Erstes Capitel Es war an einem warmen Juniabend des Jahres 184 , als ein mit zwei schwerfälligen Braunen bespannter Stuhlwagen mühsam in dem tiefen Sandwege eines Tannenforstes dahinfuhr . Wird dieser Wald denn nie ein Ende nehmen ! rief der junge Mann , der allein in dem Hintersitze des Fuhrwerks saß , und richtete sich ungeduldig in die Höhe . Der schweigsame Kutscher vor ihm klatschte statt aller Antwort mit der Peitsche . Die schwerfälligen Braunen machten einen verzweifelten Versuch , in Trab zu fallen , standen aber alsbald von einem Vorsatze ab , den ihr Temperament und der tiefe Sand so wenig begünstigten . Der junge Mann legte sich mit einem Seufzer in seine Ecke zurück und fing wieder an , auf die einförmige Musik des mühsam gleisenden Fuhrwerks zu horchen , und ließ wieder die dunklen Stämme der Tannen an sich vorübergleiten , auf die hier und da ein Streifen von dem Licht des Mondes fiel , der so eben über den Forst heraufstieg . Er begann von neuem , sich den Empfang , der seiner auf dem Schlosse harrte , und die so neue Situation , in die er treten sollte , auszumalen ; aber die überdies verschwommenen Bilder einer unbekannten Zukunft wurden dunkler und dunkler ; die schlummermüden Augen schlossen sich , und der erste Ton , den sein Ohr wieder vernahm , war der dumpfe Hufschlag der Pferde auf einer hölzernen Brücke , die zu einem mächtigen steinernen Thorweg führte . Endlich , rief der junge Mann , sich emporrichtend und neugierig um sich schauend , als der Wagen rascher durch eine dunkle Allee riesiger Bäume fuhr auf einem mit Kies bestreuten offenen Platze einen halben Bogen machte und jetzt vor dem Portale des Schlosses hielt , auf dessen dunklen Fenstern die Mondstrahlen glitzerten . Der schweigsame Kutscher klatschte zum Zeichen der Ankunft mit der Peitsche . Die einzige Antwort war der helle Ton einer Glocke in der Nähe , die langsam elf Uhr schlug . Als der letzte Ton verklungen war , that sich die Hausthür auf , ein Diener trat heraus an den Wagen und hinter ihm wurde die Gestalt eines alten Herrn sichtbar , dessen runzliges Gesicht von dem Schein der Kerze , die er mit der einen Hand gegen den Luftzug zu schützen suchte , hell beleuchtet wurde . Der junge Mann sprang rasch aus dem Wagen auf den alten Herrn zu , der ihm die Rechte entgegenstreckte und mit einer Stimme , deren Freundlichkeit das Zittern des Alters und ein etwas ausländischer Accent nicht verhüllten , sagte : Seien der Herr Doctor bestens willkommen ! Der junge Mann erwiderte herzlich den Druck der dargebotenen welken Hand : Ich komme zwar etwas spät , Herr Baron , sagte er , aber – Das thut nichts , das thut nichts , unterbrach ihn der alte Herr . Frau von Grenwitz ist noch auf . Johann , tragen Sie die Sachen auf das Zimmer des Herrn Doctor ! Wollen Sie hier eintreten ! Oswald hatte auf dem mit Steinfliesen ausgelegten Vorsaal seinen Anzug flüchtig geordnet und folgte jetzt dem Baron in ein hohes , schönes Zimmer . Als er eintrat , erhoben sich zwei Damen , die an dem Tisch vor dem Sopha , wie es schien , mit Lesen beschäftigt gewesen waren . Meine Frau , sagte der Baron , Oswald der älteren von den beiden Damen vorstellend , einer hohen , schlanken Frau von etwa vierzig Jahren , die dem Ankömmling ein paar Schritte entgegengegangen war und jetzt mit einiger Förmlichkeit seine Begrüßung erwiderte , und dann verbeugte er sich auch vor der jüngeren , einer zierlichen kleinen Gestalt mit einem etwas scharfen , echt französischen , von langen Locken eingerahmten Gesicht , da er in dem Umstande , daß sie ihm nicht besonders vorgestellt wurde , keinen zwingenden Grund sah , diese Höflichkeit zu unterlassen . Sie kommen spät , Herr Doctor Stein , sagte die Baronin mit einer tiefen , wohllautenden Stimme , die mit dem kalten Licht ihrer großen grauen Augen nicht ganz harmonirte . So früh , gnädige Frau , antwortete der junge Mann heiter , als es der widrige Wind , der heute Morgen das Fährboot um mehrere Stunden aufhielt , und der Kutscher des Herrn Baron , dessen Geduld zu bewundern ich unterwegs reichlich Gelegenheit hatte , erlaubten . Geduld ist eine schöne Tugend , sagte die Baronin , nachdem sie ihren Platz auf dem Sopha wieder eingenommen und die Uebrigen sich auf Stühlen um den Tisch gereiht hatten ; eine Tugend , die Sie vor Allen schätzen müssen , da Sie dieselbe in Ihrem Berufe so nöthig haben . Ich fürchte , die beiden Knaben werden Ihnen nur zu oft Veranlassung geben , diese Tugend im vollsten Umfange zu üben . Ich verspreche mir alles Gute von meinen zukünftigen Zöglingen und bin zum voraus überzeugt , daß die Probe , auf die sie meine Geduld stellen werden , keine Feuerprobe sein wird . Ich will es wünschen , sagte die Baronin , eine Arbeit , die sie beim Eintritt des jungen Mannes aus der Hand gelegt hatte , wieder ergreifend ; indessen werden Sie die Knaben gerade jetzt etwas verwildert finden , da sich Ihre Ankunft leider um einige Tage verzögert hat , und Ihr Vorgänger uns nicht den Gefallen thun konnte – oder wollte , seine Abreise so lange aufzuschieben . Es hieße gering von der guten Natur der Knaben denken , erwiderte Oswald , und nicht besonders groß von dem Erziehertalente des Herrn Bauer , das mir sehr gerühmt wurde , wenn ich wirklich fürchtete , sein Einfluß auf dieselben sollte ihn nicht einmal eine Woche überlebt haben . Nun , Herr Bauer hatte seine Tugenden und auch seine Schwächen , sagte die Baronin , die Stiche auf ihrer Arbeit zählend . Das ist so Menschenloos , gnädige Frau , erwiderte Oswald . Will der Herr Doctor nicht eine Erfrischung zu sich nehmen , liebe Anna-Maria ? sagte hier der alte Herr ; Oswald konnte nicht unterscheiden , ob aus gastfreundlicher Fürsorge , oder um dem Gespräch , das , er wußte selbst nicht wie , einen etwas lebhaften Charakter angenommen hatte , eine andere Wendung zu geben . Ich danke , sagte Oswald trocken . Sie haben , fuhr die Baronin , ohne diese Unterbrechung zu beobachten , fort , wenn ich den Professor Berger , der uns an Sie wies , recht verstanden habe , sich bis jetzt noch nicht mit Unterrichten und Erziehen beschäftigt , Herr Doctor ? Nein . Sie werden mich außerordentlich verbinden , wenn Sie mir gelegentlich Ihre Grundsätze in dieser Beziehung ausführlicher darlegen wollten . Ich bin zum voraus überzeugt , daß wir in den Hauptpunkten einerlei Meinung sein werden . Auf einige Differenzen in den Nebensachen müssen wir uns wohl Beide gefaßt machen . Ich werde Ihnen meine etwaigen Wünsche und Ansichten stets unverhohlen äußern und bitte Sie , gegen mich dieselbe Rücksichtslosigkeit zu beobachten . Was den Umfang der Kenntnisse der Knaben anbelangt , so werden Sie sich darüber bald selbst ein Urtheil bilden . Auch Ihrem Urtheil über den Charakter der Kinder wünsche ich nicht vorzugreifen ; nur das glaube ich Ihnen sagen zu müssen , daß Sie in Malte , unserm Sohn , einen etwas verzogenen Knaben , und in Bruno – Sie wissen , daß Bruno von Löwen ein entfernter Verwandter meines Mannes ist , den wir nach dem Tode seiner Eltern zu uns genommen haben – einen Knaben finden werden , der eben gar nicht erzogen und in Folge dessen auch zum Theil sehr ungezogen ist . Liebe Anna-Maria , sagte der alte Herr . Ich weiß , was Du sagen willst , lieber Grenwitz , unterbrach ihn die Baronin , Bruno ist nun einmal Dein erklärter Liebling , und unsere Ansichten über ihn werden wohl noch lange verschieden bleiben . Uebrigens magst Du auch wohl Recht haben , wenn Du behauptest , daß ich ihn nicht zu beurtheilen vermag , was übrigens weniger meine , als des Knaben Schuld ist , dessen düsteres verschlossenes Wesen alle Annäherung von unserer , wollte sagen , von meiner Seite beharrlich zurückweist . Aber , liebe Anna-Maria , – Nun , laß es gut sein , lieber Grenwitz , wir wollen Herrn Doctor Stein nicht gleich an dem ersten Abend , den er unter unserm Dache ist , das Schauspiel der Uneinigkeit zweier Ehegatten geben . Ueberdies wird Herr Doctor Stein der Ruhe bedürfen . Mademoiselle , wollen Sie die Güte haben , zu klingeln . Diese letzten Worte wurden in französischer Sprache an die junge Dame gerichtet , welche während dieser ganzen Unterredung unbeweglich , ohne auch nur die Augen nach dem Ankömmling aufzuschlagen , das Buch , aus dem sie vorgelesen haben mochte , noch immer in der Hand haltend , an dem Tische gesessen hatte . Jetzt erhob sie sich und schritt nach der Thür , neben der sich der Klingelzug befand . Oswald kam ihr mit einem : Erlauben Sie , mein Fräulein , zuvor . Das Mädchen sah ihn aus großen braunen Augen mit einem halb verwunderten und halb erschrockenen Blick an , der deutlich genug verrieth , wie wenig sie an dergleichen Aufmerksamkeit gewöhnt war , und ging dann , die langen Wimpern schnell wieder senkend , zu ihrem Platz am Tische zurück . Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag , Oswald nach dem für ihn bestimmten Zimmer zu bringen . Ich hoffe , daß Sie vorläufig Alles nach Wunsch finden werden , sagte die Baronin , als Oswald sich mit einer stummen Verbeugung verabschiedete ; wenn Eines oder das Andere vergessen , oder weniger nach Ihrem Geschmacke sein sollte , so haben Sie ja die Güte , dies auszusprechen ; ich wünsche dringend in unserm eigenen Interesse , daß Sie sich in unserm Hause behaglich fühlen . Oswald verbeugte sich noch einmal und folgte dem Diener aus dem Gemache . Dieser führte ihn über den Hausflur , an dessen Wänden Oswald flüchtig im Schein der Kerze dunkle Portraits von alterthümlich gekleideten Herren und Damen in Lebensgröße bemerkte , eine steinerne Wendeltreppe hinauf , durch lange Corridore in eine Flucht von kleinen Zimmern und endlich in ein größeres Gemach . Dies ist das Zimmer des Herrn Doctor , sagte der Mann , die beiden Kerzen , die auf dem mit einem grünen Teppich bedeckten großen runden Tisch in der Mitte des Gemaches standen , anzündend . Die Thür dort führt in das Schlafgemach des Herrn Doctor . Und wo schlafen die Knaben ? fragte Oswald . Der Herr Doctor gelangen aus Ihrem Schlafgemach in das der Herren Junker . Haben der Herr Doctor sonst noch etwas zu befehlen ? Nein , ich danke . Ich wünsche dem Herrn Doctor eine wohlschlafende Nacht . Gute Nacht . Oswald war allein . Er war , eine Hand auf den Tisch gestützt , nachdenklich stehen geblieben und hörte mechanisch zu , wie die Schritte des Dieners allmälig auf dem Corridor verhallten . Jetzt ergriff er eine der beiden Kerzen , ging durch sein Schlafgemach nach der Thür , von der ihm der Diener gesagt , daß sie in das Gemach der Knaben führe , öffnete sie behutsam und trat , das Licht mit der Hand schirmend , leise ein . Die Betten der Knaben standen dicht neben einander . Vor dem einen Bette lag ein Teppich , vor dem andern nicht . Ueber dem Bette ohne Teppich hing an der Wand eine kleine silberne , über dem mit dem Teppich eine noch kleinere goldene Uhr . In dem Bette unter der goldenen Uhr lag ein Knabe von vielleicht vierzehn Jahren , mit blondem , schlichtem Haar und einem schmalen , feinen Gesicht , das in diesem Augenblick durch den halb geöffneten Mund etwas Albernes hatte ; in dem Bette unter der silbernen Uhr ein Knabe , der wohl nur ein Jahr älter sein mochte , als der erste , aber mindestens um drei Jahre älter aussah und überhaupt mit jenem den sonderbarsten Contrast bildete . Während die Arme Jenes schlaff auf der Decke lagen , hatte Dieser die seinen über der Brust verschränkt . Der fest geschlossene Mund , und die in diesem Augenblick , wo ihn ein Traumbild herausfordern mochte , leise zusammengezogenen dunklen Brauen , gaben dem blassen Gesicht mit den unregelmäßigen , aber nicht unschönen Zügen einen Ausdruck von finsterem Trotz und Stolz , der einem gefangenen Königssohn wohl angestanden haben würde . Armer Knabe , sagte Oswald bei sich , als er mit unendlichem Interesse in das räthselhafte junge Antlitz sah , Dir hat der Lenz des Lebens auch schon Thränen gebracht , wenn Du überhaupt von einem Lenze sprechen kannst . Er fühlte sich seltsam ergriffen , er wußte selbst kaum weßhalb ; aber er beugte sich über den Schlummernden und küßte ihn auf die Stirn . Da regte sich der Knabe im Schlaf , die Arme lösten sich , er schlug die großen , tiefblauen Augen auf und sah durch die Nebel des Traumes zu Oswald empor . Und da zuckte es wie ein sonniger Strahl über sein Gesicht ; alles Düstre war verschwunden und ein warmes , hinreißend freundliches Lächeln spielte in den lebensvollen Zügen . Ich habe Dich lieb , sagte der Knabe . Und ich Dich , antwortete Oswald . Da wandte sich Bruno auf die Seite und Oswald hörte an den tiefen , regelmäßigen Athemzügen , daß er wieder fest entschlafen sei . Hat er Dich wirklich gesehen , oder bist Du ihm nur als Traumbild erschienen ? fragte sich der junge Mann , als er , voll von dem Eindruck dieser kleinen Scene , in sein Zimmer zurückschritt . Er stellte das Licht wieder auf den Tisch , trat an's Fenster , öffnete es und lehnte sich hinaus . Der Himmel hatte sich mit Wolkendunst bedeckt , durch den der volle Mond , der schon tief am Himmel stand , nur als dunkelrothe Feuerkugel schien . Im Osten wetterleuchtete es . Die Luft war schwül und drückend . In dem Schloßgarten tief unter dem Fenster schimmerten die weißen Blüthenbäume . Tiefer finsterer Schatten lag auf den Buchen und Eichen , die von dem hohen Wall , der den Garten umgab , riesig in den Himmel wuchsen . Nachtigallen schlugen in vollen langgezogenen Tönen ; ein Brunnen plätscherte leise , wie im Schlaf . Oswald fühlte sich seltsam bewegt . Seine Vergangenheit ging in dämmernden Bildern an seinem Geiste vorüber , wie die Wolkenschleier an dem Monde vorüberwallten ; Ahnungen der Zukunft zuckten dazwischen , wie das Wetterleuchten gegen Aufgang . Da rauschte es lauter in den Bäumen , die helle Glocke , die ihn bei seiner Ankunft begrüßt hatte , schlug langsam zwölf . Er fuhr empor . Du wolltest dir ja das Träumen abgewöhnen , sprach er lächelnd zu sich selbst . So schlafe denn , da du , ohne zu träumen , nicht mehr wachen kannst . Zweites Capitel Oswald war jetzt eine Woche auf Schloß Grenwitz , und die Woche war ihm vergangen wie ein Tag . Es lag in seiner Natur , alles Neue mit Leidenschaft zu ergreifen , selbst das Alltägliche , so lange es neu war , und hier hatte er Neues vollauf : eine neue Situation , neue Umgebung , neue Menschen . Das Alles versetzte ihn , wie es bei sanguinischen Temperamenten zu geschehen pflegt , auf eine Zeit lang in die heiterste Stimmung , in welcher es ihm ein Leichtes war , Dinge und Menschen , und Alles und Jedes , womit er in Berührung kam , selbst die Baronin mit ihren strengen , kalten Zügen , selbst den schweigsamen Kutscher , gegen den er gleich am ersten Abend einen Haß gefaßt hatte , selbst den kriechenden , zuthulichen Bedienten mit seinem ewigen : Befehlen der Herr Doctor – ganz liebenswürdig , zum mindesten interessant zu finden . Von dieser heiteren , versönlichen Stimmung gaben auch die Briefe Zeugniß , die er um diese Zeit an seine Freunde schrieb : Da wäre ich denn nun , heißt es in dem einen , auf dieser neuen Station meines wunderlichen Lebens angelangt , und wahrlich , ich glaube es hier , bis Schwager Kronos die Pferde gewechselt hat und wieder in sein ewiges Horn stößt , trotz meiner so oft von Ihnen gescholtenen Ungeduld , wohl aushalten zu können . Ja , wenn ich nicht fürchten müßte , durch voreiligen Enthusiasmus ihren Spott herauszufordern , so hätte ich nicht übel Lust , dem guten Stern , der mich hierher geführt , ein Danklied zu singen . Ich bin durchaus in der dazu nöthigen Stimmung . Ich habe in diesen Tagen schon so viel Wald-und Seeluft geathmet , daß mein armes , vom Staube nichtsnutziger Folianten betäubtes Gehirn schier trunken ist . Wahrlich , wenn die Menschen dieses paradiesischen Aufenthaltes nicht ganz unwürdig sind , so öffnet sich mir für die nächsten Jahre eine schöne Zukunft . Verzeihen Sie mir , mein Freund , daß ich zu dem großen Schritte , der mich hierher geführt , nicht Ihre specielle Erlaubniß eingeholt habe , wie Sie nach dem blinden Gehorsam , mit dem ich Ihrer höheren Einsicht bis jetzt immer gefolgt bin , wohl erwarten konnten . Ich war einmal entschlossen , ihn zu thun . Sie , das wußte ich , würden mir Ihre Einwilligung versagen ; so wollte ich denn Ihren geharnischten Gründen ein eben so geharnischtes fait accompli entgegenstellen , und Ihrem guten Rath das uralte Vorrecht , zu spät zu kommen , nicht rauben . Ueberdies kam mir die Sache so plötzlich , und ich mußte meinen Entschluß so schnell fassen , daß ich eben nur Zeit hatte , Ihnen denselben mit wenigen Worten anzukündigen ; und endlich ist es auch der Professor Berger , der die ganze Schuld trägt , wenn überhaupt von Schuld die Rede sein kann , und auf dessen Schultern ich hiermit feierlich alle Verantwortung wälze . Wir haben uns , seitdem wir uns vor nun fast einem Jahre in der Residenz trennten ; sehr selten und immer nur sehr flüchtig geschrieben . So werde ich auch wohl des Professors Berger kaum ein paar Mal Erwähnung gethan haben , und es ist daher die höchste Zeit , daß ich Sie mit diesem originellen Manne endlich bekannt mache , der in meiner jüngsten Vergangenheit eine so große Rolle gespielt hat , und dem ich es einzig und allein zu verdanken habe , daß ich in der Haupt- und Staatsaction der Tragi-Komödie – Examen genannt – keine kläglichere Rolle spielte . Als ich damals von B. nach Grünwald zog , in der vagen Hoffnung , ich werde in dieser stillen Musenstadt , in der , wie ich mir hatte sagen lassen , das Gras in idyllischer Ruhe auf den Straßen wachse , die nöthige Sammlung finden , an der es mir in den literarischen Cirkeln , ästhetischen Thees und singenden Butterbroden der Residenz so gänzlich gebrach , erschien mir unter den fürchterlichen Männern , die mich selig machen oder verdammen konnten , Professor Berger bald als der fürchterlichste . Ich hörte von den paar