Erstes Kapitel Die hohe Polizei nimmt ein Protokoll auf Auch der unschuldigste , solideste Staatsbürger , der Mann des feuerfestesten Geldschrankes , der Mann des besten Gewissens , der zugeknöpfteste , strammste , schnauzbärtigste alte Herr vermag nicht , sich eines leisen Schauders zu erwehren , wenn er an dem Zentralpolizeihause vorüberwandelt . Man kann nicht wissen – es geht wunderlich zu im Leben – das Schicksal spielt oft eigen mit dem Menschen ! – wer kann für die nächste Stunde und ihre Tücken gutstehen ? – Man hat im Vorbeischreiten ein Gefühl , als sei es höchst angebracht , wenn man den Rockkragen in die Höhe klappe ; man zieht unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern : das liegt einmal im deutschen Blut , der Herr erlöse uns von dem Übel . Und der Novemberregen kam herunter , als habe der Himmel den Schnupfen und lasse alles laufen . Es kamen auch sehr viele Leute herunter , und zwar sehr hart ; denn der Regen verwandelte sich , sowie er den Erdboden berührte , in Glatteis , und weder Mann noch Weib war vor dem Fall sicher . Sehr viel guter Humor löste sich in mürrisches Hinbrüten und ärgerliches Gebrumm auf . Die Unliebenswürdigen waren an diesem ungesegneten Tage noch einmal so unliebenswürdig als gewöhnlich . Das Wetter war wie ein Probierstein , auf welchem jede Anlage zur Liebenswürdigkeit geprüft und abgezogen wurde . Haustyrannen schlugen ihre Frauen körperlich und moralisch , Haustyranninnen explodierten bei der geringsten Reibung wie Orsinische Bomben und konnten ein ganzes Hauswesen mit Verwirrung und Verwüstung erfüllen . Auch die lieben Kleinen , das hoffnungsvolle Geschlecht einer edleren Zukunft , waren heute unartiger als sonst ; sie bekamen mehr Püffe und Ohrfeigen und öfter die Rute als an andern , helleren , freundlicheren Tagen . Wehe der dienenden Jungfrau , die heut den irdenen Topf , den tönernen Napf zur Erde fallen ließ ! Wehe , dreimal Wehe über alle die Unglücklichen , die bei solcher Witterung , wie auch ihr Stand und ihre Stellung sein mochten , von andern abhängig waren ! Jedermann war in der Stimmung , seinen Nebenmenschen und Mitkreuzträgern das Leben und das zu tragende Kreuz so schwer und scharfkantig wie möglich zu machen , ohne meistenteils im Grunde eine andere stichhaltende Entschuldigung für seine Kratzbürstigkeit zu haben als » dieses grenzenlos niederträchtige Wetter « . Wir wollen bei so bewandten Umständen den tellurischen und kosmischen Erscheinungen des Tages , aller dieser meteorologischen Bosheit gar nicht die Ehre antun , sie näher zu beschreiben . Selbst das Zentralpolizeihaus ist jetzt ein anmutigerer Aufenthaltsort als Straße und Markt . Flüchten wir uns mit aufgespanntem Regenschirm hinein ; in Nummer Sicher sind wir hier jedenfalls . Lange trostlose Gänge , Türen , die in dunkle Zimmer voll geheimnisvoller Akten und dumpfen unheimlichen Gesumms führen ; kahle Höfe , auf welchen sich Polizeibeamte umhertreiben und auf welchen niemals ein Kind im Sande gespielt , Festungen gebaut und Pasteten gebacken hat ! In den Gängen Beamte mit bunten Rockkragen und Aktenbündeln ; hinter den schwarzen Türen Beamte , die mit knarrender Stahlfeder und giftiggrüner Alizarindinte die Sündenregister der Menschheit ausfüllen und , wenn sie sich harmlos beschäftigen , Pässe und Wanderbücher revidieren und unglückliche Handwerksburschen in ihrem Selbstgefühl durch überwältigende Grobheit kränken ! Exekutoren mit Verhaftsbefehlen für säumige Schuldner ; grimmige Gläubiger mit Pfändungsgesuchen – einmal in einem der langen Gänge Kettengeklirr und ein übelgekleidetes , übelduftendes Subjekt , welches zwischen zwei Bewaffneten einherschwankt – über allem ein unbeschreibliches beängstigendes Etwas , ein Hauch aus Niflheim , dem Reich der Toten , der Verlorenen : das ist das Zentralpolizeihaus ! Im Büro Nummer dreizehn unterhielten sich drei Personen damit , die Lebensgeschichte eines Vierten anzuhören . Die Zuhörer waren der Polizeirat Tröster , der Polizeischreiber Fiebiger und der Hauptmann a. D. Konrad von Faber , ein stattlicher Mann mit gebräuntem Gesicht , welcher es sich auf der Armensünderbank an der Tür bequem machte und die Füße weit in das Gemach hineinstreckte . Der arme Sünder selbst aber stand in der Mitte des Zimmers und erzählte . Sein Bericht füllte grade die dämmerige Stunde aus , welche dem Lichtanzünden voraufgeht . Inkulpat Robert Wolf war angeschuldigt worden , in der Wohnung einer Dame großen Unfug angerichtet zu haben durch Zertrümmerung von Gerätschaften und Ausstoßung wilder Reden und Drohungen . Beim ersten Verhör hatte er alle Auskunft über sich verweigert ; man hatte ihn eingesperrt und jetzt nach einigen Tagen enger Haft wieder hervorgeholt in der Hoffnung , den jungen Missetäter und Hausfriedensbrecher in einer zerknirschteren , weicheren Stimmung zu finden . Man täuschte sich darin auch nicht . Dunkelheit und Langeweile hatten in der gewünschten Weise auf das Gemüt des Angeschuldigten eingewirkt ; ohne alles Zögern gab er alle mögliche Auskunft über seine Verhältnisse . Der Protokollführer Fiebiger hinter seinem hohen Pult hatte bereits niedergeschrieben , daß Rubrikat Robert Wilhelm Wolf heiße , daß er achtzehn Jahre alt und auf der Forsthütte Eulenbruch , Dorfbezirk Poppenhagen , im Winzelwalde , Provinz** , geboren sei . Wir lassen das weitere Verhör folgen . » Also der Sohn des weiland Forstaufsehers Wolf auf dem Eulenbruch ! « sagte der Polizeirat , recht wohlwollend auf seine Dose klopfend . » Ja ! « antwortete der junge Mensch mit mürrischer , halb gleichgültiger Stimme und ganz kurz . » Auf dem Eulenbruch , im Winzelwalde – soso – hm , hm – ei , ei – schöne Gegend – hm – das einzige Kind ? « Inquisit verstand die Frage nicht im mindesten ; starr und grollend blickte er den Rat an . » Ich frage , ob Ihr noch Geschwister habt , Wolf ? « » Nein . Fritz ist ausgerissen , vielleicht nach Amerika . 's war unser Ältester . Die andern vier sind tot . « » Hm , hm – sechs . Vier tot . Schon lange ? « » Ja . Wir waren unser sechse ; drei Jungen und drei Mädchen : Fritz und ich , Franz , Riekchen , Lieschen und Linchen . Wir schliefen alle in einer großen Bettstatt voll Eichenlaub , trocken und warm . Die Mädchen hatten auch noch eine Bettdecke , wir Jungen hatten aber nichts weiter als des Vaters Soldatenmantel . Die Mutter war tot , der Vater meistens im Wald , um auf die Wilddiebe zu passen . Deren hatte er einen erschossen , und so hatte er ein bös Leben mit den andern ; sie schossen oft genug wieder auf ihn , haben ihn aber nicht getroffen . Fritz war der Älteste von uns ; wir mußten ganz allein für uns sorgen ; wir hatten die Hunde , einen zahmen Fuchs , einen Kolkraben und noch manche andere Tiere . Linchen war die Kleinste und die Klügste von uns ; die war eigentlich unsere Mutter , obgleich sie noch ganz winzig war . Wir waren wie die jungen Füchse , hatten alle auch rote Haare , die kamen von meiner Mutter ; meine sind jetzt dunkler geworden . Linchen hatt ich am liebsten von meinen Brüdern und Schwestern ; es hatte Augen so klar und tief wie das grundlose Wasser , das unter dem Eulenkopf steht . Einmal , zur Jagdzeit , saß es ganz still und hielt den ganzen Tag über den Kopf mit den Händen , und als es in der Nacht unter seiner alten Decke an meiner Seite lag , da fühlte ich , daß seine Hände ganz heiß waren , und doch zitterte es am ganzen Körper vor Frost und wühlte sich immer tiefer in das Laub . Am andern Tage sprach es ganz tolle Worte und schrie , der Berggeist wolle es holen und in die Erde hinabziehen . Dann packte die Krankheit den Fritz und so eins nach dem andern , zuletzt mich . Die Hunde , die sonst wohl , der Wärme wegen , zu uns in unsere Hürde krochen , wollten nun nicht mehr mit uns darin bleiben , sie sprangen heraus und krochen im Winkel zusammen . Anfangs hörte ich noch , wie der Vater ärgerlich über uns war , und ich fühlte , wie er mehr Laub auf uns warf und alle seine Röcke und den Mantel unserer toten Mutter und alle unsere Kleider . Er hatte niemand , der ihm half in dieser großen Not ; denn er war nicht sehr beliebt bei den Menschen in der Gegend , weil er so wild und hart gegen die Wilddiebe und die Holzfrevler war . Sie nannten uns nur die roten Wölfe und pfiffen , wenn wir uns zeigten im Dorfe . Manchmal kam wohl eine alte Frau , welche Reisig gelesen hatte , und gab Rat ; aber das geschah nur nach Bequemlichkeit und selten . So waren wir jetzt im Eulenbruch so verlassen wie die jungen Füchse , denen die Mutter weggeschossen ist . Wie das Linchen und die andern kam ich in einen Zustand , in welchem ich nichts mehr von mir wußte ; aber einmal wachte ich auf und sah im Traum viele Herren mit Gewehren und Jagdtaschen vor mir . Sie starrten uns ganz merkwürdig in unserm Bette an , und einer hielt ein Paar Gläser vor die Augen . Sie flüsterten alle und schüttelten die Köpfe , und unser Vater stand auch dabei , hielt die Mütze in den Händen und drehte sie hin und her . Die Herren sprachen dann alle auf ihn ein ; er sagte auch etwas , zuckte die Achseln und sah sehr wild und verzweifelt aus . Einige der Herren hatte ich wohl schon gesehen . Sie kamen öfters zur Jagd nach dem Eulenbruch . Bald wurde es aber wieder so dunkel vor meinen Augen wie zuvor , und als ich endlich von neuem aufwachte , da lag ich zwar noch in der Bettstatt , hatte auch ein ordentlich Kopfkissen , und eine alte Frau saß da mit der Brille auf der Nase und strickte und gab mir einen Löffel bitterer Medizin ; aber meine Geschwister bis auf den Fritz waren nicht mehr da . Alle , alle – das Riekchen , das Lieschen , das Linchen und Franz – alle waren fort , waren tot . Wir hatten alle mitsammen die Röteln gehabt , und bis auf Fritz und mich waren die andern daran gestorben und verkommen . Zu Poppenhagen waren sie begraben , während ich bewußtlos lag – eine ganze Reihe von kleinen Gräbern . Es war zu spät gewesen , als die Herren von der Jagd uns in unserm Laub , im Fieber sahen , dem Vater Geld gaben und den Pastor Tanne aus Poppenhagen zu ihm schickten , daß er ein Einsehen tue und sich unserer mit dem Doktor Rust und der Frau Wurm aus dem Feldhüterhaus annähme . Es war ein guter Mann , der Pastor Tanne ; er hat mich , nachdem mein Bruder und ich wieder gesund geworden waren , mit sich genommen nach Poppenhagen und hat mich , da er selbst keine Kinder hatte , erzogen wie seinen eigenen Sohn . Er wollte auch meinen Bruder mit sich nehmen , aber der konnte von dem wilden Leben im Forste nicht lassen . Doch in die Schule mußte er jetzt auch kommen . Jetzt ist er längst in die weite Welt gegangen ; ich habe nie wieder von ihm gehört . « Mit vielen Hm's und Ha's hatte der Polizeirat dieser Erzählung gehorcht . Mit seltsamem Ausdruck leuchteten die Augen des alten Schreibers über die Haufen von Akten und Registern auf seinem Pulte . Der Hauptmann Faber strich den vollen Bart und murmelte : » 's ist wenigstens der Bericht eines klaren Kopfes . Armer Teufel ! « Er nickte dem Inkulpaten ermunternd zu , und der Schreiber räusperte sich ebenfalls zur Ermunterung Robert Wolfs . Es trat in dem Büro dreizehn eine Stille von einigen Augenblicken ein , in welchen man deutlich das Picken der großen Uhr draußen in der Halle vernahm . Schon manche unbekannte Tragödie und Komödie war über den schmutziggrauen Fußboden des Büros Nummer dreizehn weggeschritten ; eine rührendere Elegie hatte aber die langnäsige Büste eines verdienstvollen früheren Polizeipräsidenten , welche zwischen den beiden Fenstern von einer Konsole herabblickte , selten vernommen . Der Mann schien sich jedoch durchaus nichts daraus zu machen . Er behielt jedenfalls die Nase oben . Dagegen hatte eine andere Büste auf einer andern Konsole einen recht wehmütigen Ausdruck : sei es , daß der Künstler ihr denselben gab , sei es , daß die dämmerige Beleuchtung schuld daran war . Seine Majestät der König schien es auch in Gips in Nummer dreizehn im Zentralpolizeihause sehr ungemütlich zu finden . Seiner Stellung gemäß unterbrach der Rat Tröster zuerst wieder das Schweigen und fragte , das glattrasierte Kinn streichelnd : Also der Pastor Tanne zu Poppenhagen hat Euch erzogen ? Was habt Ihr gelernt , Wolf ? Was seid Ihr eigentlich ? « Robert Wolf zuckte die Achseln und sagte : » Als mein Pflegevater starb , mußte ich zurück in den Wald zu meinem eigentlichen Vater ; denn damals war mein Bruder schon in die weite Welt gegangen , und mein Vater war immer krüppelhafter geworden ; er hatte die Gicht in den Knochen vom Liegen im Walde