , war vom stärksten Kalbleder – o Ilse , dir wäre Holz noch nicht » derb und haltbar « genug für meine unruhigen Füße gewesen ! Heute morgen hatten die Schuhe vor meinem Bette gestanden , nagelneu und begleitet von zwei steifen Strümpfen , die Ilse selbst aus Heidschnuckenwolle gesponnen und gestrickt hatte – ihr stolzes Geburtstagsgeschenk für mich . Ich war glücklich , und Ilse hatte sehr zufrieden mit dem Kopfe genickt , denn der Schuhmacher hatte in liebender Fürsorge ein wohlgeordnetes Bataillon blitzblanker Nagelköpfe über die fingerdicken Sohlen hinmarschieren lassen – jetzt funkelten diese gepriesenen Reihen förmlich feindselig zu mir herüber . » Je – über das Kindchen ! Hat richtig die Schuhe stehen lassen ! – Ganz neue Schuhe ! « rief Heinz kopfschüttelnd . » Na , na , ich möchte Ilse hören ! « setzte er ängstlich besorgt hinzu . » Wem gehört denn das Kind , das wir am Hügel gesehen haben ? « fragte der alte Herr im braunen Hute mit seiner weichen Stimme . » Es gehört auf den Dierkhof , Herr . « » Nun ja – aber wie heißt es ? « Heinz schob den Hut auf die linke Seite und kraute sich hinter dem Ohr . Ich sah sie kommen , seine schlaue Antwort – er erinnerte sich offenbar jenes entsetzlichen Augenblicks , wo ich mit dem Fuße gestampft hatte , und – o , Heinz wußte sich zu helfen ! » Je nun , Herr , Ilse ruft sie › Kind ‹ und ich sage – « » Desgleichen Prinzeßchen , « ergänzte der junge Herr in demselben gravitätischen Ton wie mein pfiffiger Freund . Wie vorhin das Fundstück aus dem Hünenbett , so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand ; diesmal jedoch mit jener schwerfälligen Armbewegung , die etwas Gewichtiges ironisiert . » Ah , die Damen der Heide belieben mit Nachdruck aufzutreten ! « sagte er zu dem Herrn im braunen Hute . » Charlotte müßte dieses feenleichte Prachtstückchen sehen , Onkel ! ... Ich hätte gute Lust , es ihr mitzubringen – « » Keine Possen , Dagobert ! « unterbrach ihn der Angeredete streng ; Heinz aber schrie fast auf . » Ei , beileibe nicht , Herr ... O je – was würde Ilse sagen ! – ganz neue Schuhe ! « » Brr – diese Ilse scheint mir der Drache zu sein , der das barfüßige Prinzeßchen bewacht ! – – Voilà ! « lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen . Darauf schlug er die Hände gegeneinander , um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen . Sie grüßten Heinz und schritten weiter , während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte . Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen , die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte ; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe . Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden , die sich bald auf dem weichen Rasen verloren . Ich war sehr aufgeregt ; damals wußte ich die Empfindung nicht zu bezeichnen , die mir den Hals zuschnürte und mich mit verhaltenen Thränen ringen ließ , und der ich mich nichtsdestoweniger mit einer Art von leidenschaftlicher Genugthuung erst recht hingab – es war Groll , rachsüchtiger Groll ! .. . » Wie einfältig ! « hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt – jetzt konnte er getrost sagen , daß Doktor von Sassen mein Vater sei ; aber nein , er hatte gesprochen wie der weise Salomo , und ich war ihm gram , ich war bitterböse auf ihn . Ich verließ das Gebüsch . Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf ; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet ; auf meinem Teller lagen sicher die schönsten , abgeschält und goldgelb , und daneben stand ein Becher voll süßer Milch – Ilse verzog mich , wenn auch mit dem allerstrengsten Gesicht ... Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich ; aber heim ging ich noch nicht ; ich mußte erst sehen , in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten . Der Hügel sah besser aus , als ich erwartet hatte . Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden , auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen , und die Scherben der Urne waren verschwunden . Nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher ; über die schmale Sandblöße am Fuße des Hügels breitete sich noch ein bleicher Hauch der verstreuten Menschenasche , und unter einem Ginsterzweige halb versteckt lag ein feines , schwarzgebranntes Knöchelchen , für immer getrennt von den anderen , die man jedenfalls dem Grabe zurückgegeben hatte . Ich nahm es behutsam auf – der junge Herr hatte recht , es waren keine Riesen gewesen , die der Hügel deckte . Das zarte Gebild in meiner Hand mochte ein Fingerglied sein , einst vielleicht von rosigem Fleisch umhüllt , schlank gebaut , von so weißer atlasglatter Haut bedeckt , wie die Hand , die ich heute gesehen , geliebt und bewundert und von köstlichem Metall schmeichelnd umschlossen , und an einer einzigen seiner Bewegungen hatte vielleicht das Wohl und Wehe vieler anderen Menschenkinder gehangen . Ich stieg auf den Hügel und grub es unter die Föhre ein . Der gute , alte Baum reckte beschirmend seine üppigen Zweige darüber hin – wer wußte , ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte ! Den Arm um seinen Stamm legend , sah ich da hinüber , wo der kleine Fluß sich nach dem Walde zu krümmte ... Wie seltsam war es , daß sich Menschen dort bewegten ! Menschen auf der feierlich stillen , eintönig braunen Fläche , über der höchstens der Raubvogel in schwindelnder Höhe seine Kreise zog , um plötzlich lautlos wieder zu verschwinden – mir war , als müßten die Dahinschreitenden Fußstapfen für immer hinterlassen . Sie eilten in die Welt zurück – in die Welt ! .. . Ich war ja auch schon dort gewesen . Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden , und aus dem Menschengewimmel , das man auch » die Welt « nennt , waren mir nur wenige Gesichter nahe getreten . In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht ... Graublonde , dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht , das am festesten in meiner Erinnerung haftete – ich hätte den grünlichblassen Schimmer der schmachtenden Augen , das plumpe Stumpfnäschen und den grauen , leblosen Teint noch malen können . Das war Fräulein Streit , meine Erzieherin , gewesen . Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerungen auf – ich hatte es zu selten gesehen , aber wenn ich später Seide knistern hörte , da tauchte es wie ein Schemen ohne eigentliche Umrisse vor mir empor , und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen : » Kind , du machst mich nervös ! « Zürnen und nervös sein war dadurch für mich identisch geworden . Diese seidenrauschende Gestalt , die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche , heiße Hand auf meinen Scheitel legte , nannte Fräulein Streit gnädige Frau , und ich mußte Mama sagen . Dann wachte ich einmal auf – nicht mehr in der dunklen Hinterstube . Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes , dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem » Hä , hä , hä – ausgeschlafen ? « anlachte . Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier ; die dicken Thränen liefen ihr über das Gesicht , und ich sah , wie sie leise die Hände rang ... Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen , und als ich in das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte , um aus voller Kehle zu schreien , da rief er : » Kommt , Puttchen ! « und aus dem Hausthor rannte eine Schar bunter Hühner auf ihn zu . Dort stand auch die Frau mit dem roten Gesicht ; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend , worüber ich heftig erschrak ; aber das war schnell wieder vergessen . Im Hofraum tollte ein Kalb herum , es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen . Droben auf dem Dache klapperte der Storch , und Ilse – die Ilse mit den scharfen Augen – hielt mir ein kleines Tier hin , auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte – es war ein miauendes junges Kätzchen ... Und überall lag Sonne , goldener , glänzender Sonnenschein , und die Blätter an den Bäumen plapperten und rieselten ohne Ende im würzigen Heidewind . Ich jubelte und kreischte auf vor Lust , während Fräulein Streit unter herzbrechendem Schluchzen über die Schwelle des Hauses schwankte . So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf Dierkhof , und von diesem Augenblicke an begann erst mein Leben – ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden , während die Menschen mich beweinten ... Hussa ! ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Heide hin ! Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach ; der große Heinz mußte sich tief bücken , wenn er unter die Thür trat . Aber drinnen war es wohnlich . Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß , und hinter den zwei großen Schrankthüren an der tiefen Wand lagen federnstrotzende Betten im sauberen buntgewürfelten Ueberzug . Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen . Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut , die zwei Kinder waren darin geboren , und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben . Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Heide und behielt sie unter Aufsicht , sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe . In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden , wie im Hause meiner Großmutter . Ich half Heinz seine Buchweizengrütze essen und war dabei , wenn er Streuheide für den Dierkhof hieb und einfuhr . Er hob mich hoch über den Kopf nach den alten pensionierten Bienenkörben , die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden , und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten , weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse herab . Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu . Damals mag wohl die alte traute Stube recht lächerlich ausgesehen haben ; denn ihre Wände waren nur weiß gestrichen , hinter dem Ofen lief die braune , abgenutzte Holzbank hin , und die Tische standen grob und ungeschlacht umher . Aber Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sofa aus der Stadt kommen lassen , und Ilse hatte blau und weiß gestreifte Vorhänge aufgesteckt . Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte , sie fürchte sich vor der endlosen , totenstillen Heide , wenn die Sonne so darüber hinbrenne , und wenn der Mond schien , da fürchtete sie sich auch ... In meinem fünften Jahre begann sie , mich zu unterrichten ; da brachte Ilse ihre Arbeit herein und hörte auch zu . Sie war , fünfzehn Jahre alt , in die Stadt , in den Dienst meiner Großmutter gekommen , und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen – trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an . Oft , wenn ich abends , müde getollt und gelaufen , mich auf ihrem Schoß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte , da kam auch Heinz heran , natürlich mit der kalten Pfeife , und Fräulein Streit wurde lebendig ; ihre schmalen Wangen röteten sich , und die blonden Löckchen flogen und flatterten alteriert um das Gesicht . Dann erzählte sie von dem Leben und Treiben in meinem elterlichen Hause , und dabei wurde es mir allmählich klar in meinem Kopfe . Ich erfuhr , daß mein Vater ein berühmter Mann sei , und meine verstorbene Mutter war eine Gelehrte und Dichterin gewesen . Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus und ein gegangen , und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte : » Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren , es war Leseabend bei der gnädigen Frau « , da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf . Ich hörte wieder das aufregende Trippeln und Hin-und Hergehen vor der Thür meiner Hinterstube – meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht , und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr , da war ich mutterseelenallein in dem weiten , unheimlichen Zimmer . Ich fürchtete mich und schrie auf , und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen , schalt mich , steckte mir ein Bonbon in den Mund , deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus . Außerdem berührten mich die » himmlischen Erinnerungen « meiner Erzieherin sehr wenig ; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder , wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde . Mit derselben Konsequenz , wie die graublonden Löckchen , wurden auch meine langen , schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt , und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten , auf dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte . So vergingen einige Jahre und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender . Sie stand auch wohl draußen im Baumhof , breitete ihre Arme weit aus und rief mit zärtlich dünner Stimme gen Himmel : » Eilende Wolken ! Segler der Lüfte ! Wer mit euch wanderte , mit euch schiffte ! « – und als ihr eines Tages ein Zahn ausfiel – er polterte bei Tische auf ihren Teller nieder und war zu meiner starren Verwunderung kein leibhaftiger , sondern ein eingesetzter Zahn – da wusch sie ihre Hände und packte schleunigst den Koffer . » Ich bin es mir selbst schuldig , gute Ilse – man hat hier so gar keine Aussichten ! « verabschiedete sie sich von Ilse , während Thränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten . Gar keine Aussicht in der weiten , weiten Heide ! Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimat . Heinz fuhr den Koffer bis ins nächste Dorf , und ich ging auch ein Stück Weges mit . Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach , bis ihr wehendes Kleid weit , weit drüben im Walde verschwand . Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft , dann streifte ich das enge , drückende Jäckchen ab , ohne welches Fräulein Streit mich nie ins Freie entlassen hatte ... Ei , wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich ! .. . So kam ich heim . Da hatte Ilse schon das gepolsterte Sofa in die anstoßende Kammer geschoben und der Schonung wegen mit Decken überhangen , und die blau und weiß gestreiften Vorhänge faltete sie eben fein säuberlich zusammen , um sie im Kasten aufzuheben . Ilse , abschneiden ! « sagte ich und hielt meine langen unbequemen Locken hin . Und sie schnitt hindurch mit kreischender Schere , daß es eine Lust war . Die Lockenwickel flogen ins Feuer , das Jäckchen paradierte im Schranke , und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse . Das glitt mir alles durch die Seele , während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte . Es dämmerte bereits , ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden ; auch waren sie schon so weit entfernt , daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte ; aber ich wußte ja , daß sie sich ebenso sputeten , wie einst Fräulein Streit , die mißachtete Heide möglichst schnell im Rücken zu haben ... Was hätte der junge Herr wohl gesagt der Thatsache gegenüber , daß die alte Frau mit dem roten Gesicht auf dem Dierkhof einst eine volkreiche Stadt verlassen hatte und in die Heide gegangen war , um nie wieder zurückzukehren ! Fräulein Streit meinte freilich immer , meine Großmutter sei tiefsinnig , und fürchtete sich unsäglich vor ihrem scheuen Blick ; für mich aber war das wunderliche Wesen der alten Frau bis zu diesem Augenblick unzertrennlich von ihrer ganzen Erscheinung gewesen , und wenn es sich später verschärft und verstärkt hatte , so war es ebenso leise und allmählich geschehen , wie ich in die Höhe wuchs – ich hatte immer gemeint , so seien eben alle Großmütter . Wie kam es doch , daß ich jetzt nachdenklich wurde über Dinge , die mir bisher als selbstverständlich gegolten hatten ? Das maßlose Erstaunen der Fremden über die » seltsame alte Frau , die kein Geld im Hause litt « , hatte mich aufmerksam gemacht ... Und war es nicht auch seltsam , daß meine Großmutter im Lauf der Jahre völlig verstummte ? Daß sie jeder Begegnung mit ihren Hausgenossen auswich und mir einen furchtbar strafenden Blick zuwarf , wenn ich ja einmal ihren Weg kreuzte ? Daß sie nie auch nur einen Bissen aus fremder Hand aß ? ... Die Eier , von denen sie hauptsächlich lebte , nahm sie eigenhändig aus den Nestern ; sie molk die Kuh selbst , damit keine andere Hand das Milchgefäß berühre , kein fremder Atem über den Trank hinstreiche , den sie genoß , und Fleisch und Brot rührte sie nie an ... Nur im ersten Jahr hatte sie mich hier und da geliebkost – später schien sie ganz vergessen zu haben , wer ich sei . Mein Vater schickte keine neue Erzieherin , für meine Großmutter existierte ich nicht , und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister . Das sei zu schlimm für mich , meinte Ilse . – Sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich abends selbst auf den Lehrstuhl – es wurde ihr sauer genug . Sie las mir meist einzelne Kapitel aus der Bibel vor , aber stets mit gedämpfter Stimme , und es entging mir nicht , daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte . Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels konfirmiert ; denn ich hatte bei Ilse entsetzlich viel auswendig gelernt ; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof , während Heinz daheim Wache hielt , und ich kniete in einer kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntnis ab , ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte . So war ich aufgewachsen , wild und lustig wie die unberührten Weiden drüben am Fluß , und wie ich so dastand unter der Föhre , barfüßig , im kurzen groben Rock , und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar , da lachte ich , lachte laut über den jungen Herrn , der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog – und das war meine Rache . Mochten sie doch diese unabsehbaren , flachen Strecken eine furchtbare Einöde nennen ; für mich waren sie beseelt vom Geiste der Heimat und von einer ganzen Armee luftiger Gestalten , als da sind Feen , Wasser- und Luftgeister , aber auch – Gespenster ; ja Gespenster ! Ich war schon ein wenig zusammengefahren bei meinem eigenen Lachen – hatte es doch so wunderlich über die dämmernde Heide hingeklungen , so fremd , als sei es gar nicht von mir selbst , sondern von der einfachen Mondsichel hergekommen , die sich am unermeßlichen Gewölbe droben ebenso verlor , wie meine kleinwinzige Person inmitten der ungeheuren , schweigenden Ebene . Schwarz stand der Wald am Horizont , er trennte mit einem scharfen Strich unerbittlich Himmel und Heide ; und im Osten , da , wo am Tage ein feiner , grüner Streifen verlockend leuchtete , ballten sich weißliche Dünste . Dort lag der Torfsumpf voll tiefer Wasserlachen und bestanden mit Binsen und sprödem Riedgras ; die kleinen stehenden Gewässer tief drinnen aber umsäumte Schilf , und die weiße Seerose lag bleich auf dem dunklen Spiegel – ich meinte immer , das seien keine Blumen , sondern traurige Menschengesichter . Jetzt schwebten sie aufwärts , und die weißen Schleier und Gewänder quollen nach und blähten sich und flossen herein auf das trockene Heideland , über das einst , in uralten Zeiten , grüne , rauschende Meereswogen hingerollt waren , wie heute der gute , alte gelehrte Herr mit der Blechbüchse auf dem Rücken gesagt hatte . Vor den wehklagenden , in den Sumpf zurückgedrängten Wassergeistern fürchtete ich mich nicht – aber da unten zu meinen Füßen war heute Menschenasche verschüttet worden ; frevelnde Hände hatten den Grabhügel aufgebrochen und die Ruhe der Toten gestört ... An der anderen Seite neben dem Föhrenstamm lag das Knöchelchen eingescharrt – wie , hob es sich nicht schon als Finger aus der Erde , wieder fest eingefügt in die weiße Hand ? Wuchs es nicht immer höher , da dicht neben mir , bis er dastand , der Phönizier , finster und dräuend , mit der breiten , weißen Stirn Karls des Großen und der Goldkrone in dem zurückbäumenden kastanienfarbenen Haar ? ... Kalte Schauer überliefen mich , mit stockendem Atem stand ich starr und steif und sah nicht rechts , noch links ; ich hatte nicht einmal den Mut , den Arm vom Föhrenstamm zu lösen , und doch erwartete ich jeden Augenblick mit leise gesträubtem Haar , den kalten Finger auf dem nackten , warmen Fleisch zu fühlen – und da legte sich plötzlich eine Hand schwer auf meine Schulter . Ich stieß einen gellenden Schrei aus . » Leonore , was machst du für Streiche ! « schalt Ilse . Sie stand hinter mir und hielt mich mit festen Armen – ich glaube , ich wäre sonst wie leblos den Hügel hinabgerollt . » Ach , Ilse , der Phönizier « – stammelte ich . » Was ? « fragte sie gedehnt . Sie schob mich von sich und sah mir mißtrauisch besorgt in die Augen – sie hatte ja heute schon einmal gefragt , ob ich toll geworden sei . Ihr Gesichtsausdruck brachte mich sofort zu mir selbst – ich mußte laut auflachen und warf mich an ihre Brust ; da war ich geborgen vor allen Gespenstern und auch vor dem fremden Gesicht , das , obschon längst in der Dämmerung verschwunden , sich doch sogar dem Geist des Phöniziers aufgedrängt hatte . » Hat's wieder einmal gespukt ? « fragte Ilse . » Und nun gar unter Gottes freiem Himmel ! ... Ja , du und Heinz , ihr seid mir ein Paar Helden ! « Die gute Ilse – unter dem dunklen Dach des uralten Dierkhofes war auch sie nicht sicher vor allerlei unheimlichen Begegnungen , und wenn sie auch mutig und beherzt auf alles losging , so wußte sie doch der haarsträubenden , verbrieften und womöglich amtlich bestätigten Dinge genug , vor denen der Verstand der Verständigen absolut still sein mußte . Sie nahm meine Rechte in ihre harte kühle Hand und führte mich den Hügel hinab . 