Commilitonen , deren dreimal bedenkliche Bekanntschaft zu machen ich nicht umhin konnte , wahrhaft unheimliche Dinge von seiner erstaunlichen Gelehrsamkeit und allerlei Beunruhigendes über sein excentrisches Wesen , seine tolle Launenhaftigkeit und seinen großen Einfluß auf die übrigen Mitglieder der Prüfungscommission , denen er durch sein Wissen , mehr aber noch durch seinen Witz , mit dessen beißender Lauge er Jeden ohne Ansehen der Person überschüttete , gründlich imponirte . Leibhaftig hatte ich den Entsetzlichen noch nicht gesehen . Er hatte einen seiner hypochondrischen Anfälle , in welchen er sich , wie man mir sagte , bei Tage in seine Stube einschlösse und des Nachts in den Wäldern der Nachbarschaft umherschweife . Da werde ich eines Tages von einer reichen Familie , an die ich empfohlen war , zu Mittag geladen . Die Gesellschaft war sehr zahlreich , ich führte eine der jungen Damen vom Hause zu Tisch , ein hübsches blondes Mädchen , dessen Munterkeit mich während des Anfangs der Mahlzeit hinreichend fesselte . Als aber die gewöhnlichen Themata , die man mit jungen Damen , die seit einem Jahre aus der Schule sind , abzuhandeln pflegt , durchgesprochen waren , wurde ich auf einen Herrn aufmerksam , der mir gegenüber saß . Es war ein untersetzter , schon ältlicher Mann , mit einer massiven , wie aus Granit gahauenen Stirn , unter der ein paar kluge Augen hervorblitzten . Die etwas vollen Wangen verkündeten eine Neigung zum Wohlleben , die sich denn auch in dem Eifer , mit welchem der Mann den guten Gaben der Ceres und des Bacchus zusprach , deutlich genug zu erkennen gab . Die Züge um den festen , schönen Mund waren geradezu räthselhaft : Sinnlichkeit , Witz , Schalkheit und Melancholie – Dämonen und Genien – schienen dort zu spielen . Das Gespräch wurde an diesem Theile der Tafel bald ein allgemeines , und ich konnte mich , ohne aufdringlich zu erscheinen , hineinmischen . Man sprach über Kunst , Literatur , Politik . Ueberall schien der merkwürdige Mann zu Hause , überall überraschte er uns durch die geistvollsten Aperçus , durch blendende Antithesen und wunderliche Paradoxen . Ja , er schien seine Freude daran zu haben , wenn er so ein Tröpfchen Fegefeuer hineingesprengt hatte und die höllischen Flämmchen die guten Leute auf der Nase kitzelten . So stellte er denn auch gelegentlich die Behauptung auf , daß Revolutionen der Menschheit nie etwas genützt hätten , nie und nimmer etwas nützen würden . Sie kennen meine Ansicht über diesen Punkt , der oft der Gegenstand unserer Gespräche war . Ich nahm den Fehdehandschuh auf ; ich wurde warm bei meinem Lieblingsthema , um so wärmer , als der Mann mir gegenüber mich durch Kreuz- und Quersprünge irrlichtergleich zu verwirren suchte . Ich vergaß Alles um mich her , ich wurde pathetisch , satyrisch – ich fühlte , daß ich gut sprach , wenigstens in meinem Leben nicht besser gesprochen hatte . Der Mann hatte zuletzt das Gefecht , das , wie ich später zu meiner Beschämung erfuhr , das lustigste Scheingefecht von der Welt für ihn war , aufgegeben und hörte mir , den großen Kopf ein wenig auf die rechte Schulter geneigt und mich unter den buschigen Brauen mit seinen großen klugen Augen anlächelnd und dabei ein Glas Hochheimer nach dem andern schlürfend , behaglich zu . Bald darauf wurde die Tafel aufgehoben . Als ich meine Dame in das Theezimmer führte , fragte ich sie : Und wer war denn der Herr , mit dem ich mich in ein , für Sie ohne Zweifel , sehr langweiliges Gespräch verwickeln ließ ? Wie , Sie kennen Professor Berger nicht ? antwortete mir die Kleine verwundert . Das war Professor Berger ? Nun freilich , soll ich Sie ihm vorstellen ? Um Himmelswillen nicht , rief ich mit wahrhaftem Entsetzen ; o ich Kind des Unglücks ! Was ist Ihnen ? fragte die hübsche Blondine , was haben Sie ? Ich aber hatte schon ihren Arm aus dem meinen gleiten lassen und suchte das entfernteste Zimmer . Dort warf ich mich in einer einsamen Ecke auf einen niedrigen Divan , um über das Unglück , das ich angerichtet hatte , melancholische Betrachtungen anzustellen . Ich hatte mich also , während ich mit einem gutmüthigen Pudel zu spielen glaubte , mit einem grimmigen Bären gerauft ! Dieser Mann war mir als eben so tückisch geschildert , wie er gelehrt und witzig war . Würde er sich meiner Sarkasmen und Ausfälle nicht in jener schlimmen Stunde erinnern , wo ich hülflos auf dem Secirtisch des Examinationssaales vor ihm lag ? Es war ein verzweifelter Fall . Da hebe ich vor einem Geräusche neben mir den Kopf , den ich nachdenklich in die Hand gestützt hatte ; – vor mir steht der Professor Berger . Ich fahre von meinem Sitze auf . Erlauben Sie , daß ich mich zu Ihnen setze , sagt der seltsame Mann , indem er auf dem Divan Platz nimmt und mich an seine Seite winkt . Sie gefallen mir und ich wünsche , Ihre nähere Bekanntschaft zu machen . Ich bin der Professor Berger ; mit wem habe ich die Ehre ? Mein Name ist Stein . Sie studiren , oder vielmehr , was haben Sie studirt ? Ich wollte , Herr Professor , ich könnte auf diese Frage einfach » Philologie « antworten , da dies aber eine grobe Unwahrheit wäre , so kann ich nur sagen : ich wünsche , ich hätte Philologie studirt . Wie so ? Weil mir alsdann die Ehre Ihrer näheren Bekanntschaft weniger bedenklich erscheinen möchte . Ein Lächeln spielte um den Mund des Professors die Wange hinauf und verlor sich im Winkel des rechten Auges . Sie stehen vor dem Examen ? Ja , wie – Sie kennen ja das Sprüchwort , Herr Professor . Das Lächeln zuckte vom Auge wieder herunter zum Munde . Und da erschrecken Sie vor mir wie Hamlet vor seines Vaters Geist ? Wenigstens erscheinen Sie mir in sehr fragwürdiger Gestalt . Nun wohl , da sehen Sie selbst , daß wir eben deßhalb näher mit einander bekannt werden müssen . Wollen Sie morgen Abend , oder wenn Sie sonst Zeit und Lust haben , ein Glas Theepunsch mit mir trinken ? Ich sagte natürlich nicht nein . Und dies war der Anfang meiner Bekanntschaft , ja , ich darf wohl sagen Freundschaft mit diesem außerordentlichen Manne . Wir sind von dieser Zeit an , so lange ich in Grünwald war , täglich zusammen gekommen , und ich schlage die praktischen Vortheile , die für mich aus dem Verkehr mit dem Gelehrten sich ergaben , lange nicht so hoch an , als die tiefen Blicke , die ich in dem vertraulichen Umgange mit dem Menschen in einen der räthselhaftesten Charaktere thun durfte , die mir vorgekommen sind . Es muß , fürchte ich , eine Wahlverwandtschaft zwischen seinem und meinem Wesen existiren oder wir hätten uns nicht so schnell finden , so rückhaltslos gegen einander aussprechen , so auf Wort und Wink verstehen können . Ich fürchte , sage ich ; denn Berger ist ein sehr unglücklicher Mann . Die Lichter seines glänzenden Humors spielen auf einem gewitterschweren Hintergrunde . Er steht allein in der Welt , verkannt von Allen , gefürchtet von den Meisten , geliebt von Niemand . Warum dem so ist , darüber könnte ich mich selbst Ihnen gegenüber nicht auslassen , denn jede Freundschaft ist ein Tempel , zu dem einem Dritten der Zutritt versagt bleiben muß . Aber ich schaudere , so oft ich das Dunkel heraufbeschwöre , das über ihn hereinbrechen muß , wenn einst das Alter die strahlende Fackel seines Genius , die jetzt einzig und allein die schauerliche Oede seiner Seele erhellt , düstrer und düstrer brennen macht . Vielleicht – wer weiß es ? – mag das auch ein Glück für ihn sein . Vielleicht mag dann das Wort , das er jetzt oft halb im grimmen Spotte und halb voll wehmüthigen Glaubens im Munde führt , das alte Wort : » Selig sind die Einfältigen « , an ihm zur Wahrheit werden . Der vertraute Umgang mit dem gelehrten Manne hatte mich in den Augen aller Andern in einen Nimbus gehüllt , in welchem ich , wie die homerischen Helden die Gefahren der Schlacht , die Schrecknisse des Examens ungefährdet durchwandeln konnte . Am Morgen des entscheidenden Tages sagte Berger zu mir : Wissen Sie , lieber Oswald , daß ich große Lust habe , Sie durchfallen zu lassen ! Warum ? Weil ich Sie zu verlieren fürchte : doppelt zu verlieren . Du lieber Himmel , welche Wandlungen können nicht mit einem Menschen vorgehen , dem man den Großvaterstuhl eines Amtes giebt und die Schlafmütze einer Würde aufsetzt ! Vielleicht kommen auch Sie noch dahin , den Horaz für einen großen Dichter zu halten , und den Cicero für einen eminenten Philosophen ; vielleicht werden Sie gar in dieser engbrüstigen Zeit aus lieber langer Weile ein gelehrter Professor , wie ich . Das Examen war vorüber ; ich hatte , wie Berger sagte , die Erlaubniß erhalten , das Stroh dreschen zu dürfen . Da kommt er eines Tages mit einem Briefe in der Hand zu mir und fragt : Haben sie Lust , in einer adeligen Familie Erzieher zu werden ? Das könnte ich eben nicht behaupten . Glaub 's wohl ; aber die Bedingungen sind so vortheilhaft , daß es sich mindestens der Mühe verlohnt , die Sache in Ueberlegung zu ziehen . Sie müssen sich auf vier Jahre verbindlich machen . Und das nennen Sie vortheilhafte Bedingungen ? Vier Jahre ! nicht vier Wochen ! Hören Sie nur ! Von den vier Jahren haben Sie nur zwei in dem Hause zuzubringen , die übrige Zeit reisen Sie mit Ihrem Zögling . Sie wollen die Welt sehen und Sie müssen die Welt sehen , und wäre es auch nur , um sich zu überzeugen , daß die Menschen überall mit Recht die Hunde so lieben . Sie haben kein Vermögen , zum Vagabunden sind Sie zu civilisirt . Eh bien ! hier haben Sie die schönste Gelegenheit , die Ihnen so vielleicht nicht zum zweiten Male im Leben geboten wird . Und wer ist mein Alexander ? Ein junger Majoratsherr , wie der macedonische Pferdebändiger . Ich habe die noble Sippschaft im vorigen Jahre in Ostende kennen gelernt . Der Mann , ein Baron Grenwitz , ist eine Null , die Frau Baronin ein X , das ich noch nicht habe herausrechnen können . Jedenfalls ist sie eine gescheite Frau . Ich weiß , daß dies für Sie keine geringe Empfehlung ist . Sie spricht drei oder vier lebende Sprachen gut , ihre Muttersprache nicht mit gerechnet . Ich habe sie sogar in Verdacht , daß sie mit ihrem jetzigen Hauslehrer , einem gewissen Bauer , der hier studirt hat und ein grundgelehrter – Jüngling war , in aller Stille Latein und Griechisch treibt . Und Sie , der Sie mir selber sagten , daß Sie ein Buch über den Adel und gegen den Adel geschrieben haben , das leider in Deutschland , für das es berechnet ist , nirgends gedruckt werden kann , – Sie rathen mir , der ich über die Braminenkaste dieselben Pariasideen habe , mich in das Lager unserer Erbfeinde zu begeben ? Das ist ja eben der Humor davon , sagte Berger lachend ; Sie sollen hingehen wie ein Mohicaner in das Lager der Irokesen ; und ich freue mich schon im voraus auf die prächtigen Zöpfe , die Sie zurückbringen werden . Die hängen wir dann als Trophäen in unserm Wigwam auf und haben unsere Freude daran . Und wenn man mich selbst dort scalpirt , wie dann ? Dann bin ich der letzte Mohicaner und rauche meine Friedenspfeife einsam und melancholisch auf dem Grabe meines Uncas . Er stützte den Kopf in die Hand und starrte düster vor sich nieder . Ja , ja , ich weiß es , murmelte er , die große Schlange , wenn sie es endlich müde ist , die Menschen anzuzischen , wird in einen Sumpf kriechen und da einsam verrecken . Ich ergriff seine Hand . Das wird nicht geschehen , wenigstens nicht , so lange ich lebe . Er schaute mich wehmüthig an . Aber Du wirst vor mir sterben , sagte er ; die große Schlange hat ein zähes Leben , und Du bist weich , viel zu weich für diese harte Welt . Doch das bei Seite . Was sagen Sie zu meinem Vorschlag ? Daß er mir nur halb und weniger als halb gefällt . So muß ich denn doch den letzten Trumpf ausspielen , rief Berger aufspringend . So hören Sie denn , Sie Ungläubiger , daß jenes Haus , in das ich Sie senden will , einen Engel in sich schließt , in Gestalt eines wunderlieblichen Mägdeleins . Sie ist die Schwester Ihres Alexander , und Gott sei Dank , vorläufig noch in Hamburg in Pension . Ich hasse sie , denn sie hat mir viel Qual bereitet . Alle wahnsinnigen Träume meiner Jugend lebten in mir auf bei ihrem Anblick und ängstigten mich wie schöne Gespenster . Zuletzt lief ich davon , so oft ich sie unter ihrem leichten Strohhute über den glatten Sand des Strandes herankommen sah . Ja , ich will es nur gestehen , ich habe die Sonette , die ich Ihnen neulich vorlas , die Sie freundlich genug waren , liebedurchglüht und Gott weiß , was noch sonst , zu finden , und die ich in der seligen Jugendzeit vor dreißig Jahren auf Helgoland gedichtet zu haben vorgab , im vorigen Jahre in Ostende , vom Anblick der schönen Teufelin berauscht , mit meinem Herzblut geschrieben . Das sagen Sie aber Niemand wieder . Weshalb nicht ? Es würde mir ja doch keine Menschenseele glauben . Da haben Sie freilich Recht und nun ? Nun habe ich noch weniger Lust , als vorhin . Ich wünsche nicht , die alberne Geschichte der Liebschaft eines Hauslehrers mit der Tochter des hochadeligen Hauses , eine Geschichte , die ich mir schon in so und so vielen Romanen zum Ekel gelesen habe , an mir selbst zu wiederholen . Und wenn das Mädchen wirklich so schön und liebenswürdig ist , daß – Daß selbst das dürre Holz frische Blätter treibt , was da am grünen geschehen soll ? unterbrach mich lachend Berger . Nun wohl ! verlieben Sie sich ! weßhalb nicht ! Lieber Freund , das Buch des Lebens für Leute unseres Schlages führt denselben Titel , wie einer der Romane Balzac's : » Illusions perdues . « Jeder Tag schreibt nur ein neues Capitel hinein , und je kürzer das Buch , desto besser und interessanter ist es . Aber da es nun einmal geschrieben werden muß und nicht anders geschrieben werden kann , so ist es auch im Grunde gleichgültig , ob wir nach Westen gehen , oder nach Osten . Wir machen dieselben Erfahrungen hier wie dort . Darum sage ich noch einmal : gehen Sie nach Grenwitz ! Was sollte ich thun . Es erschien mir als eine Pflicht , den Wunsch meines Freundes , dem ich so viel verdanke , zu erfüllen . Und dann , hatte Berger nicht Recht , daß es gleichgültig sei , ob ich nach Osten gehe oder nach Westen ? Genug , ich packte meine Sachen , sagte meinem Mentor Lebewohl und fuhr hinüber nach diesem Eiland . – – – Drittes Capitel Oswald hatte bis jetzt nur in Städten gelebt . Seine Sitten , seine Anschauungen , seine Neigungen waren die eines Städters . So kam es denn , daß , als er sich jetzt plötzlich wie mit einem Zauberschlage auf das Land versetzt sah , der unsägliche Reiz der ersten leuchtenden Sommertage in einem schönen ländlichen Aufenthalte für ihn mehr als für die meisten Menschen etwas unsäglich Anziehendes , ja Hinreißendes und Berauschendes hatte . Es war ihm Alles so neu und doch wieder so seltsam bekannt , wie wenn Jemand in eine Gegend kommt , die er schon lange vorher in seinen Träumen gesehen . War dieser blaue Dom , der sich immer tiefer und tiefer wölbte , derselbe Himmel , der sich so trostlos bleiern über das Häusermeer der Residenzstadt spannte ? waren diese funkelnden Lichter dieselben öden Sterne , zu denen er , aus dem Theater oder einer Gesellschaft kommend , kaum einmal flüchtig emporgeblickt hatte ? Konnte ein Sommermorgen so reich an Glanz und Pracht , ein Sommerabend so weich und wollüstig sein ? Hatte er denn den Gesang der Vögel nie vernommen , daß er sich jetzt an ihren einfachen Liedern nicht satt hören konnte ? Hatte er denn nie Blumen gesehen , daß er jetzt nicht müde wurde , ihre schönen Farben , und wundersamen Gestalten zu betrachten ? Es war ihm zu Muthe , wie Einem , der aus schwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht . Die jüngste Vergangenheit lag wie hinter einem dichten Schleier , aber weit Entferntes , im Meer der Vergessenheit seit langen Jahren Versunkenes tauchte wie eine glänzende , zauberische Spiegelung wieder über den Horizont der Erinnerung empor . Ei , da ist ja auch Rittersporn , rief er einst in diesen ersten Tagen freudig überrascht , als er , träumend im Garten auf und ab wandelnd , diese Blume häufig auf den Beeten blühen sah . Nun freilich , sagte Bruno , der bei ihm war , haben Sie denn noch nie welchen gesehen ? Es ist lange her , murmelte der junge Mann sich niederbeugend , und die phantastische Blume mit Rührung betrachtend . In seines Geistes Aug' sah er sich wieder in einem kleinen lauschigen Garten an der Stadtmauer herumspielen und Steinchen , Blumen und andere Seltenheiten , die er auf seinen Entdeckungsreisen fand , auf den Schooß einer schönen , jungen , blassen Frau sammeln , die ihm jedes Mal , wenn er zu ihr kam , das lockige Haupt streichelte und mit jener Geduld , die nur eine Mutter hat , nicht müde wurde , seine unzähligen Fragen zu beantworten . Und da hatte er ihr auch diese Blume gebracht und die schöne Frau hatte gesagt : das ist Rittersporn . Und dann hatte sie die Blume lange sinnend angesehen , bis ihr von dem langen Hinstarren die Thränen in die Augen kamen und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und sein Haupt stürmisch an ihre Brust gedrückt , und da mochte er denn wohl , von dem vielen Spielen müde , eingeschlafen sein , denn in diesem Augenblicke zerflatterte das Bild . – Die junge , schöne Frau , das wußte er , war seine Mutter ; sie war gestorben , als er noch nicht fünf Jahre alt war . – Wer hat nicht an sich selbst schon die traurige Erfahrung gemacht , daß wir in dem Gewirre des Lebens , wo eine Erscheinung die andere verdrängt , und wir stets unter der tyrannischen Gewalt des Augenblickes stehen , Alles , selbst das Theuerste , selbst die Eltern , die uns das Leben gaben , vergessen lernen . So hatte auch Oswald fast schon vergessen , daß er je eine liebe Mutter gehabt ; jetzt rief eine einfache Blume die Erinnerung an die früh Verstorbene mächtig in ihm wach . Die erste Zeit , die er in der Einsamkeit des Landlebens verbrachte , verknüpfte sich eng mit der ersten Zeit seines Lebens ; denn