und hatte meine Hülfe nötig . Ich kann schießen , die Geige spielen , ein wenig lateinische Grammatik . Ich gewöhnte mich recht gut wieder an den Wald ; es kann einem schon drin gefallen , Winter und Sommer , und es gefiel mir die letzten zwei Jahre durch ; wäre auch gern Forstwart geworden , wenn – – wenn nicht – « » Nun , heraus damit ! Wenn nicht ? « Robert Wolf wandte sich ab , biß die Zähne aufeinander und antwortete nicht . » Ich frage , weshalb Ihr nicht in Eurer Stellung geblieben seid . Ich erwarte Antwort , junger Mann ! « sagte der Polizeirat , soviel amtsmäßige Rauhigkeit als möglich in Ton und Gestus legend . Der Hauptmann auf der Armensünderbank stand auf , klopfte den Knaben aus dem Walde auf die Schulter und sagte : » Sperren Sie sich nicht , Robert ; geben Sie dem Herrn offen Nachricht von Ihrem Leben . Es sind Freunde hier . « Der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen nickte über sein Pult weg höchst energisch . Es war gleich einem elektrischen Schlag durch diese Schreiberseele gegangen , als vor einigen Tagen die Namen Poppenhagen , Eulenbruch , Winzelwald zum erstenmal auf dem Zentralpolizeihause genannt wurden , in dem Vorgehen gegen Robert Wolf wegen Hausfriedensbruch . Hätte der Rat Tröster sich plötzlich auf den Kopf gestellt und seinen Untergebenen aufgefordert , dasselbe zu tun , so würde das nicht solchen überwältigenden Eindruck auf das Gemüt des letztern gemacht haben . Wäre auf dem langen unheimlichen Korridor plötzlich der Klang eines Waldhorns erschollen , so hätte dem alten Dintenmenschen das Herz sich nicht mehr darob geregt . Mit diesen Namen drang Sonnenschein . Waldluft , Lust der Jugend und des Lebens in das Büro Nummer dreizehn . Durch die Papiere rauschte es wie durch die Zweige der Buchen und Tannen , der Aktenstaub verwandelte sich in das Gestäube des Waldbachs , wie er nahe dem Dorf Poppenhagen über die moosigen Steine stürzt und eine Mühle treibt , welche der kleine Fritz Fiebiger gebaut hat . Besagte Mühle wurde aber noch im achtzehnten Jahrhundert errichtet ; 's ist lange her , und der Polizeischreiber muß sich zusammenraffen , um keine Böcke zu schießen in dem Protokoll , welches ihm über den bleichen wildblickenden Jungen . Robert Wolf aus dem Winzelwalde , in die Feder diktiert wird . Die Feder kritzelt über das Papier , aber vor den Augen des Schreibers flimmert's ; seine Schriftzüge sind bei weitem nicht so fest und sicher wie sonst ; – sein Vorgesetzter fragt ihn , was ihm sei , ob er Kopfweh habe . Friedrich Fiebiger schüttelt nur den grauen Kopf und murmelt etwas Unverständliches . Robert Wolf wendete nun die zornigen , tränenvollen Augen dem Polizeirat zu ; aber noch immer vermochte er nicht , ein Wort hervorzubringen . Man sah , wie es in ihm stürmte und wie er sich zwingen mußte , daß kein leidenschaftlicher Ausbruch erfolge . Noch einen forschenden Blick warf der Rat auf den Inkulpaten ; dann wandte er sich gegen den Schreiber . » Fiebiger , nehmen Sie doch einmal das Register D zur Hand und geben Sie uns die Notizen über den Namen Dornbluth – Eva Dornbluth , Fräulein Eva Dornbluth . Wir müssen den Knaben überzeugen , daß die Sicherheitsbehörde offene Augen und scharfe Ohren hat . Lesen Sie , Fiebiger ! « Der Schreiber schlug einen umfangreichen Folianten auf , blätterte einige Augenblicke darin und las dann mit einer Stimme , die von Natur recht scharf und schneidend war , in diesem Moment aber etwas gemildert klang : » Eva Sophie Dornbluth . Tochter des weiland Kantors und Opfermanns Otto Friedrich Karl Dornbluth zu Poppenhagen . Alter zwanzig Jahre . Ankunft in hiesiger Stadt am vierzehnten Mai 184– . Rubrikatin hielt sich anfangs im Hause der Frau Baronin Viktorine von Poppen , Kronenstraße Nummer fünfzig , auf , trat dann durch Verwendung des Barons Leon von Poppen am hiesigen Königlichen Theater ein und wohnt jetzt Lilienstraße Nummer zwölf . Bemerkungen – « Der Schreiber las mit leiser Stimme noch einige Noten , welche die hohe Polizei über das Dasein Eva Dornbluths gemacht hatte , und beobachtete dabei über den Rand des Folianten scharf den Jüngling aus dem Winzelwalde , und nicht ohne Grund ; denn ein merkwürdiges Schauspiel bot Robert Wolf dem Menschenkenner dar während dieser Vorlesung . Mit unverkennbarem Entsetzen starrte er den Schreiber und sein giftgefülltes Buch an , krampfhaft zitterten seine Lippen , er ballte die Fäuste , ward totenbleich und bedeckte zuletzt das Gesicht mit beiden Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus . Der Hauptmann , welcher sich wieder auf dem Sünderbänkchen niedergelassen hatte , trommelte mit dem Fuß einen Marsch ; der Polizeirat gab seinem Schreiber einen Wink , daß er seine Vorlesung einstelle ; dann wandte er sich zu dem Inquisiten : » Seht Ihr , lieber junger Freund , die Polizei weiß alles ! Soll ich dir noch mehr vortragen lassen über die Jungfer Dornbluth ; oder willst du uns jetzt mitteilen , was dich in die Wohnung des Mädchens führte ? Du wirst den Ruf der Dame durch eine klare Darlegung der Tatsachen nicht verschlechtern , glaube mir das , Robert Wolf . « Die hohe Polizei war fest von der Wahrheit ihrer Notizen überzeugt , und doch stand mehr als eine Lüge in dem Folianten D über Eva Dornbluth . Der arme gepeinigte Knabe aber schluchzte noch eine Zeitlang fort und rief dann wild und in Verzweiflung : » Ich habe sie liebgehabt – mehr als mein Leben hab ich sie liebgehabt , und ich muß sterben darum ! « » Na ! na ! Nicht so rasch ! « brummte der Polizeirat , aber der Hauptmann sowie der Schreiber fanden , daß der junge Mensch in diesem Augenblick von überraschender Schönheit in seinem dummen , kindischen Schmerz und Zorn war . Mit immer höher gesteigerter Teilnahme beobachtete vorzüglich Friedrich Fiebiger den armen Jungen von seinem hohen Dreibein aus . Der Schreiber hatte die magern , in schäbiges Schwarz gekleideten Beine so hoch als möglich zur Brust hinaufgezogen , die schäbig schwarzen Frackzipfel hingen so tief als möglich zur Erde hernieder ; von überraschender Schönheit war er sicher nicht , wohl aber glich er in überraschender Weise einem alten erfahrenen Raben , der sich auf einem Dachfirst niedergelassen hat , einem Raben mit edlen Gefühlen , einem Raben mit Wehmut in den humoristisch zwinkernden Augen , einem melancholisch-satirischen Mitgliede des höchst achtbaren , vortrefflichen und deshalb auch nicht wenig verleumdeten Geschlechts der » krähenartigen Vögel « . Die aufgeregten Affekte Robert Wolfs machten sich jetzt in hastig übereinanderstürzenden Worten Luft . » Als ich bei dem Pastor Tanne gewesen bin – nachdem mein Bruder in die weite Welt gegangen war – , sind Eva und ich immer zusammen gewesen . Meinem Bruder hatte sie es auch angetan ; aber mir gewißlich noch mehr . O Gott , wer hätte gedacht , daß alles so kommen würde ! Sie war so klug , viel klüger als ich . Viel leichter als ich konnte sie das Latein begreifen – sie hat es mit mir gelernt ; sie wollte alles lernen , alles wissen . Alle Abende im Sommer saßen wir unter der Esche an der Hecke im Kantorgarten ; und im Gefängnis , in welches Sie mich haben sperren lassen , mußte ich immerdar an den Sonnenschein denken , der war , als sie in ihrem weißen Kleide zur Einsegnung ging . O wie hat die Schlechte mit mir gespielt – die Sonne ist auf ewig untergegangen . Ich will nach Frankreich , nach Algier zur Fremdenlegion . Nach Amerika will ich , wie mein Bruder . O der hätte nicht gelitten , daß sie so mit ihm spielte . Der hat wohl recht gehabt , wenn er sagte , kein Mensch tauge was , und es schade gar nichts , wenn man ihnen soviel Böses schüfe , als man Macht hätte . « » Na , na , wieder viel zu rasch ! « brummte der Polizeirat . » Junger Mann , hier jedenfalls ist nicht der Ort , solche unmoralischen Grundsätze auszusprechen . « Der Hauptmann Faber lächelte ein wenig ; der Schreiber schnitt eine Feder und sich in den Finger . Robert Wolf achtete nicht im geringsten auf die Unterbrechung des Rats , sondern fuhr mit doppelter Hast fort : » Aber mein Bruder Fritz nahm doch Eva Dornbluth aus und rechnete sie nicht unter die Schlechten ; oh , er war ein wilder Narr , hätte noch ein paar Jahr daheim bleiben sollen , bis die vornehme Dame auf das Gut kam . Keinem Menschen soll man Gnade geben , keinem . Der Pastor Tanne wird sich auch wohl meiner nur angenommen haben , weil er Langeweile hatte unter den Bauern . Er starb , als ich sechzehn Jahr alt war , und ich habe an seinem Sarge geweint , wie ich an dem meines Vaters nicht weinen konnte . Er hinterließ nichts als seine Bücher , ein paar Tische und Stühle und eine Kuh . Das nahm die Haushälterin ; ich mußte in den Wald zurück . Da nahm ich Abschied von Eva unter der Esche . Sie sagte , wir wollten immer wie Bruder und Schwester sein . Sie sagte , ich sollte keinen dummen Jungen aus mir machen , ihr Los sei in alle Ewigkeit bestimmt . Was mag ich ihr in der Stunde gesagt haben ? Ich weiß es nicht . Oh , sie wird höhnisch genug im Innersten darüber gelacht haben . Ich möchte umkommen auf der Stelle ; aber sie müßte dann auch tot hier vor meinen Füßen liegen . Meinem Vater hat 's der Branntwein angetan , der hat ihm das Leben genommen . Als es zum letzten mit ihm ging und er in derselben Bettstatt lag , in welcher meine Brüder und Schwestern gestorben sind , kam ein Junge , welcher Beeren las im Wald , und brachte mir Nachricht , wenn ich Eva noch einmal sehen wolle , so möge ich eilen ; sie gehe fort mit der Frau von Poppen , welcher der Poppenhof bei Poppenhagen gehört . Da schoß es mir ganz eiskalt durch die Seele und dann wieder wie Feuer ; aber wie konnte ich fort von meinem Vater ? Der lag und zitterte im Frost und schrie , die Wilddiebe hätten ihn zu Boden . Mit allerlei Gespenstern rang er durch Tag und Nacht und schrie nach meinen Brüdern und Schwestern , aber vorzüglich nach dem Fritz , der sein Herzensliebling gewesen war . Fast ein Jahr blieb er in diesem Zustand ; zuletzt schlug er sich immer herum mit großen Scharen von kleinen Tieren , Mäusen oder Spinnen oder Fliegen ; das ließ ihm gar keine Ruhe . « » Was man so Delirium tremens nennt ! « murmelte der Hauptmann . » Ein ganzes , ganzes Jahr dauerte das « , fuhr Robert fort ; » ein ganzes Jahr war Eva Dornbluth schon weg , und ich hörte nichts von ihr in der Verlassenheit auf dem Eulenbruch ; sie war auch , kurz vor ihrer Abreise mit der gnädigen Frau , eine Waise geworden und mochte wohl ein hungerig Leben gehabt haben ; das konnte sie nicht ertragen . So wartete sie nicht auf mich . Nun starb mein Vater , und ich brachte ihn in seinem Sarge nach Poppenhagen . Wie im Traum war ich ; was mit mir werden sollte , wußte ich nicht ; von Eva hörte ich nichts im Dorfe , sie hatte keine Nachricht von sich gegeben . Verstört lief ich umher oder lag im Walde , und endlich trieb 's mich , daß ich meine Kleider in meines Vaters Jagdranzen packte , meines Vaters Büchse über die Schulter hing , die Hunde verkaufte und verschenkte und fortging vom Eulenbruch , aus dem Winzelwalde . Zwölf Taler , welche mir der Pastor Tanne gegeben , hatte ich ebenfalls noch , damit kam ich hierher , doch mußte ich unterwegs noch die Büchse verkaufen . Es hat mich aber der Eva nachgetrieben ; aber wie es mir unterwegs ergangen ist , davon weiß ich nichts zu sagen . Mein Vater in seinen letzten Tagen war nicht verwirrter in Kopf , Händen und Füßen , als wie ich es jetzt bin . Die Leute haben mir geholfen und mich zurechtgewiesen , und so – « » Suchtet Ihr hier Eure Jugendfreundin auf « , fuhr der Polizeirat Tröster dazwischen , » und fandet die Verhältnisse ganz anders , als Ihr Euch vorgestellt hattet . Jaja , es ist so . Statt der gnädigen Mama hat der Herr Sohn die Sorge und Vormundschaft über das junge , hübsche Ding aus dem Walddorfe übernommen . So fandet Ihr denn , Robert Wolf , die Wohnung des Mädchens aus , sagtet dem ungetreuen , leichtsinnigen Schatze die Wahrheit und gebärdetet Euch so sehr wie möglich gleich einem Verrückten . Dann kam der junge Herr Leon von Poppen dazu , und wie ein junger Wolf aus dem Walde fielet Ihr über ihn her , zerschluget ihm die Nase und hättet ihn erdrosselt , wenn nicht die Sicherheitsbehörde , die den Lärm von der Gasse aus vernahm , sich dreingelegt hätte . Ei , ei , ei , jugendlicher Romantiker ! « » Sie haben recht « , schluchzte Robert Wolf , » es war töricht und dumm von mir , daß ich mich an den Schwächling , an das zerbrechliche Bübchen hielt ; mit ihr selbst hätte ich die Sache ausmachen sollen . Da lag das hübsche