4 Der Raum , der im niedersächsischen Hause sich zwischen der Tenne und den Wohnräumen hinzieht , und in welchem sich der Küchenherd befindet , heißt der Fleet . Auf dem Dierkhof erhob er sich noch nach uralter Sitte um einige Zoll über den lehmgestampften Boden der Tenne , sonst aber trennte ihn weder eine Wand , noch ein niedriger Bretterverschlag von der letzteren ; man konnte somit von dieser Stelle aus die lange Dreschdiele bis zum Hausthor und die sich zu beiden Seiten hinziehenden Viehstände bequem übersehen . Auf den Fleet mündeten ein Fenster und zwei Thüren der Wohnräume ; er war mit kleinen Steinplatten sauber belegt , hatte , wie schon erwähnt , zu beiden Seiten Thüren , die ins Freie führten , und war für mich der gemütlichste Platz im ganzen Hause . Dort stand auch , nicht weit vom Herde , zur Sommerzeit der Eßtisch . Als ich mit Ilse eintrat , brannte schon die Lampe auf dem Tische , sie verlor sich in dem weiten , dunkel angerauchten Raum wie ein kleiner Funken . Durch das offene Hausthor fiel noch das fahle Dämmerlicht von draußen auf die vorderen Viehstände ; sie waren leer , auf dem Dierkhofe wurde nur so viel Oekonomie betrieben , als zu unserem eigenen Lebensbedarf nötig . Nahe dem Fleet aber , mit der Stirne nach der Tenne zu , lag Mieke wiederkäuend und hielt mir die Hörner hin – zur Nachttoilette schien ihr die baumelnde Guirlande doch nicht wünschenswert . Ilse warf einen Blick auf das » feierlich geputzte « Tier , dann wandte sie den Kopf weg und schlug mich leicht auf die Schulter – ich durfte ja beileibe nicht wissen , daß sie über meinen » ewigen Unsinn « gar auch noch lache . Man hatte bereits ohne mich Abendtafel gehalten . An einem mächtigen Berg von Kartoffelschalen sah ich , wo Heinz gehaust hatte . Ilse schob diesmal ohne Strafpredigt die kalt gewordenen Kartoffeln von meinem Teller und legte mir dafür ein paar heiße , weichgekochte Eier hin . Draußen im Baumhof hörte ich Heinz hantieren , und Ilse lief auch emsig auf und ab ; sie hatte noch » alle Hände voll zu thun « . Das war nun freilich nicht der günstigste Moment ; trotz alledem fuhr mir die Frage heraus , die mir auf den Lippen geschwebt hatte : » Ilse , wie heißt das Haus , wo mein Vater jetzt wohnt ? « Sie wollte gerade an mir vorüber in den Baumhof gehen . » Willst du ihm schreiben ? « fragte sie , überrascht stehen bleibend . Ich lachte laut auf . » Ich ? Einen Brief schreiben ? Ach , Ilse , wie lächerlich das klingt ! ... Nein , nein , ich will nur wissen , wie die Leute heißen , bei denen mein Vater wohnt ! « » Muß es auf der Stelle sein ? « Ich wagte nicht » ja « zu sagen ; aber vielleicht las Ilse die brennende Ungeduld auf meinem Gesicht . Sie ging schweigend in die Wohnstube und schob mir gleich darauf ein Kästchen hin . » Da , suche dir die Adresse selber – ich hab' sie nicht im Kopfe . Aber verliere mir nichts und stöbere nicht zu viel herum ! « Sie ging hinaus . Wie sauber und pünktlich geordnet lag die spärliche schriftliche Verbindung zwischen dem Dierkhof und der Außenwelt in dem kleinen Viereck ! .. . Da war das dünne , verschwindend kleine Päckchen , das die Briefe meines Vaters umschloß : sie trugen samt und sonders Ilses Adresse , enthielten stets nur wenige höfliche Zeilen , einen Gruß an die Großmutter und an mich , und eine bestimmt verneinende Antwort auf Ilses hier und da wiederkehrende Bitten , mich , der Schule wegen , vom Dierkhof hinwegzunehmen . Was an Schriftstücken von draußen herkam , ging durch Ilses Hand und wurde von ihr unter Seufzen und großen Mühen mit steifen Schriftzügen und lakonischer Kürze erledigt . Ich kümmerte mich nie darum ; denn so flink ich im Lesen war , und so heißhungrig ich immer wieder die mir von Fräulein Streit massenhaft hinterlassenen Kinderbücher auch jetzt noch verschlang , so blutsauer wurde mir das Schreiben , und so verhaßt war es mir . Unter dem Päckchen mit meines Vaters Briefen lag auch ein Schreiben , von welchem ich wußte , daß es ganz vor kurzem eingelaufen war . » An Frau Rätin von Sassen . Hannover « stand in schlanker , graziöser Schrift auf dem Kouvert ; eine andere plumpe Hand hatte den Namen des dem Dierkhof zunächst gelegenen Dorfes hinzugefügt . Der Brief war an meine Großmutter – der einzige , der , solange ich denken konnte , unter dieser Adresse in unser Haus gekommen war . Als Heinz ihn vor einigen Wochen mitbrachte und Ilse übergab , da glitten meine Augen flüchtig über die Aufschrift , und ich ging gleichgültig hinweg , ohne den Inhalt wissen zu wollen : die Welt außerhalb der Heide , und was von ihr herüberkam , hatte für mich nicht die geringste Anziehungskraft . Heute war das plötzlich anders ; das aufgebrochene Siegel reizte mich , einen Blick auf das Blatt drinnen zu werfen ; allein ich wagte es doch nicht ohne Ilses Erlaubnis und legte den Brief einstweilen auf die Tischecke . Die gewünschte Adresse meines Vaters war schnell gefunden . Als ich sein letztes Schreiben mit hastiger Hand auseinanderschlug , da stand dicht unter seinem Namen : » Firma Claudius Nr. 64 in K. « Ein jäher Stich durchfuhr mich , und ich fühlte , wie es mir flammenheiß über das Gesicht hinlief , als ich den Namen schwarz auf weiß vor mir sah , den der Professor heute wiederholt ausgesprochen hatte . Wie prächtig verstand ich auf einmal die flüchtigen , kraus durcheinander wimmelnden Schriftzüge meines Vaters zu lesen . Der Name sprang mir förmlich in die Augen ... Ich kannte den Inhalt des Briefes , Ilse hatte ihn mir mitgeteilt , und doch fing ich jetzt an , die Zeilen noch einmal zu studieren . Ach , da war wieder einmal die ganze Oede und Trockenheit , welche die Briefe meines Vaters kennzeichnete ! Er fragte nicht : » Was macht mein Kind ? Ist es gesund und denkt es an mich ? « ... In diesem Augenblick fühlte ich zum erstenmal , wenn auch noch dunkel , daß mein Vater ein schweres Unrecht an mir begehe . Die nichtssagenden Zeilen schlossen mit dem Satze : » Der Brief aus Neapel wird nicht beantwortet , und daß er meiner Mutter nie zu Gesicht kommen darf , versteht sich von selbst . « Damit war offenbar das Schreiben gemeint , das neben mir auf dem Tisch lag ; es trug das Postzeichen Neapel und war mir nun doppelt interessant . Das dünne Blättchen in meiner Hand aber faltete ich mißmutig und enttäuscht zusammen – nichts über den neuen Aufenthaltsort meines Vaters , kein Wort über seine Beziehungen zu denen , die Claudius hießen – ich sprang auf und warf den Brief in den Kasten . Ei , was kümmerten mich die fremden Leute ! Da sann und grübelte ich über Menschen und Verhältnisse , die mich nichts , aber auch ganz und gar nichts angingen , und draußen brach die Nacht herein , und Heinz polterte und rumorte immer noch im Hofe herum . Sonst , wenn er über Feierabend noch einmal zu hantieren anfing , da klopfte ich ihn auf die Finger , hing mich an seinen Arm und schleppte ihn herein auf den Fleet , auf den massiven ungepolsterten Holzstuhl , seinen unbestrittenen Platz . Dann reichte ich ihm einen brennenden Kienspan , und gleich darauf wirbelten die Rauchwolken um sein selig schmunzelndes Gesicht . Ilse brachte ihr Nähzeug , ich aber las mit unvermindertem Enthusiasmus immer wieder die Erzählungen vor , die ich halb auswendig wußte . War es kühl oder gar stürmisch , regnerisch draußen , dann wurde das Feuer im Herd neu geschürt , und Ilse goß einen heißen Thee auf . Wonnig war es dann auf dem geschützten Fleet , unter dem Dach zu sitzen , auf das der plätschernde Regen unermüdlich niedertrommelte ; dazu der Glutschein vom Herde her und die trauliche Stille in dem weiten , von langen Streifen der Tabakswolken durchzogenen Raum der dämmernden Tenne . Dann und wann klirrte leise die Kette an Miekes Hals , hoch oben auf den Querstangen rührte sich schlaftrunken eines der Hühner , oder Spitz dehnte sich behaglich seufzend vor dem warmen Herde – alles , was ich liebte , geborgen inmitten der festen vier Wände ! Da war es still in meiner Seele ; ich hatte keinen Wunsch , kein Verlangen ! Mein junges Herz war nur voll von Zärtlichkeit für die beiden , zwischen denen ich saß ... Nun drängten sich auf einmal fremde Gesichter von draußen herein , und ich errötete heiß vor mir selber , indem ich daran dachte , was heute unter ihrem plötzlichen Einflusse aus mir geworden war . Da half kein Leugnen – statt zu dem alten Freunde zu halten , den der vornehme junge Herr mit so verächtlichen Blicken gemessen , hatte ich mich feigerweise seiner geschämt ; ich war maßlos heftig geworden , hatte mit dem Fuße gestampft ihm gegenüber , der mir allezeit mit der grenzenlosesten Geduld und Nachsicht begegnete , und ihn einfältig dafür gescholten , daß er seinen einfachen Kopf anstrengte , um genau nach meinem Wunsch und Willen zu antworten ... Und warum that ich das ? Weil mir auf einmal der glorreiche Einfall kam , mit meinem berühmten Vater prunken zu wollen , mit dem Vater , für den ich nicht existierte , während ich auf Heinzens Armen groß geworden war . Ich mußte abbitten , reumütig abbitten , und zwar auf der Stelle , und der Entschluß wurde mir leicht gemacht , denn in demselben Augenblick ging die Thür nach dem Baumhof auf , und Heinz trat , gefolgt von Spitz , auf den Fleet . Ich flog auf ihn zu und legte meine Hände auf seine breite Brust – höher kam ich nicht . » Heinz , du bist furchtbar böse auf mich , gelt ? « » Ei , beileibe , davon müßte ich doch auch was wissen , Prinzeßchen ! « brummte er neben der Pfeife heraus . Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied . » Du weißt es auch , Heinz , « sagte ich . » Geh , zanke mich tüchtig aus ... Ich bin bodenlos ungezogen gewesen ! ... Gelt , das hättest du nie von mir gedacht ? – mit dem Fuße zu stampfen – « » Ach , das war ja nur ein Späßchen – « » Ein Späßchen ? Glaub doch das nicht ! Es war Ernst , nichtswürdiger Ernst ! ... Sei du nur nicht so gut mit mir , Heinz – ich verdiene es nicht , und Strafe muß sein ... Kindisch bin ich und heftig und ein erbärmliches , undankbares Ding – « » Ei ja – und was nicht noch alles ! « » Ein Hasenfuß , Heinz ! ... Ja , siehst du , das war 's eben , was mich so außer Rand und Band brachte . Da stand ich wie hingeschneit am Hügel , und alle die Köpfe wären doch ganz gewiß nach mir herumgefahren , wenn du gesagt hättest – « » Hab' nichts gesagt ! Hä , hä , hä ! Nicht ein Wörtchen ! « – Er stippte bedeutsam den Zeigefinger gegen die Stirn . – » Ja , so schlau ist man auch – die hätten lange fragen können ! « – Mit einer schwerfälligen Bewegung griff er in die Brusttasche seines Rockes . » Aber das unmenschlich viele Geld , das da nur so auf den Boden hinkollerte , das haben die Leute nicht wieder genommen , durchaus nicht ! ... Ich hab's auflesen müssen – und da ist's , Prinzeßchen ! « Er zählte die blanken Thaler in langer Reihe auf seine Rechte . Seine kleinen Augen glitzerten und funkelten und huschten liebäugelnd darüber hin . Fünf Silberstücke – für jede Perle eins ! So war es gemeint gewesen . Das » Hier , mein Kind ! « des alten Herrn hatte so selbstverständlich geklungen , als seien die Dinger da von mir verlangt worden , und ich hatte die Perlen doch hinschenken wollen . Das verdroß mich jetzt erst über die Maßen . » Ich will sie nicht , Heinz ! « grollte ich und stieß nach seiner Hand . Das Geld rollte abermals hinab ... Was war das für ein entsetzliches Geräusch , als die schweren Metallstücke klingend und klirrend auf das harte Steinpflaster niederschmetterten ! ... Ich hatte es noch nie , und der Dierkhof wohl seit vielen Jahren nicht mehr gehört . Unwillkürlich fuhr ich herum , und mein Blick zuckte scheu über das Fenster , das nach dem Fleet mündete . Hinter den halbblinden Scheiben hing ein dicker , farbenbunter Plüschteppich , den , solange ich denken konnte , nie eine Hand von drinnen gehoben hatte – jetzt wurde er zurückgeschleudert , und die Augen meiner Großmutter funkelten heraus . Das war ein Anblick , der dem Beherztesten Grauen einflößen konnte . Zitternd bückte ich mich , um das Geld zu sammeln ; aber da flog auch schon die neben dem Fenster befindliche Thür auf – wie ein Windstoß brauste es heran – ich wurde an der Schulter gepackt und auf die Tenne hinabgestoßen . » Nicht anrühren ! « gellte es mir in die Ohren . Welch einen erschütternden Klang hatte doch die Stimme , die seit langen Jahren für mich verstummt war ! Ich schlug entsetzt die Augen auf . Da stand die gewaltige Frau und schüttelte grimmig die Faust nach Heinz hin . » Du « – zischte es drohend von ihren Lippen . » Gut sein , gnädige Frau , gut sein ! « stotterte er bittend . » Ich trage ja gleich , jetzt auf der Stelle , das ganze dumme Lumpenzeug ' nüber in den Fluß ! « Er zitterte wie Espenlaub – ich sah zum erstenmal , daß diese unverwüstlich frische Gesichtsfarbe bis in die Lippen erbleichen konnte . Sie wandte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken . Die langen grauen Flechten peitschten ihre Hüften , und ich erwartete unter stockenden Pulsen , daß sie sich wieder auf mich stürzen werde . Da stieß ihr Fuß an eines der Geldstücke ; sie fuhr zurück , als habe sie auf eine Schlange getreten . – Nun kam ein Schauspiel , das ich nie , nie vergessen kann . Kichernd schleuderte sie das Geldstück mit der Fußspitze fort , daß es weithin flog und rasselnd auf die Steine niederschlug , dann ein zweites , ein drittes , und so schritt sie auf dem Fleet hin und her – ich mußte an das grausame Spiel der Katze mit der Maus denken ... Und wie grauenhaft wechselte das Mienenspiel auf dem rot überflammten Gesicht ! Man sah , sie stieß das Geld voll Ingrimm und Abscheu von sich , und doch , sobald es wirbelnd niederfiel , lauschte sie vorgestreckten Halses mit unverkennbarer Lust , ja mit einer Art von Begierde , dem hellen Silberklang , bis die letzte leiseste Schwingung erloschen war . Ich rührte mich nicht von der Stelle und wagte kaum zu atmen ; Spitz , der sonst so rauflustige Spitz , schlich mit eingeklemmtem Schwanz vom Herde weg und drückte sich dicht neben Heinz , der regungslos , wie festgemauert auf seinem Platze verharrte , nur seine todesängstlichen Augen huschten einigemal nach mir herüber ... Ach ! Ilse – wo blieb sie nur ? ... Sie war die einzige , die Macht über meine Großmutter hatte . Hörte sie denn den Lärm gar nicht , der so unheimlich und nervenerschütternd gegen die alten Balken des Dierkhofes schlug ? Das Klingen und Springen der Silberstücke dauerte fort . Die alte Frau schien nicht mehr zu wissen , daß zwei Menschen wie Bildsäulen in ihrer Nähe standen . Sie rannte immer leidenschaftlicher auf und ab und flüsterte und gestikulierte nach etwas Unsichtbarem hin ... Da auf einmal fuhr es wie ein Ruck durch ihre Glieder ; sie kam eben am Eßtisch vorüber und blieb förmlich versteinert stehen , während die Augen minutenlang seitwärts auf die Tischdecke niederstierten – da lag der unglückselige Brief , der nach dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters ihr nie zu Gesicht kommen sollte . » An Frau Rätin von Sassen ! « unterbrach sie endlich das tödliche Schweigen und strich sich tiefaufseufzend mit der Hand über die Stirne . » Frau Rätin von Sassen ! Das war ich – ich ! « Ich kämpfte mit mir selber , ob ich hinzuspringen und ihr den Brief entreißen solle , auf den sie eben die Hand legte . Aber was war ich schwaches , zerbrechliches Geschöpf unter den Händen dieser Frau ! Sie hätte mich ohne weiteres zurückgeschleudert und den Besitz des verhängnisvollen Papieres erst recht behauptet . Ich machte Heinz die beredtesten Zeichen – er sah mich völlig verständnislos an , und da geschah auch schon das Gefürchtete – meine Großmutter zog den Brief aus dem Kouvert . » Laß mal sehen ! « sagte sie , indem sie langsam das Blatt entfaltete . Sie las nicht , ihr Blick fiel nur auf die Unterschrift – was mußte es wohl für ein Name sein , der eine solche Wirkung haben konnte ? .. . Mit einem Wutgeschrei zermalmte die alte Frau sofort den Brief zwischen den Fingern . » Deine Christine ! « lachte sie gellend auf , schleuderte den gestaltlosen Papierklumpen weit in die Tenne hinein und lief mit einer wildabwehrenden Bewegung in ihr Zimmer zurück – gleich darauf kreischte drinnen der vorgeschobene Riegel . Ilse , die eben mit einem Korb voll Torfstücken aus dem Hofe kam , blieb erstaunt auf der Schwelle stehen . » War das nicht die Großmutter ? « fragte sie halb erschrocken , halb ungläubig . Die Thür , die da eben krachend zuschlug , wurde ja nie benutzt – Schloß und Riegel mußten längst eingerostet sein . Mir schlugen die Zähne wie im Fieber zusammen ; aber ich fühlte mich doch gleichsam erlöst und erzählte ihr flüsternd und atemlos den Vorgang . Ich sah wohl , wie sie zusammenschrak und sich verfärbte ; aber Ilse hätte nicht Ilse sein müssen – sie sagte kein Wort , stellte den Korb neben den Herd und fing an , die Torfstücke auszupacken und symmetrisch aufeinander zu legen ; nur als Heinz herantrat , hob sie den Kopf – sein heiliger Respekt vor den scharfen Augen war sehr begründet , sie hefteten sich vernichtend auf sein schreckerfülltes Gesicht . » Bist ja ein Mordkerl , Heinz ! « sagte sie . » Hab' jahrelang gesorgt , daß nicht einmal Groschengeld auf den Dierkhof gekommen ist , und jetzt macht solch ein Politikus das nette Kunststückchen und wirft mir eine ganze Hand voll Silberthaler auf die Steine ! ... Ei je , die Vierzig auf dem Rücken und keine Ueberlegung ! « Mir traten die Thränen in die Augen . Trotz meiner wahrheitsgetreuen Schilderung und meiner Selbstanklage bekam Heinz die Schelte , und er ließ alles geduldig über sich ergehen , er widersprach mit keinem Wort . Ich schlug meine Arme um ihn und drückte das Gesicht in den Aermel seines alten Drellrockes . » Ja , tröste ihn nur , deinen Heinz ! – Das hält eben immer wie die Kletten zusammen ! « sagte Ilse ; aber schon war alle Schärfe aus Blick und Ton verschwunden . Sie nahm die Lampe vom Tisch und schritt die Tenne hinab , um den Papierknäuel zu suchen , aber so viel sie auch umherleuchten mochte , er fand sich nicht . Bis dahin hatte ich in dem Zimmer meiner Großmutter nur selten eine Lebensäußerung gehört , vielleicht nur nicht beachtet ; ich mied ja auch instinktmäßig die nächste Umgebung desselben ; jetzt drang das Murmeln einer leidenschaftlich erregten , rauhen Stimme , von Stöhnen und tiefem Aufseufzen unterbrochen , durch das teppichverhangene Fenster . » Sie betet , « flüsterte Heinz mir zu . Aber dies Gebet wurde nicht knieend verrichtet . Sie ging mit so wuchtigen Schritten drinnen auf und ab , daß der Teppich hinter den Glasscheiben leise schwankte und der Boden hier draußen unter unseren Füßen nachschütterte . » Gebt Licht herein ! « schrie sie plötzlich angstvoll auf . » Licht ? « wiederholte Ilse . » Ich habe ja die Lampen hineingestellt . « Sie lief nach dem engen Gang , der , an der östlichen tiefen Seite der Wohnräume hinlaufend , nach dem Garten mündete , und in welchem sich die Hauptthür des Zimmers befand . Nicht lange darauf kam sie scheinbar beruhigt zurück . Draußen aber rasselte fast in demselben Augenblick der Pumpbrunnen , und man hörte den Wasserstrahl zischend in den Trog stürzen . » Es ist ihr schwarz vor den Augen geworden , « antwortete Ilse kurz auf meine ängstliche Frage . » Das wird wieder einmal eine schöne Nacht werden ! « murmelte sie sorgenvoll vor sich hin , während sie das Geschirr vom Eßtisch wegräumte und das Kästchen mit den Papieren in das Wohnzimmer zurücktrug . Also hatte sie öfter schlimme Nächte mit meiner Großmutter zu überstehen ! Das war eine unheimliche Neuigkeit für mich ; mein gesunder , glücklicher Schlaf hatte mich nie ahnen lassen , daß nächtlicherweile irgend etwas im Hause vorgehe . Nun erinnerte ich mich freilich , daß ich Ilse schon gar oft des Morgens niedergeschlagen und erschöpft gefunden hatte ; aber da waren stets ihre Kopfschmerzen , an denen sie häufig litt , schuld gewesen . Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf ; mir war so bang und beklommen zu Mute , als müsse mit der Nacht draußen auch Schlimmes über den Dierkhof hereinbrechen . Fast mechanisch horchte ich auf Heinzens Schritte , der noch einmal die Runde um das Haus machte ; er vermied wohlweislich den Baumhof , denn wenn auch der Schwengel des Pumpbrunnens augenblicklich ruhte , so hielt sich doch meine Großmutter jedenfalls noch dort auf . Da , wo die Umhegung des Baumhofes als scharfe Ecke in die Heide hineinschnitt , stand sie oft stundenlang und starrte in die unermeßliche Weite hinaus . » Geh in dein Bett , Kind , du bist müde ! « sagte Ilse und strich mir mit der Hand über den Scheitel . Ich war bis dahin , kraft meiner glücklichen Unbefangenheit , das indolenteste , eigennützigste Geschöpf der Welt gewesen – das fühlte ich tief in diesem Augenblick . » Nein , ich gehe nicht schlafen , « sagte ich und versuchte einen festen Ton anzuschlagen . » Ilse , ich bin heute siebzehn Jahre alt geworden , und nun groß und stark genug – ich lasse mich nicht mehr ins Bett schicken , während dir die Großmutter so schwer zu schaffen macht ! « Ich war aufgesprungen und stellte mich neben sie hin . » So , das hätte mir gefehlt , daß du mir auch noch im Wege herumstündest ! « entgegnete sie trocken ; sie sah seitwärts auf mich nieder . » Hm , ja , nun weiß ich doch auch , wie ein großes und starkes Frauenzimmer aussieht ! Es reicht mit dem Kopf gerade über den Eßtisch und piept in die Welt hinein wie ein Küchlein , das eben aus dem Ei gekrochen ist – « » Ilse , solch ein armseliges Ding bin ich doch nicht ! « unterbrach ich sie empört , aber auch kleinlaut – sie übertrieb ja nie . » Uebrigens weiß ich gar nicht , was du willst ! « fuhr sie unbeirrt fort . » Lächerlich ! die Großmutter steht ruhig draußen im Baumhof und wird in einer Stunde so fest schlafen , wie wir alle . Aber das will ich dir sagen , es regt sie stets auf , wenn sie das Licht zu lange auf dem Fleet brennen sieht . « Sie nahm ohne weiteres die Lampe vom Tisch – und aus und vorbei war es mit meiner heroischen Anwandelung ; den hätte ich sehen wollen , der auf Ilses letztes Wort , auf ihre energische Kopfwendung hin noch etwas zu erwidern versucht hätte . Ich rief Heinz , der eben das Hausthor schloß , gute Nacht zu und folgte ihr pflichtschuldigst nach der Eckstube , in welcher wir beide schliefen . 