er hatte seitdem nicht wieder der Natur so unbefangen und so tief in das holde , bezaubernde Antlitz geschaut . Auch seines Vaters , der nun gerade vor zwei Jahren , einsam , wie er gelebt hatte , gestorben war , gedachte er jetzt mit jener dankbaren Liebe , die leider immer erst dann in voller Blüthe steht , wenn diejenigen , denen sie gebührt , sich nicht mehr an ihrem Dufte laben können ; seines Vaters , der wunderlichen Pygmäengestalt , die der Sohn schon als achtzehnjähriger Jüngling um zwei Köpfe überragte ; des menschenscheuen Sonderlings , der in der ganzen Stadt der » alte Candidat « genannt wurde , und dessen schwarzen abgeschabten Frack , in dem er Sommer und Winter einherging , jedes Kind auf der Straße kannte ; des räthselhaften Mannes , der den reichen Schatz seines Wissens und seiner Güte gegen alle Welt verschloß , nur nicht gegen den Sohn , an dem er mit unsäglicher Liebe hing , den er mit der rührenden Zärtlichkeit einer Mutter hegte und pflegte , und für den ihm , dem als Geizhals Verschrieenen , nichts zu kostbar gewesen war . Diese lieben und doch auch wieder schmerzlichen Erinnerungen zogen durch Oswald's Seele , während er in seinen Freistunden allein , oder mit seinen Zöglingen im Garten , Feld und Wald umherstreifte , sich von Tage zu Tage mehr für das Landleben begeisterte , und wenn er des Morgens , ehe die Unterrichtsstunden begannen , noch schnell einmal in den Schloßgarten geeilt , in die thaufrischen Kelche der Blumen geschaut und sich am Gesang der Vögel entzückt hatte , schlechterdings nicht mehr begreifen konnte , wie es die Menschen in den Städten , wie er selbst es nur jemals in der Stadt habe aushalten können . Und in der That hätte Schloß Grenwitz und seine Umgebung auch wohl einem durch landschaftliche Schönheiten verwöhnteren Auge das lebhafteste Interesse abgewinnen müssen , obgleich es von den Touristen , die alljährlich die Insel durchschwärmten , niemals aufgesucht , höchstens von Einem oder dem Andern zufällig aufgefunden wurde , der sich dann nicht genug wundern konnte , wie ein so lieblicher und in vieler Hinsicht so merkwürdiger Punkt in seinem Reisehandbuche , in welchem doch sonst jeder nichtsnutzige Gasthof verzeichnet stand , übergangen sein konnte , bloß weil er eine Meile von der großen Landstraße entfernt lag . Das Schloß trägt noch bis auf den heutigen Tag die Spuren von dem Reichthum und der Macht des alten ritterlichen Geschlechts derer von Grenwitz , das seit undenklichen Zeiten hier begütert gewesen ist , und die Burg zu seinem Schutz und den benachbarten Baronen zum Trutz in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erbaute . Das untere Stockwerk des einen Flügels mit seinen riesigen Quadersteinen stammt noch aus dieser Zeit , ebenso wie der gewaltige runde Thurm , in welchem jetzt das alte und das neue Schloß zusammenstoßen . Das neue Schloß wurde gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts in dem bizarren Styl jener Zeit gebaut und nimmt sich mit seinen verschnörkelten Säulen und wunderlichen Ornamenten neben dem alten schmucklosen Thurm , mit welchem es jetzt in einer Front liegt , aus , wie ein zierlicher Herr aus Louis XIV . Zeit neben einem eisengeharnischten Kämpen aus den Tagen von Crecy und Poitiers . Ein zwanzig Fuß und darüber hoher Wall , der in ein noch weit ehrwürdigeres Alter hinaufragt , als selbst der alte Thurm , umgiebt das Schloß in einem so weiten Kreise , daß es sammt den Nebengebäuden von dem eingeschlossenen Raume nur den kleinsten Theil einnimmt . Der Wall ist jetzt längst schon in eine friedliche Promenade umgewandelt , über der hohe Buchen , Nußbäume und Linden ein dichtes Laubdach bilden . Der breite Graben , der ihn in seiner ganzen Ausdehnung umzieht , ist jetzt zum Theil versumpft , mit dichtem Röhricht angefüllt , und , wo das Wasser sich noch einen Raum frei gehalten , mit einem grünen Teppich von Wasserpflanzen bedeckt , in welchem halbwilde Enten lustig schnattern . Offenbar hatte dieser Wall den Zweck gehabt , im Fall einer Fehde nicht nur die Hörigen der fehdelustigen Barone mit ihren Weibern und Kindern , sondern auch die Heerden und die Vorräthe zu schirmen ; auch hatten bis zur Zeit des Neubaues die Wirthschaftsgebäude , die jetzt ziemlich entfernt vom Schlosse außerhalb des Walles lagen , innerhalb desselben gelegen . Damals hatte der Wall nur einen Durchgang gehabt , ein festes , mit einem Thurm versehenes Thor , aus dem eine Zugbrücke über den Graben nach einem Brückenkopfe führte . Jetzt war der Thurm abgetragen , die Brücke konnte nicht mehr aufgezogen werden und aus dem Brückenkopfe hatte man längst Backöfen und andere nützliche Dinge gebaut . Von diesem Hauptthor führte eine Allee vielhundertjähriger prachtvoller Linden auf das Portal des Schlosses zu . Rechts von der Allee und vor der Front des Schlosses war ein großer Rasenplatz , in dessen Mitte ein steinernes Becken mit einer Najade als Schutzpatronin stand , die , wahrscheinlich aus Schmerz , daß ihrem Brunnen schon seit einem halben Jahrhundert das Wasser fehlte , den Kopf verloren hatte . Der ganze übrige Raum innerhalb des Walles war mit Gartenanlagen ausgefüllt , die aus der Zeit des Neubaues herrührten und mit ihren graden Gängen , kunstvoll verschnittenen Taxushecken , Buchsbaumpyramiden und ihren Sandsteingöttern , die allen Regeln der Aesthetik und allen Gesetzen der Anatomie so naiv Hohn sprachen , den Charakter dieser Zeit deutlich genug documentirten . Hier und da freilich war ein Geist der Neuerung in die Anlagen gefahren . Der Buchs hatte seine verkrüppelten Glieder , so gut es gehen wollte , in eine naturgemäße Baumgestalt auszurecken versucht ; die beiden Seiten eines Heckenganges hatten gemeinschaftliche Sache gemacht und sich zu einem undurchdringlichen Gestrüpp vereinigt ; ein Gärtner , der für die stumme Sprache von Taxuspyramiden kein Verständniß mehr besaß , und eine praktischere Richtung verfolgte , hatte , unbekümmert um den ästhetischen Eindruck , Aepfel- , Birnen- , Kirschen- und Pflaumenbäume gepflanzt , wo er gerade Platz fand , und hier und da seinen Gemüsebeeten den Luxus der Blumenrabatten geopfert . Eine Schwester der Najade im Hof war von Himbeer- und Stachelbeersträuchern fast überwuchert , aber sie hatte sich in ihr Schicksal zu finden gewußt , ihren Kopf behalten , und plauderte in stiller Nacht geschwätzig von der guten alten Zeit . So hatte von dem Riesenwalle , der aus der grauen Heidenzeit stammte , bis zu den Spargelbeeten , die gestern angelegt waren , seit einem Jahrtausend jede Generation etwas zur Befestigung , Verschönerung oder Verbesserung dieses Wohnsitzes beigetragen . Vieles war spurlos verschwunden , Vieles hatte sich erhalten ; Altes hatte der Zeit gespottet , Neues war mit der Zeit alt geworden ; aber da selbst das Aelteste die Spuren des Lebens , der fortdauernden Nutzbarkeit trug , so war nirgends ein Sprung , ein Riß bemerkbar , und das Ganze machte den wohlthuenden Eindruck , als ob es eben nicht anders sein könnte . Zwar seinen primitiven Charakter hatte das Schloß Grenwitz gänzlich eingebüßt , und wenn Oswald des Abends , von einem Spaziergang mit seinen Zöglingen zurückkommend , auf einer Stelle des Walles stehen blieb , von der er den schattigen , grasbewachsenen Hof , den blumenreichen Garten und das Schloß überblicken konnte , um dessen graue Mauern das Zwielicht wogte und die schnellen Schwalben zwitschernd kreis'ten , da glaubte er nicht die alte Stammburg fehdelustiger Barone , sondern das stille Klosterasyl beschaulicher Mönche vor sich zu sehen . Viertes Capitel Und ein stilles , klösterlich stilles Leben war es denn auch – das Leben auf dem Schlosse Grenwitz . Alle Unruhe , aller Lärm waren aus dem Bereich verbannt , den der alte Wall wie eine epheuberankte Kirchhofsmauer umgab . Hier ertönte kein Hundegebell , kein Pferdewiehern ; still glitten die Stunden dahin , wie die Schatten des Zeigers der Sonnenuhr über dem Portale ; still , wie die Blumen im Garten dufteten und blühten . Hier schien selbst der Wind leiser in den Wipfeln zu rauschen , die Vögel leiser in den Zweigen zu singen ; und was die Bewohner selbst betraf , so konnte die Wanduhr auf dem Vorsaal in ihrem Eichenschrank nicht freier von aller Neuerungssucht sein und ihr Tagewerk pünktlicher und systematischer vollbringen . Die Dienstboten thaten ihre Obliegenheiten mit der Regelmäßigkeit von Automaten . Ja in die Möbel selbst schien dieser strenge Geist der Ordnung gefahren , so daß Oswald sich des Gedankens nicht erwehren konnte , sie rückten sich in aller Stille von selber zurecht , falls einmal eines von seiner ihm angewiesenen Stelle abgekommen sein sollte . So wenig nun Oswald in seinem bisherigen Leben an eine so peinliche Ordnung gewöhnt war , und so sehr sich auch im Grunde seine Natur dagegen sträubte , so leicht wurde es ihm doch bei der Geschmeidigkeit seines Wesens und bei der versöhnlichen , milden Stimmung , in die ihn der tiefe Frieden rings umher versetzte , sich in dieselbe zu finden . Er that , was er die Leute um sich her thun sah , und erwiederte die förmlichen Verbeugungen , mit denen man sich hier begegnete , mit demselben Grade von Ernsthaftigkeit , den er auf einer Maskerade in einer Menuet zur Schau getragen haben würde . Er hatte es in den ersten Tagen mit den Lehrstunden nicht allzu genau genommen und sich desto eifriger mit seinen beiden Zöglingen draußen umher getummelt . Sie hatten den Buchwald , der sich von Schloß Grenwitz eine halbe Stunde bis hart an das Meer erstreckte , nach allen Richtungen durchstreift , hatten ein Hünengrab und eine Höhle entdeckt , und waren oft schon von den hohen Kreideufern zum Strand hinabgeklettert , hatten dort , auf einem mächtigen Rollsteine stehend , die Fluth heranbrausen sehen und gejubelt , wenn der Donner der Brandung ihre Stimmen übertönte . Auf diesen Streifzügen , die Oswald scherzend Vorstudien zum Homer nannte , hatte er vielfach Gelegenheit , die Naturen seiner beiden Zöglinge zu beobachten . Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar . Bruno war groß für seine Jahre , dabei schlank und geschmeidig und schnell wie ein Hirsch . Malte , der junge Majoratsherr , sah neben seinem stolzen Gefährten zurückgeblieben und verkümmert aus . Seine Schultern waren schmal , seine Brust eingesunken , und seine eckigen und unschönen Bewegungen stachen seltsam gegen die hinreißende wilde Anmuth ab , mit der Bruno ging , lief und sprang . Malte scheute vor jeder Gefahr , ja vor jeder Anstrengung , im Gefühl seiner Körperschwäche und aus angeborener oder anerzogener Feigheit zurück ; für Bruno war kein Baum zu hoch , kein Felsen zu steil , kein Graben zu breit , ja es schien , als ob er geflissentlich die Gluth seiner Seele durch körperliche Ermüdung dämpfen wollte . Oswald flocht eine Krone aus Buchenlaub und drückte sie dem Knaben auf die bläulich-schwarzen Locken , um ihn einem jungen Bacchanten noch ähnlicher zu machen . Aber wie in seinem Heimathlande Schweden aus eisiger Winternacht urplötzlich der duftende , lächelnde Frühlingsmorgen hervorblüht , so wechselten Sonnenschein und Sturm in seinem Gemüthe – übermüthige Lust und an Schwermuth grenzende Niedergeschlagenheit , herzliches , fast kindisches Sichhingeben und düsterer , mehr als knabenhafter Trotz – schnell und unvermittelt , wie Lichter und Schatten auf den Hängen eines Gebirges an einem Tage , wo der Wind die Wolken pfeilschnell an der Sonne vorüberjagt . So fand Oswald den Knaben , eine Fremdling im Hause seiner Verwandten , von den Einen gehaßt , von den Andern gefürchtet , ein unergründliches Räthsel für Alle , selbst für den alten guten Baron , der dem Knaben , oft mehr aus angeborener Großmuth , als aus Ueberzeugung , stets das Wort redete . Aber für Oswald hatte ein Blick in das traumumflorte dunkle Auge des Knaben genügt , den verwandten Dämon zu erkennen , und den mystischen Bund , den sie in jenem Augenblick geschlossen , hatte jede Stunde ihres Zusammenlebens nur gefestigt . Bruno hatte ihm an dem ersten Tage den düstern Trotz entgegengebracht , den er gegen Alle zu zeigen gewohnt war . Er hatte ihn mit scheuem , durchdringendem Blick zwei , drei weitere Tage beobachtet , und dann war vor Oswald's liebevollem , freundlichem Wesen der Argwohn von ihm gewichen , wie die Nebel vor den Strahlen der Sonne ; sein dunkles Auge war größer und glänzender geworden , als ob das unverhoffte Glück , einen Menschen zu finden , der ihn liebte und den er wieder lieben dürfe , ihn blende und verwirre ; und dann war all die stürmische Zärtlichkeit seiner Seele , die er so lange und so sorgsam hatte verschließen müssen , hervorgebrochen , mächtig – unwiderstehlich , wie ein Bergstrom , der die Felsenschranken gesprengt hat und jauchzend in das Thal hinunterstürmt . Wissen Sie , sagte der Knabe da zu Oswald , daß ich schon im Voraus entschlossen war , Sie zu hassen ? Warum , Bruno ? Ist der Haß für Dich so süß ? Ach nein ! aber ich glaubte , es seien alle Erzieher wie unser erster , und da dachte ich , was dem Einen recht ist , ist dem Andern billig . Und wie war denn Herr Bauer ? Nun , er machte seinem Namen Ehre , sagte der Knabe spöttisch . Ei , ei , mein stolzer Junker , willst Du mir den Bauer verachten ? Gewiß nicht ! rief der Knabe eifrig , mein Vater war selbst ein Bauer , trotzdem , daß er ein Edelmann war ; ich habe ihn oft genug hinter dem Pfluge hergehen sehen – aber dieser Mann war roh und plump wie ein Bauer und feig dazu . Einmal , nach Tische – ich weiß nicht , was ich wieder verbrochen hatte – schlug er mich in's Gesicht , weil Tante zugegen war und er glaubte , er thue ihr einen Gefallen . Ja , er schlug mich – und das Auge des Knaben blitzte auf bei der Erinnerung an diese Schmach und die Zornesader auf seiner bleichen Stirn schwoll . Und da , Bruno ? Da nahm ich das Messer , das vor mir auf dem Tische lag und sprang auf ihn ein , und der Elende lief vor mir , um Hülfe schreiend , zur Thür hinaus . Und als ich das sah und die bleichen Gesichter um mich her , mußte ich lachen und ging unbelästigt aus dem Saale . Und ich wäre am liebsten gleich in die weite Welt gerannt , aber Onkel kam hinter mir her und versprach mir , der Mensch solle nun und nimmer wieder Hand an mich legen dürfen . Onkel ist gut ; Sie glauben nicht , wie gut er ist ; aber er fürchtet sich vor der Tante ; Alle fürchten sich vor ihr ; aber ich habe sie doch lieb , denn sie hat Muth wie ein Mann und ich hasse nur die Feigen . Malte ist ein Feigling . Malte ist schwach und kränklich , und Du mußt Nachsicht mit ihm haben ; aber , wenn Du die Tante wirklich lieb hast , warum bist Du so unfreundlich gegen sie ? Bin ich unfreundlich ? Der Knabe schwieg . Eine Wolke zog über seine Stirn , seine Nasenflügel zuckten und sein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitterwolke , als er jetzt , hastig aufblickend , sagte : Ich bin unfreundlich , ich weiß es . Aber wie soll ich anders sein ? Ich esse hier im Hause Gnadenbrod , soll ich noch dafür danken ? Ich kann es nicht , ich will es nicht , und wenn sie mich aus dem Hause jagten . Sehen Sie , Oswald , ich habe oft gewünscht , man jagte mich fort , ja , ich habe es darauf angelegt , daß sie es doch ja thäten ; dann ginge ich in die weite Welt und verdiente mir mein tägliches Brod , wie tausend und tausend andere Knaben , die nicht so stark und so muthig sind , wie ich . Heute noch , als wir am Strande gingen und der Dreimaster am Horizonte auftauchte und wieder verschwand , da wünschte ich so heiß , so heiß , ich hätte mitsegeln können , als Schiffsjunge , als Matrose – nur fort , fort von hier , gleichviel wohin . Wenn so der Knabe die geheimsten Wünsche seines Herzens rückhaltslos seinem Freunde und Lehrer offenbarte , da geschah es denn wohl , daß diesen ein Zweifel beschlich , ob er , der selbst den Weg , den er zu gehen hatte , so wenig deutlich sah , der rechte Mann sei , den wilden , leidenschaftlichen Knaben zu leiten . Aber je weniger er sich im Stande fühlte , ausschweifende Wünsche , chimärische Hoffnungen zu bekämpfen , die er selbst im Stillen theilte , desto mehr verschwand die Kluft zwischen Lehrer und Schüler , desto brüderlicher wurde nur ihr Verhältniß . Noch hatte kein menschliches Wesen einen so tiefen Eindruck auf Oswald gemacht , wie dieser wundersame Knabe . Er liebte ihn wie ein Künstler das Werk , an dem er schafft , wie ein Vater den Sohn , in welchem er zu verwirklichen hofft , was ihm selbst zu erreichen versagt war , wie eine Mutter das Kind , für das sie wachen , sorgen und schaffen muß . Allnächtlich , wenn er sich müde gelesen und gearbeitet , ging er , ehe er selbst sein Lager suchte , in das Gemach der Knaben – er hätte nicht schlafen können , ohne seinen Liebling noch einmal gesehen zu haben . Jenes Schamgefühl , das edleren Naturen verbietet , die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen , machte ihn den Tag über karg mit Liebkosungen ; aber jetzt nahm er des Schlafenden Hände und streichelte sie und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn . Dich nennen sie lieblos , Dich , meinen Liebling , dessen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe hungert . Und wenn sie Alle Dich verkennen und hassen , ich verstehe Dich und will Dich lieben . Fünftes Capitel Die Wirthschaftsgebäude und Häuslerwohnungen , die zu dem Gute Grenwitz gehörten , lagen außerhalb des Walles , den man , um die Verbindung mit dem Schlosse und dem Hofe zu erleichtern , nach dieser Seite durchbrochen hatte . Ein hölzernes Gitterthor , das nicht einmal verschlossen , und eine Brücke , die nicht aufgezogen werden konnte , sprachen für den friedlichen Sinn der Nachkommen jener kriegerischen Barone , welche das massive Thor auf der andern Seite mit seiner in schweren Eisenketten hängenden Zugbrücke erbaut hatten . Der Verkehr zwischen dem Schlosse und dem Hofe beschränkte sich