Messer , mit welchem sie das Buch aufschnitt , in welchem sie las , als ich vor sie trat ; das Messer hätte ich ihr ins Herz stoßen sollen und mir dann auch , so wär uns beiden geholfen gewesen ; – das wär am besten gewesen für uns alle beide . « Der Schreiber schnellte mit einem merkwürdig elastischen Ruck den Kopf in die Höhe ; Konrad von Faber ließ von seiner Armensünderbank her ein ausdrucksvolles Pfeifen vernehmen ; der Polizeirat hob die Achseln , schüttelte den Kopf , blickte etwas verlegen in die blitzenden Augen des Knaben und sagte : » Hm , hm , es war doch besser für Euch , Wolf , daß Ihr Euch mehr an die Ohren und die Nase des jungen Barons hieltet . Ich muß Euch übrigens bemerken , daß solche unverständige Reden an dieser Stelle – was ist das ? Herein ! « Ein Klopfen hatte sich an der Tür vernehmen lassen , und auf den Ruf des Beamten trat ein Polizeidiener ein und überreichte seinem Vorgesetzten einen Brief . Nachdem der Polizeirat diesem Schreiben ein kurzes , aber nachdenkliches Studium gewidmet hatte , sagte er : » Tretet für jetzt ab , Robert Wolf ! Greiffenberger , ich werde klingeln , wenn dieser junge Mensch wieder vorgeführt werden soll . « Greiffenberger winkte dem Inquisiten mit dem waschlederbekleideten Daumen auf eine Art , die nur bei der von Gott eingesetzten hohen Polizei sich ausbildet . Geduldig und gebrochen folgte der arme Teufel aus dem Walde diesem unnachahmlichen , charaktervollen Winke . Zweites Kapitel Der Polizeischreiber Fiebiger setzt seinen Chef in Erstaunen ; Julius Schminkert wird gebeten , sich nützlich zu machen Als sich die Tür hinter Robert Wolf geschlossen hatte , erhob sich der Hauptmann von seinem Sitze , der Schreiber spielte nachdenklich mit seiner Feder , der Rat Tröster nahm eine Prise und sagte : » Sie sind doch ein wunderlicher Kauz , Hauptmann . Was für ein Vergnügen finden Sie , der Sie zweimal die Welt umsegelt haben , daran , auf jener Bank zu sitzen und das Elend , mit welchem wir es zu tun haben , durchzukosten ? Unsereiner ist froh , wenn er einmal den Kopf aus diesem Malebolge , diesem Teufelssumpf erheben darf , Ihnen scheint es das größte Vergnügen zu machen , darin unterzutauchen und umherzuplätschern . « » Ein Vergnügen ist es nicht , sondern ein Studium , welches den Kopf und das Herz frei macht . Jeder Mensch soll von Rechts wegen sein Steckenpferd haben . Laßt den einen Schnupftabaksdosen sammeln , den andern verrostete Münzen , Wurzelwörter , Flaschenstöpsel oder Kerbtiere ; ich treibe Naturgeschichte der Menschheit und jage mein Steckenpferd um die Erde und durch – diese Polizeistube . Die weite Welt und die Polizeistube bieten ein gleich ergiebiges Feld ; der Kampf um das Dasein bleibt überall derselbe , im brasilianischen Urwalde wie in der Wüste Gobi ; im ewigen Eis von Boothia Felix wie hier unter der gipsernen Nase Ihres weiland Vorgesetzten , Tröster . « » Dann , bitte , sagen Sie mir mal , was denken Sie über den gegenwärtig vorliegenden Fall , Hauptmann ? « fragte der Rat den weitgereisten Mann . » Hm , eine gute lange Missouribüchse und ein gutes Pferd , eine hübsche kleine Prärie , fünfhundert Meilen in die Länge und die Breite , würden den Jungen wieder zurechtbringen . Es ist Kern in dem Gesellen ; soll mich wundern , wie lange Sie ihn werden ins Loch stecken müssen , um einen Halunken daraus zu machen . « Der Rat nahm eine sehr lange Prise ; dann griff er nach dem überbrachten Schreiben : » Hier ist ein Brief , welcher den Inkulpaten angeht . Der Baron Poppen schreibt , man möge den Robert Wolf laufen lassen ; im Interesse aller Teile sei es , wenn man ihn so bald als tunlich aus der Stadt schaffe ; seinen Denkzettel habe er ja schon durch den achttägigen Arrest erhalten . Der junge Herr schließt eine Banknote von zwanzig Talern ein . « » Und das Frauenzimmer ist vollständig einverstanden mit diesen Vorschlägen ? Wohl gar erste Urheberin derselben ? « » Das glaube ich sicher « , meinte der Rat . » Man kennt diese Damen . Übrigens soll das Mädchen nicht ohne Talente sein ; man spricht viel in der Gesellschaft von ihr . Trotz unserer Register sind wir hier über die Person doch noch nicht ganz im klaren . « Die Polizei sprach da ein wahres Wort ; sie hatte durchaus keine Ahnung , wer und was Eva Dornbluth war . » Alles in allem genommen « , fuhr der Rat fort , » wird es wirklich das beste sein , was wir tun können , wenn wir den armen Teufel , diesen Robert Wolf , cito citissime in seinen Wald zurückschicken . Hier am Orte würde er jedenfalls untergehen , und ich möchte wetten , daß wir ihn an dieser Stelle noch öfters und unter gravierenderen Umständen erscheinen sähen . Ich meine , ich halte dem Jungen eine gute Rede , und wir schicken ihn fort , heute abend noch oder morgen in der Frühe , mit dem ersten Bahnzug , der nach seiner Provinz abgelassen wird . « » Und er nahm Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk ! « brummte der Hauptmann ; der Schreiber aber folgte seinem nachdenklich auf und ab gehenden Vorgesetzten mit den klugen scharfen Augen aus einem Winkel des Gemaches in den andern und bewegte dabei den Kopf auf eine Art , welche dartat , daß auch er den Kasus reiflich überlege . Aus seinen Überlegungen fuhr er schnell empor , als der Polizeirat vor ihm stehenblieb und fragte : » Was ist Ihre Meinung , Fiebiger ? « Der Angeredete zog seine Feder hinter dem Ohr hervor , legte sie neben seinem Protokoll nieder und sagte : » Herr Rat , ich habe nun schon manch liebes , langes Jahr unter Ihren Augen diese Register « – er legte die Hand auf den vor ihm liegenden Folioband – » geführt und habe auch con amore , aber handwerksmäßig getrieben , was der Herr Hauptmann als Dilettant treibt . Ich glaube , die Zukunft des Rubrikaten Robert Wolf ist in diesem Augenblick auf eine so scharfe Kante gestellt , daß ein falscher Schub nach beiden Seiten hin ihn auf gleiche Weise in den Abgrund stürzen wird . Greift nicht eine gute Hand fest und sicher in sein Geschick , so wird er ebensowohl in seinem Walde wie hier in der Stadt untergehen . Hier in der großen Stadt mag er zum Verbrecher , mag er zuchthausreif werden , dort im Walde vielleicht auch ; jedenfalls , unantastbar sicher , aber nach und nach zum brutalen , stumpfsinnigen Trunkenbold . Ich wollte mich anheischig machen , seinen Lebenslauf in der Wildnis Tag für Tag , Jahr für Jahr an den Fingern herzuzählen bis zum Verdikt des Landphysikus bei der Sektion : Ausgezeichnet schöne , weiße Säuferleber ! « Unwillkürlich mußten die beiden andern Herren lachen , und der Polizeirat meinte : » Das ist ein böses Prognostikon , und leider ist viel Wahres daran . Was sollen wir denn aber mit dem Burschen beginnen ? Was bleibt uns übrig , als ihn seinem Schicksal zu überlassen und uns – in der Tat – die Hände zu waschen wie der Landpfleger Pontius Pilatus ? « Die letzte Frage begleitete ein vorwurfsvoller Blick auf den Hauptmann , und dieser hielt es für seine Pflicht , den Rat zu beruhigen : » Trösten Sie sich , Tröster ; auch vor dem Proprätor von Syrien hat es Leute gegeben , welche unter bedenklichen Umständen nach dem Waschnapf und dem Handtuch riefen . « » Ich hätte einen Vorschlag zu machen « , sprach der Schreiber , » möchte aber den Herrn Rat gehorsamst bitten , daß er vorher dem Knaben das Geld des Herrn von Poppen anböte . « » Kommen Sie dabei nicht zu nahe in den Bereich der Faust des jungen Wilden , Tröster ! « rief der Hauptmann von Faber , während der Chef verwundert nach seinem Untergebenen hinüberblickte . Meine Bitte hängt mit meinem Vorschlag zusammen « , sagte Fiebiger ; der Polizeirat klingelte und befahl dem eintretenden Greiffenberger , Inquisiten wieder vorzuführen . Bevor wir jedoch den zweiten Akt des Verhörs erzählen , haben wir von einer Bekanntschaft zu berichten , welche Robert Wolf zwischen dem ersten und dem zweiten Akt im Vorzimmer des Büros Nummer dreizehn gemacht hatte . Kaum seiner mächtig , halb unfähig zu hören und zu sehen , hatte Robert dem Winke des grimmigen lakonischen Greiffenberger Folge geleistet . Er wäre fast zu Boden getaumelt , hätte ihn nicht die Hand im grauweißen waschledernen Handschuh , die fast so gut zu deuten verstand wie jene an der Wand im Saal des Königs Belsazar , auf eine niedrige Bank gedrückt , auf welcher er sitzen blieb , das Gesicht mit den Händen verdeckend , zu gleicher Zeit schluchzend und mit den Zähnen knirschend . Ein junger Uhu , welchem man das erste Nest zerstörte und den man zugleich aus seiner dunkeln Verborgenheit in die helle scharfe Sonne reißt , würde ungefähr ähnlich fühlen wie Robert Wolf in diesen Augenblicken . Das unzurechnungsfähige Gebaren des unglücklichen Knaben erregte denn auch sogleich aufs äußerste die Aufmerksamkeit eines Individuums , welches bis jetzt , mit dem Rücken dem Zimmer zugewendet , an einer Fensterscheibe getrommelt hatte und welches in Wesen und Erscheinung einen wunderlichen Gegensatz zu dem gepeinigten Robert bildete . Besagtes Individuum trug zu einer Zeit , wo der Herbst schon sehr bedenklich in den Winter überging , einen hellen Sommeranzug , der seinerzeit höchst elegant und in den Hundstagen gewiß auch sehr angenehm gewesen war , welcher aber jetzt durchaus nicht mehr irgendeinen Anspruch auf Neuheit , Eleganz und Zweckmäßigkeit machen konnte und den jedes wärmer bekleidete Menschenkind nur mit Schauder und Frösteln ins Auge fassen konnte . Hellblau war seine Farbe ! Gentile Schäbigkeit umhauchte die ganze Erscheinung , und etwas Unwägbares , Unfaßbares , Unfühlbares , welches seinen Sitz ebensogut in dem lockern Halstuch wie in den hellblauen Zeugstiefelchen haben konnte , verkündete unwiderleglich , daß der Gegenstand unserer Schilderung mit mehr Phantasie als Verstand begabt sei und daß er nicht zu jenen soliden Klassen und Stützpfeilern der Gesellschaft gehöre , auf welche das Auge des Nationalökonomen mit Wohlgefallen blickt . Julius Schminkert war ein Künstler , ein Künstler in des Wortes verwegenster Bedeutung , und nur deshalb kein Genie , weil er die eine Grundbedingung der Genialität , Selbstvertrauen , in zu hohem Grade , und die andere , Konzentrationsfähigkeit , in zu geringem Maße oder , besser gesagt , gar nicht besaß . Er konnte alles – Komödie spielen , Verse machen , einen Pudel scheren , einen Menschen frisieren , mehrere Instrumente spielen sowie jedes beliebige Kartenspiel ; auf dem Billard war er Meister , sein Vertrauen auf die Langmut Gottes war unerschütterlich . Übrigens log er gern und mit Geschick ; wir führen den leichtsinnigen Tropf vor , wie wir ihn auf dem Wege unserer Feder gefunden haben . Augenblicklich befand er sich in den Hallen des Zentralpolizeihauses , um Verwahrung einzulegen gegen eine Auspfändung , bei welcher man ihm außer allem andern , was sein war , aus Versehen auch seine » Rollen « mit ausgeführt hatte . Ein juristischer Freund hatte ihn darauf aufmerksam gemacht , daß dieses dem Recht des beneficii competentiae , wonach der Gläubiger dem insolventen Schuldner das Handwerksgerät zur Erwerbung seines Lebensunterhalts lassen müsse , schnurstracks zuwiderlaufe . » 's ist ja der reine Mordversuch gegen dich , Julius ! « hatte der juristische Freund gesagt . » Reine , krasse Meuchelei ist es ! « Und Julius hielt diesen Fall für eine höchst vortreffliche Gelegenheit , den Strom der Gerechtigkeit an seiner Quelle aufzusuchen , das Talent gegen die Materie zu verteidigen und in seiner beleidigten Würde als Künstler und Mensch gegen die zwingende Gewalt der gemeinen Wirklichkeit und gegen den tailleur de Paris Herrn Alphonse Stibbe , den Anfertiger des hellblauen Sommerkostüms – o holdeste Angelika Stibbe ! – zu deklamieren , Protest zu erheben und – sich dabei gratis am Feuerherde der hohen Polizei zu erwärmen . Den Stoßseufzer : O Angelika ! haben wir nicht ohne Grund eingeschaltet . » Ich würde mich , um zu meinem Recht zu gelangen , inniger an Fräulein Angelika Stibbe als an irgendein Institut menschlicher Gerechtigkeitspflege halten « , hatte der juristische Freund seinen Ratschlägen und Anreizungen hinzugefügt , ohne jedoch dadurch den beleidigten Rechtssinn Schminkerts in ein anderes Bett leiten zu können ; denn Julius hatte sich nur in seine wirkungsvollste Attitüde geworfen , und die linke Hand aufs Herz legend , die rechte zum Himmel emporstreckend , hatte er gerufen : Soll ich die Schönheit dergestalt entwürd'gen , Daß sie das Gold , das in den Staub mir fiel , Im Hohn des Pöbels seufzend sucht zusammen Und kniend das Verlorene mir bietet ? Solcher idealen Anschauung zartester Verhältnisse nachgebend , befand sich Julius Schminkert in diesem Augenblick im Vorzimmer des Büros Nummer dreizehn . Manch einen verschlungenen Namenszug , manch ein vom Pfeil der Liebe durchbohrtes , manch flammenschlagendes Herz hatte er an die beschweißte Fensterscheibe gezeichnet ; jetzt unterbrach er sein Trommeln an ihr , um mit untergeschlagenen Armen zu aufmerksamer Betrachtung sich vor Robert Wolf aufzupflanzen . Nach einem minutenlangen Anstarren fragte er mit Grabesstimme : » Wofür drin ? « Robert sah nicht einmal auf , regte sich nicht . Julius Schminkert legte ihm pathetisch die Hand auf die Schulter : » Mitbruder im Pech , nenne mir das Verbrechen oder das Unglück , das dich an diesen Ort des Heulens und Zähneklapperns führt ! Zu den Gezeichneten gehörst du , ich sehe das Mal auf deiner Stirn . Ich sehe auch die kalte Faust , welche dich am Rockkragen gepackt hält , dich schüttelt und dich demnächst mit Grazie in die Ecke werfen wird , wohin sie schon so manchen deinesgleichen geworfen hat . Unglücklicher , wehe dir ! « Mit offenem Munde starrte Robert jetzt den Deklamator an : » Sind Sie verrückt ? « fragte er mit stumpfem Grimm . Nicht mehr als alle andern vernünftigen Menschen – nur ein wenig aufgeregt « , meinte Julius Schminkert . » Unbekannter Mensch , Wanderer auf dem runden Ball der Erde , der nicht der Ball des Glückes ist ; in der zweiten Person Singularis rede ich dich an , weil ich mich auf dieser Bank neben dir niederlasse . Brüder im Leiden sind alle die , welche auf diesem vierbeinigen harten Ungeheuer beieinander saßen , sitzen und sitzen werden . 