5 Es war dumpf und heiß in der Stube . Ilse hatte bereits die Holzläden in die zwei Eckfenster eingesetzt ; und hätte sie über Vorhänge zu gebieten gehabt , sie wären sicher auch undurchdringlich übereinander gezogen gewesen . » Hier , du Leichtsinn , sind deine neuen Schuhe ! « sagte sie und zeigte unter den Stuhl , der neben meinem Bett stand . » Wäre Heinz nicht gewesen , da stünden sie noch draußen , und das Gewitter wüsche sie heute nacht in den Fluß . « Ich fühlte , wie meine Wangen heiß wurden beim Anblick der zwei nägelbeschlagenen , häßlichen Unglückskameraden . Zudem fiel das Lampenlicht grell auf den alten , verräucherten Kupferstich , der an der Wand hing und Karl den Großen vorstellte . Das Bild heftete seine großen Augen unverwandt auf mich – ich wandte ihm den Rücken und stieß die Schuhe unvermerkt mit dem Fuß tief unter den Stuhl ; ich mochte sie nicht mehr sehen , ich wollte nie mehr an die Fremden erinnert sein , mit deren Erscheinen eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten und neuen peinvollen Empfindungen in mein einsames , harmloses Leben hereingebrochen war . Ilse verließ das Zimmer nicht eher , als bis sie mich im Bett wußte . Allein mit einem aufgeregt klopfenden Herzen voll schlimmer Ahnungen schläft auch die Jugend nicht ein . Ich schlüpfte wieder in meine Kleider , hob den Laden aus dem westlichen Eckfenster , das in den Baumhof sah , und setzte mich dicht neben dasselbe auf das Fußende meines Bettes . Das fast greifbare Dunkel im Zimmer lichtete sich , und ich wurde ruhiger , wenigstens verlor sich die leidige Gespensterfurcht sofort . Geräuschlos klinkte ich das Fenster auf . Ein niedriger Ebereschenbaum draußen an der Wand , der in ihrem Schutz , zur Wonne der Vögel , sich alljährlich üppig mit seinen roten Beerendolden behing , schob seine äußersten Zweigspitzen über die Scheiben . Hinter dem grünen Gespinst saß ich geborgen und konnte doch über Garten und Wiesen hinweg in die dämmernde Welt hineinsehen . Ilse hatte vorhin von einem drohenden Gewitter gesprochen ; aber nie hatte sich der Sternenhimmel makelloser über die Heide hingebreitet ! Die köstliche laue Nachtluft wehte mich an mit kaum fühlbarem Atem , nicht das kleinste Blättchen an den Bäumen hob sich vor ihm , um hinauszuflüstern in die herrschende Todesstille – für mich war sie trotzdem belebt ; freilich nicht mehr durch die Geisterritte der Riesenrosse , die den greisen Hünenkönig und sein Gefolge über das Heideland trugen – den gold- und purpurstrotzenden Traum hatte heute die unbarmherzige Hacke gründlich zerstört – aber ich wußte ja , in jedem Erikastengel trieb und quoll es empor und formte in zarten Umrissen Millionen und aber Millionen Blütenköpfchen , die in kurzem hervorkommen sollten , um sich im Sonnenlicht die blassen Bäckchen purpurn färben zu lassen . Und heute war ich droben im höchsten Eichengipfel gewesen und hatte im alten Elsternest vier Eier gezählt – da drin trieb und dehnte es sich auch und frug im emsigen Wachsen nicht , ob es Tag oder Nacht sei , bis das Schnäbelchen an die Schale pochte und Raum und Licht schaffte für zwei neue kluge Aeuglein ... Ich wußte auch , daß jetzt weit drüben aus dem Waldsaum leisen Trittes die Rehe kamen und wohlig die Heideluft schlürften , die , auch über den Dierkhof hinstreichend , Wiesen- und Kräuterdüfte mitbrachte . Meine Pulse waren allmählich ruhiger geworden . Unbewußt hatte ich in die glatte , friedliche Bahn meines gewohnten Denkens eingelenkt und die Interessen wieder aufgenommen , die meine anspruchslose Seele bisher vollkommen ausgefüllt . Im Hause war es still geblieben , so still , daß ich Miekes Kette durch die Wand hatte klirren hören . Ilse hatte recht gehabt mit ihrer Versicherung und konnte nun jeden Augenblick mit dem Licht in die Schlafstube treten . – Hei , wie rasch mich der Gedanke auf die Füße brachte ! Ich wäre sicher binnen zwei Minuten in dem hochaufgetürmten Federbett rettungslos versunken gewesen , hätte nicht plötzlich das Zuwerfen einer fernen Thür alle Balken und Pfosten des Dierkhofes erzittern gemacht . Ich war eben im Begriff , das Fenster zu schließen , da kam es lautatmend um die Ecke , dicht am Fenster hin , so daß der gewaltige grauhaarige Kopf meiner Großmutter in erschreckender Nähe an mir vorüberfuhr . » Es brennt , da – da ! « stöhnte sie im Vorüberlaufen und hielt beide Hände auf die Stirne gepreßt . Ich wagte nicht , mich hinauszubiegen und ihr nachzusehen , hörte aber , wie sie gleich darauf stehen blieb , und ihre weitausgestreckten Arme kamen in das Bereich meiner Blicke . » Denn das Feuer ist angegangen durch meinen Zorn , « sprach sie mit erhobener Stimme in feierlich beschwörendem Pathos , » und wird brennen bis in die unterste Hölle , und wird verzehren das Land mit seinem Gewächs , und wird anzünden die Grundfeste der Berge ! « Langsam schritt sie unter den Eichen hin und trat in die Ecke des Baumhofes . Sie stand mir nicht allzu fern , und es war hell genug , ich konnte sie deutlich sehen – bildete doch der Himmel mit seinem Goldgefunkel einzig und allein den Hintergrund für die kräftigen Umrisse der Gestalt . Sie hatte das Obergewand abgeworfen , die weiten Hemdärmel hingen von den Schultern und schimmerten weiß herüber , und den Rücken hinab fielen halbaufgeflochten in vereinzelten Strähnen die langen Zöpfe . Was sie hinaussprach in die lautlos schweigende Heide – ich verstand es nicht ; es war mir , als hörte ich alle die Fremdwörter des alten Professors hier in einem Fluß , aber mit eigentümlich singender Betonung ... Plötzlich riß das Gemurmel in einem halberstickten Schrei ab ; meine Großmutter fuhr herum , und die ruhelosen Füße begannen abermals , in verdoppeltem Geschwindschritt , die Wanderung . Ich meinte , sie wolle auf den Brunnen zustürmen – da lief sie blindlings gegen eine der Eichen , taumelte zurück , nahm nochmals einen Anlauf und brach zusammen , plötzlich , gewaltsam , wie niedergerissen durch unsichtbare Hände . » Ilse , Ilse ! « schrie ich auf . Aber da stand sie schon und versuchte unter Heinzens Beistand die Gestürzte aufzurichten . Die beiden hatten jedenfalls von der Baumhofthür aus meine Großmutter bewacht und beobachtet . Ich sprang zum Fenster hinaus . » Sie ist tot ! « flüsterte Heinz , als ich zu ihnen trat . Er ließ mutlos den gewaltigen Körper zurücksinken , der in seiner Leblosigkeit jedenfalls furchtbar schwer war . » Sei still ! « gebot Ilse mit erstickter Stimme . » Auf , brauche deine Kräfte – vorwärts ! « Und sie faßte meine Großmutter unter den Armen und nahm sie mit übermenschlicher Kraft vom Boden auf , während Heinz die Füße hob . Nie werde ich den erschütternden Anblick vergessen , als sie keuchend über den Fleet schritten , und die grauen Haarsträhnen der Leblosen über die Steinfliesen hinschleiften , auf denen vor kaum einer Stunde noch die Geldstücke unter kräftigen Fußstößen umhergeflogen waren . Ich lief voraus und öffnete die Thür im Zimmer meiner Großmutter ; aber ich mußte erst noch eine hohe spanische Wand , die im Halbkreis den Eingang umstellte , zurückschieben , ehe ich in das Zimmer selbst eintreten konnte ; der Einblick war den profanen Augen Vorübergehender somit vollkommen verwehrt . Ich hatte diesen Raum nie betreten dürfen , selbst als kleines Kind nicht . Bei aller Seelenangst und Gemütserschütterung war mir doch in diesem Augenblicke zu Mute , als sähe ich mit zurückschreckenden Augen in eine neue Welt , aber in eine unsäglich düstere . Ich habe denselben Eindruck nur einmal noch empfangen , als ich eintrat in eine uralte dämmerdunkle Kirche voll halberblindeter Pracht , voller Marterbilder und erfüllt mit jenem unbeschreiblichen Gemisch von kalter eingeschlossener Kirchenluft und erstickenden Weihrauchdüften . Meine Großmutter wurde auf ein Bett niedergelassen , das in der einen Ecke stand ; es hatte Vorhänge , altmodische , steifseidene grüne Vorhänge , in die feine Goldblümchen eingewirkt waren . Wie das knisterte und rieselte , als sie zurückgeschlagen wurden , und wie schreckenerregend das bläuliche Gesicht mit den geschlossenen Augen unter dem harten dunklen Grün hervorsah ! Heinz hatte sich geirrt , meine Großmutter war nicht tot . Schweratmend lag sie da ; sie rührte kein Glied , aber als Ilse in so weichflehenden Tönen , wie ich sie nie von ihr gehört , ihren Namen nannte , da öffnete sie für einen Moment die Lider und sah sie verständnisvoll an . Ilse schob ihr Kissen und Polster unter den Rücken und gab ihr eine sitzende Stellung im Bett ; das that ihr sichtlich gut , das leise unheimliche Geräusch , das ihre Atemzüge begleitete , minderte sich . Währenddem hatte Heinz bereits den Dierkhof verlassen , um einen Arzt zu holen . Er mußte in das nächste Dorf laufen und von da nach dem eine Stunde Wegs entfernten größeren Orte einen Wagen schicken , der den Doktor nach dem Dierkhof brachte ; so konnten drei bis vier Stunden vergehen , ehe ärztlicher Beistand kam . Mein Versuch , Ilse behilflich zu sein , wurde zurückgewiesen . Sie schob schweigend , mit einem besorglichen Blick auf die Kranke , meine Hände weg , gestattete mir aber , dazubleiben . Ich kauerte mich , halbverdeckt durch den Vorhang , zu Füßen des Bettes auf eine kleine gepolsterte Bank nieder und sah beklommen in das fremdartige Zimmer hinein . Es war das größte im Hause und von einer saalartigen Weite ; vielleicht hatte meine Großmutter eine Wand durchschlagen lassen , um den befremdend großen Raum zu gewinnen . An den Wänden hingen mit eingewobenen Gestalten bedeckte wollene Tapeten . Mein Blick kehrte immer wieder zurück auf einen lebensgroßen Kinderkörper mit einem schönen Gesicht voll Trauer und sanftmütiger Duldung – es war der junge , auf einen Holzstoß festgebundene Isaak . Die Tapeten waren uralt und von den Motten zerfressen , so daß der nervigen Gestalt Abrahams ein Auge und die hochgehobene , opferbereite Hand fehlten ... Wie eine Versammlung mürrisch schweigender Greise , in steifer Ordnung , reihten sich Stühle mit himmelhohen Lehnen und großblumigen , samtenen Polsterbezügen an den Wänden hin . Ich habe erst späterhin diese aus den kostbarsten Hölzern geschnitzten , schwarzbraunen Säulenlehnen zu würdigen gelernt ; bei ihrem ersten Erblicken jedoch stierten mich die aus Band- und Laubgewinden hervorlauschenden Tierköpfe und fabelhaften Gebilde , die auch an all den umherstehenden Spinden und Schreinen