so ziemlich auf den Austausch oft höchst energischer diplomatischer Noten zwischen der Wirthschafterin und dem Verwalter , die über das Quantum und die Qualität der Naturalien , welche dieser oder jener zu liefern hatte , stets wesentlich verschiedener Meinung waren . Das Gut war , wie die übrigen Besitzungen der Familie , verpachtet ; der Pächter , ein Herr Bader , wohnte auf einem der Nebengüter , das er ebenfalls in Pacht hatte , und kam selten nach Grenwitz , dessen Bewirthschaftung er seinem Inspector überließ . Oswald , für den die Landwirthschaft eben so neu war , wie das Leben auf dem Lande , lenkte seine Schritte bald häufig nach dem Hofe , um sich von dem Inspector durch die Ställe und Scheunen führen und sich von demselben etwas in die Mysterien des Ackerbaues und der Viehzucht einweihen zu lassen . Der Inspector , Namens Wrampe , war ein riesiger Mann , der stets in gewaltigen Stulpenstiefeln einherging und dem Aberglauben zu huldigen schien , er werde seine ungeheure Körperkraft verlieren , wenn er seinen struppigen schwarzen Bart schöre , oder dem Regenwasser das ausschließliche Privilegium , sein sonnverbranntes Gesicht zu waschen , entzöge . Das breite Platt jener Gegend war seine Mutter- und Vatersprache , das Hochdeutsche haßte er und hielt Alle , die es sprachen , in seinem Herzen für Schelme ; seine Stimme glich , aus der Ferne gehört , wesentlich dem Gebrüll eines etwas heiseren Löwen . Seine Feinde sagten ihm nach , daß er die üble Gewohnheit habe , sich von Zeit zu Zeit zu betrinken ; da er dies aber jeden Monat höchstens einmal und dann immer gleich auf mehrere Tage that , um die übrige Zeit desto energischer zu sein , so drückten seine Freunde und zumal sein Brodherr über diese kleine Schwäche freundlich die Augen zu . Oswald unterhielt sich gern mit dem Manne , der in seiner täppischen Gutmüthigkeit , seinem derben , oftmals freilich auch rohen Wesen , seiner mit Sprüchwörtern reichlich untermischten Rede ein nicht schlechter Repräsentant der Landleute jener Gegend war . So hatte er denn auch eines Nachmittags mit den Knaben einen Spaziergang nach dem Hofe gemacht . Sie fanden ihn fast ausgestorben . Die Leute und die Thiere waren auf dem Felde . In dem Pferdestall standen nur die vier schwerfälligen Braunen des Barons , die vor lieber langer Weile mit den eisernen Ketten ihrer Halfter ein melancholisches Quartett ausführten . Vor der Thür des Stalles saß der schweigsame Kutscher und starrte in den blauen Himmel , da er , wenn er seine Pferde gefüttert , auf Erden weiter nichts zu thun hatte . Um seine Füße strich spinnend ein großer schwarzer Kater , der ihn , als sein spiritus familiaris , überall hin begleitete und selbst auf dem Bocke zwischen seinen Füßen unter dem Schurzfell saß . In dem Kuhstall fanden sie nur eine Kuh , die ihr heute geborenes Kälbchen durch fleißiges Lecken in eine Verfassung zu bringen suchte , wie sie dem Ehrgeize einer respectablen Kuhmutter , die etwas auf sich und die Ihrigen hält , wünschenswerth scheinen mag . Auf dem Dünger vor dem Stalle scharrten die Hühner , unbekümmert um den Streit zweier junger Hähne , die über einen unglücklichen kleinen Käfer , der auf dem Rücken liegend in ruhiger Ergebung sein Schicksal erwartete , in Unfrieden gerathen waren . Ein alter Hahn , welcher der Vater der beiden feindlichen Brüder sein mochte , war auf die Wagendeichsel geflogen und krähte einmal über das andere , entweder aus Freude über den ritterlichen Sinn seiner Sprossen , oder um eine Wolke zu signalisiren , die eben über das Scheunendach heraufkam . Auf dem einen Ende des Daches saß eine Störchin auf ihrem Nest . Der Storch kam eben herbeigeflogen und brachte die Beute seiner Jagd , eine kleine Schlange , mit nach Hause . Die Störchin klapperte bei diesem Anblick vor Vergnügen ; der Storch , im Bewußtsein erfüllter Pflicht , blieb ihr die Antwort nicht schuldig . Von dem kleinen Teiche neben dem Pferdestalle hatten die Enten unter dem Vortritt eines vielerfahrenen Enterichs einen Reihenmarsch quer über den Hof begonnen , da sich ein ziemlich gut verbürgtes Gerücht unter ihnen verbreitet hatte , es sei hinter der einen Scheune ein Sack Korn aufgegangen . Oswald hatte mit vielem Vergnügen das Stillleben eines ländlichen Hofes an einem warmen Sommernachmittag betrachtet ; Bruno den schweigsamen Kutscher über die beiden einzigen Themata , bei denen man es mit einiger Aussicht auf Erfolg konnte , über seine Pferde und seinen Kater , in eine Unterhaltung zu verwickeln gesucht ; Malte sich unterdessen gelangweilt , da er überhaupt nur sehr wenigen Dingen Geschmack abgewinnen konnte , und zu diesen Dingen Enten und Hühner , wenigstens so lange sie im Licht der Sonne wandelten , sicherlich nicht gehörten . Er drang deshalb darauf , dem Spaziergang fortzusetzen , und so gingen sie denn von dem Hofe durch das Dörfchen jämmerlicher kleiner Kathen , um auf das Feld zu gelangen . In einiger Entfernung vor ihnen auf dem mit Weiden besetzten Wege schien ein Knecht seinen Wagen im Graben umgeworfen oder festgefahren zu haben . Die Pferde standen quer über den Weg und er zerrte an ihnen herum und fluchte und schimpfte , wie das Leute seines Schlages bei solchen Gelegenheiten zu thun pflegen . Zuletzt schien dem Manne die geringe Geduld , die ihm die Natur verliehen und der wahrscheinlich reichlich genossene Schnaps noch übrig gelassen hatte , vollends auszugehen . Er faßte das eine der Vorderpferde in den Zügel und trat und stieß es unbarmherzig mit seinen plumpen Füßen . Oswald wurde auf das Alles eigentlich erst aufmerksam , als Bruno mit dem Ausrufe : der Barbar , der Unmensch ! wie ein Pfeil von ihm fort auf den Wagen zueilte . Im Nu hatte er denselben erreicht und befahl dem Knecht mit einer mehr vor Zorn , als von der Aufregung des eiligen Laufes bebenden Stimme , seine Mißhandlungen einzustellen . Ich weiß , was ich zu thun habe ! rief der Knecht und trat das Pferd , das sich vor Angst immer mehr in den Strängen verwickelte , von Neuem . Im Augenblick läßt Du das Thier , oder – Oho ! rief der Knecht , oder was ? Oder ich stoße Dir mein Messer in den Leib ! – Der Mann taumelte ein paar Schritte zurück und starrte Bruno voll Entsetzen an . Es war nicht Furcht vor dem Messer , das der Knabe in seiner erhobenen Rechten hielt – denn der Knecht war ein großer starker Mann , der seinen Gegner mit einem Schlage seiner schweren Faust hätte zu Boden schmettern können und er war überdieß betrunken – es war Furcht vor dem Dämon , der aus Bruno's dunklen Augen blitzte , Furcht vor der gewaltigen Leidenschaft , die dem Knaben das Blut aus den Wangen zum Herzen trieb und seine Nasenflügel um die feinen Lippen zucken machte . Das Thier ist immer so tückisch , stammelte der Mann wie zur Entschuldigung . Aber Bruno würdigte ihn keiner Antwort . Mit hastigen Händen und geschickt , als ob er im Leben nur mit Pferden umgegangen wäre , löste er die Stränge , in denen sich das Thier verwickelt hatte , wobei ihm Oswald , der jetzt herbeigekommen war , eine mehr wegen ihrer guten Absicht löbliche , als durch praktischen Erfolg ausgezeichnete Hülfe leistete . Dann sprang der Knabe nach dem Graben , schöpfte seinen mit Wachsleinen überzogenen Strohhut voll Wasser und wusch dem Pferde die Wunden an den mißhandelten Beinen . In diesem Augenblicke setzte ein Reiter aus den Weiden an der Seite über den Graben auf den Weg . Es war der Inspector Wrampe , der die Scene von fern gesehen hatte und im Galopp über die Felder herbeigeritten war . Nun komm' ich , sagte der Dachdecker und fiel vom Dach ! Was ist denn das für 'ne Wirthschaft ! Warum fährst Du durch den Graben , wenn Du zehn Schritte davon über die Brücke fahren kannst . Und die braune Lise maltraitirt – er sagte aber : maltraisirt – ich will Dir Deine Faulheit eintränken , Du Himmeltausendsappermenter ! Diese energische Rede halten , von Pferde springen , in die Hand speien , um den Griff seiner schweren Reitpeitsche fester fassen zu können und anfangen , mit derselben den breiten Rücken des Knechts nach allen Regeln zu bearbeiten , war für den diensteifrigen Inspector das Werk eines Augenblicks . Ich lasse mich nicht schlagen , Herr Inspector , remonstrirte der Mensch . Du läßt Dich nicht schlagen , Du Lümmel , antwortete der , unverdrossen weiterarbeitend , glaub 's wohl , aber Deine Schläge kriegst Du doch . Oswald , dem diese Scene peinlich wurde , so reichlich der Mensch seine Züchtigung verdient hatte , bat Herrn Wrampe , es nun gut sein zu lassen . Der verstattete seinem Zorn noch einen letzten kräftigen Hieb und sagte dann , wie zum Schluß einer vernünftigen Auseinandersetzung : Na , nu komm , Jochen ! wir wollen den Wagen wieder in Schick bringen ! Dann stämmte er seine mächtigen Schultern gegen das Fuhrwerk , hob und schob es zurecht , als ob es ein Kinderwägelchen gewesen wäre , die Pferde , die wieder ruhig geworden waren , zogen an und der Knecht konnte jetzt seinen Weg fortsetzen . Fahr' langsam nach Hause und vergiß nicht , was ich Dir gesagt habe ! rief ihm der Inspector nach . Aber Sie haben ja nur durch Schläge zu ihm gesprochen ! sagte Oswald lächelnd . Ja , verstehen es die Kerle denn , wenn man vernünftig mit ihnen spricht ! Haben Sie denn je den Versuch gemacht ? Herr Wrampe schien durch diese Frage einigermaßen in Verlegenheit gesetzt . Er sagte zur Antwort : Das hat mich warm gemacht ! Dann zog er eine Branntweinflasche , die mindestens ein halbes Quart hielt , aus der Tasche , setzte den Daumen an die Stelle , bis zu welcher er den Inhalt zu leeren gedachte , trank , hielt die Flasche abermals gegen das Licht und that , da er zu finden schien , daß er seine Aufgabe nicht vollständig gelöst hatte , noch einen herzhaften Schluck . Dann bestieg er sein Pferd , das , an dergleichen Scenen gewöhnt , ruhig da gestanden hatte , wünschte freundlich guten Abend , setzte wieder über den Graben und ritt im Galopp davon . Bei Bruno wurde Alles zur Leidenschaft . Die Gluth seiner Einbildungskraft verdichtete die Schemen der Poesie zu Menschen von Fleisch und Blut . Der Tod Hektor's entlockte ihm Thränen des Mitleids und des Zornes , und der moralische Unwille , der ihn erfaßte , wenn er vor seinen Augen eine Ungerechtigkeit , eine Grausamkeit verüben sah , war so groß , daß er in ihm ein physisches Unwohlsein zu Wege brachte . So fand Oswald , als er in der Nacht nach diesem Vorfall an Bruno's Bett trat , daß sein Liebling gegen seine Gewohnheit noch wach war . Das mehr als sonst blasse Gesicht des Knaben und der kalte Schweiß auf seiner Stirn machten ihn besorgt , und der Knabe gestand denn auch nach einigem Zögern , daß er , nur um seinen Freund nicht zu ängstigen , sein Unwohlsein verheimlicht habe und jetzt große Schmerzen leide . Oswald wollte sogleich die Leute im Hause wecken und nach dem Doctor schicken , aber Bruno bat ihn , davon abzustehen , da dergleichen im Schlosse immer sogleich zu einer Haupt- und Staatsaction gemacht werde , und ihn die Umständlichkeit , die man bei solchen Gelegenheiten beweise , nur beängstige und noch kränker mache . Uebrigens , sagte er , bin ich an diese Anfälle schon gewöhnt und wenn Sie die Güte haben wollen , mir etwas Thee zu bereiten und mir ein paar Tropfen von der Essenz zu geben , die der Doctor neulich für mich verschrieben hat – das Fläschchen steht auf meinem Pult – so sollen Sie sehen , geht es bald vorüber . Oswald beeilte sich , das Gewünschte herbeizuschaffen . Er gab dem Knaben von der Medicin , er ließ ihn den Thee trinken , er rückte ihm das Kopfkissen zurecht , er holte noch eine Decke herbei , er that Alles mit jener Umsicht und Gewandtheit , mit der feinfühlende Menschen , auch wenn sie nicht daran gewöhnt sind , mit Kranken umzugehen , die professionirten Krankenwärter beschämen . Mit Ihnen als Pfleger ist es beinahe ein Vergnügen , krank zu sein , sagte Bruno , dankbar die Hand seines Freundes drückend . Still , still ! sagte der , thue mir nur den Gefallen und habe keine Schmerzen mehr . Ich will mein Möglichstes thun , sagte der Knabe lächelnd . Wirklich ging Oswald's Wunsch bald in Erfüllung . Die kalten Tropfen auf der Stirn des Kranken wurden zu warmen , und alsbald umhüllte ihn die gütige Natur mit tiefem Schlaf , um still und heimlich das gestörte Gleichgewicht des Organismus wieder herzustellen . Manchmal noch zuckte die feine , schmale Hand , die Oswald in der seinen hielt ; dann ließ auch das nach , und der Arzt aus dem Stegreife gratulirte sich im Stillen zu dem guten Erfolge seiner Kur . Aber er mußte doch wohl noch einige Besorgniß vor einem Rückfalle haben , denn er entzog leise seine Hand der des Knaben , holte aus seinem Zimmer einen Lehnstuhl und setzte sich zu Häupten des Bettes . Die Lampe hatte er ausgelöscht , damit die ungewohnte Helle den Schläfer nicht belästige , und so saß er denn im Dunkeln und sah das Mondlicht , das durch eine Spalte des Vorhangs fiel , langsam an der Wand hingleiten und horchte auf die regelmäßigen Athemzüge des Knaben , bis ihn selbst die Müdigkeit überwältigte . Sechstes Capitel Es war in den Abendstunden eines der nächsten Tage , daß in dem Gartensaale des Schlosses zwei Damen saßen , von denen die eine die Baronin Grenwitz , die andere eine junge Frau war , die vor ein paar Stunden zu Pferde von einem benachbarten Gute auf Besuch gekommen . Die Fensterthür , die aus dem Gemache in den Garten und zunächst auf einen großen , von hohen Bäumen umgebenen Rasenplatz führte , in dessen Mitte eine Flora aus Sandstein schon seit anderthalb Jahrhunderten steinerne Blumen aus ihrem Horne schüttete , war weit geöffnet . In dem Zimmer , welches nach Norden lag , war es schon dämmerig ; draußen aber lag noch der Abendschein warm auf dem Rasen und den prächtigen Buchen und Eichen , und die Gestalten der beiden Damen , die an einem Tische saßen , den man in die Thür geschoben hatte , zeichneten sich scharf auf dem hellen Hintergrunde ab . Ein größerer Gegensatz war nicht leicht denkbar . Die Baronin von Grenwitz war kaum vierzig Jahre alt , aber die Strenge ihrer männlich festen Züge , die großen , kalten grauen Augen , die sie so forschend und so lange auf den Sprecher richtete , die Gemessenheit ihrer Bewegungen , ihre hohe , weit über das gewöhnliche Frauenmaaß hinausreichende Gestalt , vorzüglich aber ihre eigenthümliche Art sich zu kleiden , ließen sie manchmal fast um zehn Jahre älter erscheinen . Sei es übergroße Einfachheit , sei es , wie Andere wollten , eine an Geiz grenzende Sparsamkeit , sie bevorzugte Stoffe , die sich , wie das Hochzeitskleid der würdigen Pfarrerin von Wakefield , mehr durch Dauerbarkeit , als durch irgend glänzende Eigenschaften empfahlen , und sie liebte einen Schnitt der Kleidung , von dem man deshalb nicht behaupten konnte , er sei nicht mehr modisch , weil er es eigentlich niemals gewesen war . Wie die Erscheinung für den ersten Augenblick auf Jeden den Eindruck der Würde machte , so bemerkte auch der aufmerksame Beobachter an ihrer , in jedem Momente musterhaften Haltung , und vor Allem an dem stets ruhigen , gleichmäßigen Ton ihrer etwas tiefen , wohllautenden Stimme und ihrer immer gewählten Sprache , die jeden vulgären Ausdruck sorgfältig vermied , daß sie sich dieses Eindrucks wohl bewußt war und ihn auf jede Weise zu erhalten suchte . Ob die Dame , welche sich bei der Baronin befand , sich durch die stattliche Erscheinung derselben imponiren ließ , oder es für passend hielt , wenigstens den Anschein davon anzunehmen , mochte zweifelhaft sein ; so viel schien sicher , daß sie sich in diesem Moment einer Haltung befleißigte , die nicht mit dem Ausdruck ihres Gesichts , ja nicht einmal mit ihrem Anzuge übereinstimmte . Sie trägt ein Reitgewand von dunkelgrünem Sammet , das hinreichend in die Höhe gesteckt ist , um sie nicht beim Gehen zu hindern und ihre schmalen Füße , die in eleganten Stiefelchen stecken , zu verhüllen . Das enganschließende Gewand hebt die schönen Formen des jugendlich-vollen Körpers vortheilhaft hervor , und der kleine runde Hut , der nebst Handschuhen und Reitpeitsche auf einem kleinen Tische in ihrer Nähe liegt , muß diesem wohlgebildeten Kopfe mit den üppigen , braunen Haaren , die , einfach in der Mitte gescheitelt , in reichen Wellen über Stirn und Ohren fallen und hinten zu einem Kranze aufgebunden sind , vortrefflich stehen . Sie sitzt der streng wirthschaftlichen und musterhaft fleißigen Baronin , die an einem Stück Leinwand , das möglicherweise eine Serviette ist , eifrig näht , gegenüber und scheint mit dem Sticken eines Namenszuges in einer schon gesäumten Serviette beschäftigt . Dies nimmt sich nun freilich bei ihrem Anzuge wunderlich genug aus , auch scheint diese Arbeit der Dame nicht eben zuzusagen , wenigstens hebt sie , als jetzt die Baronin aufsteht , um im Hintergrunde des Zimmers etwas zu suchen , schnell den Kopf in die Höhe und zeigt ein hübsches Gesicht mit kindlich-weichen Zügen und großen braunen , in feuchtem Schimmer glänzenden Augen , und dies Gesicht hat jetzt genau den Ausdruck eines übermüthigen Schulmädchens , dessen strenge Lehrerin auf einen Augenblick den Rücken wendet . Was sagten Sie , liebe Anna-Maria ? fragte die Dame , indem sie sich , als die Baronin sich umwandte , wieder über ihre Arbeit beugte . Ich fragte Sie , liebe Melitta , ob Sie noch genug rothes Garn hätten ? Melitta machte eine Miene , als ob sie sagen wollte , mehr als zu viel ; sie begnügte sich indeß zu sagen : ich denke , es wird reichen . Die Baronin hatte sich auf ihren Platz gesetzt und nahm die für einen Augenblick abgebrochene Conversation wieder auf . So scheint doch wenig Hoffnung auf eine vollkommene Genesung ? sagte sie . Wenig oder keine , antwortete Melitta ; besonders in der jüngsten Zeit , wo die Anfälle von Tobsucht gänzlich aufgehört haben . Doctor Birkenhain schreibt mir , daß nur ein Wunder Carlo vom Blödsinn retten könnte ; das