's ist eine große Verwandtschaft . « » Ich schlage Ihnen den Schädel ein , wenn Sie mir noch näher rücken ! « rief Robert , die Faust erhebend und zum äußersten Ende der Bank zurückweichend . » Ruhe dort im Winkel ! « schnarrte Greiffenberger vom Ofen her . » Herr Schminkert , seien Sie doch verständig ! « » Verständig ? « rief Julius . » Ich bitte Sie , Herr Wachtmeister , können Sie das von einem Menschen , der bei solchem Wetter so leicht gekleidet geht , verlangen ? Verständig ?! Auf dem Wege hierher begegnete mir ein Wirklicher Geheimer Rat in einem Marderpelz ; man sah nichts von ihm als die Nasenspitze , und an dieser Nasenspitze sah ich sogar dem Mann bei dieser Kälte den Unverstand an . Verständig ?! « » Auch 'ne Ansicht von die Sache « , brummte Greiffenberger , und die Unterhaltung stockte einige Zeit im Vorzimmer des Büros Nummer dreizehn . Robert Wolf hatte den Kopf wieder in beide Hände genommen , Julius betrachtete ihn verstohlen von der Seite , und Greiffenberger sog mit der Schattenseite seines Ichs soviel Ofenwärme wie möglich ein und sah so gedankenlos wichtig wie möglich dabei aus . Der Wind trieb den eisigen Regen in immer schärferen Stößen gegen die Fensterscheiben , der Nebel wurde immer dichter , die Welt im allgemeinen wie im besondern immer unbehaglicher . Schminkert gab sich den seltsamsten Körperverrenkungen auf seinem Ende der Bank hin , bis er das Möglichste , was in dieser Art zu leisten war , geleistet hatte und sein quecksilberartiges Temperament eine Veränderung der Unterhaltung erforderte . Er erhob sich , dehnte und reckte sich , gähnte entsetzlich und schritt zu dem Ofen , wo er den Polizeiwachtmeister in ein leises Gespräch verwickelte , und bald hatte er aus dem würdigen Mann alles heraus , was er über den armen Robert wußte . Dann erklang die Glocke des Polizeirats Tröster ; Greiffenberger rückte den Säbel zurecht , marschierte in ordonnanzmäßiger » Properteh « in das Heiligtum des Büros und ließ das bodenlose Genie im kopfschüttelnden Nachsinnen über den Reichtum der Welt an tollen Lebenserscheinungen zurück . Dann hatte Robert Wolf abermals dem charakteristischen Winke der Sicherheitsbehörde Folge zu leisten . Wieder stand er vor dem Mann , welcher einen so großen Einfluß auf sein nächstes Schicksal hatte , welchen die Gewohnheit aber auch ziemlich gleichgültig gemacht hatte gegen die Frage , was das Gewicht bedeute , das er in die Waagschale warf , in der eine menschliche Existenz gewogen wurde . Glücklicherweise war in dem Büro Nummer dreizehn ein anderer gegenwärtig , der sich vorgenommen hatte , auf andere Art in das Leben Robert Wolfs einzugreifen , als der Polizeirat Tröster es vermochte . » Wolf « , sagte der Polizeirat , » Eure Angelegenheit hat sich zum besten gewandt . Wir wollen unsererseits den achttägigen Arrest als eine genügende Strafe Eures unbesonnenen Verhaltens , Eures ungebührlichen Betragens ansehen , andererseits ist auch auf Bitten des Herrn von Poppen die Sache niedergeschlagen , und – Sie sind frei , Robert Wolf . Hier soll ich Ihnen eine Banknote geben , welche von der ebenerwähnten Seite kommt . Nehmen Sie und verwenden Sie das Geld – « » Von ihm , von ihr meine Freiheit ? Von ihm , von ihr dieses Geld ? « schrie Robert Wolf , und es wurde wieder einmal deutlich , daß Maler und Bildhauer , um Charakterköpfe zu studieren , sich häufiger auf dem Polizeibüro einfinden sollten . » Herr , Herr « , rief der Knabe aus dem Walde , » o Herr , lassen Sie mich wieder in das Loch sperren ! O die Schlechte ! die Schändliche ! « Die Stimme versagte dem Jüngling , erstickt durch Grimm und Tränen ; so sank er auf die Bank , auf welcher vorhin Konrad von Faber gesessen hatte . Der Schreiber flüsterte dem Rat etwas ins Ohr , dieser sah ihn höchst verwundert an , nickte dann mit dem Kopfe und trat von seinem Schreibtische gegen die Armensünderbank heran , die Banknote des Barons von Poppen in der Hand : » Herr Robert Wolf – « Mit geballter Faust sprang der Angeredete drohend wieder in die Höhe . » Was treibt Sie , junger Mann ? « fragte der Beamte würdevoll , aber doch einen Schritt zurückweichend . » Halten Sie sich ruhig . Es steht in Ihrem Belieben , dieses Geld zu nehmen oder es von sich zu weisen . « » Auch meine Freiheit will ich nicht haben durch ihre Gunst und Gnade ! « rief Robert Wolf . » Wenn es Gerechtigkeit ist , daß ich ins Gefängnis komme für das , was ich tat , so will ich eingesperrt sein , so wie es im Gesetzbuch steht , bis an meinen Tod . Denen aber will ich nichts verdanken – nichts , nichts ! « Der Hauptmann von Faber murmelte vor sich hin : » Eine Doppelbüchse , ein Roß und die Prärie « , der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen gab seinem Vorgesetzten abermals ein Zeichen , und letzterer sagte darauf ganz kurz zu dem Jüngling : » Treten Sie noch einmal ab , Wolf ! Ich werde Sie sogleich wieder rufen lassen . « Jetzt steigt Fiebiger von seinem hohen Dreifuß , nach der Entfernung Robert Wolfs , herab und tritt – mehr in die Mitte dieser Geschichte , wenn auch grade nicht ganz in den Mittelpunkt , den eine Geschichte in dieser Zeit des breiten Lebens selten mathematisch genau haben kann . Da stand der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen im Winzelwald , hager und , wie es schien , etwas hungerig , sehr ältlich , gelblich und blutleer , gekleidet in abgetragenes Schwarz . Da stand er und ließ die kleinen glänzenden Augen von einem der beiden anwesenden Herren zum andern gleiten . Ich suche nach einem Gleichnis , welches die Erscheinung des Mannes klarer vor die Einbildungskraft führe , und nichts fällt mir ein als ein auch dem Einfall nahes , hohes , altes , schmales Haus in der Altstadt , ein Haus , zur Seite geneigt , geschwärzt und vernachlässigt ; ein Haus , in dessen zweifenstrigem Erker , den Wolken so nahe als möglich , ein Freund von mir wohnte , ein Narr , der seine Gedichte nicht niederschreiben konnte , weil er niemals einen Reim finden konnte , ein armer Teufel , der mit der Welt spielte wie Zeus , der Vater der Götter , und am Nervenfieber starb . Wie oft bin ich in spätester Nachtstunde durch das Schleichgäßchen geschlichen , aufblickend zu diesen beiden hellen Fenstern ! Alles war dunkel und schmutzig dann . Nur die beiden Fenster leuchteten in der Nacht , und diesen beiden Fenstern vergleiche ich den spaßhaften Glanz in den Augen des Polizeischreibers Friedrich Fiebiger , wie ich seinen übrigen Leib leider dem wackligen Hause Nummer vierundachtzig im Schleichgäßchen vergleichen kann . Da stand der Mann , rieb die magern Hände aneinander und sagte : » Ich muß um Verzeihung bitten , Herr Rat , wenn ich mich bei dem , was ich zu sagen habe , nicht so kurz fassen kann , wie ich wohl möchte . « Der Polizeirat und der Hauptmann sahen in demselben Tempo beide nach der Uhr . » Manches Jahr habe ich « , fuhr der Schreiber fort , » an diesem Pulte verschrieben . Wie ich hoffe , zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten . « Der Polizeirat , welcher allmählich anfing , sich nach seinem Whisttisch zu sehnen , nickte energisch , was ebensogut heißen konnte : › Jawohl , Sie schreiben die leserlichste Hand , die mir jemals vorgekommen ist ! ‹ als auch : › Ich bitte Sie inständig , fassen Sie sich so kurz als möglich . ‹ » Wie der Herr Rat weiß « , sprach Fiebiger , » hat man an dieser Stelle mehr mit der Schattenseite als mit der Lichtseite des Daseins zu tun . Man atmet aber in einer Atmosphäre , die den Menschen alt werden läßt , weil sie ihm die Seele gerbt – 's ist ein fortwährendes Stahlbad , höchst gesund , fast zu gesund . « Seufzend gab der Polizeirat seinem Protokollführer recht , und der Hauptmann strich eifriger seinen Bart . » Ich kann's mir nicht mehr verbergen « , fuhr der Schreiber fort , » ich bin alt geworden ; die allzu gesunde Atmosphäre fängt an , meine Nerven anzugreifen . Ich hätte es nimmer für möglich gehalten . Die Gespenster , welche ich in diese Register eingeschlossen habe , fangen an , sich zu rächen ; sie bekommen ein kurioses Leben , kriechen hervor aus ihren Foliobänden , schlüpfen durch das Schlüsselloch und kommen nächtlicherweile vor mein Bett , ihren Spaß mit mir zu treiben . Es ist ein grimmiger Spaß , und ich bin ein alter einsamer Mensch . Als ich jung war , habe ich wohl mit Händen und Füßen um mich schlagen und treten können ; da hatte das Gesindel noch Respekt . Jetzt kann ich nur die Bettdecke über den Kopf ziehen ; aber die Gespenster sind schlau , sie wissen mich doch darunter zu finden . Sie machen Stimmen nach , Stimmen , welche ich seit vierzig Jahren in diesem Hause gehört habe . Sie weinen und wimmern wie Kinder , sie schluchzen und kreischen wie Weiber , sie fluchen auch wohl ein wenig . Dann kommt dazwischen ein Lachen , und das fürchte ich am meisten , es ist das echte , das wirkliche und wahre Sich-zu-Tode-Lachen . Zum Exempel , das junge Weib , welches wir neulich hier vernahmen und welches am folgenden Tage im Krankenhaus starb , lachte so . Was soll man dagegen machen ? « » Sie hätten heiraten sollen , Herr Fiebiger « , meinte der Hauptmann , welcher ein eingefleischter Hagestolz war . Der Polizeirat , welcher zu Haus eine Polizeirätin hatte , seufzte : » Vollständig hilft das auch nicht , Faber . « Der Schreiber blickte seinen Vorgesetzten wehmütig an : » Um sich gegen das Alter zu schützen , muß man sich geistig an der Jugend erwärmen , wie der König David in seinen spätern Jahren sich körperlich daran wärmte . Ähnlich wie der Knabe im Vorzimmer bin auch ich vor langer Zeit aus dem Winzelwalde in dieser Stadt angekommen . Ich könnte darüber auch meine Geschichte erzählen , aber es würde zu nichts führen ; ich will nur sagen , daß dieser Robert Wolf und ich Landsleute , daß wir beide Hintersassen der Herren von Poppen sind und daß mir der Junge ungemein gefällt . Er hat mir meine ganze Jugendzeit wieder lebendig gemacht , und seit ihn der Herr Revierleutnant Kirre hierher sandte , sind die oben besprochenen Gespenster in ihre Folianten zurückgekrochen ; mit andern Gedanken habe ich mich umhergetragen . Ich habe den Burschen studiert , wie man ein Buch studiert , und jetzt bin ich zu einem Entschluß gekommen : Ich bitte den Herrn Polizeirat gehorsamst , mir besagten Robert Wolf aus Poppenhagen mit Haut und Haar zur weitern Verfügung zu überlassen . « » Sie wollen also wirklich ? « fragte der Polizeirat Tröster . » Was ?! « rief der Hauptmann von Faber . » Ich fürchte mich daheim vor diesen Bänden « , sagte der Schreiber , wieder die Hand auf die Registerbände legend . » Ich habe ein zu gutes Gedächtnis für das , was ich hier eintragen muß . Ich kann nicht mehr allein sitzen in meiner Stube . Ich will die Seele dieses Knaben retten , und er soll mir das Licht der Jugend vorantragen auf dem dunkeln Wege ins Grab . « » Fleck getroffen ! Bravo ! « rief Konrad von Faber , der Polizeirat