wiederkehrten , dräuend und sinnverwirrend an . Die dunklen Farben und die tiefen Ecken allüberall sogen das Licht der zwei Lampen , die hell auf den Tischen brannten , gierig ein . Dunkel war der Teppich , auf dem meine Füße ruhten und der sich über den ganzen Boden hinbreitete , und fast schwarz der erdrückend niedrige Holzplafond . Nur das nackte Fleisch der Tapetenbilder , im Laufe der Zeit bis ins Leichenhafte erblichen , leuchtete da und dort wie ein aufgesetzter Lichtpunkt und ein einziger heller Gegenstand von mildem Glanze schwebte wie die versöhnende weiße Taube in das Düster herein – es war ein vielarmiger , mit weißen Wachskerzen besteckter Silberleuchter , der am Deckenbalken hing . Es schien im Verlauf der bangen Stunde , die ich bereits am Bette verharrte , besser mit der Kranken zu werden . Sie sah sich mit weitoffenen Augen um , trank etwas frisches Wasser , und plötzlich kehrte ihr auch die Sprache zurück . » Was ist mit mir ? « fragte sie langsam in gebrochenen , total veränderten Tönen . Ilse bog sich , ohne zu antworten , über sie – ich glaube , der Jammer nahm ihr die Stimme – und strich ihr lind und liebkosend die Haare aus der Stirne . » Meine alte Ilse ! « murmelte sie . Sie machte eine Anstrengung , sich zu erheben , es ging nicht – mit einem sonderbar starren , forschenden Blick streiften ihre Augen langsam an dem linken Arm nieder . » Tot ! « seufzte sie und ließ den Kopf in das Kissen zurücksinken . Der Ausruf flößte mir kaltes Entsetzen ein . Ich machte eine unwillkürliche Bewegung , das Polsterbänkchen rückte weiter und die Vorhänge rauschten . Wer ist noch im Zimmer ? « fragte meine Großmutter aufhorchend . » Das Kind , gnädige Frau – Leonore , « antwortete Ilse zögernd . » Dem Wilibald sein Kind – ja wohl , ich kenne es – es springt mit den kleinen nackten Füßen durch die Heide und singt drüben am Hügel – ich kann das Singen nicht hören , Ilse ! « Das wußte ich wohl ; nie hatte auf dem Dierkhofe ein singender Laut über meine Lippen kommen dürfen – ach , und ich sang so gern ! Mir war , als fliege meine Seele auf den Tönen , die mir die Brust weiteten , in die Ferne hinaus . Da sang ich denn in Heinzens Lehmhütte , daß die flaschengrünen Fensterlein zitterten , oder drüben auf dem Hügel ; aber ich hatte nie gemeint , daß das die Großmutter auf dem Dierkhof hören könne . Ich war aufgestanden und trat ihr zitternd um einen Schritt näher . » Klein wie ihre Mutter , « murmelte sie vor sich hin , » und hat die großen Augen und ein kaltes , enges Herz – ihr ist ja auch das Wasser über der Stirne ausgegossen worden . « » Nein , Großmutter , « sagte ich ruhig , » ich habe kein kaltes Herz ! « Sie sah mich so erstaunt an , als habe sie bis dahin gemeint , das kleine Wesen könne nur singen und nicht sprechen , am allerwenigsten aber sie selbst anreden . Ilse zog sich hinter den Vorhang zurück und winkte mir angstvoll , zu schweigen ; sie mochte durch mein unerwartetes Hervortreten einen Anlaß zu neuer Geistesstörung bei der Kranken fürchten . Aber meine Großmutter blieb vollkommen ruhig : ihre Augen hafteten unverwandt auf meinem Gesicht . Diese Augen , vor denen ich mich immer so entsetzlich gefürchtet , wenn sie im Vorüberlaufen unstät und irr über mich hinflackerten , waren sehr schön ; über ihren dunklen Glanz breitete sich freilich ein unheimlicher Schleier , aber es lag Seele darin , bewußtes Denken . » Komm einmal her zu mir ! « unterbrach sie das minutenlange Schweigen . Ich trat dicht an das Bett . » Weißt du , was es heißt , jemand lieb haben ? « fragte sie , und ihre gebrochene , tonlose Stimme nahm einen innigen Klang an . » Ja , Großmutter , das weiß ich ! Ich habe Ilse so lieb , so lieb , daß ich 's nicht sagen kann – und Heinz auch . « Um ihre Lippen zuckte ein leises Beben , und sie schob unter unsäglicher Mühe ihre auf der Decke liegende Rechte nach mir hin . » Fürchtest du dich vor mir ? « fragte sie . » Nein – nicht mehr ! « wollte ich hinzusetzen , aber ich verschluckte die zwei letzten Worte und bog mich zu ihr hin . » Nun , so gib mir deine Hand und küsse mich auf die Stirne ! « Ich that , wie sie geheißen , und seltsam , in dem Augenblick , wo meine Lippen das gefürchtete Gesicht berührten und meine Hand von den großen , kalten Fingern umschlossen und sanft gedrückt wurde , zog ein neues , süßseliges Gefühl in meine Brust ein . Ich wußte auf einmal , daß ich an diesen Platz gehörte , ich fühlte das geheimnisvolle Band des Blutes zwischen Großmutter und Enkelin , und hingerissen durch dieses plötzliche Erkennen setzte ich mich auf den Bettrand und schob sanft meinen Arm unter ihren Kopf . Ein beglücktes Lächeln glitt durch die großen , starken Züge ; sie legte sich in meinem Arm zurecht , wie ein müdes Kind , das einschlafen will . » Fleisch von meinem Fleisch , Blut von meinem Blut – ach ! « flüsterte sie und schloß die Augen . Ilse aber stand hinter dem Vorhang des Bettes ; sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich . Es trat wieder Totenstille ein . Sie wurde nur unter brochen durch das leise Aufstöhnen der Kranken und ihre schweren , unregelmäßigen Atemzüge , und durch das unausgesetzte leise Schnurren in dem hohen hölzernen Standgehäuse der alten Uhr , deren großes blinkendes Zifferblatt gespenstisch herüberstarrte , und die zu jeder Pendelschwingung weit und langsam aushob wie eine kranke Brust zum Atemholen . So war abermals eine lange , bange Zeit verstrichen ; es hatte bereits Eins geschlagen . Da wurde draußen das Hausthor geöffnet , und Heinz schritt in Begleitung eines anderen Mannes durch die Tenne ; er brachte also , wider Erwarten , den Arzt gleich mit . Ilse atmete sichtlich auf und winkte mir , ihm am Bett Platz zu machen ; ich zog vorsichtig meinen steifgewordenen Arm an mich und ließ das Haupt der Kranken behutsam in die Kissen sinken . Sie schien weiter zu schlummern ; sie gab auch kein Zeichen , daß sie es höre , als die Zimmerthür leise geöffnet wurde und die Männer eintraten . Da stand auf einmal der alte Pfarrer des nächsten Dorfes im vollen Ornat inmitten des Zimmers , während Heinz , den Hut in der Hand , ehrfurchtsvoll im Hintergrunde verblieb ... Sie sah feierlich ergreifend aus , die ehrwürdige Gestalt des Geistlichen im schwarzen Talar , das Gebetbuch in den Händen haltend . Ilse aber fuhr empor , als sähe sie ein Gespenst ; sie stürzte zurückwinkend auf ihn zu , allein es war zu spät – in demselben Moment , als fühle sie den Blick des Eingetretenen , schlug meine Großmutter auch die Augen auf . Ich wich zurück , so sehr entsetzte mich die furchtbare Verwandlung in den Zügen , die sich eben noch so friedsam geglättet hatten . » Was will der Schwarzrock ? « stöhnte sie . » Ihnen Trost bringen , so Sie dessen bedürfen , « versetzte der alte Mann mild , ohne sich durch die rauhe Anrede beirren zu lassen . » Trost ? ... Ich habe ihn bereits gefunden am unschuldigen Kindesherzen , in der Liebe , die sich dahingibt , ohne zu fragen : Wie glaubst du , und was gibst du mir dafür ? ... Leonore , mein gutes Kind , wo bist du ? « Mir zitterte das Herz bei diesen sehnsüchtigen Tönen . Ich trat rasch an das Kopfende des Bettes , so daß sie mich sehen konnte . » Trost könnt ihr mir nicht bringen , die ihr mich hinausgestoßen habt in die grauenhafte Wüste , wo mir der Sonnenbrand das Gehirn ausgedörrt hat ! « fuhr sie zu dem Geistlichen gewendet fort . » Nicht einen Tropfen kühler Labung habt ihr mir gereicht auf dem Wege , der nun , wie ihr predigt , enden soll in der Hölle ! ... Ihr Unduldsamen , ihr rühmt euch , in Demut vor Gott zu wandeln , und haltet doch jederzeit den Stein in der Hand , ihn auf euren Nächsten zu werfen , und vermesset euch , entehrendes Totengericht zu halten am Grabe der Hingeschiedenen , die bereits vor ihrem Richter stehen ! ... Ihr falschen Propheten , ihr rühmt euch zu dem Gott der Güte , des unendlichen Erbarmens zu beten , und macht ihn zum Lenker mörderischer Schlachten , zu einem grimmigen und eifrigen Gott , wie das Volk der Hebräer auch , das ihr das verfluchte nennt ! ... Vollkommen preist ihr ihn und gebt ihm doch alle Gebrechen eurer sündhaften Menschennatur , eure Rachsucht , eure Herrschbegierde , eure kalte Grausamkeit ... Euer Mittler hat euch eine Palme in die Hand gedrückt , ihr aber macht sie zur Geißel – « Der Geistliche hob die Hand , als wollte er sie unterbrechen , aber sie fuhr heftiger fort : » Und mit dieser Geißel habt ihr mich geschlagen und hinausgehetzt aus eurem Himmel , da ihr schwurt : Dein Vater , der Jude , der dir das Leben gegeben , deine Mutter , die Jüdin , die dich genährt , sie sind verflucht bis in alle Ewigkeit ! ... Mann , mein Vater war der Weisesten einer . Er hat gesammelt und aufgespeichert in seinem Geiste unermeßliches Wissen – und das sollte nutzlos verkommen in der Hölle , und dem geistig Beschränkten , der nie gedacht und nur geglaubt , würde mühelos das Himmelreich , wo doch dem Forschenden erst recht verheißen ist Wahrheit und Klarheit ? ... Und mein Vater , « fuhr sie fort , » hat gebrochen dem Hungrigen sein Brot und dahingegeben , daß die Linke nicht wußte , was die Rechte that . Er hat verabscheut die Sünde der Lüge , des Geizes und des Hochmuts und hat verziehen seinen Beleidigern und nie gerächt , was sie ihm angethan – er hat Gott , seinen Herrn , geliebt von ganzem Herzen , von ganzer Seele und von ganzem Gemüte , und soll doch schmachten in der Hölle bis in alle Ewigkeit , weil das Wasser nicht über seinem Haupt ausgegossen ist ? ... Wohl , wohl , so will ich dahin gehen , wo er ist – ich gebe euch eure Taufe zurück ! Behaltet euren Himmel – ihr verkauft ihn teuer genug , ihr Tyrannen im schwarzen Rock ! « Mit dem tiefsten Erbarmen in seinen milden Zügen trat ihr der alte Pfarrer näher ; aber da war keine Versöhnung mehr möglich . » Lassen Sie das – ich bin fertig ! « sagte sie schneidend und kehrte das Gesicht nach der Wand . 