heißt wohl so viel , als : er ist unrettbar verloren . Es ist ein hartes Loos , das der Allmächtige über Sie verhängt hat , meine arme Melitta , sagte die Baronin . Melitta antwortete nicht . Es war in diesen selben Räumen , fuhr die Baronin , die nicht anzunehmen schien , daß das angeschlagene Thema Melitta irgendwie peinlich sein könne , ruhig fort , daß ich Berkow zum letzten Mal gesehen habe . Ich gestehe , daß ich schon an jenem Abend , als er den so ärgerlichen Streit mit Ihrem Vetter Barnewitz anfing – Baron Oldenburg suchte vergeblich , die wirklich fatale Scene abzukürzen – mich eines leisen Verdachtes nicht erwehren konnte . Melitta von Berkow schienen diese Proben von dem vortrefflichen Gedächtniß der Baronin nicht eben zu entzücken ; sie wurde unruhig und warf , augenscheinlich ohne recht zu wissen , was sie sagte , die Frage hin : Haben Sie nichts von Oldenburg gehört ? Der Baron ist seit acht Tagen zurück . O ! rief Melitta mit einem Ausdruck , der Frau von Grenwitz von ihrer Arbeit aufsehen machte . Was haben Sie , Melitta ? Ich bin so ungeschickt , sagte diese und preßte ein Tröpfchen Blut aus dem Daumen der linken Hand ; also Oldenburg ist zurück ; was bringt ihn denn auf einmal wieder her ? Hat er sich in Egypten ebenso gelangweilt , wie hier ? Die Contracte mit seinen Pächtern laufen nächsten Martini ab , ebenso wie auf einigen unserer Güter . Ich vermuthe , daß ihn dies zur Rückkehr bewogen hat . Er scheint noch menschenscheuer geworden zu sein , als er es schon damals war . Griebenow , unser Förster , ist ihm im Walde begegnet ; bei uns hat er sich noch nicht sehen lassen . Nun , diese Unaufmerksamkeit des Barons werden Sie ja leicht verschmerzen , liebe Anna-Maria ; Sie waren ja nie besonders gut auf ihn zu sprechen . Ich wüßte auch nicht , daß Oldenburg mir je Veranlassung gegeben hätte , das zu thun ; mir so wenig wie irgend Einem von uns . Ein Mann , welcher der Religion – ich möchte beinahe sagen , offen Hohn spricht , der die Würde seines Standes , die Interessen seiner Standesgenossen so weit vergißt , auf den Kreistagen , auf den Landtagen , bei jeder Gelegenheit die Partei der Neuerer zu ergreifen ; der unsere Societät nur aufzusuchen scheint , um sich über uns lustig zu machen – ein solcher Mann hat es sich selbst zuzuschreiben , wenn wir unser Interesse und unsere Theilnahme Anderen zuwenden , die es besser verdienen . Ei , an Interesse von Seiten der Anderen hat es , däucht mir , Oldenburg schon damals nicht gefehlt , und wird es , glaube ich , ihm auch jetzt wieder nicht fehlen . Ich weiß eigentlich nicht , weshalb sich alle Welt so viel um einen Mann bekümmert , der sich an die Welt im Großen und Kleinen so wenig kehrt . Das ist wohl sehr erklärlich , liebe Melitta . Die Oldenburgs gehören zu unseren ältesten Familien ; es kann uns nicht gleichgültig sein , ob der letzte Sprosse einer solchen Familie ein Plebejer wird , oder nicht . Oldenburg wird nie ein Plebejer werden , sagte die jüngere Dame mit einiger Wärme . Ei , ei , liebe Melitta ! Sie nehmen sich ja des Barons recht lebhaft an . Wollen Sie auch etwa seinen moralischen Lebenswandel vertheidigen , seine Liebesaffairen , mit denen er die chronique scandaleuse nicht nur unserer Gegend bereichert hat ? Ich habe nie , so viel ich weiß , etwas Unmoralisches gethan oder gut geheißen , sagte Frau von Berkow noch lebhafter wie zuvor . Und was Herrn von Oldenburg's Privatleben betrifft , so erlaube ich mir darüber gar kein Urtheil , da es mir vollkommen fremd ist . – Uebrigens , fuhr sie nach einer Pause und mit wieder ruhiger Stimme fort , sollte es mich doch wirklich wundern , wenn Oldenburg in der That der Don Juan wäre , zu dem man ihn durchaus machen will . Sie werden mir zugeben , liebe Anna-Maria , daß er weder die Schönheit noch die Gewandtheit besitzt , welche die nothwendigen Eigenschaften der Repräsentanten dieser Rolle sind . Darüber erlaube nun ich mir wieder kein Urtheil , sagte die Baronin , nicht ohne merkliche Ironie , das müßt Ihr jungen Frauen unter Euch abmachen . Junge Frauen , rief Melitta lachend . Sie ließ die Arbeit in den Schooß sinken und lehnte sich bequem in den Stuhl zurück , die Baronin , die unverdrossen weiter nähte , mit einem Blick betrachtend , in welchem sich ein gut Theil Schalkheit mit einem ganz kleinen Theil Böswilligkeit mischte , junge Frauen ! Wissen Sie , liebe Anna-Maria , daß ich noch in diesem Jahre dreißig werde ? Mein Julius wird im nächsten Monat zwölf , nur viel Jahre jünger wie Ihre Helene . Apropos , wie geht es denn dem lieben Kinde ? Soll sie denn ewig in dem Hamburger Pensionat bleiben ? Wie lange ist sie nun schon da ? Zwei , nein , es sind ja bereits drei Jahre ! Und nicht ein einziges Mal hier gewesen in der ganzen Zeit ! Sie werden Ihr eigenes Kind nicht wieder erkennen , liebe Grenwitz ! Das Hamburger Pensionat ist so ausgezeichnet , wird von Allen so gerühmt , daß ich mir ein Gewissen daraus machen würde , das Mädchen nicht so lange wie möglich dort zu lassen . Uebrigens haben Sie wohl vergessen , liebe Berkow , daß wir mit Helenen im vorigen Sommer in Ostende waren , und da Sie so große Sehnsucht nach der jungen Dame zu empfinden scheinen , will ich Ihnen auch in allem Vertrauen mittheilen , daß Sie dieselbe noch in diesem Sommer auf Grenwitz werden begrüßen können . Noch in diesem Sommer ! ei , sieh ! das hängt doch wohl nicht etwa mit Oldenburg's Rückkehr zusammen ? Verzeihen Sie meine Indiscretion ! aber ich erinnere mich , daß Sie vor einigen Jahren , als der Baron von seiner ersten großen Reise zurückkehrte , einmal äußerten , wie Ihnen eine Verbindung mit Oldenburg wohl conveniren würde . Damals kannte ich den Baron nicht , wie ich ihn leider seitdem kennen gelernt habe . Auch würde das Grenwitz ' Wünschen nicht entsprechen , der Helenen , glaube ich , nach einer andern Seite halb und halb versprochen hat . Nach einer andern Seite ? doch nicht etwa an Ihren vortrefflichen Cousin Felix ? Wie gesagt , ich weiß nichts Bestimmtes darüber ; Grenwitz ist so verschlossen ; aber ich vermuthe es fast daraus , daß er Felix bestimmt hat , auf ein Jahr Urlaub zu nehmen und dieses Jahr bei uns zuzubringen . Seine Gesundheit soll sehr angegriffen sein . Hoffentlich nicht so angegriffen wie sein Vermögen , sagte Melitta trocken . Sein Vermögen ? Was wissen Sie denn von Felix ' Privatverhältnissen ? Ich sage nur , was alle Welt sagt . Sie werden mir zugeben , Liebe , daß , wenn schon über Oldenburg die chronique scandaleuse nicht stumm ist , sie über Felix sehr viel zu sagen weiß , und an Stoff hat es ihr der Herr Lieutenant doch wahrlich nicht fehlen lassen . Felix ist noch jung . Nicht jünger als Oldenburg . Fünf Jahre . Das sieht man ihm wahrlich nicht an : freilich , er hat etwas schnell gelebt , der gute Felix . Man sollte wirklich glauben , liebe Melitta , daß Felix Ihnen näher stände , als es der Fall ist . Aufrichtig , ich möchte gern wissen , was Sie von dieser Heirath denken , im Falle Grenwitz das Project nicht aufgeben sollte . Nun denn , aufrichtig : ich würde sie für ein Unglück , für ein um so größeres Unglück halten , je schöner und unschuldiger Helene ist . Was , um Alles in der Welt , kann den Baron zu dieser Heirath bestimmen ? Denn , daß eine Mutter zu solch einer Verbindung , die ihre Tochter namenlos unglücklich machen müßte , Ja sagen sollte , kann ich mir nimmermehr denken . Melitta war aufgesprungen , hatte ihre Reitpeitsche ergriffen und hieb damit sausend durch die Luft , als wollte sie sagen : das verdient der , welcher zu diesem Bubenstück die Hand bietet . In der schlanken , hochaufgerichteten Frauengestalt hätte man kaum dieselbe wieder erkannt , die sich vorhin schüchtern über ihre Arbeit beugte , oder sich lässig in die Kissen des Stuhles schmiegte . Selbst die Züge des Gesichtes schienen anders zu werden , schärfer , älter ; das Feuer in den großen Augen loderte düster auf . Offenbar hatte die Erwähnung dieser Heirath eine Seite in ihr angeschlagen , die häßlich durch ihre Seele schrillte . Sie fuhr in demselben aufgeregten Tone fort : Felix ist ein notorischer Wüstling . Wie kann ein Wüstling Liebe fühlen ? Und gesetzt , Helenens Schönheit , Unschuld und Jugend trügen für eine Zeit über seine Blasirtheit den Sieg davon , so kann dies nicht von Dauer sein . Ein gründlich Blasirter wird niemals wieder ein ganzer Mann ; und kann Helene einen solchen halben Mann lieben ? und ist das Leben ohne Liebe werth , daß man es lebt ? und können Sie das Unheil verantworten , das aus einer so lieblosen Ehe wie Unkraut aufschießt ? Ich weiß – Die junge Frau schwieg plötzlich und ging mit schnellen Schritten in dem Gemache auf und ab . Dann nach einer kleinen Pause : Und welch' äußere Vortheile könnte diese Ehe gewähren ? Felix hat seiner ungemessenen Eitelkeit sein Vermögen , wie seine Gesundheit zum Opfer gebracht . Seine Güter sind verschuldet , über und über ; und Aussichten hat er , so viel ich weiß , auch nicht – Nur daß er , wenn mein Malte stirbt , was Gott verhüten wolle , das Grenwitz'sche Majorat erbt , sagte die Baronin . Ja so ! sagte Melitta gedehnt . Die letzte Bemerkung der Baronin hatte der edelmüthigen jungen Frau die Angelegenheit in einem ganz neuen Lichte gezeigt ; dem unheimlichen Lichte vergleichbar , das aus der Blendlaterne eines Diebes auf das Schatzkästlein fällt , das er stehlen will . Sie hütete sich indessen wohl , die Baronin , was in ihr vorging , merken zu lassen , sondern fuhr , sich wieder in ihren Schaukelstuhl werfend , in unbefangenem Tone fort : Ich hoffe , Malte wird Felix' Gläubigern nicht den Gefallen thun , vor der Zeit zu sterben , er wird ja zusehends kräftiger , und wenn Sie dem Jungen nur mehr Freiheit lassen wollten – Freiheit ! sagte die Baronin ; muß ich das Wort schon wieder hören ! Ich lasse ihm so viel Freiheit , als ich mit einer vernünftigen Erziehung für verträglich halte . Ich meine , daß , wer wie Malte einst über ein bedeutendes Vermögen gebieten wird , nicht zeitig genug gehorchen , sich einschränken , sich Unnöthiges , Ueberflüssiges versagen lernen kann . Wir haben ja an unserm Neffen Felix das lebendigste Beispiel , wohin die allzugroße Nachsicht führt . Das ist Alles wahr , sagte Melitta , aber – Wir haben uns ja wohl über das Thema der Erziehung unserer Kinder ein für alle Mal des Streites begeben , sagte die Baronin mit dem Lächeln der Ueberlegenheit . Ich weiß , was ich will , und das werde ich mit Gottes Hülfe durchführen . Apropos , habe ich Ihnen schon gesagt , daß ich meinen Julius in diesen Tagen nach Grünwald auf's Gymnasium schicken will ? sagte Melitta . Wieder so ein Wagestück ! antwortete die Baronin . Baron Oldenburg hat auch so eine öffentliche Erziehung , wie sie es nennen , genossen , und ich denke , die Resultate sind danach . Freilich hat man mit den Hauslehrern auch seine liebe Noth . Sie haben ja jetzt einen neuen , nicht wahr ? sagte Melitta , die aufgestanden war und sich in die Thür lehnte ; wie ist er denn ? Die Baronin zuckte die Achseln . Aber wie kann man das auch fragen , sagte Melitta lachend . Er wird sein wie alle Andern : entsetzlich gelehrt , eckig , pedantisch , langweilig . Bemperlein , Bauer – das ist Alles ein Genre . Ich will einen Hauslehrer auf hundert Schritt erkennen . Ah ! wer ist der junge Mann , der da mit Bruno über die Wiese kommt ? Die Frage blieb unbeantwortet , da in diesem Augenblick Mademoiselle Marguerite in das Zimmer getreten und die Baronin aufgestanden war , ihr einige Aufträge wegen der Abendmahlzeit zu geben . Melitta wandte sich um , aber die Baronin hatte mit einem : Entschuldigen Sie mich ! das Zimmer verlassen . Die junge Frau blieb allein und mußte selbst die Antwort auf ihre Frage zu finden suchen . Sie zog sich ein wenig aus der Thür zurück und musterte mit ihren scharfen Augen die Erscheinung des unbekannten jungen Mannes . Siebentes Capitel Oswald war mit Bruno aus den Bäumen , die den Rasenplatz umsäumten , dem Schlosse gegenüber herausgetreten . Sein rechter Arm ruhte auf des Knaben Schulter , der wiederum seinen Arm um Oswald's Hüften geschlungen hatte und lächelnd in das Gesicht des jungen Mannes aufschaute , während dieser angelegentlich zu ihm sprach . Als sie ein paar Schritte auf die Wiese gemacht hatten , blieben sie stehen . Oswald deutete mit der Hand nach der Richtung , aus der sie gekommen waren und Bruno sprang in das Gehölz zurück . Der junge Mann stand , die Rückkehr seines Freundes erwartend und köpfte mit dem Stäbchen , das er in der Hand trug , zum Zeitvertreib einige Gräser , die allzulang emporgeschossen waren . Er hatte keine Ahnung davon , daß fünfzig Schritte von ihm ein Paar eben so schöner , wie scharfer Augen jeden seiner Züge musterte , jede seiner Bewegungen sorgfältig beobachtete . Wenn das der neue Hauslehrer ist , so ist er ein Beweis mehr für den alten Satz , daß es zu jeder Regel Ausnahmen giebt . Der sieht wahrlich nicht aus , als ob er zu der Familie der Bemperlein's gehörte . Diesen eleganten Sommeranzug haben Sie wohl mit aus der Residenz gebracht . Sehr nett , in der That , für einen Hauslehrer fast zu nett . Sie scheinen etwas eitel zu sein , mein Herr , und lange Conferenzen mit ihrem Schneider zu halten . Aber Sie sind hübsch gewachsen , das muß man Ihnen lassen , und der kleine Schnurrbart steht Ihnen ausnehmend gut . Wollen Sie nicht gefälligst einmal den Kopf in die Höhe heben ; ich wünschte Ihre Augen zu sehen . So – sauve qui peut ! Melitta trat , als Oswald jetzt zufällig die Augen aufschlug , schnell zurück , so daß sie hinter der Thür verborgen war . Sie warf einen flüchtigen Blick in einen Spiegel , der sich in der Nähe befand und glättete rasch ihr üppiges Haar . Dann näherte sie sich verstohlen wieder der Thür . Bruno kam aus den Bäumen herbeigesprungen und zeigte Oswald ein Büchelchen : Hier ist es , rief er , aber Sie bekommen es nicht . Oswald wollte den muthwilligen Knaben haschen , der ihn immer herankommen ließ , um ihm dann jedesmal durch eine blitzschnelle Wendung , oder einen Satz , dessen sich ein Uncas nicht hätte zu schämen brauchen , zu entgehen . Melitta war , durch das hübsche Schauspiel angelockt , aus ihrem Versteck getreten . Sobald Bruno ihrer ansichtig wurde , rannte er auf sie zu , und Oswald , der , über die unerwartete Erscheinung der Dame verwundert , stehen geblieben war , sah , wie der Knabe ihre Hände ergriff und mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen drückte . Da bist Du ja , mein Wilder ! sagte die Dame und streichelte die dunklen Locken des Knaben , wo hast Du denn den ganzen Nachmittag gesteckt ? Ich bin spazieren gewesen – mit Oswald , wollte sagen , mit Herrn Doctor Stein ; rief Bruno , und dann zu Oswald sich wendend , der grüßend näher getreten war , dies ist Frau von Berkow , Oswald , von der ich Ihnen nur noch heute Morgen erzählte ; dies ist Herr Stein , Tante Berkow , den ich sehr , sehr lieb habe , und den Sie auch ein wenig lieb haben sollen . Man darf seine Waare nicht zu sehr anpreisen , Bruno , sagte Oswald , sich lächelnd vor der jungen Frau verbeugend , oder der Käufer wird stutzig . Nicht , wenn der Verkäufer so gut accreditirt ist , wie dieser Wildfang bei mir , sagte Melitta , leicht erröthend . Wie lange sind Sie schon auf Grenwitz , Herr Doctor ? Seit vierzehn Tagen etwa , gnädige Frau . Sagte mir die Baronin nicht , daß Sie aus der Residenz kämen ? fragte Melitta , die neugierig war , zu erfahren , ob sich ihre Vermuthung wegen Oswald's Anzug bestätigte . Nicht direct , gnädige Frau ; ich lebte zuletzt in Grünwald . In Grünwald ? das interessirt mich . Da könnten Sie mir ja gleich die beste Auskunft geben . Die Sache ist nämlich die – aber ich langweile Sie gewiß mit meinen indiscreten Fragen ! Bitte , gnädige Frau ; ich würde mich glücklich schätzen , Ihnen irgendwie dienen zu können . Sehr gütig . Die Sache ist die . Ich will meinen Sohn – er ist ungefähr in Bruno's Alter – Oho , Tante , drei Jahre jünger ! rief Bruno , der sich jetzt in einiger Entfernung auf einer Schaukelbank wiegte . Welch' scharfes Ohr der Junge hat , sagte Melitta , ihre Stimme senkend . Also , ich will meinen Julius nach Grünwald auf's Gymnasium schicken . Oder vielmehr , ich muß , denn sein Lehrer , ein Herr Bemperlein , der schon sechs Jahre bei ihm ist , hat eine Predigerstelle bekommen und wird uns in diesen Tagen verlassen . Nun weiß ich nicht – aber da kommt die Baronin – ich muß meine tausend und eine Frage über tausend und ein verschiedene Dinge , die mir so vollkommen fremd sind wie meinem guten Bemperlein , der längst verlernt hat , wie es in der Stadt aussieht , wenn er es überhaupt jemals wußte , auf eine gelegenere Zeit versparen . Hier kommt man ja doch nicht dazu . Wie wär's , Herr Doctor , wenn Sie mich in diesen Tagen mit Ihrem Besuche beehrten , morgen Nachmittag etwa ? Oswald verbeugte sich . Ich habe den Herrn Doctor gebeten , mir morgen seinen Besuch zu schenken , sagte Melitta , zur Baronin gewandt , die in diesem Augenblick mit Mademoiselle Marguerite wieder in's Zimmer trat . Es ist wegen der Grünwalder Angelegenheit . Ihr habt doch nicht morgen Nachmittag etwas Besonderes vor , denn ich möchte nicht , daß der Herr Doctor Stein mir ein allzugroßes Opfer bringt . Wir etwas vorhaben ? sagte die Baronin ; Sie kennen ja unser stilles Leben , liebe Melitta ; im Gegentheil , ich denke , eine kleine Zerstreuung der Art wird Herrn Doctor Stein , der die Einförmigkeit eines ländlichen Aufenthalts sicher schon empfunden hat , recht willkommen sein . Ich selbst wollte Sie für morgen schon zu einem Besuche zu bestimmen suchen , Herr Stein ; bei unserm Pastor , der schon empfindlich sein wird , daß Sie sich ihm noch nicht vorgestellt haben . Nun , das läßt sich ja ganz gut vereinigen , sagte Melitta ; morgen ist Sonntag , der Pastor Jäger wird entzückt sein , wenn Sie die nicht allzugroße Zahl