jedoch meinte kopfschüttelnd : » Haben Sie sich das wohl recht überlegt , Fiebiger ? Sie bei Ihrem jämmerlichen Einkommen wollen sich eine solche Last , eine solche Verantwortlichkeit aufbürden ? « » Ich habe wenig Bedürfnisse gehabt in meinem Leben und werde den Jungen schon durchfüttern . Was die Verantwortlichkeit betrifft , so bin ich ein wenig Psycholog und glaube meinen Weg klar vor mir zu sehen . Ein Professor der Seelenkunde mag über sein Fach sehr gut dozieren können ; aber ein alter Polizeischreiber wird auch immer wissen , was er dem Individuum gegenüber zu tun und zu lassen hat . « » Das mag alles sein , bester Fiebiger , aber – « » Ach , Herr Rat , wir tappen alle in der Finsternis umher und wissen selten , was zu unserm Besten ausschlagen wird . Ich habe nun einmal mein Herz an diesen Knaben und diesen Wunsch gehängt . Ich bitte gehorsamst , schenken Sie mir diesen Schlingel , diesen Robert Wolf aus dem Winzelwalde . Die Welt weiß in diesem Augenblick doch nichts damit anzufangen , sie würde ihn ausmustern und einen Lumpen mehr daraus machen ; – ich aber will versuchen zu bewirken , daß sein Name nicht noch einmal in diesen Büchern , Folio W , erscheine . « Ich werde Ihrem Plan und Vorhaben gewiß auf keine Weise entgegen sein , Fiebiger . Nehmen Sie den Burschen und machen Sie daraus , was Sie wollen . Sie sind mein treuer , guter Kollege und Freund . Hier haben Sie meine Hand , wir wollen Freunde bleiben , Sie alter Humorist . « » Geben Sie mir auch Ihre Hand , Herr Fiebiger ! « rief Konrad von Faber . » Wenn ich Ihnen oder Ihrem Schützling einmal auf irgendeine Art nützlich sein kann , wird mir das zu großer Genugtuung gereichen . « Der Schreiber lächelte , indem er dem Hauptmann die Hand entgegenstreckte : » Sie kommen weit herum in der Welt , Herr Hauptmann ; wer weiß , wo und wie Sie meinem jungen Wolf noch einmal begegnen . Wenn Sie dem Glück begegnen , so schicken Sie es mir nur zu , Musikantengasse Nummer zwölf , oder hierher , Zentralpolizeihaus , Büro Nummer dreizehn . Ich darf also die Entlassung aus dem Arrest für Robert Wolf ausfertigen , Herr Rat ? « » Tun Sie das , ich will sogleich unterschreiben . « Beides geschah , und die Klingel erschallte wieder ; zum dritten und letzten Male trat Robert Wolf in das Büro Nummer dreizehn . » Herr Wolf , Sie sind frei « , sagte der Polizeirat . » Die Banknote wird auf Ihren Wunsch dem Herrn von Poppen zurückgesandt . Ihre Freiheit erhalten Sie nicht auf Fürbitte des Fräulein Eva Dornbluth , sondern weil die Sicherheitsbehörde nach Kenntnisnahme der Sachlage , und da keine Anklage weiter erhoben ist , es so beschloß . Hier ist das Attest ; was ferner noch hinzuzufügen ist , ist , daß – « Der Redner unterbrach sich , denn er sah klar , daß der Knabe nicht fähig war , seine Worte zu begreifen . Einen Augenblick starrte Robert wie ein Irrer das Papier an , welches der Rat in seine Hände gelegt hatte ; dann stieß er einen rauhen Schrei aus , und ehe ihm jemand hindernd in den Weg treten konnte , stürzte er mit einem Sprung aus der Tür und war verschwunden . » Ihm nach , Greiffenberger ! « rief der Rat , völlig außer Fassung gebracht . » Schnell ihm nach , bringen Sie ihn zurück – dieser Tollkopf ! « » Halt , halt ! « rief der Schreiber ängstlich , » nicht Sie , Greiffenberger ! Herr Rat , ich bitte – der Junge stürzt sich von der ersten Brücke in den Fluß , wenn wir ihn auf diese Art wiederbekommen wollen . « » Aber was soll geschehen ? Wir dürfen dieses unbändige Waldtier doch nicht aus den Augen verlieren . « » Wer ist noch im Vorzimmer , Greiffenberger ? « fragte der Schreiber . » Na , Sie wissen – der Schauspieler Schminkert – Herr Julius Schminkert – von wegen einer Auspfändung . Ich habe ihm schon erklärt , das gehöre nicht vor diese Stelle ; aber er bleibt ein Narr und will sich nicht zurechtweisen lassen . « » Schon gut . War der mit dem jungen Menschen zusammen draußen ? « » Ja , die ganze Zeit über . Es hätte beinahe eine Katzbalgerei zwischen ihnen gegeben . « Der Schreiber wandte sich an seinen Vorgesetzten : » Lassen Sie uns den Hanswurst hinter dem Flüchtling herschicken . Ich stehe dafür , er faßt ihn . Schminkert wohnt mit mir in einem Hause ; ich kenne ihn . Darf ich mit ihm sprechen ? « » Sie haben volle Freiheit . Ich gebe diese Sache jetzt ganz in Ihre Hand . Rufen Sie den Herrn , Greiffenberger . « Der Wachtmeister ging , und Julius Schminkert erschien mit seiner graziösesten Verbeugung : » Meine Herren , ich habe die Ehre – « » Keine Phrasen , Blumen und Verse , Julius ! « rief der Schreiber . » Sie haben den Knaben gesehen , welcher soeben aus dem Zimmer stürzte ? « » Haben Sie ihm hier keinen Tritt auf die hinteren Weichteile versetzt ? Nicht ? Das wundert mich ! Was beflügelte aber auf solche Weise seine Füße ? « » Dummes Zeug . Eilen Sie dem jungen Menschen nach , Julius ; und sollten Sie die ganze Stadt nach ihm durchlaufen , Sie müssen ihn uns schaffen . Ich komme Ihnen nach ; aber Ihre Beine sind jünger . Zehn Taler – leihe – ich Ihnen , wenn Sie den Jungen finden und bewerkstelligen , daß ich meine Hand auf ihn legen kann . « » Aber – « » Kein Aber ! Eilen Sie ; jeder Augenblick ist kostbar . Denken Sie an die zehn Taler . « » Zehn Taler ? – Greis , dein Wort klingt voll und schwer , ich flieg und schaff den holden Flüchtling her . « Dem Polizeischreiber eine Kußhand zuwerfend , hüpfte der blaubekleidete Julius dem entflohenen Knaben aus dem Walde nach . » Da läuft auch der Narr hinter dem Tollen her « , lachte der Hauptmann . » Sie haben eine seltsame Bekanntschaft , Fiebiger . « » Es macht sich so , Herr Hauptmann . Darf ich für jetzt um Urlaub bitten , Herr Rat ? « Der Polizeirat half seinem Untergebenen eigenhändig beim eiligen Anziehen des Überrocks . Der Hauptmann reichte ihm den Regenschirm . Greiffenberger stand erstarrt und erklärte im Innersten seiner Seele den alten Fiebiger für verrückt – rein verrückt . Der Rat Tröster blieb allein mit dem Hauptmann . » Was denken Sie darüber , Faber ? « » Ich hab 's schon gesagt , by Gad , die Polizeistube hat ihre Wunder wie die weite Welt . Ich muß ins Freie , Eccellenza . Wir treffen uns heute abend doch bei Wienand ? Ich muß meinen Amerikaner daselbst vorstellen . – Komme mir noch einer und behaupte , das alte Europa sei so platt und glatt geworden , daß es nicht mehr der Mühe lohne , sich daselbst zu bewegen . « Auch der Hauptmann ging . Die Lampen wurden angezündet in dem Zentralpolizeihause ; der Rat Tröster vertiefte sich in eine dicke Akte , ein Intrigenstück voll tragischen Inhalts , wenn auch nicht in Jamben geschrieben . Als er dann eine Stunde später den Kopf wieder in die Höhe richtete , sagte er , ohne irgendwelchen Bezug auf seine Arbeit : » Närrische alte Schreiberseele . – Soll mich wundern , was der aus dem Jungen machen wird ! « Drittes Kapitel Julius Schminkert macht sich nützlich ; Robert Wolf macht die Bekanntschaft eines Wagenrades und einer jungen Dame Wenn ein edles freies Tier Unglück gehabt hat und in die Hand des Menschen gefallen ist , wenn es dann , an dem Kasten , in welchem man es den Augen der gaffenden Menschen vorführt , eine schwache Stelle , eine lockere Eisenstange bemerkend , aus seinem qual- und schmachvollen Gefängnis hervorbricht und in eine unbekannte Welt von Mauern und Volksgewühl statt in die stille Wüste und Wildnis seiner Heimat stürzt : so mag es ungefähr ein gleiches Bewußtsein seiner Lage haben , wie Robert Wolf in dem Augenblicke , wo er aus dem Polizeihause auf die Gasse sprang , von der seinigen hatte . Besinnung , Überlegung , alles war untergegangen in dem einen tierischen Trieb , um sich zu schlagen , körperlich sich loszureißen , körperliche Hindernisse zu Boden zu werfen . Es war die höchste Zeit , daß die so arg gepeinigte Natur des Knaben sich nach irgendeiner Seite hin Luft machte , wie flüchtig das auch sein mochte . In solcher Seelenstimmung fragt man nicht , was aus einem werde , wenn man die Hand erhebt zum tödlichen Stoß und Schlag ; man wirft die Begegnenden über den Haufen , läßt sich stoßen und treiben , ohne daß man es merkt , und rennt – rennt , bis die Lungen die Brust zersprengen wollen und die Knie zusammenbrechen . Dann kann man sich halb blödsinnig an eine Ecke lehnen oder sich zu Boden werfen , sich anstarren lassen und sich – besinnen . Der Regen hatte aufgehört , der Nebel war geblieben ; im Schein des Gaslichts glänzte das übereiste Pflaster , und Robert stürmte über den gefährlichen Boden , ohne zu ahnen , daß ihm die Wendung seines Lebens und Geschickes so nah auf den Fersen war und atemlos hinter ihm herkeuchte in der Gestalt Julius Schminkerts , des darstellenden Künstlers . Von dem verblüfften Wachtposten am Tor des Polizeihauses hatte sich Julius die Richtung , welche der Flüchtling genommen hatte , andeuten lassen und folgte ihr mit möglichster Schwung- und Schnellkraft . An der nächsten Ecke schon traf er auf einen ältlichen Herrn , welcher sich ärgerlich die Schulter rieb und Blicke und Worte des höchsten Mißfallens die Gasse hinabsandte . Diesen Worten oder Blicken konnte Julius ohne Aufenthalt nachsausen , ohne fehlzulaufen . Er tat es und stieß an der folgenden Straßenkreuzung auf eine Gruppe , die sich um einen auf dem Pflaster liegenden Korb und einen außer sich geratenen Menschen weiblichen Geschlechts gesammelt hatte . Wiederum , ohne sich damit aufzuhalten , der belfernden Furiosa die entfallenen Varia aufsammeln zu helfen , eilte Schminkert , die Gleichgültigkeit des Verfolgten gegen die Gefühle der begegnenden Menschheit segnend , weiter und traf noch auf mancherlei Zeichen , welche klar die Richtung angaben , die Robert Wolf genommen hatte , welche aber auch immer klarer bewiesen , daß derselbe die Zurechnungsfähigkeit , die man von einem polizierten Menschen verlangen kann , noch lange nicht wiedererlangt habe . Durch manche Straße , über manchen Platz setzte der Deklamator dem Jüngling , an dessen Fersen ein Darlehen von zehn Talern hing , nach , würde aber wahrscheinlicherweise doch weder des einen noch des andern habhaft geworden sein , wenn nicht ein Zufall oder , besser gesagt , ein Unfall ihm beides zuletzt in die Hände geliefert hätte . Daß dieser Unfall bei dem Seelenzustande Roberts nicht früher eingetreten war , war fast für ein Wunder zu nehmen . Ein Wagen , der im vollen Rossestrab um die Ecke bog , setzte dem Lauf des armen Knaben ein Ziel . Von den Pferden zur Seite geschleudert , von einem Rade gestreift , verlor Robert Wolf völlig das Bewußtsein und legte sich langhingestreckt auf das kalte , mit Eis überzogene Pflaster . Welche Bewegung solch ein Fall in den Gassen einer größern Stadt hervorruft , wird wenigen unbekannt sein . Eine Volksmenge hat sich um den Wagen und den Verunglückten versammelt , als sei sie durch Hexenwerk aus dem Boden aufgestiegen . Man fällt dem entsetzten Kutscher in die Zügel ; Weiber schlagen kreischend die Hände über den Köpfen zusammen ; Männer fluchen und schreien nach der Polizei ; die Polizei aber hat die größte Mühe , die schreckensbleichen Insassen des Wagens vor tätlichen Beleidigungen zu schützen . Vor Worten und Gesten kann sie dieselben nicht schützen . Julius Schminkert kam auf der Unglücksstätte gerade zur rechten Zeit an , um dem Spektakel die Blüte abzubrechen und sich des unter den Fäusten mehrerer gutmütiger Weiber ins Leben zurückgerufenen Robert zu bemächtigen . Den Arm des niedergeworfenen Knaben aus dem Walde haltend , schickte sich der Mime eben an , im höchsten Tragödenton gegen die in donnernden Karossen über die Leichen des Plebejertums wegrasselnde Aristokratie und Plutokratie loszulegen , als ihn ein Blick auf den Wagen bewog , den Strom der beredten Rede durch ein krampfhaftes Niederschlucken zurückzudrängen und , grob und deutsch gesagt , doch lieber das Maul zu halten . Aus dem Wagenfenster beugte sich das hübscheste Mädchengesicht , bleich vor Schrecken und Entsetzen . Eine winzige Hand im weißen Handschuh mühte sich vergeblich zitternd ab , den Schlag zu öffnen , und große angstvolle Augen baten flehentlich die Menge um Erbarmen . Ein fetter Kommerzienrat , eine alte verrunzelte Gräfin hätten das angerichtete Unheil noch so tief empfinden und bedauern können : so rührend wie dieses junge , der Ohnmacht nahe Kind hätten sie nicht ausgesehen und also auch nicht solchen Eindruck auf die Stimmung und die Gefühle Julius Schminkerts und des übrigen Volkes gemacht . » Erlauben Sie , mein Fräulein , ängstigen Sie sich nicht ! « rief der Deklamator , höchst dienstbeflissen den Wagenschlag öffnend und der jungen Dame die Hand zum Aussteigen bietend . » Sie würden am besten tun , wenn Sie ruhig sitzen blieben « , fügte er hinzu , » es hat wirklich nichts zu sagen – eine kleine Schramme – der Tölpel wird sogleich wieder auf den Füßen stehen und Ihnen die Hand küssen . « » O nein , nein ! Bitte , lassen Sie mich aussteigen – lassen Sie mich selbst sehen ! – oh , es tut mir so leid ! « Schon stand sie im Schein des Laternenlichts auf dem kalten , nassen Pflaster , stumm angestarrt von der eben noch so drohenden , so wilden Menge . Die Lieblichkeit und Zartheit der Erscheinung und ihre schmerzvolle Angst bändigten die rohesten Gemüter im Haufen , und der mutwilligste Schusterjunge unterbrach sein Pfeifen und Geschrei und hatte eine Ahnung davon , daß es ein edel Ding sei um die Schön heit . Während der bepelzte Kutscher dem auf dem Schauplatz des Unglücks erschienenen Mann der öffentlichen Sicherheit Bericht gab über das Geschehene und erklärte , daß dieser Wagen dem Bankier Wienand gehöre und daß die junge Dame Fräulein Helene , die Tochter des Bankiers , sei , wagte Fräulein Helene selbst die wenigen Schritte , welche sie von dem armen Robert Wolf trennten , und letzterer , die Augen öffnend , sah dicht vor sich das süße Wesen , sah in die treuen , guten , mitleidigen Augen des Kindes ; und in den Schmutz , das Getümmel der Gasse hauchte es hinein , als habe der Wind im vergangenen Frühling den duftigen Atem einer blühenden Waldwiese seiner Heimat aufgenommen und irgendwo aufgehoben , um ihn in diese Stunde zu tragen . Das Geflacker der unruhigen Gaslaternen ward zu dem ruhig leuchtenden Goldglanz , in welchem die alten Maler ihre Engel der Verkündigung niedersteigen lassen . Es war freilich auch tiefes Mitleid und Mitgefühl in dem Auge des alten zerlumpten Weibes , welches den Kopf des Knaben aus dem Walde im Schoße hielt und seinen Tragkorb voll Knochen , Glasscherben und rostigem Eisen achtlos dem öffentlichen Ehrgefühl anvertraute ; aber die schwache Menschennatur sieht nun einmal das Gute am liebsten in der Verbindung mit dem Schönen und weiß es dann am besten zu würdigen , wenn es in anmutiger Hülle kommt . Die Hülfeleistung der alten schmutzigen Lumpensammlerin nahm Robert Wolf hin , ohne ihr großen Dank dafür zu wissen ; die junge elegante Dame aber erschien ihm wie der Engel der Barmherzigkeit selbst , und als sie sich zu ihm niederbeugte und zitternd die zitternde Hand , die er gegen sie ausstreckte , berührte , da wünschte er , trotz Eva Dornbluth , in alle Ewigkeit so auf dem Straßenpflaster zu liegen in halber Bewußtlosigkeit und in solche glänzende , tränenvolle Augen zu blicken . » Oh , wie schrecklich ist das ! Oh , wie leid tut es mir ! Fühlen Sie viel Schmerzen ? « rief Helene Wienand , und ihre Stimme war gleich ihrer Gestalt liebreich und harmonisch . Wie Musik schlug sie an das Ohr Roberts ; er konnte nichts als den Kopf auf die ängstlichen Fragen schütteln und die Fragerin anstarren . Er war in einer seltsamen Phantasmagorie befangen ; die durch den vorhergegangenen Sturm abgespannten Nerven zitterten aus in einem physischen und psychischen Herzklopfen , während welchem das Bewußtsein von Raum und Zeit fast vollständig verlorengegangen war . Die Gestalten von Eva Dornbluth , dem Herrn von Poppen , den verschiedenen Polizeibeamten tanzten zwar noch einen gespensterhaft unheimlichen Reigen durch das Gehirn des Knaben ; aber ihre Umrisse waren schattenhaft und verwirrt und flossen so sehr ineinander , daß keine Gestalt sich recht von der andern ablöste , sondern alles nur ein häßliches Gemisch und Gewirr war . Auch das Getümmel des ihn umgebenden lärmenden Volkes trug dazu bei , diese vor kurzem noch so inhaltvollen Figuren in der Seele Roberts in solcher Weise aufzulösen zu farblosen Schemen . Er blickte zu dem dunkeln , sternleeren Nachthimmel empor , in welchen das rötliche Leuchten der großen Stadt hinaufschlug , und aus diesem dunkeln Hintergrunde trat in diesem Moment einzig und allein die zarte Gestalt und das Kindergesicht Helene Wienands klar und deutlich hervor , nahm alle Gedanken des Knaben für sich in Anspruch und fing sie in dem Schleier , welchen sie von dem Rosahütchen zurückgeschlagen hatte , und in den Löckchen , die unter ebendiesem Hütchen so üppig hervorquollen . Aber der magische Augenblick , die Verzückung verging blitzschnell . Durch die immer mehr anwachsende Menge drängte sich der Polizeischreiber Fiebiger , welchen ein dumpfes Gerücht : in der Glockenstraße sei ein junger Mensch von einem Wagen total gerädert worden – richtig zur Stelle geführt hatte . Der praktische Polizeischreiber brach den Zauber zuerst dadurch , daß er nach einem Wundarzt rief , worauf ein wohlbeleibter behaglicher Herr in einem warmen Mantel , vom Schreiber und mehr als einem in der Menge als » Doktor Pfingsten « begrüßt , hervortrat und sich mit einem vertraulichen Nicken gegen Fiebiger und einem freundlich beruhigenden Gruß gegen das Fräulein zu Robert Wolf herniederbeugte . Nach einer kurzen Untersuchung tat er den Ausspruch : » Subjekt möge versuchen , sich auf den status quo , nämlich seine beiden Beine , zu stellen . « Unterstützt von mehreren hülfreichen Händen , erhob sich Robert von der Erde und aus dem Schoß der alten Kehrichtdurchwühlerin und ging mit einigen unbedeutenden Schrammen und Quetschungen , einigen sehr bedeutenden Rissen in Rock und Hosen und ungemein strubbligem Haar aus dem Unglück hervor . Fräulein Helene schlug mit einem kindlich jauchzenden Freudenschrei die Hände zusammen , der Schreiber nahm beruhigt eine Zigarre hervor ; nur Julius Schminkert schien das Wohl und Wehe des » unzivilisierten Geschöpfes « , dessen Einfangung ihm übertragen worden war , ganz gleichgültig zu sein . Er hatte sogar die versprochenen zehn Taler Wildfangsgeld , er hatte die Tochter eines barbarischen Vaters , Fräulein Angelika Stibbe , vergessen . Dagegen drückte er die Hand auf die Stelle , wo er das Herz vermutete , nämlich die Stelle , wo gewöhnlich die Milz zu suchen ist , starrte unverwandt auf Fräulein Helene Wienand und murmelte etwas von » Herzschlag mit Hochdruck , Sternenaugen und komprimiertester Wehmut « , verdrehte und schloß gleich einem Automat mit mangelhafter Mechanik die Augen und seufzte : » Perennierender Eindruck ! « Nicht den vorübergehendsten Eindruck machte er jedoch durch solches Gebaren auf die junge Dame . Sie hatte noch nicht den geringsten Begriff davon , daß ein Mensch ihretwegen die Augen verdrehen könne – eine sehr seltene und recht klägliche Unwissenheit bei dem schönsten Geschlecht aller Zeiten , dem schönen Geschlecht der so äußerst gescheiten und unterrichteten Jetztzeit . Guten Abend , Fiebiger – Ihr Diener , Helene . Nun , junges Fräulein , wollen wir jetzt über die Leiber unserer Mitmenschen fahren , wie wir demnächst über ihre Herzen fahren werden ? Beruhigen Sie sich , liebstes Kind , dem Bengel ist kein Schaden geschehen . Schnell wieder in Ihren Wagen , oder es setzt einen Katarrh der Nasenschleimhäute oder gar eine Grippe , für welche ich dem Papa dann verantwortlich bin . Man darf die Männer der Börse in unserm Jahrhundert nicht ärgerlich machen ; steigen Sie ein , Fräulein Wienand ; ich wollte , meine Gliedmaßen wären in so gutem Zustande wie die des Jungen hier . Steigen Sie ein , und nehmen Sie mich mit . Sie fahren doch nach Haus , he ? « Helene bejahte die Frage des Arztes ; aber sie zögerte noch , den Fuß auf den Wagentritt zu setzen . Ihr Blick schweifte immer noch mit tiefem Bedauern zu Robert Wolf hinüber . » Nun ? Eh ?! « fragte der Arzt , und Helene flüsterte ihm etwas in das Ohr , indem sie ihm zugleich verstohlen ihre Börse in die Hand gleiten lassen wollte . » Aha « , brummte der Arzt . » Was ist da zu flüstern ? Geben Sie , ich will schon – « » Lassen Sie , ich bitte , Herr Sanitätsrat « , sagte aber schnell Fiebiger . » Der junge Mann steht unter meinem Schutz und gehört mir an . « » Das ist etwas anderes . Bitte um Entschuldigung . Guten Abend , Fiebiger . Steigen Sie ein. Helene ; hier ist Ihre Börse zurück . « Jetzt trat das junge Mädchen , Schreckhaftigkeit und Schüchternheit niederkämpfend , ganz mutig auf Robert zu : » Es tut mir so leid – ich – ich – « Der ungeduldige Arzt hob die zarte Gestalt fast mit Gewalt in den Wagen , ehe sie ihre Rede vollenden konnte . Er stieg ihr auch sogleich nach und schlug den Wagenschlag zu : » Fort nach Haus , Johann , du unvorsichtiger Tolpatsch ! « Polizeimann Schnaubert steckte die Brieftasche mit den dienstlichen Notizen über den Fall in die Brusttasche , berührte mit der Hand den Mützenrand gegen den Polizeischreiber und trat zurück unter den Chor des Volkes . Die Pferde zogen an . Noch einmal blickte ein bleiches Gesichtchen aus dem Wagenfenster auf die Unglücksstelle . Der Wagen rollte um die Ecke , und die Menge , welche zum größten Teil jetzt bedauerte , daß die Geschichte so gut abgelaufen und das Schauspiel so schnell zu Ende sei , zerstreute sich . Der Polizeischreiber , Robert Wolf und Julius Schminkert blieben allein zurück in einer kleinen Schar hartnäckiger Maulaffen . Eine Seele ist geschieden vom Leibe , das schwere , mühselige Erdenleben liegt hinter ihr . Durch das Weltall sucht sie ihren Weg dahin , woher sie stammt . Aber das Weltall ist dunkel ; das Licht klebt nur , wie wir wissen , an den kapriziösen Bällen , welche durch die ewige Finsternis ihre rätselhaften Bahnen gehen . Die arme Seele ist ratloser auf diesem Wege als auf irgendeinem andern , welchen sie auf Erden zwischen weltlichen und geistlichen Gewalten , Ver- und Geboten jemals wandelte . Schwankende Zustände mag sie auch auf ihren Erdenwegen gekannt haben ; aber das war alles nichts gegen die Schwierigkeiten , welche sie jetzt vor sich findet . Sie wirbelt durch die ewige Nacht , wie ein Blatt im Winde , und erkennt die ganze schreckliche Bedeutung des horror vacui . Sie fängt an zu bedauern , daß die Seelen nicht auch , dem Lichte gleich , bloß an den Körpern kleben ; – da – plötzlich – fällt ein Schein auf ihren Pfad , ein Glänzen geht blitzschnell vor ihr vorüber , und in dem Glanz ein prachtvoller weißer Engel , ein glänzender Schmetterling der Unsterblichkeit , ein echter Paradiesvogel . Verschwunden ist das Leuchten , wie es kam ; aber die arme irrende Seele hat wenigstens den Glauben wiedergewonnen , daß es wirklich einen Weg zum Himmel gibt . Ein ähnliches Gefühl erfüllte nochmals einen kurzen Augenblick hindurch die Seele Robert Wolfs , nachdem der Wagen , welcher Helene Wienand von dannen führte , um die Ecke verschwunden war . Dann gewann die vorige Verworrenheit und Dunkelheit von neuem die Oberhand , und der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger war für das Wohl des jungen Mannes fürs erste ein bei weitem wichtigerer Faktor als alle Lichterscheinungen , Engel und Heilige in und über der irdischen Welt . Sanft nahm der Schreiber den Arm des Knaben und sagte : » Wir wollen nicht hier in der Gasse zum Ergötzen des unbeschäftigten Publikums stehenbleiben , lieber Robert . Kommen Sie ! « Verwundert blickte der Angeredete den Alten an : » Ich soll mit Ihnen gehen ? Was wollen Sie von mir ? Sie haben mich ja freigelassen , oder nicht ?! Sind Sie nicht der Mann aus der Polizeistube ? « » Das kann ich leider nicht leugnen , wie gern ich es auch möchte « , sprach der Schreiber lächelnd . » Achtenswerte Stellung , von etwas penetrantem Duft umhaucht ! « brummte Schminkert drein ; aber Fiebiger fuhr fort : » Nehmen Sie an , ich sei Ihr Freund , Robert Wolf – der Freund Ihres Vaters . « » Mein Vater hatte keine Freunde , und ich habe auch keine . Der Pastor Tanne ist tot . « » Über alles das wollen wir später mehr sprechen ; jetzt bitte ich Sie , Robert Wolf , mir zu folgen . Sie werden doch nicht einem alten Manne und Landsmann , der Ihnen ein Obdach und Nachtessen anbietet , sein gutgemeintes Wort vor die Füße zurückwerfen ? « » Seid kein Narr , edler Fremdling , krasses Beispiel moralischer und sozialer Übel « , mischte sich Julius wieder ins Gespräch . » Ich kenne Leute , welche für ein Nachtessen ihre Seele dem Teufel verkaufen würden . Werft auf die Banner , schmettern laßt Posaunen ; die Mitwelt soll , es soll die Nachwelt staunen – nämlich über den Appetit , welchen ich an dem gastfreien Tische dieses hochherzigen Bürokraten , der mir , beiläufig gesagt , zehn Taler schuldig ist , entwickeln werde . « Der Polizeischreiber warf einen bedenklichen Blick auf den Redner , dann