6 Leise , wie er gekommen , verließ der Geistliche das Zimmer . Unwillkürlich folgte ich ihm . So gewiß mich das Gebaren meiner Großmutter überzeugt hatte , daß einst schwere Missethat an ihr verübt worden sei , so schmerzlich leid that mir der alte Mann , der in der Kirche seine Hand segnend auf meine Stirne gelegt hatte . Er war mild und gut , er gehörte nicht zu denen , die die unglückliche Tochter des Juden in die Nacht des Wahnsinns getrieben ; er war willig und unverdrossen durch die Nacht geschr ten , der liebevolle Greis , um einer Kranken die Tröstungen der Kirche zu bringen . » Herr Pfarrer , « sagte Ilse draußen auf dem Fleet zu ihm , » ihr dürfen Sie das nicht zurechnen , sie hat sich taufen lassen , und der's gethan hat , war gut und christlich wie Sie , und sie hat ehrlich zu Christo gehalten ... Da ist aber einer gekommen – er mag's verantworten – und hat geeifert und hat des Verfluchens und Verdammens kein Ende gewußt . Ja , da war das viele Unglück in der Familie immer und immer nur ein Strafgericht des Herrn ! Und das hat ihr den Verstand genommen – er mag's verantworten ! « Ich rechte nicht mit ihr , « entgegnete er sanft . » Weiß ich doch leider zu gut , daß falscher Eifer im Weinberg des Herrn viel edle Frucht zerstört ! ... Die Frau hat viel gelitten – Gott wird barmherzig sein ! Mich schmerzt nur , daß ich nicht trösten durfte , wo ich es freudigen Herzens gekonnt hätte . Aber es widerstrebt mir , mit dem unerbetenen Beistand der Kirche auf eine Seele einzustürmen , die ohnehin im schweren Kampfe mit der Hülle . « Er strich liebkosend mit der Hand über meinen Scheitel . » Gehe hinein zu ihr , sie wird dich vermissen ! ... Ich wollte , ich könnte allen Trost unseres Glaubens auf deine Lippen legen , auf daß der geängstigten Seele der wahre Friede werde . « Ich kehrte sofort in das Zimmer zurück , während er ein Glas Wasser trank und dann , ohne zu rasten , den Dierkhof verließ . » Wo ist das Kind ? « hörte ich die Kranke schon draußen im Gange wiederholt fragen . » Da bin ich , Großmutter ! « rief ich eintretend und flog auf das Bett zu . Sie war ganz allein . Heinz , den wir bei ihr zurückgelassen , war fortgegangen , ich vermutete , aus Furcht vor Ilse , da er eigenmächtig den Geistlichen mitgebracht hatte . » Ach ja , da bist du , mein kleines schwarzbraunes Täubchen ! « sagte sie zärtlich und seufzte erleichtert auf . » Ich meinte schon , du seiest mir nun auch abgewandt und mit ihm hinweggegangen in Haß und Verachtung . « Ich protestierte . » So darfst du nicht denken , Großmutter ! « rief ich lebhaft . » Er hat mich zu dir geschickt und ist unsäglich gut , und ich – ich weiß gar nicht einmal , wie es ist , wenn man haßt und verachtet . « » Das heißt , du liebst die ganze Welt , « sagte sie schwach lächelnd . » Ach ja , das habe ich dir ja gesagt ! Ilse und Heinz , und Spitz und Mieke , und die gute , alte Föhre drüben auf dem Hügel und den blauen Himmel – « Ich verstummte plötzlich und schämte mich – es war ja nicht wahr , was ich da sagte ; diese volle hingebende , friedsame Liebe für die ganze Welt besaß ich gar nicht mehr ! Gerade heute war ich ein zorniges , ungebärdiges Geschöpf gewesen – sollte ich ihr das sagen ? Ich saß wieder auf dem Bettrand , und sie hielt in ihrer Rechten meine Hand ; die Finger umschlossen sie so fest , als sollte sie nie , nie wieder losgelassen werden – dabei sanken ihr langsam die Lider über die Augen . Sie hatte vorhin so kraftvoll und energisch gesprochen , und ich war so über alle Begriffe unerfahren , daß ich bei diesem Anblick nicht im entferntesten mehr an Erschöpfung dachte ; aber nun legte ich auch meine Linke liebkosend um ihr Handgelenk ; ich wußte recht gut , daß da der Lebensstrom in regelmäßigem Takt unaufhörlich klopfen mußte – zu meiner tiefsten Bestürzung wurde mir allmählich klar , daß es unheimlich still unter dieser kalten Hand blieb ; nur selten , nach langen , herzbeklemmenden Pausen , schlug es einmal kurz und hart an meine Fingerspitzen . » Wir sind wie der Thon in der Hand des Töpfers , « flüsterte sie plötzlich . » Was sind wir , was ist unser Leben , alle unsere Herrlichkeit ? « Sie stöhnte auf . » Aber du bist unser Vater , und wir sind deine Kinder , erbarme dich unser , wie sich ein Vater seiner Kinder erbarmt – « Sie schwieg wieder ; mich aber überfiel eine unbeschreibliche Angst , ich hätte alles darum gegeben , diese geschlossenen Augen offen zu sehen , und legte leise meine Lippen auf ihre Stirne . Sie fuhr empor , sah mich aber liebevoll und zärtlich an . » Geh , rufe mir Ilse ! « sagte sie schwach . Ich sprang auf , und in demselben Augenblick rasselte zu meiner unaussprechlichen Erleichterung ein Wagen über das Pflaster des Hofes . Gleich darauf trat Ilse in Begleitung eines Herrn in das Zimmer . » Der Herr Doktor ist da , gnädige Frau ! « sagte sie und ließ den Arzt an das Bett treten . Das Gesicht meiner Großmutter zeigte sofort wieder einen festen , gespannten Ausdruck . Sie schob dem Arzt die Rechte hin , um sich den Puls untersuchen zu lassen , und sah ihn aufmerksam an . » Wieviel Zeit geben Sie mir noch ? « fragte sie kurz und bestimmt . Er schwieg einen Moment betroffen und vermied es , ihrem Blick zu begegnen . » Wir wollen einen Versuch machen – « sagte er zögernd . » Nein , nein , bemühen Sie sich nicht ! « unterbrach sie ihn . Sie sah mit einem schattenhaften Lächeln an der linken Körperseite nieder . » Das ist bereits dem Staub verfallen ! « sagte sie kalt . » Wieviel Zeit geben Sie mir noch ? « wiederholte sie unabweisbar nachdrücklich mit geschärfter Stimme . » Nun denn – eine Stunde . « Mir stürzte ein Thränenstrom aus den Augen , und Ilse flüchtete an ein Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheiben . Nur meine Großmutter blieb vollkommen ruhig . Ihre Augen hefteten sich auf den Silberleuchter an der Decke . » Zünde an , Ilse ! « gebot sie , und während diese auf einen Stuhl stieg und Flämmchen um Flämmchen unter ihren Händen aufflackerten , wandte sich die Kranke zu dem Arzt . » Ich danke Ihnen , daß Sie gekommen sind , « sagte sie , » und möchte Sie noch um einen letzten Liebesdienst bitten – würden Sie die Güte haben , niederzuschreiben , was ich diktieren werde ? « » Von Herzen gern , gnädige Frau ; aber falls es sich um einen letzten Willen handeln sollte , so muß ich darauf aufmerksam machen , daß er ungültig sein wird ohne gerichtliche – « » Ich weiß das , « unterbrach sie ihn . » Allein dazu verbleibt keine Zeit . Meinem Sohn wird und muß mein letzter Wille auch in dieser Form genügen . « Ilse brachte Schreibgerät , und meine Großmutter diktierte . » Ich vermache Ilse Wichel den Dierkhof mit seinen vollen Einrichtungen und Liegenschaften ... « » Nein , nein – « schrie Ilse angstvoll und erschrocken auf , » das leide ich nicht ! « Meine Großmutter warf ihr einen strengen , zurechtweisenden Blick zu und sprach unbeirrt weiter : » ... als einen Beweis meiner Dankbarkeit für ihre unbegrenzte Hingebung und Aufopferung ... Ich vermache ferner meiner Enkelin , Leonore von Sassen , was ich an Staatspapieren noch besitze , und darf niemand , wer es auch sei , ein Recht daran erheben . « Ilse war emporgefahren und sah erstaunt nach ihr hinüber . Die Kranke deutete auf einen Schrank . » Da drin muß ein Blechkasten stehen ... Nimm ihn heraus , Ilse ; ich habe völlig vergessen , wie viel er enthält . « Ilse öffnete den Schrank und stellte einen niedrigen Blechkasten auf den Tisch . Ein verrostetes Schlüsselchen steckte in dem Vorlegeschloß . » Es mag wohl lange , lange her sein , daß ich ihn nicht berührt habe , « murmelte die Kranke und hob matt die Rechte nach der Stirne . » Es ist finster in mir gewesen – ich weiß es ... Welches Jahr schreiben wir ? « » Das Jahr 1861 , « entgegnete der Arzt . Ach , da mag manches dadrin verfallen und wertlos geworden sein ! « klagte sie , während er den Deckel zurückschlug . Auf den Wunsch der Kranken überzählte er die Papiere , die den Kasten bis an den Rand füllten . » Neuntausend Thaler , « berichtete er . » Neuntausend Thaler ! « wiederholte meine Großmutter befriedigt . » Sie genügen , um die Not abzuwehren ... Es muß auch noch eine kleine Schachtel in dem Kasten liegen . « Ich sah , wie Ilse den Kopf schüttelte über diese plötzliche Geistesklarheit , die so leicht da anknüpfte , wo vor vielen Jahren der glatte Faden des ungetrübten Denkens abgerissen war . Der Arzt nahm eine unscheinbare Holzschachtel aus dem Kasten – sie enthielt eine Perlenschnur . » Der letzte Rest der Jakobsohnschen Herrlichkeit ! « flüsterte die Kranke wehmütig vor sich hin . » Ilse , lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort ! ... Sie gehört zu deinem Gesicht , mein Kind ! « sagte sie zu mir , während ich leise in mich zusammenschauerte unter der kühlen , schmeichelnden Berührung . » Du hast die Augen deiner Mutter , aber die Jakobsohnschen Züge ... Das Band hat viel Familienglück und schöne friedliche Zeiten voll Glanz gesehen ; aber es ist auch mitgeflüchtet vor dem Scheiterhaufen und anderen grausamen Martern der christlichen Unduldsamkeit ! « Sie rang nach Atem . » Nun will ich unterschreiben ! « stieß sie nach einer Pause der Erschöpfung sichtlich beängstigt hervor . Der Doktor legte das Papier auf die Bettdecke und drückte die Feder in die steife Hand ... Sie war unsäglich mühselig , diese letzte irdische Handlung ; aber der Name , Klothilde von Sassen , geborene Jakobsohn , stand schließlich doch in ziemlich festen großen Zügen unter dem Dokument , das auch der Arzt als Zeuge mittels einiger Worte unterschrieb . » Weine nicht , mein Täubchen ! « tröstete sie mich . » Komme noch einmal her zu mir ! « Ich warf mich sprachlos am Bett nieder und küßte ihre Hand . Sie trug mir Grüße an meinen Vater auf und richtete ihre großen verschleierten Augen von meinem Gesichte hinweg fest und sprechend auf Ilse . » Das Kind darf nicht verkommen in der einsamen Heide ! « sagte sie bedeutsam . » Nein , gnädige Frau , dafür lassen Sie mich sorgen ! « versetzte die Angeredete in ihrer gewohnten knappen Kürze , obgleich ihr die Lippen schmerzlich zuckten und helle Thränen an ihren Wimpern hingen . Noch einmal glitt die kalte matte Hand liebkosend über mein Kinn , dann schob mich meine Großmutter sanft , aber doch in jener ängstlichen Hast , die mit jeder Sekunde geizt , von sich und sah starr nach einem der Fenster mit einem so seltsam ausdrucksvollen Blick , als wolle die Seele bereits mit ihm hinausfliegen in das All . » Christine , ich verzeihe ! « rief sie zweimal angestrengt in die Lüfte , in die weite Ferne hinaus ... Sie war fertig , gerüstet . Sichtlich beruhigt rückte sie den Kopf in die Kissen zurecht , wandte den Blick nach oben und begann feierlich inbrünstig , wenn auch mit erlöschender Stimme : » Höre , Israel , unser Herr , unser Gott ist ein Einziger und Einiger ! ... Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit – « die Stimme erstarb in einem geflüsterten Hauch ; sie neigte sanft und langsam das Haupt seitwärts . » In Ewigkeit , Amen ! « vollendete der Arzt an Stelle des Mundes , der für immer verstummt war . Er drückte ihr mit sanfter Hand die Lider über die Augen . 