seiner Zuhörer durch Ihre Person vermehren . Berkow ist von Faschwitz durch den Wald nur ein halbes Stündchen entfernt . Ich würde Sie gleich zu Mittag einladen , aber ich weiß , daß die Frau Pastorin Sie nicht sobald wieder fortlassen wird . Nun , was sagen Sie , Herr Doctor ? Ich kann den Damen nur meinen tiefgefühlten Dank aussprechen , daß Sie die Güte haben wollen , über meine Zeit besser zu disponiren , als ich es auf jeden Fall im Stande wäre , antwortete Oswald mit einer höflichen Verbeugung . Das heißt : der Weise schickt sich in das Unvermeidliche , sagte Melitta lachend . Und hier kommt der Baron mit Malte , und wir können zu Tische gehen , wonach ich , offen gestanden , großes Verlangen trage . Die Tafel war auf dem niedrigen Perron , der nach dem Garten zu dem Schlosse in seiner ganzen Länge angebaut war , unter einem Zeltdache gedeckt . Der Abend war herrlich . Die Sonne war im Untergehen . Rosige Lichter spielten in den Wipfeln der hohen Buchen , die den schattigen Rasenplatz umgaben . Schwalben schossen zwitschernd und zirpend durch die klare Luft . Ein Pfau kam , durch das wohlbekannte Klappern der Teller herbeigelockt , aus dem Gebüsch eilig über die Wiese geschritten , und sammelte die Brocken auf , die der alte Baron ihm über das Steingeländer des Perrons zuwarf . Die Unterhaltung war heute um Vieles lebhafter , als es wohl sonst der Fall war . Die Baronin konnte , wenn sie wollte , eine sehr angenehme Wirthin machen , und sie war , trotz ihrer zur Schau getragenen Abneigung gegen weltlichen Sinn , durchaus nicht so frei von Eitelkeit , daß es ihr gleichgültig gewesen wäre , neben Melitta übersehen zu werden . Melitta aber war in der liebenswürdigsten Laune ; sie scherzte und lachte , neckte und ließ necken , unbefangen , harmlos , wie ein Kind . Es fiel Oswald , während er sich dem Zauber von Melitta's reizender Erscheinung willig überließ , nicht ein , zu glauben , seine Gegenwart könne etwas zur Erhöhung ihrer Stimmung beitragen , und doch war dies in einem hohen Grade der Fall . Es giebt wenige Frauen , die vollkommen indifferent dagegen sind , welchen Eindruck sie auf ihre Umgebung hervorbringen , und Melitta gehörte durchaus nicht zu diesen wenigen Frauen , wohl aber zu jenen Naturen von leicht erreglicher Sinnlichkeit , die sich durch gefällige und schöne Formen in einer Weise bestechen lassen , die kälteren Temperamenten unbegreiflich ist . Nun war Oswald , ohne das zu sein , was man einen schönen Mann nennt , von der Mutter Natur nichts weniger als stiefmütterlich ausgestattet , und die gute Gesellschaft , in der er sich stets bewegt , hatte die natürliche Grazie seiner Manieren noch erhöht . Das Alles überraschte Melitta um so angenehmer , als sie es bei einem Manne von einer nach ihren Begriffen so untergeordneten Stellung am wenigsten erwartet hatte . Oswald erschien ihr mit jedem Augenblick bedeutender ; sie fing an , ihre brüske Einladung von vorhin doch recht unpassend zu finden , und zugleich entzückte sie der Gedanke , den liebenswürdigen jungen Mann so bald bei sich zu sehen . Es schmeichelte ihr , wenn , was über Tische mehrmals geschah , Oswald's Blicke den ihren begegneten , und doch senkte sie jedesmal die Wimpern vor einem Augenpaar , das bei aller Unbefangenheit so beredt und forschend blicken konnte . Nach Beendigung der Mahlzeit brachte die Baronin , da Melitta erklärte , noch ein Stündchen bleiben zu können , ein Reifspiel in Vorschlag ; Bruno sprang fort , die Reifen zu holen , die weder verlegt , noch außer Stande waren , ein Umstand , der gewiß für die musterhafte Ordnung , die in dem Schlosse Grenwitz herrschte , beredt genug spricht ; und bald hatte sich die Gesellschaft auf dem Rasen in einem weiten Kreise aufgestellt und die bunten Reifen flogen lustig durch die weiche , warme Abendluft von Einem zum Anderen . Alle , selbst der alte Baron , legten eine größere oder geringere Geschicklichkeit an den Tag , mit Ausnahme von Malte , der seinen Reif in den meisten Fällen , wo er ihm nicht unmittelbar auf den Stock geflogen kam , fallen ließ , eine Gelegenheit , die Melitta , seine Nachbarin , zum großen Aerger Bruno's , der die Spielregeln eingehalten wissen wollte , jedesmal benutzte , ihren Reif aus der Reihe einem der Mitspieler blitzschnell über den Kopf zu schleudern , wobei Oswald nicht umhin konnte , zu bemerken , daß Melitta ihn häufiger wie die Uebrigen auf diese Weise auszeichnete . Unterdessen war der Abend tiefer herabgesunken ; der alte Baron hatte eine schwache Spur von Thau auf dem Rasen bemerkt ; Abendthau aber war nach seiner Meinung reines Gift für Malte , der als kleines Kind eine Zeit lang viel an der Bräune gelitten hatte , und er mahnte deshalb dringend , das Spiel einzustellen . Melitta fand , daß es hohe Zeit für sie sei , aufzubrechen , und bat , ihrem Reitknecht Befehl zu geben , die Pferde zu satteln . Bruno war fortgesprungen , den Auftrag auszurichten ; die Baronin mit Mademoiselle in das Zimmer getreten ; der Baron beschäftigt , Malte , der sich durchaus erkältet haben sollte , ein dickes Shawltuch um den Hals zu wickeln ; Oswald und Melitta waren zum ersten Male seit ihrer unterbrochenen Conversation von vorhin allein geblieben . Melitta hatte von einem Rosenstrauch , der zu den Füßen der Flora wuchs , eine Rose gepflückt und betrachtete sinnend die köstliche Blume . Verzeihen Sie , mein Herr , sagte sie plötzlich , leise und rasch , aber ohne die Augen aufzuschlagen , daß ich vorhin die Unschicklichkeit beging , Sie ohne weiteres um einen Besuch zu bitten , der Ihnen am Ende beschwerlich fällt , aber – Kein Aber , gnädige Frau ; ich wiederhole im Ernst , was ich vorhin aus bloßer Höflichkeit sagte , daß ich mich glücklich schätzen würde , Ihnen irgendwie dienen zu können . Sie kommen also morgen ? Wie Sie befehlen . Nein : wie ich wünsche . – Sehen Sie nur , wie wundervoll diese Rose ist ! Lieben Sie auch die Rosen so ? Ich liebe Alles , was schön ist , sagte Oswald , nicht auf die Rose , sondern auf Melitta blickend . Sie hob die langen Wimpern und schaute dem jungen Mann tief und voll in die leuchtenden Augen . Da ! sagte sie plötzlich und hielt ihm die Rose entgegen , als ob er ihren Duft einathmen sollte ; er aber fühlte nur , wie sich die schlanken Finger der Dame leicht wie ein Hauch auf seine Lippen legten . Die Pferde sind da , Tante ! rief Bruno . Ich komme ! antwortete Melitta und eilte von Oswald fort . Die Rose lag zu seinen Füßen ; er bückte sich schnell , hob sie auf und verbarg sie an seiner Brust . Mademoiselle Marguerite brachte Melitta Federhut , Reitpeitsche und Handschuh . Ist die Baronin im Zimmer ? Ja . So will ich gehen , ihr Adieu zu sagen . Der alte Baron , Oswald und die Knaben gingen durch die Gitterthür des Parks nach dem Schloßhofe , wo ein Reitknecht zwei Pferde am Zügel führte . Oswald bewunderte die Schönheit dieser Thiere , besonders das mit dem Damensattel , ein herrliches Vollblut , Melitta's Lieblingspferd : Bella . Melitta trat , von der Baronin und Mademoiselle gefolgt , aus dem Portale rasch auf ihr Pferd zu . Der alte Baron hob sie in den Sattel . Adieu , adieu ! rief sie herunter . Allez ! Bella ! und so sprengte sie aus dem Schloßhof , hinein in den dämmerigen Abend . Die Anderen waren wieder in's Haus getreten . Oswald stand , die Augen nach dem Thor gerichtet , durch das Melitta verschwunden war , in sich versunken da . Wollen wir nicht hineingehen , Oswald ? fragte Bruno , seine Hand ergreifend ; es ist dunkel geworden . Es ist dunkel geworden , wiederholte der junge Mann und folgte träumend dem Knaben . Achtes Capitel Der Baron hatte Oswald angeboten , ihn nach der Kirche fahren zu lassen ; der junge Mann aber , der die schwerfälligen Braunen noch von dem Abend seiner Ankunft her in bösem Angedenken hielt , es abgelehnt . Bruno und Malte erwarteten heute die Knaben eines benachbarten Edelmannes zum Besuch . Bruno wäre am liebsten mit Oswald gegangen , da dieser aber selbst ihn zu bleiben bat , sagte er : Sie sind recht froh , daß Sie mich auf ein paar Stunden los sind , aber ich weiß , was ich thue . Ich gehe in den Wald und komme vor Abend nicht nach Hause . Das wirst Du nicht thun , Bruno ! Und weshalb nicht ? fragte der Knabe trotzig . Weil Du mich lieb hast . Nun denn , so will ich Ihnen zu Liebe hier bleiben , den albernen Hans von Plüggen nicht prügeln und mich überhaupt so musterhaft benehmen , daß selbst Tante zufrieden sein soll . Thue das , lieber Junge . Leb' wohl ! Leb' wohl , Lieber , Bester ! reif der Knabe und warf sich stürmisch an die Brust seines einzigen Freundes , und eilte von ihm fort , in den Garten , dort mit seinem wilden Herzen allein zu sein . Oswald ging aus dem Schloßhofe den Weg , von dem er wußte , daß er nach dem Pfarrhofe führte . Die Sonne schien hell aus dem blauen Himmel , an welchem weiße Wolkenballen unbeweglich standen . Es war nicht heiß , denn der Athem des nahen Meeres hauchte Kühlung durch die Sommerluft . Lerchen jubelten hoch droben » im blauen Raum verloren . « An dem Rande des nahen Waldes , von dem eine Ecke , Oswald zur Rechten , weit in das bebaute Land hineinschoß , zog ein Gabelweih seine Kreise . Auf den Feldern sah man keine Arbeiter ; die Ackergeräthe lagen müßig . In einer Koppel , an welcher der Weg vorüberführte , lagen in satter Ruhe Kühe und Kälber ; ein paar muntere Füllen kamen an den Zaun , und sahen neugierig nach dem Wanderer . Oswald hatte schon den Hof des Gutes hinter sich . Er kam auf dem mit Weiden an beiden Seiten besetzten Wege an der Stelle vorüber , wo der Streit zwischen Bruno und dem Knechte stattgefunden hatte . Unwillkürlich blieb er stehen ; die ganze Scene wurde wieder lebendig vor seinem Auge ; er sah den schönen Knaben , zürnend und drohend , wie ein jugendlicher Gott ; und den feigen zurücktaumelnden Knecht . Fast that es ihm leid , daß er seinen Liebling zum Zurückbleiben vermocht hatte . Er fühlte sich so leicht , so froh an diesem schönen Morgen , und es war ihm schon zur lieben Gewohnheit geworden , wenn seine Seele ein Fest feierte , den Knaben zu Gast zu haben . Du , wie Al Hafi , Wilder , Guter , Edler ! sprach er bei sich , was willst Du in dieser Welt von weibischen Männern ! Fürchten sie sich doch jetzt schon vor Dir , da Du ein Knabe bist , was werden sie thun , wenn Du ein Mann geworden ! Ein Mann thut uns noth , schreien die Gelehrten aller Arten . Wie wollt Ihr Männer haben , wenn Haus und Schule und Leben sich gegenseitig unterstützen , die stolze Kraft im Keim zu brechen ! Da schnitzeln sie an dem Bogen und schnitzeln immerfort , und wundern sich , wenn das feine Ding hernach zerbricht . Pygmäengeschlecht , das den Riesen , den ein glücklicher Zufall an ihren öden Strand geworfen , mit tausend und aber tausend Fäden regungslos an die platte Erde fesselt ! Oswald war in dem besten Zuge , sich in eine misanthrophische Stimmung hineinzureden , aber der helle , leuchtende Morgen duldete die Nachgedanken nicht . Ein Bild , das Bild einer schönen Frau , das gestern Abend , bevor der Schlummer seine Augen schloß , noch zuletzt vor seiner Seele gestanden hatte , das als ein lieber Schatten durch seine Träume geglitten war , und , wie der Nachklang einer köstlichen Musik , ihn schon den ganzen Morgen umschwebt hatte , trat wieder vor seine Seele . Aber vergebens suchte er es zu bannen . – Während er nur an Melitta dachte , nur an sie denken wollte , sah er die Baronin , Mademoiselle Marguerite , diese oder jene Dame seiner Bekanntschaft , aber die Amazone im grünen Reitkleide zerflatterte ihm immer wie neckischer Nebel . So flattre fort , Du schöner Spuk ! rief der junge Mann , und suchte seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben . Das Terrain war bis dahin wellenförmig gewesen , jetzt wurde es eben , wie die Fläche des Meeres in der Windstille . Eine weite Haide lag vor ihm , jenseits derselben das Kirchdorf , welches das Ziel seiner Wanderung war . Andere Gehöfte bekränzten in weiter Ferne die Fläche . Die Weiden , die den Weg begleitet hatten , wurden spärlicher und verschwanden zuletzt ganz . Hier und da hatte man auf der Haide die Rasendecke entfernt , um Torf zu gewinnen , der nun in langen schwarzen Reihen zum Trocknen aufgeschichtet da lag . In den so entstandenen tiefen Gräben blinkte das Wasser . Kibitze und anderes Sumpfgevögel flatterte hin und wider . In der weiten , öden Runde sah Oswald keinen Menschen , außer einer Frau , die ein paar hundert Schritte vor ihm auf einem Grenzsteine saß . Als er näher kam , fand er , daß es eine alte , sehr alte Frau in einem armseligen , aber äußerst reinlichen Anzuge war . Sie mußte wohl , von dem Wege ermüdet , auf dem Steine eingenickt sein ; denn sie richtete den tief gesenkten Kopf schnell in die Höhe , als Oswald in ihre Nähe kam und betrachtete verwundert den jungen Mann . Guten Morgen , Mütterchen ! sagte dieser stehen bleibend , ist das Dorf dort gerade vor uns Faschwitz ? Ja ! sagte die Frau mit für ihr Alter auffallender Lebhaftigkeit , der junge Herr will wohl auch in die Kirche ? Ja , Mütterchen ! wann fängt die Predigt an ? Die Alte warf einen Blick nach der Sonne und sagte : Ich hab' zu lang geschlafen ; für mich ist es nun schon zu spät ; meine alten Beine tragen mich nicht mehr so schnell ; aber Sie sind ein junger Mensch , Sie kommen schon noch zur rechten Zeit . Nichts für ungut , wie ist Ihr Name , junger Herr ? Stein – Oswald Stein . Stein ? den Namen muß ich schon gehört haben . Wohl möglich , er ist nicht eben selten . Stein – hm , hm ; nichts für ungut , wo sind Sie her , Herr Stein ? Oswald , dem es Vergnügen machte , sich so harmlos ausgefragt zu sehen , und dem die Art der alten Frau wohl gefiel , setzte sich , da es ihn eben nicht drängte , in die Kirche zu kommen , der Matrone gegenüber , die ihn , die runzlichen Hände auf die Kniee gestemmt , aus ihren tief gesunkenen , immer aber noch ausdrucksvollen Augen forschend ansah , auf den Stamm einer umgefallenen Weide und sagte : Aus Grenwitz , Mütterchen . Aus Grenwitz ? Sieh einmal ! Da bin ich auch her . Mit Verlaub , Sie sind wohl zum Besuch auf dem Schlosse ? Nicht so eigentlich ; ich bin der Hauslehrer der Knaben . Das ist wohl nicht möglich ? Warum ? Nun , die Herren Candidaten sehen sonst ganz anders aus . Oswald lachte . Und Sie kommen den weiten Weg ganz allein , Mütterchen ? Ich hab ' keinen Menschen , der mit mir gehen könnte . Mein Mann ist längst todt , und meine Jungens sind todt und meine Dirnens sind todt – Alles todt . Die alte Frau strich sich die Falten ihres Rockes über den Knieen glatt , als wollte sie sagen : Alle eingescharrt , und die Erde glatt drüber gedeckt , keine Spur mehr von ihnen . Oswald jammerte das einsame , hülflose Alter der Frau . Er sagte , um doch etwas zu sagen , wovon er glaubte , daß es der einfältigen Seele tröstlich sein könnte : In jenem Leben werden Sie alle Ihre Lieben wiederfinden . In jenem Leben ? sagte die Alte und blickte zum blauen Himmel hinauf , daran glaube ich nicht . Wie ? daran glauben Sie nicht ? fragte Oswald verwundert . Die Alte schüttelte den Kopf . Sie sind noch jung , Herr – wie war Ihr Name ? Stein – ja – Sie sind noch jung , Herr Stein ; wenn Sie erst so viele Menschen haben sterben sehen , wie ich , glauben Sie auch nicht mehr daran . Wenn ein Mensch gestorben ist , dann ist er richtig todt – richtig todt . Und dann , wo sollten wohl all' die Menschen hin bei der Auferstehung , wie sie es nennen ? In unserm Dorfe lebt kein Einziger mehr von Allen , mit denen ich jung gewesen bin . Und die Anderen , die nach mir geboren sind , sind alt geworden und auch gestorben . Und so kommen immer Neue und immer Neue . Nein , auf der ganzen weiten Welt wäre kein Platz für all' die Menschen ! Aber vielleicht auf anderen Sternen ? warf Oswald ein . Wie sollen sie dort hinkommen ? Nein , von der Erde kommt Keiner , aber unter die Erde kommen sie Alle – Alle , und die alte Frau strich die Falten ihres Rockes wieder über den Knieen glatt . Die Körper wohl , aber die Seelen – Na , ich weiß nicht , sagte die Matrone den Kopf schüttelnd , aber das weiß ich , daß wenn einer gestorben ist , er richtig todt ist , und wir sagen : nun hat die liebe Seele Ruhe . Und etwas Besseres als Ruhe kann sich auch Keiner nicht wünschen , er mag ein Edelmann oder ein Bauersmann sein , jung oder alt . Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten Weg in die Kirche , wenn Sie an nichts mehr glauben ? fragte Oswald . Wer sagt das ? sagte die Matrone fast entrüstet ; ich glaube an Gott , wie jeder Christenmensch ; und rechtschaffen und fromm muß man sein , das hat mit der Auferstehung nichts zu schaffen ; und seine Pflicht muß man thun , das versteht sich von selbst . Und nun , junger Herr , machen Sie , daß Sie fortkommen , es wird sonst gar zu spät . Ich will nur wieder umkehren . Adjes ! Damit stand sie auf , ergriff einen Eichenstock , der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte , streckte Oswald die welke , zitternde Hand hin , die dieser nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte , und begann den Weg , den sie gekommen war , langsam zurückzuwandern . Das ist eine merkwürdige Frau , sprach der junge Mann bei sich , während er rascher weiter schritt ; ich muß mich näher nach ihr erkundigen . Wer hätte geglaubt , daß die Sätze der Philosophen vom neuesten Schlage , Sätze , die freilich nur uralte Münzen mit etwas anderem Gepräge sind , selbst in diesen Schichten des Volkes cursiren . Nun , nun , wenn selbst die Einfältigen und Friedfertigen anfangen , sich zu besinnen , daß sie Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben , so ist ja wohl der letzte Tag der Dunkelmänner gekommen . Neuntes Capitel Das Dorf Faschwitz ist ein Experiment der Regierung . Das Gut , eines der größten der Gegend , war , wie fast alle in diesem Theil des Landes , ursprünglich im Besitz einer adeligen Familie gewesen , und beim Aussterben derselben als erledigtes Lehen an die Krone zurückgefallen . Diese hatte , um sich einen Stamm kleinerer Grundbesitzer oder freier Bauern zu schaffen an denen es dort fast ganz gebricht , hier und an anderen Orten förmliche Bauerncolonien gegründet , indem sie große Lehengüter parcellirte und die einzelnen Parcellen zu Spottpreisen an Liebhaber verkaufte . Der Faschwitzer Gemeinde hatte sie eine Kirche gebaut , einen Prediger in den Ort geschickt ; es war nicht die Schuld der Regierung , wenn die Faschwitzer nicht gediehen . Indessen stand zu wünschen , daß die Faschwitzer von den übrigen ihnen gewährten Vortheilen und Vorzügen einen besseren Gebrauch machten , als von der Gelegenheit , sich allsonntäglich geistige Nahrung zu verschaffen , denn Oswald fand , als er sich durch eine Seitenthür – die Hauptthür war verschlossen – Eingang verschafft hatte , daß die » andächtigen Zuhörer « aus einigen Kindern , die wohl zum Confirmandenunterricht gingen und also ex officio da waren , einigen alten Frauen , die der langen Gewohnheit bis an's Ende treu bleiben , und aus einigen Gutsbesitzerfamilien der Nachbarschaft , die ihren Hörigen ein gutes Beispiel geben wollten , bestand . Das Innere der Kirche bildete einen mäßig großen , wohl erhellten , nicht gewölbten Saal , in welchem Kanzel , Altar und Bänke schicklich vertheilt waren – Alles sehr neu , sehr zweckmäßig – und sehr nüchtern . Da gab es keine kleinen buntgemalten Fensterscheiben , kein Altarbild , keine pausbäckigen Engel in Bronce oder Holz , keine Votivtafeln , keine halbverwelkten Kränze , und wodurch noch sonst der Katholik seinen gemüthlichen Beziehungen zu der überirdischen Welt , zu welcher ihm die Kirche eine Vorhalle ist , einen Ausdruck zu verschaffen sucht . Das einzige Poetische in der Kirche waren die Schatten der Linden vor den Fenstern , die auf der hellen gegenüberstehenden Wand hin und her wogten , und die breiten Lichtstreifen , die schräg durch den Raum fielen und der Phantasie eine goldene Brücke bauten , aus dieser nüchternen Atmosphäre zu entrinnen in den Sommermorgen , der draußen warm und duftig auf Wiesen , Feldern und Wäldern lag . Von der Zuhörerschaft schien indessen Niemand dieses Weges zu bedürfen oder ihn praktikabel zu finden , mit Ausnahme etwa eines hübschen zehnjährigen Mädchens mit langen blonden Locken , die wohl ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters , eines dicken Gutsbesitzers , der neben ihr andächtig nickte , empfinden mochte , und deswegen von der hageren Gouvernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte . Im Uebrigen trugen die Gesichter aller Anwesenden entschieden das Gepräge von Leuten , die ihre Gedanken zu Hause gelassen haben , und im besten Falle von Menschen , die sich mit Anstand langweilen . Und in der That , es wäre ein Wunder gewesen , wenn diese Gemeinde sich von dieser Predigt hätte erbauen lassen und von diesem Prediger . Oswald , der der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbesitzerfamilie zu sitzen gekommen war , erkannte auf den ersten Blick , den er auf den Prediger richtete , und nach den ersten Worten , die er aus des Mannes Munde vernahm , daß hier zwischen Geistlichem und Gemeinde ungefähr so viel Sympathie bestehe , wie zwischen einem schriftgelehrten Missionär und einem Stamme gutmüthiger wilder Menschen . Auch schien der Prediger selbst , ein kleiner , schmächtiger Mann von etwa vierzig Jahren mit einem durch trockene Studien ausgetrockneten Gesicht , dies recht wohl zu empfinden ; denn er war Oswalds , in welchem er natürlich sofort den vielbesprochenen neuen Hauslehrer von Grenwitz erkannte , kaum ansichtig geworden , als er seinen Vortrag hauptsächlich an ihn zu richten begann , als an den Einzigen , der im Stande sei , den Werth der gelehrten Perlen zu würdigen , die ihn hier , vor ungebildetes Rüsselvieh zu werfen , ein unverständiges Consistorium nöthigte . O , meine andächtigen Zuhörer , rief er , die bebrillten Augen auf Oswald richtend , der sich , so gut es gehen wollte , hinter den blonden Lockenkopf versteckte , o , meine andächtigen Zuhörer , Ihr sehet , ein wie schwaches Ding diesen ungeheuren Fragen gegenüber die menschliche Vernunft ist . Und dennoch , dennoch , Vielgeliebte , giebt es irrende Brüder und Schwestern , die noch immer dem Nachtlicht ihrer eitlen Vernunft vertrauen , nachdem schon längst auch für sie die Sonne aufgegangen ist . O ja ! dieses Stümpfchen ihrer Unschlittkerze mag ihnen hell genug erscheinen in den Tagen des Festes , der Herrlichkeit und der Freude ; aber nicht also in den Tagen des kummervollen und gedankenschweren Alters . Darum gebet auf das stolze Vertrauen auf die Vernunft , und haltet fest an dem Glauben ! Gebet auf die thörichte Zuversicht , auf Euren gesunden Menschenverstand , wie Ihr ihn nennt ! O , meine andächtigen Zuhörer , dieser gesunde Menschenverstand ist ein kranker , ein sehr kranker Menschenverstand , ist ein Teufelsspuk und ein Irrlicht , das Euch unaufhaltsam in den Sündenpfuhl der Verderbniß lockt . Oswald wurde durch diese Rede , die sich , mit Citaten aus der heiligen Schrift reichlich untermischt , noch eine halbe Stunde fortspann , auf eine eigenthümliche , aber keineswegs angenehme Weise berührt . Der Gegensatz zwischen der stillen , demüthigen Unterwerfung unter die großen , ewigen Gesetze der Natur , die aus den Worten der alten Frau und noch mehr aus ihrem ernsten , bescheidenen Wesen gesprochen hatte , und der anmaßlichen Zuversicht , mit welcher der Mann auf der Kanzel über so tief verborgene Dinge sprach , und jedes gesunde Gefühl und jede natürliche Regung der Menschenbrust als eitel Lug und Trug und Sünde verdammte , schien doch gar zu groß . Die schmucklose Weisheit der Matrone war frisch und duftig , wie ein Blümchen auf der Haide , die prunkende Klugheit des Predigers wie eine Pflanze , in der dumpfigen , schwülen Luft eines Zimmers üppig emporgeschossen in Stiel und Blätter , aber ohne Saft und Kraft und Blüthen . Oswald war froh , als endlich der gelehrte Herr , nachdem er noch ein letztes kräftiges Anathema gegen alle Andersdenkende geschleudert und ihre Moralität gehörig verdächtigt hatte , bis zum Amen kam . Es ist gewißlich nicht wahr ! sagte der junge Mann bei sich , als er auf den Fußspitzen nach der kleinen Seitenthür schlich , durch die er eingetreten war . Und als da draußen der blaue Himmel sich wieder über ihm wölbte und der Duft der Linden ihn umwehte , da athmete er tief auf , wie Jemand , der aus der heißen , erstickenden Atmosphäre eines Krankenzimmers in die balsamische Luft eines Gartens kommt . Ich werde die Bekanntschaft dieses Mannes nicht machen , wenn ich es vermeiden kann , monologisirte er weiter , während er den kleinen Hügel , auf dem die Kirche lag , hinunter , an mehreren herrschaftlichen Wagen , die unterdessen vorgefahren waren , vorüber , in's Dorf hineinging ; was habe ich mit ihm zu schaffen ! Seine Gedanken sind nicht meine Gedanken und seine Sprache ist nicht meine Sprache ! wir würden uns in Ewigkeit nicht verstehen . Ich halte nichts von jener verwaschenen Humanität , die mit Jedermann gut Freund ist , und Niemanden zurückweist , weil es doch vielleicht ein fester Punkt ist , um den sich möglicherweise etwas krystallisiren könnte ; nichts von jener Käferphilosophie , die jeden Fremden höflich umsummt , in der Hoffnung , die verborgene Blüthe zu finden , aus der sich eine Nahrung saugen ließe . Der kluge Kaufmann schifft der Küste vorüber , die zu arm zum Tauschhandel ist ; und kommen doch die Worte : wer nicht für mich ist , der ist wider mich – aus dem erhabenen Munde , der die Liebe gepredigt hat . Oswald war , Dies und Aehnliches bei sich überdenkend , auf's Gerathewohl , wie es seine Gewohnheit war , wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte , in dem ihm unbekannten Dorfe , wo Häuser und Scheunen und Ställe , Mauern und Gärten , dem Fremden unentwirrbar , durcheinander lagen , umhergewandert , und wollte eben aus einem schmalen Gange an der Seite eines stattlichen Hauses auf eine breitere Straße einbiegen , als ihm der Pfarrer , der aus der Kirche kam , gegenüberstand . An ein Ausweichen war nicht zu denken , und Oswald's Versuch , höflich grüßend vorbeizukommen , mißlang gänzlich , denn der Pfarrer hatte ihn kaum erblickt , als er ihm im eigentlichsten Sinne den Weg vertrat . Ach ! ich habe gewiß die Ehre und das Vergnügen , Herrn Doctor Stein vor mir zu sehen ! sagte er . Wie freundlich von Ihnen , daß Sie mich zu besuchen kommen . Aufrichtig , ich habe Sie schon seit einigen Tagen bei mir erwartet . Als ich neulich in Grenwitz war , der gnädigen Baronin meine Aufwartung zu machen , erfuhr ich leider , daß Sie mit Ihren Zöglingen einen längeren Spaziergang unternommen hätten , sonst würde ich mir die Freude nicht versagt haben , Sie auf Ihrem Zimmer aufzusuchen . Meine Frau wird sich glücklich schätzen , Sie unter unserem bescheidenen Dache zu begrüßen . Wollen Sie gefälligst näher treten ? Bitte , bitte , keine Umstände ! Hier ist kein Entrinnen möglich , dachte Oswald , und ließ sich unter dem bescheidenen Dache , das nebenbei ein ganz stattliches Haus bedeckte , eine Gastfreundschaft aufnöthigen , der auszuweichen er noch eine Minute vorher entschlossen gewesen war . Gustava ! Gustave ! Gustchen ! rief der Pfarrer auf dem Hausflur ; öffnete aber , da die Gerufene die sichere Position hinter dem mit einem Vorhang versehenen Guckfensterchen der Küchenthür nicht aufgeben mochte , bevor sie über den Charakter des Fremden und den Zweck seines Besuches genauer unterrichtet sein würde , sein Studirzimmer , und bat Oswald einzutreten , bis er sich seiner Amtstracht entledigt und seine Gustava von dem werthen Besuch benachrichtigt hätte . Das Studirzimmer des geistlichen Herrn war ein großes , zweifenstriges Gemach , in welchem einige Bücherschränke , einige Heiligenbilder an der Wand , ein hartes , mit schwarzem , glänzendem Zeuge überzogenes Sopha , ein runder , mit Büchern bedeckter Tisch in der Mitte , ein Stehpult mit einem Drehsessel davor in einem der Fenster , und eine mit Tabacksduft reichlich geschwängerte Atmosphäre , das dem Eintretenden zuerst in die Sinne Fallende war . Die letztgenannte Eigenthümlichkeit war so ausgesprochen , daß Oswald einen Fensterflügel öffnen mußte , wobei er eine starke Anwandlung verspürte , über die niedrige Brüstung auf die sonnenbeschienene Dorfgasse zu springen und das Weite zu suchen . Dieser Fluchtversuch wurde indessen durch die Zurückkunft des Pfarrers vereitelt . Der geistliche Herr präsentirte sich jetzt in einem Anzuge aus schwarzem , wie Fett glänzenden Sommerzeuge . Er bat Oswald , einige Augenblicke in seiner Klause verziehen zu wollen , da Gustava noch in den Küchenräumen schalte . Oswald , der alle Hoffnung , zu entrinnen , aufgegeben hatte , machte jetzt nicht einmal den Versuch , die Einladung des Pfarrers , zum Mittagessen dazubleiben , auszuschlagen . Sie werden freilich nur paternum mensa tenui salinum finden , Urväter Hausrath auf dürftigem Tische , sagte der Pastor , der seinem Gaste zeigen wollte , daß er sein Latein noch nicht vergessen habe ; aber Sie wissen : vivitur parvo bene ; auch mit Wenigem lebt sich 's gut . Darf ich Ihnen , bis die Mahlzeit angerichtet ist , eine Cigarre offeriren ? Oswald dankte , da er kein Raucher sei . O , eine vortreffliche Eigenschaft das ! eine klassische Eigenschaft , sagte der Pastor , seinen eigenen Witz belächelnd ; die Alten rauchten nicht , und Goethe , den ein frivoler , aber witziger Schriftsteller den großen Heiden nennt , war ein abgesagter Feind der Pfeife und Cigarre . Sie erlauben , daß ich meiner Gewohnheit , nach der Predigt ein leichtes Cigarrchen zu rauchen , getreu bleibe ? Bitte dringend , Herr Pastor ! Finden Sie nicht – paff , paff ! – daß das Rauchen – paff , paff ! – so recht eigentlich ein germanisches , ja , um mich so auszudrücken , ein christlich-germani sches Element ist ? sagte der Pfarrer , der heute auf alle Fälle geistreich sein wollte . Sie würden durch diese Bemerkung den Spöttern der Religion eine Waffe in die Hände geben , antwortete Oswald trocken . Wie das , Werthgeschätztester ? Besagte Spötter könnten behaupten , daß , sich selbst und Anderen einen romantischen blauen Dunst vorzumachen , allerdings ein wesentlicher Zug germanischer , besonders christlich-germanischer Natur sei . Der Pfarrer sah Oswald mit einem schnellen , lauernden Blick halb über die Brillengläser hinweg an , als hätte er gern auf einmal heraus gebracht , wie weit er seinem Gaste trauen dürfe . Da er es aber für einen Mann von klassischer Bildung unschicklich fand , auf einen Scherz , auch wenn derselbe an's Frivole streifte , nicht einzugehen , so antwortete er mit sauersüßem Lächeln : Nicht übel , nicht übel ! Aber was wäre vor den Spöttern sicher ? Freilich , wir können antworten : ex fumo lucem ! ex fumo lucem ! Licht aus dem Rauche ! – Aber setzen wir uns , lieber Freund , setzen wir uns ! Wie befindet sich denn der gute , liebe Baron und die gnädige Baronin ? Ach ! Sie können sich glücklich schätzen , lieber Freund , in solchem Hause leben zu dürfen , unter so vortrefflichen Menschen , die mit dem Geburtsadel den wahren Adel der Seele verbinden – vor Allem die Baroneß , eine fromme und sehr gebildete Dame , die Alles ex fundamento kennen lernen will . Sie liest jetzt Schleiermachers Reden über die Religion – Sollte sie wohl im Stande sein , die zu verstehen ? bemerkte Oswald . Der Pfarrer sah Oswald wieder mit jenem eigenthümlichen Blick über die Brillengläser an , als müsse er sich den Mann genauer betrachten , der den Muth hatte , eine Ansicht , welcher er im Stillen vollkommen beipflichtete , so ungenirt laut werden zu lassen . Er begnügte sich indessen damit , die Mundwinkel herunter und Schultern und Augenbrauen in die Höhe zu ziehen , eine Geberdensprache , die sich sein Besuch nach Belieben in : Alles Schwindel , lieber Freund ! oder : die Fähigkeiten dieser Frau sind incommensurabel , übersetzen konnte . Freilich , fuhr er fort , Grünwald werden Sie vermissen ; zumal den Umgang eines Mannes von einer so umfassenden Gelehrsamkeit , wie der Professor Berger . Aber geht es mir denn anders ? Auch ich kann sagen : Barbarus hic ego sum , quia non intelligor ulli . Ich gelte hier für einen Sonderling , weil Niemand mich versteht . Unsere Gutsbesitzer sind ohne Zweifel treffliche , würdige , gottesfürchtige und treu-königlich gesinnte Männer ; aber , im Vertrauen , die Bildung , ich meine natürlich nur die gelehrte , ist arg vernachlässigt . Ja , wenn die Herren sich in ihrer Jugend des unschätzbaren Glückes einer wahrhaft rationellen Erziehung zu erfreuen gehabt hätten , wie Junker Malte – Sehr gütig , Herr Pastor , obgleich von diesem Compliment nur ein verzweifelt kleiner Theil auf meine Rechnung kommen dürfte . Ich wünsche nur , bei Malte käme die ratio nächstens mehr zum Durchbruch , denn bis jetzt ist er wahrlich eine höchst irrationelle kleine Größe . Sie sollten Ursache haben , mit dem jungen Baron unzufrieden zu sein ? sagte der Pastor im Tone Jemandes , der etwas ganz Unerhörtes , Unglaubliches vernommen hat . Ach , verstehe , verstehe ! Freilich , der junge Bruno ist vielleicht in mancher Hinsicht die begabtere Natur , obgleich er , wie ich in dem Confirmandenunterricht , welchen ich den Junkern zu ertheilen die Ehre hatte , wohl bemerkte , für die Wahrheiten der christlichen Religion nicht eben sehr zugänglich ist ; indessen non omnes possunt omnia – omnia , wiederholte der Pfarrer , der nicht wußte , wie er fortfahren sollte . Ja , was ich sagen wollte , dafür ist aber auch Malte wieder der Erbe eines so großen Vermögens ! Um so mehr scheint es mir wünschenswerth , daß er dereinst ein ganzer Mann wird . Ist denn übrigens das Grenwitz'sche Vermögen wirklich so bedeutend ? Ei , mein lieber Freund , rief der Pastor im Tone sanften Vorwurfs , daß Oswald eine so beklagenswerthe Unwissenheit in Betreff so hochwichtiger Dinge an den Tag legen konnte ; ob es bedeutend ist ! Da sind in dieser Nachbarschaft allein fünf , nein – mit Stantow und Bärwalde , die allerdings nicht zum Majorat gehören , sind es eben sieben Güter . Und in den andern Theilen der Insel – lassen Sie mich sehen – liegen noch ein , zwei , drei Güter . Das ist ein Kapital von mindestens anderthalb Millionen . Anderthalb Millionen ! wiederholte er , als könne sich sein Geist von einer so erhabenen Vorstellung nicht gleich wieder losmachen . Und das Vermögen ist ein Majorat ? Ei gewiß ! Mit Ausnahme , wie gesagt , von zwei der schönsten Güter , welche dem verstorbenen Baron , dem Vetter des jetzigen , durch Erbschaft von der Mutter Seite zufielen und in dem Testamente auf eine gar besondere Weise verclausulirt sind . Denken Sie sich nur , lieber Freund , daß der verstorbene Baron , der , ganz unter uns gesagt , eine überaus wüste , unbändige Natur war , diese Güter dem Sohne einer seiner Maitreffen vermacht hat . Aber Sie rechneten doch vorhin die beiden Güter mit zu dem Vermögen der Familie , sagte Oswald . Nun , unter uns kann man es immerhin , sagte der Pfarrer , Oswald näher rückend , in leiserem Ton . Denn kein Mensch weiß , wo dieser Knabe lebt , ja , ob er überhaupt lebt , ja nicht einmal , ob es wirklich ein Knabe oder ein Mädchen ist . Das ist ja eine curiose Geschichte , sagte Oswald lachend . Eine äußerst curiose Geschichte , sagte der geistliche Herr ; eine lächerliche Geschichte , wenn Sie wollen . Denken Sie nur : der Baron Harald – sie haben Alle sonderbare Namen in der Familie – jener unbändige Mann , der zur Zeit der heiligen Vehme hätte leben müssen , entbrennt in heißer Liebe zu einem armen Bürgermädchen – ein Fall , der in seinem Leben freilich oft vorgekommen sein mag , aber niemals solche üblen Folgen hatte . Er entführt sie , halb mit Gewalt , hierher auf sein Schloß . Nach einem halben Jahre entflieht sie bei Nacht und Nebel . Ob sie ihre Schande auf dem Grunde eines unserer tiefen Moore verborgen hat , ob sie wirklich nur entflohen ist , Niemand weiß es . Der Baron ist außer sich , rasend . Er durchsucht vergebens die ganze Insel . Um seinen Gram und seine Gewissensbisse zu betäuben , trinkt und spielt und lebt er noch wilder wie gewöhnlich , so daß er denn ein paar Wochen später im Delirium stirbt . Als man das Testament eröffnet , findet man nun , daß er in einer Anwandlung von Reue , oder aus Caprice , wie Sie wollen , dem Kinde jener seiner Geliebten , gleichviel ob Knabe oder Mädchen , falls es nur bis zu dem und dem bestimmten Datum geboren ist , die beiden herrlichen Güter , der Dirne selbst aber den Nießbrauch des Vermögens auf Lebenszeit vermacht hatte . Wie finden Sie das ? Jedenfalls eignet sich die Geschichte mehr zu einer Tragödie als zu einer Komödie , sagte Oswald . Und hat man nie eine Spur von Mutter und Kind entdeckt ? Nie ! obgleich testamentarisch – es ist wahrhaftig ein wahrer Skandal , und ich bedaure die gnädige Baronin von ganzem Herzen – alljährlich die Verschollene in sämmtlichen Blättern der Provinz aufgefordert wird , ihre Ansprüche geltend zu machen . Wie lange spielt die Geschichte nun ? So ein zwanzig Jahre und darüber . Da ist doch wohl kaum denkbar , daß die Arme noch am Leben ist . Es denkt auch Niemand mehr daran , sagte der Pastor . Grenwitzen's würden auch nicht wenig verwundert sein , wenn plötzlich so ein junger Landstreicher sich als ergebenster Neffe vorstellte und die beiden Güter und die Zinsen seit zwanzig Jahren für sich beanspruchte , um so mehr , als die gnädige Baronin , die von Hause aus – ganz unter uns gesagt – keinen rothen Pfennig Vermögen hat , nach dem Tode des Barons , da die Grenwitz'schen Besitzungen , Gott sei Dank , Majorat sind , sammt ihrer Tochter so arm sein würde , als sie vor ihrer Vermählung war . Sie sind ein großer Freund der Majorate ? Ei gewiß ! Ich halte es für ein Glück , daß so bedeutende Vermögen nicht durch Erbtheilung zersplittert werden können , und so eine Aristokratie reicher Grundbesitzer möglich wird , die gleichsam ein Ballast sein kann für das Staatsschiff in Zeiten der Gefahr , die Gott noch lange abwenden möge von unserm theuern Vaterlande . Nun , sagte Oswald , das Ding hat , wie alle andern , seine zwei Seiten . Wer wollte sich das verhehlen , sagte der geschmeidige Pastor . Aber ich für meinen Theil habe zu lange die Ehre und das Glück gehabt , mit reichen , und in der schönsten Bedeutung des Wortes adeligen Familien zu verkehren , als daß ich nicht gewissermaßen ein Anhänger der Aristokratie sein sollte ; und überdies habe ich neuerdings nur zu trübe Erfahrungen darüber gemacht , wie sehr der Besitz in den Händen des Plebejers , um mich dieses historischen Ausdruckes zu bedienen , Eitelkeit , Hoffarth und weltlichen Sinn hervorruft und begünstigt . Es thut mir leid , von meinen Freunden so etwas hören zu müssen , sagte Oswald . Von Ihren Freunden ? sagte der Pastor verwundert . Von meinen Freunden , allerdings . Denn ich fand mich stets , ohne es zu wollen und manchmal ohne es zu wissen , wo immer in der Geschichte der große Gegensatz zwischen Aristokraten und Plebejern hervortrat , auf Seite der letzteren . Ich war ein geschworner Anhänger der Gracchen und anderer römischer Demagogen ; ich schlug mich mit den Independenten gegen die Cavaliere , und ich gestehe , daß ich in den Bauernkriegen viel mehr Sympathie gehabt habe für die armen , unterdrückten , gehudelten , geknechteten und in Folge dieser brutalen Behandlung meinetwegen auch brutalen Bauern , als für die hochmögenden , reichsfreiherrlichen und trotz und vielmehr wegen all' der Freiheit und Herrlichkeit nicht minder brutalen Grafen und Barone . Der Pfarrer hörte diese Rede mit jenem ungläubigen Lächeln an , mit dem man dem Bramarbasiren junger Gelbschnäbel zuhört , die sich gern den Anstrich von vollendeten Wüstlingen geben möchten . Sehr gut , sehr gut ! sagte er . Ja , ja , wir geistreichen Leute gefallen uns in Paradoxen . Das klebt uns noch von den ästhetischen Thee's der Residenz an , und da wollen wir hübsch in der Uebung bleiben , wenn uns zur Zeit auch nur ein armer Landpfarrer hört . Ich versichere Sie , Herr Pastor – Weiß schon , weiß schon ! Aber leben Sie erst einmal , wie ich , fünf Jahre lang unter Bauern ! Glauben Sie , daß ich in der ganzen Zeit die Leute habe bewegen können , eine Glocke für unser Gotteshaus zu kaufen , die anzuschaffen sie noch dazu verpflichtet sind ? Aber , wenn es darauf ankommt , einen Schmaus herzurichten und andere weltliche Zwecke in's Werk zu setzen , fehlt es nie an Geld . Nun , sagte Oswald , der Adel hiesiger Gegend ist auch nicht eben wegen seiner Nüchternheit berühmt . Der Adel , lieber Freund ! das ist etwas ganz Anderes . Seine Devise ist und muß sein : leben und leben lassen . Aber , Sie wissen , Eines schickt sich nicht für Alle . Und Manches schickt sich für Keinen , fügte Oswald hinzu . Ach , hier kommt meine Gustava , rief der Pfarrer , froh , ein Gespräch abbrechen zu können , das ihm von Augenblick zu Augenblick weniger gefiel . Die Frau Pastorin , welche soeben in das Zimmer trat , war eine Dame in dem Anfang der vierziger Jahre , mit semmelblonden Haaren , sehr hellblauen Augen und einem Gesicht , das in diesem Augenblick von dem Küchenfeuer und der Eile , mit welcher sie ihre Toilette gemacht hatte , noch von etwas lebhafter Farbe war , sonst aber kränklich , bleich , verwelkt und altjüngferlich aussah . Sie trug ein Kleid von gelber ungefärbter Seide , an dessen Gürtel eine goldene Uhr hing , und eine Haube mit gelben Bändern , so daß sie Alles in Allem auf Oswald den Eindruck eines etwas verblichenen und nicht mehr ganz gefunden Kanarienvogels , dessen Besitzer nach Norden wohnt , machte . Auch sie konnte kaum Worte ( an denen es ihr übrigens nicht gebrach ) finden , welche ihre Freude ausdrückten , den Freund eines so hochmögenden Hauses unter ihrem niedrigen Dache ( diese Phrase schien bei beiden Gatten stereotyp ) zu erblicken , um so mehr , als es ihrem armen Jäger ( das war der Name des Pastors ) ganz und gar an einem wissenschaftlichen und gebildeten Umgange gebrach , ein Mangel , dem durch Oswalds Ankunft in hiesiger Gegend auf die erfreulichste Weise ( davon sei sie überzeugt ) abgeholfen wäre . Mein armer Jäger wird mir hier noch zum Hypochonder werden , rief sie , ihre wasserblauen Augen zärtlich auf den Gegenstand ihrer Besorgniß richtend ; ich thue , was in meinen schwachen Kräften steht , daß er die Gesellschaft geistreicher und gelehrter Männer so wenig wie möglich vermißt , aber was kann eine arme , unwissende Frau denn in dieser Hinsicht Großes thun ! Sie werden mich zwingen , Ihnen zu widersprechen , sagte Oswald , bei welchem der Humor über den Unmuth , mit dem ihn bisher die Heuchelei und Gleißnerei der Gatten erfüllt hatte , endlich den Sieg davon trug . Ich möchte behaupten , daß Unwissenheit und Frau Pastor Jäger niemals Freundinnen gewesen sind , und jetzt schon seit Jahren auch nicht einmal die entfernteste Bekanntschaft zwischen ihnen existirt . Sie sind zu gütig , wahrlich zu gütig , sagte die hocherfreute Pastorin . Ich will nicht leugnen , daß ich mich von jeher bemühte , den Vorwurf der Unfähigkeit für die Sphären höherer Bildung , welchen man uns armen Frauen – Es ist angerichtet ! rief das Dienstmädchen zur Thüre herein . Sehen Sie , so macht das irdische Leben immer seine Rechte geltend , so oft wir versuchen , einen kühneren Flug zu nehmen , rief die Pastorin , während ihr Oswald galant den Arm bot und der Pastor das Ende seiner Cigarre so legte , daß er es nach Tische wiederfinden konnte . Zehntes Capitel Die Unterhaltung an der Mittagstafel , die in einem kühlen , schattigen Zimmer , das auf einen etwas kahlen und sehr sonnigen Garten sah , angerichtet war , wurde bald sehr lebhaft . Oswald's längerer Aufenthalt in Grünwald erwies sich als unerschöpfliches Thema . Die Pastorin war selbst eine Grünwalderin , eine der vielen Töchter des dort vor mehreren Jahren verstorbenen Superintendenten Gabriel Dunkelmann , der gerade noch lange genug lebte , seinem Schwiegersohn die einträgliche Pfarre von Faschwitz zu verschaffen und dann das Zeitliche segnete . Oswald machte im Stillen die Bemerkung , daß die Frau Doctor – denn der Pastor hatte sich die academische Würde durch eine grundgelehrte Dissertation über die möglicherweise vorhanden gewesenen Schriften eines bis auf den Namen verschollenen Kirchenvaters erworben – schon damals durch Jugendreiz sich nicht ausgezeichnet haben könne und wunderte sich auch nun nicht länger darüber , daß der Tisch so klein und das Haus so still war . Die Frau Doctor kannte den Professor Berger , sie kannte mehrere Familien , in denen Oswald eingeführt war . Das gab denn überreichen Stoff zu dem landesüblichen Familienklatsch , bei welchem einige Damen , die ihrer Zeit der verblühten Superintendententochter zu nahe getreten sein mochten , erfahren konnten , welche zweischneidige Waffe die Zunge einer Landpastorin unter Umständen ist . Unterdessen war der Nachtisch aufgetragen , und der Pastor hatte , nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit eine zweite Flasche entkorkt , die Pastorin aber den Tisch verlassen , um anzuordnen , daß der Kaffee heute in der Gartenlaube servirt werde . Der Pastor hatte sich eine Cigarre angezündet , einen Knopf an seiner schwarzen Weste aufgemacht , augenscheinlich nur in der Absicht , sich in der Illusion , ein sybaritisches Mahl eingenommen zu haben , zu bestärken – denn die Weste saß schon schlotterig genug auf seinem hagern Leibe . Er forderte Oswald auf , mit ihm auf das Wohl der hochmögenden Familie , in welcher er sich zu befinden das Glück habe , anzustoßen , eine Höflichkeit , die Oswald mit einem Toast auf die liebenswürdige , ebenso gelehrte , wie bescheidene Wirthin erwiderte . Danke , danke , lieber junger Freund , sagte der geschmeichelte Pastor , Oswald's Hand zu wiederholten Malen drückend . Ja , Sie haben recht , eine gelehrte , bescheidene Frau ! Haben Sie ihr angemerkt , daß sie mit mehr als einer literarischen Größe im lebhaftesten Briefwechsel steht , ja , unter dem Pseudonym Primula eine der eifrigsten Mitarbeiterinnen der Novellen-Zeitung ist ? Unmöglich ! rief Oswald . Ich versichere Sie , lieber Freund ; und Sie können nicht glauben , welche Freude es mir gewährt , wenn ich wieder und immer wieder im Briefkasten lese : Faschwitz und P. V. , Primula Veris , Gustava's Chiffre : Tausend Dank für Ihre liebenswürdige Sendung , oder : Sie haben uns durch Ihr reizendes Gedicht hoch erfreut , es wird schon in der nächsten Nummer zum Abdruck kommen x. Ich kann es mir denken , sagte Oswald zerstreut . Aber wollen wir nicht der liebenswürdigen Dichterin in den Garten folgen ? Festina lente ! rief der Pfarrer , dem der Wein schon zu Kopfe stieg . Wir kommen so jung nicht wieder zusammen . Ein gutes Glas Wein ist ein gutes geselliges Ding , und Gustava ist zu liberal gesinnt , uns die Freuden des Mahles zu verkürzen . Aller guten Dinge sind drei , lassen Sie uns noch eine Flasche – Aber Jäger , der Kaffee wird ja kalt ! tönte die scharfe Stimme der Primula Veris aus dem Garten durch das offene Fenster . Wir kommen , wir kommen , Gustchen ! rief der gehorsame Gatte . Gesegnete Mahlzeit , mein lieber junger Freund ! ( bei diesen Worten umarmte er Oswald ) ; mein theurer Freund ! ( abermalige Umarmung ) – Aber wir vergessen , daß der Kaffee auf uns wartet , rief Oswald , mit Mühe einer dritten Umarmung entgehend , und den Weg nach dem Garten einschlagend , während der Pastor , ehe er seinem Gaste folgte , noch schnell den letzten Rest aus der Flasche in sein Glas schenkte und dasselbe eiligst ( diesmal wahrscheinlich auf sein eigenes Wohl ) austrank . Der Garten gewährte um diese Tageszeit gerade nicht den angenehmsten Aufenthalt , denn die Anlagen waren noch sehr ung ; die Bäumchen meist erst in Manneshöhe , und in Folge dessen das Ganze eine schattenlose , prosaische , nüchterne Stätte , die auffallend an die Theologie des gelehrten Herrn erinnerte , auch insofern , als hier wie dort das Nützlichkeitsprincip das oberste zu sein schien . Die Gemüsebeete waren sorgsam gepflegt , Blumen aber sah man wenig , nur einige Sonnenblumen mahnten durch ihre Farbe flüchtig an die Erscheinung der Primula Veris und durch ihre Eigenschaft , sich der Sonne zuzuwenden , aus welchem Theile des Himmels sie auch strahlen mochte , an die Lebensphilosophie ihres ausgezeichneten Gatten . In der Laube , die glücklicherweise , von Jasmin dicht bedeckt , gegen die Sonne , welche jetzt heiß genug brannte , einen erträglichen Schutz gewährte , fanden sie die Frau Pastorin . Sie hatte neben sich auf der Bank ein Arbeitskörbchen stehen , in welchem zwischen bunten Läppchen , Docken Seide und andern Dingen ein zierliches Büchelchen lag , dessen Vorhandensein Oswald einigermaßen beunruhigte . Weh' dir , dachte er , wenn dieses Buch eine Sammlung von Primula's in der Novellen-Zeitung und sonst erschienenen Gedichten ist ! Er suchte den Pastor bei den Gemüsebeeten festzuhalten ; er mußte sich mit eigenen Augen überzeugen , wie die vom Pastor selbst erfundene Verbesserung an den Bienenkörben denn eigentlich beschaffen sei ; er sprach endlich von der Nothwendigkeit , sich baldigst verabschieden zu müssen – kurz , er that , was ein Mann in seiner kritischen Lage thun kann – vergebens ! Wir sollen Sie fortlassen , bei der Hitze ! rief Primula und ließ ihre Hand ( von Oswald nicht unbemerkt ) auf das Arbeitskörbchen gleiten . Wir sitzen hier zwar nicht im Schatten der gewaltigen Fichte und der weißen Pappel , aber doch im Schatten ; und den wollten Sie vertauschen mit der Gluth und dem Staub der Landstraße ? Unmöglich ! Noch eine Tasse , werther Gast ! Es ist kein Falerner , wie ihn der glückliche Römer in der eben citirten Ode trinkt , aber doch ein Getränk , das einigen Anspruch auf Classicität machen darf , seitdem unser lieber Voß in seiner Louise es so verherrlicht hat . Sagen Sie , lieber Gastfreund , hat Ihnen nicht der Aufenthalt unter unserem niedrigen Dache manche Reminiscenzen an die liebliche Idylle erweckt ? Haben Sie nicht empfunden , daß in diesen , von dem Treiben der Menschen weit entfernten Stätten die sanfte Stimme der Poesie , die auf dem lauten Markte des Lebens ungehört verhallt , deutlich zu uns spricht ? Jetzt geschieht das Entsetzliche , dachte Oswald . Ich bewundere , sagte er , wie Sie so sinnig Altes und Neues , Wirklichkeit und Poesie zu einem duftigen Kranze zu flechten verstehen . Mir selbst ist leider in jüngster Zeit die Prosa des Alltagslebens nah und näher getreten ; ja , aufrichtig gestanden , ich habe mich , was ich früher für unmöglich hielt , mehr und mehr mit ihr ausgesöhnt , obgleich ich sehr wohl weiß , daß ich dabei die Empfänglichkeit für die Reize der Dichtkunst vollständig eingebüßt habe . O , glauben Sie doch das nicht ! rief Primula . Der Quell der Poesie in uns kann wohl zu Zeiten weniger voll strömen , aber gänzlich versiegt er nie . Sie klagen sich der Unempfänglichkeit für die Reize der Dichtkunst an . Das sollte mich eigentlich von meinem Vorhaben ( hier legte sie die Hand offen an das Büchelchen in schwarzem Einband mit Goldschnitt ) abbringen , Ihnen eine kleine Probe der Gedichte mitzutheilen , die ich , wie Ihnen wohl bekannt sein wird , unter dem Pseudonym Primula in der Novellen-Zeitung veröffentlicht habe . Aber mein Glaube an die Macht der Poesie , vor Allem der latenten Poesie in Ihrem Herzen , ist zu groß , als daß mich Ihre Selbstverleumdung vom Gegentheil überzeugen könnte . Darf ich einen Versuch wagen , die Richtigkeit meiner Ansicht auf die Probe zu stellen ? Wodurch habe ich so viel Güte verdient ? murmelte Oswald , sich voll Resignation in die Ecke seiner Bank zurücklehnend und die Augen bis zu dem Winkel schließend , der glücklicherweise den Augen halb schlummernder und verzückter Zuhörer gemeinsam ist . Ich habe mein Büchelchen Kornblumen betitelt , sagte Primula , hold verschämt in dem Buche blätternd , weil die meisten dieser Poesie auf den Spaziergängen durch die Kornfelder , auf alle Fälle in einer ländlichen Umgebung erblüht sind . Wie sinnig , flüsterte Oswald . Nach den Regeln der besten Aesthetiker und nach dem Beispiele der Griechen , welche die Tragödie der Komödie voranschickten , oder richtiger die Komödie auf die Tragödie folgen ließen , werde ich mir erlauben , Ihnen erst ein ernstes , dann ein launiges , dann wieder – Gewiß , gewiß , das wird den Reiz der einzelnen Gedichte erhöhen , sagte Oswald , den vor dieser endlosen Perspective schauderte . Willst Du nicht , liebe Gustava – sagte der Pastor . Laß mich meine eigene Wahl treffen , Jäger , sagte die Dichterin in einem sanften , aber entschiedenen Tone , und dann sich räuspernd : Auf einen todten Maulwurf – Auf was ? rief Oswald , erschrocken in die Höhe fahrend . Nun , sehen Sie , werther Freund , sagte Primula , wie schon die Ueberschrift allein Sie elektrisirt ! Freilich , freilich ! murmelte Oswald , in seine Ecke zurücksinkend . Auf einen todten Maulwurf , wiederholte die Dichterin , den ich am Wege fand : Wie liegst Du jetzt so ruhig da Mit Deinem glatten Fell ! Dein Schicksal , ach , es geht mir nah , Du schwärzlicher Gesell ! Sie schmähten Dich , Sie höhnten Dich , Sie sagten : Du bist blind ! Das waren solche sicherlich , Die selber Blinde sind . Am Tage zeigtest Du Dich nicht , Gleich eitler Thoren Schaar , Doch war 's in Deiner Zelle licht , In Deinem Busen klar . Und zu der Sterne hohem Lauf Am nächt'gen Himmelsdom , Sahst Du von Deinem Hügel auf , Du kleiner Astronom ! Wie lebtest still und harmlos Du , Ein dunkler Ehrenmann ! Bei Tag nicht Rast , bei Nacht nicht Ruh ,