wandte er sich von neuem an Robert : » Sie als Schüler des Pastors Tanne müssen ja wissen : levis est dolor , qui capere consilium potest , leicht ist der Schmerz , der noch auf guten Rat hört . Sagt nicht so der Hofphilosoph des Nero , der Kaiserliche Wirkliche Geheime Hofrat , Prinzenerzieher und Professor Lucius Annäus Seneca ? Na ja , so weit kamen Sie aber vielleicht noch nicht unterm Pastor Tanne in Ihren klassischen Studien . Was meinen Sie , Wolf ; wie wäre es , wenn Sie versuchten , augenblicklichen guten Rat anzunehmen ? Starren Sie mich doch nicht so eulenhaft an ; ich will Ihre Seele weder kaufen noch verkaufen . « » Herr – ich – ich – « » Ich wäre ein Esel und nichts mehr , wenn ich einem alten Mann seine Bitte , einen Abend bei ihm zuzubringen , aus grundlosem Trotz abschlagen würde . Kommen Sie , Sie holen sich sonst bei Ihrem aufgeregten Zustand ebenfalls noch eine Erkältung von dieser Stelle . « » Ich erkälte mich nicht ! « sagte Robert . » Desto besser für Sie , junges Blut . Ich aber würde mir durch längeres Verweilen einen tüchtigen Rheumatismus in dem Schreibearm zuziehen , und das ist ein bedenklich Ding in dieser dintensüchtigen Zeit . « Das Ende dieses Hin- und Hersprechens war , daß Robert Wolf die kalte Nacht nicht obdachlos und verlassen in den Straßen zubrachte , sondern daß er zwischen dem Komödianten und dem Schreiber der Behausung derselben zuwanderte . So abgespannt und zerschlagen an Geist und Körper war er geworden , daß er sich zuletzt willenlos und gleichgültig dem überließ , was ihn schob und führte , und daß er die Verantwortung für sein armes Leben , seine todmüde Seele ganz und gar den Leuten anheimgab , welche sich damit befassen wollten . » Sie sind doch ein sonderbarer alter Kauz , Fiebiger « , meinte Julius Schminkert . » Was wollen Sie nur mit diesem schlaftrunkenen Lümmel , der jetzt im Gehen vollständig schläft , beginnen ? Wollen Sie einen Handel mit fremden Lumpen anfangen ? Ein Taschendieb , der in Ihrer Tasche nach dem Taschentuch suchte , würde mehr als eine Grille und Unbegreiflichkeit damit hervorziehen . « » Einheimische Lumpen haben wir freilich übergenug « , meinte der Alte lächelnd . » Daß Sie aber ein großer Mann , ein Weiser , ein Denker und eine Zierde der Gesellschaft sind , hat noch niemand geleugnet . « Das Lächeln des Schreibers verstand der Denker Julius Schminkert nicht im mindesten , obgleich es viel heller war als das Licht der Gaslaterne , welche eben das faltenreiche Gesicht des Polizeischreibers beleuchtete . So hielt er sich denn an das Faktum der gewonnenen zehn Taler und war glücklich im Bewußtsein des Besitzes ; denn zehn Taler in der Hand eines Toren können mehr Vergnügen gewähren als eine Million in dem Geldschranke eines Weisen . In der Musikantengasse Nummer zwölf wohnten , wie gesagt , der Schreiber Fiebiger und Julius Schminkert in ein und demselben Hause , und viel Volk wohnte mit ihnen darin . Es fing wieder an zu regnen ; der Nordwind machte sich von neuem auf , als wolle er seine Rasiermesser an der Welt schärfen ; Robert Wolf aber ward nach dem wildesten Tage seines Lebens glücklich – unter Dach gebracht . Viertes Kapitel Treffliche Beschreibung des Hauses in der Musikantengasse und des Polizeischreibers Fiebiger im Schlafrocke Das Haus Nummer zwölf , welches der Schreiber in der Musikantengasse bewohnte , ließ sich sehr gut mit gewissen Menschen vergleichen , die nüchtern , kalt und abgeschliffen in ein abgeschliffenes Leben hinausblicken und deren Inneres originell , warm und voll kurioser Ecken und Winkel ist . Diesen Charakteren hat die Gesellschaft eine Maske aufgelegt , und eben eine solche Maske trug das Haus Nummer zwölf . Es war eigentlich ein altes Gebäude voll wunderlicher Baumeisterlaunen längst verlorengegangener Architekturwissenschaft . Aber über seine Vorderseite hatte die Zeit , die ebenso eine Zunge hat , wie sie Zähne besitzt , weggeleckt und alles schön modern grade gestrichen , bis an das Dach hinan . Ähnlich war es allen andern Gebäuden der Musikantengasse ergangen ; aber darum blieb die Gasse nichtsdestoweniger alt , und die Häuser blieben auch alt , und aus den Fenstern der Hinterseiten sah man in die tollste Welt von schwarzen Höfen , Giebeln , Brandmauern und Schornsteinen – ein rauch- und dunstüberhängtes Durcheinander , in welchem der höchste Punkt in der Nähe der Giebel eines halb abgebrochenen Klostergebäudes war , dessen noch erhaltene Räume , bis auf den genannten Giebel , zu Warenlagern und Werkstätten eingerichtet waren . In diesem Giebel hatte seine Wohnung und sein Observatorium Heinrich Ulex , ein halb autodidaktischer Sterngucker , den wir bald näher kennenlernen werden . Wir steigen jetzt in Nummer zwölf der Musikantengasse naturgemäß von unten nach oben . Im Erdgeschoß wurde der Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts durch das Atelier des tailleur de Paris M. Alphonse Stibbe repräsentiert und elegantes Mitschassieren mit der Zeit und der französischen Novellistik durch die schöne Tochter des Künstlers , Fräulein Angelika Stibbe . Das erste Stockwerk bewohnte eine ungemein vornehme , wohlbeleibte Angorakatze nebst einer magern , jungfräulichen , ältlichen Dame , Tochter eines kurz nach den Befreiungskriegen an Apoplexie gestorbenen Proviantkommissars , Fräulein Aurora Pogge , eine Art weiblichen Varnhagen von Enses der Musikantengasse . Im zweiten Stock vegetierte der Hauseigentümer , Herr Mäuseler , ein kinderloser , beschaulicher Witwer , welcher den größten Teil des Tages mit halbem Leibe aus dem Fenster hing , der aber in sich selber wenig zu beschauen hatte und der mit den glücklichen Völkern das Los teilte , daß wenig über ihn zu sagen ist . Im dritten Stockwerk hauste der Polizeischreiber Herr Fiebiger , und neben ihm war der Jüngling mit der beflügelten Seele , Julius Schminkert , selten – zu Hause . Zu diesem Hause Nummer zwölf gehörte außerdem eine Hofwohnung , aus welcher zwei fleißige Hämmer vom frühen Morgen bis spät in die Nacht klangen . Auch Sägen und andere Tischlerwerkzeuge ließen sich von dorther vernehmen , und dazwischen ertönte eine helle , frische Mädchenstimme und das Zwitschern eines Kanarienvogels . Die Schreinerfamilie Tellering , bestehend aus Vater , Mutter , Sohn und Tochter , war ein herzerfreuendes Zeichen , daß auch die dunkelste Wohnung mit der Aussicht auf den engsten , schmutzigsten Hof den echten , rechten Lebensmut nicht zu ersticken vermag ; und Ludwig und Luise Tellering gehörten unzweifelhaft zu den liebenswürdigsten Erscheinungen im Hause Nummer zwölf der Musikantengasse . Unerwachsene Kinder gab es in diesem Hause leider nicht , dafür aber desto mehr davon in den nachbarlichen Wohnungen ; es war sehr gut , daß sie nicht in der Luft tanzen konnten wie ein Mückenschwarm , sie hätten sonst den Weg durch die Musikantengasse zu einem sehr gefährlichen Unternehmen gemacht . Ratten und Mäuse waren im Überfluß vorhanden , und ein Eulennest wurde vor kurzem erst , nachdem es eine geraume Zeit hindurch allnächtlich einen großen Teil der Inquilinen in Bangen , Schrecken und Gespenstergrausen gestürzt hatte , in einem alten vermauerten Schornstein durch Ludwig Tellering und den Polizeischreiber Fiebiger entdeckt und zum großen Mißmut des letztern schadenfrohen Herrn ohne Gnade expropriiert . Wir erwähnen noch eine wechselnde Bevölkerung von Ausläuferinnen , Schneidergesellen und unglücklichen Lehrjungen im Erdgeschoß , eine grämliche Magd , die sich Hulda nennen ließ , im ersten Stock , eine überaus milde , durchsichtige Haushälterin , Frau Krieg , die dem Rentier Mäuseler das Leben erträglich machte , und zum Beschluß den Geist im weiß und schwarzen Mönchsgewande , welcher nächtliche Streifzüge von dem alten Kloster des heiligen Nikolaus her in das Haus Nummer zwölf unternehmen sollte und von Fräulein Aurora Pogge mit dem vergrabenen Klosterschatze , von Fräulein Angelika Stibbe aber mit einer blutigroten Liebesgeschichte in Nummer zwölf in Verbindung gebracht wurde : damit schließen wir unsere Liste der Hausbewohner , behalten uns aber natürlich vor , eine Million interessanter Einzelheiten über sie an den betreffenden Stellen einzufügen . Dunkel , feucht und eng war die Hausflur , über welche Robert Wolf von dem Polizeischreiber und Julius Schminkert geführt wurde ; dunkel war der Blick , welchen der Tailleur aus seinem gasbeleuchteten Atelier auf den Sommerbühnenmimen warf , tief und dunkel war das Auge Angelikas , welches aus einer andern Pforte dem leichtsinnigen Julius entgegenblitzte . Die steile Treppe hinauf mußte Robert Wolf mehr geschleift und getragen als geführt werden , und das dadurch entstehende Gepolter beschwor auf den Treppenabsatz wenn auch nicht den gespenstischen Mönch , so doch eine nicht viel weniger schreckliche Erscheinung , Fräulein Aurora Pogge mit ihrer Küchenlampe . Ahnte sie , daß ein neuer Charakter für ihr Memoirenbuch am Horizont des Hauses Nummer zwölf aufging ? Menschenfeindlichen Blickes betrachtete sie den mit dem Schreiber an ihr vorüberschwankenden Robert und beklagte sich nachher bitterlich bei dem Hauseigentümer darüber , daß man solch wild , wüst und vagabundenhaft aussehende , verdächtige Individuen bei » nachtschlafender « Zeit in Häuser einführe , wo alleinstehende und -schlafende Damen und schutzlose Jungfrauen mit allem , was sie um und an sich hätten , den Gelüsten jedes verwegenen Verbrechers ausgesetzt seien , wie die Gerichtszeitung » tagtäglich « durch haarsträubende Berichte und Beispiele gräßlich der Welt vor die Augen stelle . Der beschauliche Hausherr jedoch , als er vernahm , daß der Polizeischreiber bei der Sache beteiligt sei , wurde in der Ruhe des sichern Bürgers nicht aufgestört durch diese Klagen . Sein Herr Fiebiger gehörte ja der Polizei an und somit der allein infallibeln Macht und Autorität auf dieser Erde ; und dem Schutze und der bessern Einsicht dieser Macht darf , kann und muß man alles , was man hat und ist , kindlich vertrauend anheimstellen . Grollend zog sich Fräulein Aurora Pogge in ihre jungfräulichen Gemächer zu ihrer Katze , ihrem Tagebuch und ihrer Magd zurück , während der Partikulier Mäuseler eine frische Pfeife stopfte und sich glücklich und sicher in dem Bewußtsein fühlte , daß andere Leute für ihn dachten und handelten ; als deutscher Mann und freier Bürger fühlte er sich in dem Bewußtsein , daß ihn zum Denken und Handeln niemand zwinge . » Himmlische Augen , wunderbare Augen – schwarzes Meer – bodenlose Tiefe – ewiger Untergang ! « murmelte Julius , während der Schreiber in seinem Stockwerk nach dem Schlüsselloch tastete . Wir wollen uns aber nicht mit der Gedankenreihe beschäftigen , welche der Deklamator durch diese Ausrufe und Bilder zum Abschluß brachte , nur das wollen wir sagen , daß sie sich längst nicht mehr auf Helene Wienand bezogen . Der Polizeischreiber fand das Schlüsselloch , Robert trat in die Behausung seines Führers , seine neue Heimat . Schminkert folgte , rezitierend : O Venus Cypria , den kleinen Fuß Soll sie mir setzen auf den stolzen Nacken , Und höher trag das Haupt ich als ein König . In Prosa setzte er hinzu : » Können Sie die Lampe nicht finden , Alterchen ; oder liegt 's an den Schwefelhölzern ? Ordnung , Ordnung , Mann der Ordnung ! Wie oft soll ich Ihnen das sagen ? Ordnung ist die Hauptsache im menschlichen Leben , das sehen Sie deutlich an mir . Aha – endlich ! Licht wird's , und aus dem Chaos steigt die Welt . « » Hier sind die versprochenen zehn Taler « , sagte der Schreiber . » Nun packen Sie sich auf der Stelle , Julius , und kommen Sie nicht eher heim , bis das Geld den Weg Ihrer übrigen Besitztümer gewandelt ist . Hier – nehmen Sie ! – nun , warum nehmen Sie nicht ? « Der Deklamator wies mit einer majestätischen Handbewegung die dargebotenen Banknoten weit von sich , warf die Augen » graß in einen Winkel « , wie der Major von Walter in » Kabale und Liebe « , blickte dann » fürchterlich zum Himmel « , wie derselbe unzurechnungsfähige Major , und sagte mit den hohlsten Brusttönen , die er aufbieten konnte : » Pieseke , wie kommen Sie mir vor ? « » Was fällt Ihnen ein ? Nehmen Sie , und fort mit Ihnen ! « » Weder das eine noch das andere , Greis . Sie sind ein großartiger Charakter , Fiebiger ; aber Julius Schminkert wird Ihnen an Erhabenheit nicht nachstehen . Ihr schnödes Geld erlaube ich mir mit legitimer Verachtung zurückzuweisen ; aber ein steifes Glas Grog wollen wir uns und diesem Jüngling brauen , Alter ; und ich will Euch das neueste Couplet vom