7 Ich ging hinaus . Das erste tiefe Weh war über mich gekommen . Wie versteinert stand ich vor jenem unerbittlichen » Vorbei- für-immer « , das uns angesichts des ausgelöschten Lebens so völlig unglaublich erscheint . Mit der ganzen enthusiastischen Zärtlichkeit , die so leicht aus dem jugendlichen übervollen Gemüt hervorquillt , hatte ich mich an die neugeschenkte Großmutter gehangen . Ich durfte das unaussprechlich süße Gefühl kosten , welches mir sagte , die Hingebung meines kleinen Herzens werde heiß gewünscht – und nun marterte mich der Gedanke , daß ich nicht genug gegeben , daß ich meiner Großmutter bei weitem nicht überzeugend genug ausgesprochen habe , wie sehr ich sie lieben wolle . Es war mir Bedürfnis gewesen , ihr zu versichern , daß ich sie auf den Händen tragen werde , wenn sie erst wieder gesund sei – statt dessen hatte ich sorglos die ganze kostbare Zeit verstreichen lassen und kindischerweise von meiner Liebe für die ganze Welt gesprochen ... Das hatte sie gewiß am wenigsten hören wollen , sie , der man draußen in der Welt so furchtbar wehe gethan ... Und nun war sie gestorben , und ich konnte ihr dies alles nicht mehr sagen ... Zu spät ! Unsere ganze Ohnmacht und Hilflosigkeit liegt in dem niederschmetternden Wort ! Ich trat durch die Baumhofthür ins Freie . Ein kräftiger Luftstrom , noch mit den Spuren der Nachtfeuchte im Atem , strich über die Heide her . Er blies dem Torfsumpf die große federweiße Schlafhaube ab und verdünnte sie zum zarten Spitzenvorhang , hinter welchem das Sonnenfeuer aufzuglühen begann . Rotgolden färbten sich die rauschenden Eichenwipfel , und das kleine Giebelfenster des Dierkhofes fing an zu blinken . Wie trunken schwankten die Grashalme unter dem funkelnden Tau ; aber aufgerichtet hatten sich alle wieder , über die meine Großmutter heute nacht zum letztenmal hingeschritten war . Die Fenster des Sterbezimmers , die ich nie anders als halbverhüllt gekannt hatte , standen weit offen . Ich schwang mich auf die Brüstung und sah hinein . Das Zimmer war leer . Die Vorhänge , jetzt im schräg einfallenden Morgenlicht smaragdfarben schimmernd , waren nach der Wand zurückgeschlagen und ließen die Lüfte über das Bett hinstreichen ... Die mächtige Gestalt , der das Blut so heiß und ungestüm in den Adern gekreist hatte , dort lag sie hingestreckt unter dem weißen verhüllenden Tuche , nur kenntlich an der prächtigen grauen Flechte , die hervorgeschlüpft war und über den Bettrand hinabhing . Eine aufgescheuchte Brummfliege zog summend an mir vorüber , und auf dem Silberleuchter an der Decke züngelten die gelben Flammen der Wachskerzen im Luftzuge unruhig hin und her . Das war alles , was sich regte in dem weiten Zimmer , selbst die Uhr stand still . Dagegen erscholl nun das erwachende Leben aus dem Vorderhofe herüber . Die Hähne krähten ; Spitz fuhr kläffend unter die krakelnden und aufschreienden Hühner , und Mieke verlangte dumpfbrüllend nach der Hand , die ihr das strotzende Euter entleerte . Ueber das Dach her kam die Hauskatze ; sie sprang geräuschlos in das Gras des Baumhofes und schlich mit grünfunkelnden Augen unter den Ebereschenbaum , auf welchem ein kleiner Vogel sorglos zwitscherte . Ich bog eben um die Ecke und scheuchte sie fort . Und droben im Reisernest auf dem Dache wurde unter eifrigem Geklapper Toilette gemacht , dann rauschte das Storchenpaar hoch über meinem Haupte hin zum Frühstück nach dem Sumpfe – alles wie sonst ! Nur vor dem Hause schreckte mich Fremdes und Ungewohntes zurück – ein Pferd wieherte in die frische Morgenluft hinaus , und an der niedrigen Umzäunung des Hofes stand mit rückwärts verschränkten Armen der Doktor und schaute über die mit Tau und Sonnengold förmlich überschüttete Heide hin . Die kleine verstaubte Chaise , die ihn gebracht hatte , stand angeschirrt vor dem Hausthor , und drin auf der Flur sah ich Ilse stehen , fest und stramm wie immer . Sie hatte den Eßtisch sauber gedeckt , Tassen und Butterbrot auf der weißen Serviette geordnet und kochte Kaffee für den Arzt . Ich trat aufgeregt zu ihr . » Ilse , wie kannst du das nur ? Wie ist dir das möglich in einem solchen Augenblick ? « rief ich zornig vorwurfsvoll . » Sollen andere dursten und hungern , weil ich Schmerz habe ? « fragte sie scharf und strafend . » Hast heute nacht deine Großmutter sterben sehen und hast doch nicht von ihr gelernt , daß man in den schlimmsten Stunden den Kopf oben behalten soll ! « Tief beschämt legte ich meine Arme um ihren Hals ; denn das Gesicht , das sich mir erst jetzt voll zugewendet , schien wie erstarrt im Jammer , und das urgesunde Rot war bis auf den letzten Schein weggelöscht von den Wangen . Und doch rührten sich die Hände nach wie vor , und nicht die kleinste Pflicht durfte versäumt werden . Der Doktor kam herein und der Knecht , der ihn gefahren , auch ; ich ging ihnen aus dem Wege und trat wieder vor das Haus . Die Enten des Dierkhofes , sämtliche Schnäbel nach der Heide hinaus gerichtet , standen am geschlossenen Gatterthore der Einfriedigung ; sie warteten sehnsüchtig auf den Augenblick , wo es geöffnet wurde und sie hinausrennen und sich kopfüber in den Fluß stürzen durften . Nur eine balgte sich noch mit einem weißen , zerflatternden Klumpen im Hofe herum – da war ja der Brief , den meine Großmutter heute nacht vom Fleet aus fortgeschleudert , und welchen Ilse nachher so emsig gesucht hatte ! Er war bis vor das offene Hausthor geflogen . Ich öffnete den Enten das Gatter und nahm den befreiten Papierknäuel auf ; er sah übel zugerichtet aus ; das schmutzige Wagenrad war über ihn hingegangen , und der Entenschnabel hatte ihn halb zerfleischt . Auf das Bänkchen unter dem Ebereschenbaum flüchtend , machte ich mich daran , das Papier auf dem Knie zu glätten und die auseinanderfallenden Stücke zusammenzufügen . Es fehlte viel , zudem war die Handschrift eine sehr flüchtige ; unter großer Mühe entzifferte ich folgende Stellen : » Ich habe Dich nie belästigt , weil ich es Dir gegenüber für Ehrensache hielt , den eigenmächtig eingeschlagenen Weg auch selbständig zu gehen ... › Die Verlorene ‹ hat alles gethan , damit kein Schatten ihrer Laufbahn auf Dich zurückfalle – nie ist mein eigentlicher Familienname gegen andere über meine Lippen gekommen , nie habe ich durch irgendwelche Erkundigungen nach Dir und meiner ehemaligen Heimat den Verdacht erregt , als sei ich mit den Sassens verwandt – es hätte sie wahrlich nicht geschändet ; denn – denke , wie Du willst – ich sage es dennoch mit Stolz , man hat mich einstimmig das Wunder , den glänzendsten Stern unserer Zeit genannt ... « Hier war ein Stück Papier abgerissen , es fehlte – aber auf der anderen Seite des Bogens las ich weiter : » Nun ist ein schweres Unglück über mich hereingebrochen – wohin soll ich gehen , wenn nicht zu Dir ? ... Ich habe meine Stimme verloren , meine kostbare Stimme ! Die Aerzte sagen , eine Badekur in Deutschland könne sie mir zurückgeben . Aber ich stehe da mit leeren Händen ; durch die gewissenlose Verwaltung anderer ist mein Vermögen bis auf den letzten Groschen verloren gegangen ... Auf den Knieen liege ich vor Dir , die Du im Wohlleben schwimmst , die Du nie erfahren hast , was Not , grimme Not ist – ich könnte Dir viel erzählen von schlaflosen , qualvollen Nächten ... Vergiß nur einmal , nur auf eine Stunde , daß ich unfolgsam war , und gib mir die Mittel , mich zu retten ! Was sind einige hundert Thaler für Dich , die « – über das Folgende lief die breite schwarze Spur des Wagenrades , die ohnehin blassen Schriftzüge waren total zerkratzt und verwischt . Auf einem herabhängenden Fetzen des zweiten Blattes stand noch ziemlich lesbar die Adresse der Schreiberin , und auf einem anderen die zwei Worte , die genügt hatten , meine Großmutter in schäumende Wut zu versetzen , die Unterschrift » Deine Christine « . Wer war Christine ? Dieses Wunder , der glänzendste Stern unserer Zeit ? .. . Die Stelle » Auf den Knieen liege ich vor Dir ! « machte auf mein einfaches , unverbildetes Gemüt einen ungeheuer dramatischen Eindruck . Ich sah sofort das schlankste Ritterfräulein aus einem meiner Bilderbücher in die Kniee sinken und die weißen Hände flehend erheben ... Und die Stimme hatte sie verloren , ihre kostbare Stimme ! ... Meine Hände fuhren unwillkürlich nach dem Halse – wie mußte das entsetzlich sein , wenn man mit voller Brust aushob , um die Töne hinausklingen zu lassen , und die Kehle versagte und blieb stumm ! Weder Fräulein Streit , noch Ilse hatten je auch nur mit einer Silbe jener » Verlorenen « gedacht , und doch mußte sie meiner Großmutter sehr nahe gestanden haben , denn sie war ihr letzter Gedanke gewesen . Jetzt erst erschütterte mich das feierliche » Christine , ich verzeihe ! « in tiefinnerster Seele ; unwillkürlich mußte ich an den verlorenen Sohn denken , der im tiefsten , stillsten Herzenswinkel des Vaters doch das geliebte Kind geblieben war . Ich steckte die Briefreste in meine Tasche und ging hinein auf den Fleet . Eben rollte die Chaise aus dem Gartenthor und bog , bedenklich schwankend , in den nach links führenden schauderhaften Heideweg ein , und von der entgegengesetzten Seite her kam Heinz auf den Dierkhof zugetrabt . In diesem Augenblick erst fiel es mir auf , daß er ja stundenlang verschwunden gewesen war . Ich trat neben Ilse , die den Doktor bis an das Hausthor begleitet hatte und auf der Schwelle stehen geblieben war ... Es wollte mir scheinen , als käme Freund Heinz sehr unsicher daher ; er machte sich erst noch in völlig unnützer Weise mit dem Gatter zu schaffen , ehe er es unternahm , auf uns zuzuschreiten – das wurde ihm offenbar blutsauer . Beim Anblick unserer verweinten Gesichter blieb er verwirrt stehen . » Nu , was hat er denn gemeint ? « fragte er verlegen stockend , indem er mit dem Daumen über die Schulter zurück nach dem wegfahrenden Doktor zeigte . » Mein Gott , Heinz , du weißt es nicht ? « rief ich , aber Ilse unterbrach mich mit barscher Stimme . » Wo warst du ? « fragte sie kurz und bündig den Bruder . » Bei mir zu Hause , « antwortete er trotzig . Heinz trotzig ! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht ; aber da stand er trotz allem dem , der ewig Nachgebende , und schöpfte offenbar Mut aus seinem eigenen widersetzlichen Ton , denn nun verstieg er sich auch noch zu der unglaublichen Kühnheit , Ilses feindlich scharfen Blick zu parieren . » So – was war denn nachts um Eins so nötig bei dir zu Hause ? Hast wohl deinen Vogel füttern müssen ! « sagte sie schneidend . Er sah ängstlich und unsicher auf . » O je – nachts um Eins den Vogel füttern – wie werd' ich denn so dumm sein ! Zwischen meine vier Wände hab' ich mich gesetzt , « platzte er heraus , » die hat mein Vater mit seinen ehrlichen Händen gebaut , und ein frommer Spruch steht über der Thür ... Wie werd' ich denn auf dem Dierkhof bleiben , wenn eine Judenseele geradeswegs in die Hölle fährt ! ... Ilse , wenn das mein Vater wüßte , daß du bei einer Judenfrau gedient hast ! « » Heinz , wenn das mein Vater wüßte , daß du bei einem Christen gedient hast , wo du halb verhungert und erfroren bist , und der dir alle Tage mit Ohrfeigen und Stockprügeln gedroht hat ! « parodierte sie ihn zornig . » Das ist mir ja eine ganz neue Weisheit , die du da auskramst , und die hast du von da drüben ! « Sie zeigte nach der Richtung eines großen Dorfes hinter dem Walde , wo Heinz in früheren Jahren als Knecht gedient hatte .