Thaliatheater singen ; trinken wollen wir auf die Tugend , Schönheit und Gesundheit des Engels , welcher diesen Sohn der Wildnis mit seinem Flügelschlage auf das Pflaster warf . Trinken wollen wir und – Hölle und Teufel , was soll – « Der Polizeischreiber hatte mit einer Kraft , welche man ihm nicht zugetraut hätte , den Komödianten an den Schultern genommen und mit unwiderstehlicher Gewalt zur Tür hinausgedreht . Eilig schob er hinter dem mundfertigen Künstler den Riegel vor und sagte energisch : » So ! « Draußen ein ärgerliches Gebrumm , untermischt mit pathetischen Tiraden aus den Werken einheimischer und fremder Dramatiker ! Nun ging dieses Fluchen und Deklamieren in ein höhnisches Pfeifen über , dieses in eine lustige Opernmelodie und diese in ein Lied , in welchem der Dichter und Julius Schminkert die alles in allem doch so ernste Welt aufforderten , dem Trübsinn und der Trauer ein Schnippchen zu schlagen , die silbernen Becher anzuklingen und zu leeren auf das Wohl einer gewissen romanischen und romantischen Dame , Tochter eines hohen römischen geistlichen Würdenträgers , welche sich , wie es schien , in politischen Angelegenheiten zu Venedig aufhielt , da es in dem Liede an geheimnisvollen Anspielungen , Lagunen , Mondschein und Gondeln nicht fehlte . Dieser Gesang entfernte sich die Treppe hinunter , drang zu den schläfrigen Ohren des Partikuliers Mäuseler und seiner Wirtschafterin , ärgerte das Fräulein Pogge und fand einen sympathischen Nach- und Widerhall nur in dem zarten Busen Angelikas , welche belesene junge Dame sich ganz dafür geeignet fühlte , ebenfalls die Tochter eines Kardinals zu sein und auf den Lagunen im Mondenschein in einer Gondel zu schweben . Ihr tragisches Ende fand die Arie erst an der nächsten Straßenecke , wo der talentvolle Sänger Don Julio Schminkertino auf dem Glatteis ausglitschte und sich mit schmerzlichem Nachdruck auf einen unnennbaren , aber durchaus nicht transzendentalen Körperteil setzte . Wenn wir noch einmal über die Schulter nach ihm hinblicken , so bemerken wir , daß er sich – nicht die Stirn reibt . Wir überlassen ihn für jetzt seinen Gefühlen , die wir leider in des Wortes höchst materiellster Bedeutung nehmen müssen , und sprechen von dem Polizeischreiber Fiebiger in seiner Wohnung und in seinem Schlafrocke . Kalt gewordener Tabaksrauch ist noch eine der geringeren Qualen , denen das Weib des neunzehnten Jahrhunderts ausgesetzt ist , wie zwischen den Zeilen mehr als einer schriftstellernden Makarie zu lesen ist . Die Natur des alten Polizeischreibers hatte viel vom Duft des kalt gewordenen Tabaksrauchs und sein Zimmer nicht weniger . Eine über und über mit Pfeifen von allen Formen und Größen behängte Wand bestätigte , daß der Alte ein eifriger Feueranbeter und Verehrer des stinkgiftigen Krautes sei . An der entgegengesetzten Wand fiel ein Bücherbrett ins Auge ; die römischen Autoren in der Ursprache , die Griechen in Übersetzungen , deutsche , englische und französische Dichter und Philosophen in unvollständigen Exemplaren waren hier aufgestellt . Auf den ersten Blick sah man dieser Büchersammlung an , daß sie allmählich beim Antiquar und in Versteigerungen zusammengekauft war und daß viele Jahre darüber hingegangen waren , ehe sich die mehr oder weniger zerlesenen Bände an dieser Stelle zusammengefunden hatten . Das zweifenstrige Gemach war bedeutend länger als breit , und eine Glastür führte in eine fast noch längere und schmälere Kammer , aus der man die schöne Aussicht auf die Höfe und Hintergebäude der Musikantengasse und auf den Giebel des Sternsehers genoß . In der Stube befanden sich einige Stühle , welchen man ebenfalls den Trödelmarkt ansah , ein zerlumptes Sofa , ein runder Tisch , ein Schreibtisch und ein Spiegelembryo , der nur beim hellsten Wetter zu gebrauchen war und welcher dann doch noch dem schönsten Mädchengesicht die verschrobenste Fratze zugeschnitten hätte , wenn eins hineingelächelt haben würde . In der Kammer stand ein schlechtes hartes Bett , ein Stuhl , ein Nachttisch und ein Kleiderstock . Eine Tür führte in eine leere zweite Kammer . Wir notieren das Mobiliar der ganzen Wohnung nur deshalb gleich einem Auktionskommissarius , weil wir die Originalität des Bewohners nicht dadurch hervorheben wollen , daß wir ihn in eine originelle Umgebung versetzen . Kleider machen nicht immer Leute , den Menschen erkennt man nicht immer an seinem Umgange , nicht immer ist ein Genie nachlässig in seinem Äußern , und es kann Sonderlinge geben , die nicht mehr einen Zopf dem zwanzigsten Jahrhundert entgegentragen und die sich von außen durch nichts Auffälliges von den übrigen Menschen abheben . Man sagt und klagt , die Sonderlinge – diese ernsthaft-spaßhaften Menschen , über die man sich so gern ergötzte – verschwänden allmählich ganz und gar , und hält auch das für ein Zeichen , daß die Welt und Zeit immer flacher werden . Ein großer Teil der Leute , welcher von dem Sterngucker Ulex weiß , möchte ihn gern unter Glas und in Spiritus setzen , samt dem alten Giebel vom Nikolaikloster , um beides so lange als möglich zu erhalten . Sollte sich die Originalität in jetziger Zeit vielleicht nicht mehr auf die innern Teile einzelner Bevorzugter werfen ? Für das Innerliche hat die Menschheit niemals ein sehr scharfes Auge gehabt , und wir wollen ihr keinen Vorwurf daraus machen ; denn die Winter sind kalt , die Kartoffeln mißraten sehr häufig , und man hat seine liebe Not mit den Regierungen , den Weibern und Kindern . Achtung oder du erfrierst ! Achtung oder du verhungerst ! Achtung oder man stellt dich unter polizeiliche Aufsicht ! Achtung oder die Frau zieht den Pantoffel vom Fuß ! Achtung oder deine Tochter kriegt keinen Mann ! – Zum Teufel mit der Innerlichkeit ! Beim Himmel , die arme Menschheit hat wenig Zeit , sich mit ihrem eigensten Wesen zu beschäftigen . Der Polizeischreiber Fiebiger aus Poppenhagen hatte das Leben von den verschiedensten Seiten kennengelernt . Er hatte in seiner Jugend fast soviel Inkarnationen durchgemacht wie ein indischer Gott ; nun aber betrachtete er fast schon dreißig Jahre lang das Dasein von seinem hohen Dreibein im Departement der öffentlichen Sicherheit aus , und seine Philosophie war die eines geistreichen Mannes und Autodidakten , der alles benutzt hat , um zu lernen , und in Fesseln und Ketten von mancherlei Art ein freier Mann ge blieben , aber ein kaustischer Verächter aller Prätensionen menschlichen Stolzes und menschlicher Vollkommenheiten geworden ist . Er war wenig krank , und wenn er sich je unwohl fühlte , so litt er an versetzter Satire , wie andere Leute an versetzten Blähungen leiden . Dieser Natur konnte keine bessere Stellung in der Gesellschaft als die , in welcher sie sich befand , zuteil werden . Dieser Herr Fiebiger war ganz an seinem Platze im Büro Nummer dreizehn . Er behauptete , zwei Gewänder zur Bedeckung seines Ichs zu haben , einen Frack und einen Schlafrock . Im Frack sammelte der Polizeischreiber den Stoff , welchen er im Schlafrock in langen Monologen sich selber oder in kurzen Bemerkungen andern , nach seiner Art verarbeitet , zum besten gab , sich selber höchst vergnügt , andern zu Ärger , Lehre und Nutzen . Wörtlich genommen trug der Schreiber keinen Schlafrock , sondern eine kurze wollene Jacke , in welcher er sich in diesem Augenblicke , dicht am warmen Ofen , mit seinem Schützlinge zu einem höchst frugalen Abendessen niedersetzte . Mechanisch aß und trank Robert Wolf , ohne zu wissen was . Er sah alles durch einen gestaltenvollen Nebel und starrte seinen Wirt an wie den Beherrscher dieses Nebels , dieser Gestalten , wie ein Rätsel , welches zu lösen er sich viel zu schwach fühlte . Der Knabe war sehr weich geworden , und man sah es an seinen Augen , daß sie sich , wie die eines Kindes , bei dem geringsten Anlaß mit Tränen füllen würden . Während des Mahles beobachtete der Wirt den Gast scharf und genau und unterwarf ihn schweigend einer nochmaligen Prüfung , die ganz zu seiner Zufriedenheit auszufallen schien ; denn er schob seinen Teller zurück und stopfte seine erste Abendpfeife mit dem Ausdruck eines Mannes , der ein großes Werk zu erwünschtem Abschluß gebracht hat und vollkommen mit sich einverstanden ist . Mit blauen Ringeln und Wolken füllte sich von neuem das Gemach ; der Regen schlug in Stößen gegen die Fenster , dumpf rollten die Wagen in den Gassen . Der alte Gastfreund lehnte sich zurück in dem zerlumpten Sofa , sah noch einmal seinem Gast in die Augen , blies eine Rauchwolke gegen ihn und begann ganz ex abrupto : » Ich heiße Friedrich Wilhelm Fiebiger , bin im Jahre 1788 zu Poppenhagen im Wirtshaus zum Drachen geboren und bin in die Welt gelaufen , nachdem mein Vater sein Wirtshaus in seiner eigenen Gaststube vertrunken , den Drachen in anderer Leute Hand , sich selber aber in die Grube gebracht hatte . Per varios casus bin ich endlich hier Polizeischreiber geworden und zugleich ein alter Gesell , der seine Stiefel selber putzt , selber seinen Kaffee kocht , grade wie Robinson Crusoe auf der Insel Juan Fernandez . Kennen Sie die Geschichte , Robert ? « Der Knabe nickte . » Gut , so wissen Sie auch , wie der in doppelter Hinsicht verschlagene Reisende einen grünen Vogel , wenn ich nicht irre einen Papagei , fing und zu seinem Freunde und Genossen machte . Ich versuchte dasselbe , um meine Einsamkeit zu erheitern , brachte es aber nur zu einem Starmatz , von dem sein Verkäufer behauptete , es sei der gebildetste Vogel , der jemals den Unterricht des Menschen genossen habe . Mißtrauisch innerhalb der Polizeistube , bin ich der leichtgläubigste Mann außerhalb derselben . Ich kaufte den Vogel , und mein Kummer war nicht gering , als ich aus dem Schnabel des schwarzen Satans nichts als die injuriösesten Schimpfnamen , Epitheta , wie sie noch niemals einem Polizeier geboten waren , zu hören bekam . Die Katze fraß die Bestie und rächte mich – nun frage ich dich , Robert Wolf vom Eulenbruch , willst du den Versuch machen , auf dem Fuß vollkommener Gleichberechtigung mit mir Stiefel zu putzen und Kaffee zu kochen ? Willst du meine Grillen und Launen ertragen und mir deine Seele geben , wie du sie der schönen Eva Dornbluth , unserer Landsmännin , gabst ? Ich bin kein Onkel Zauberer , der expreß aus Afrika nach China kommt , um sich von dem dummen Schneiderjungen Aladin die Wunderlampe aus der Zauberhöhle holen zu lassen und den Armen in blinder Wütenhaftigkeit darin einzusperren . Ängstige dich nicht , Robert Wolf . Ich bin arm und kann dir keinen Glanz versprechen . Ich bin arm , und du wirst mit mir arm sein ; hart wirst du arbeiten müssen , denn der Mensch ist zur harten Arbeit geschaffen . Viel Feiertage wird 's nicht abwerfen , denn die Feiertage sind den Menschen deiner Art nichts nütz ; Licht und Luft wirst du in dem Dasein , welches ich dir biete , nicht so unmittelbar aus der ersten Hand haben wie in deiner – in unserer waldigen Heimat . Bedenke dich – wirst du dein Leben in meine Hand legen , so will ich versuchen , mit guter Hülfe diesem Leben einen Inhalt zu geben , wie es sich für ein vernünftiges Wesen schickt ! « Zitternd rief der Jüngling : » Sie wollen sich so meiner annehmen ? Ich soll hier bei Ihnen leben ? Ich soll hier in dieser Stadt wohnen ? « » Wenn du willst , so wird dem nichts entgegenstehen . « » Ich kann mit ihr nicht in einer Stadt leben ! « schrie Robert Wolf , mit der alten Energie aufspringend . » Ich könnte ihr in den Straßen begegnen , und ich würde sie dann töten . O lassen Sie mich meines Weges gehen , jetzt , jetzt gleich ! « » Ruhe , mein Junge ; immer ruhig Blut « , sagte der Schreiber gemütlich , » Wir haben nun das erste Brot und Salz der Gastfreundschaft miteinander gegessen , jetzt wollen wir dir , so gut es angeht , ein Nachtlager bereiten . Ich leihe dir für diesmal einen Strohsack und einen alten Mantel . Morgen im Tageslicht wird alles ganz anders aussehen . Morgen will ich meine Fragen dir wiederholen ; jetzt hast du ein wenig das Fieber und mußt ausschlafen . Komm zu Bett . « Robert Wolf folgte dem Alten schwankend ; in der zweiten Kammer wurde der Strohsack auf den Boden geworfen und ein erträgliches Lager hergestellt . Der Knabe aus dem Walde hatte zu oft auf nackter Erde geschlafen , um nicht ein solches Bett eines Königs würdig zu finden . Der Schreiber reichte ihm die Hand und sprach : » Schlafe wohl , mein Kind ; träume nicht allzu unruhig ; du schläfst in der Wohnung eines Freundes . Denke nicht an das hübsche Mädchen , sondern tu mir die Liebe an und schnarch . Der Klang der Fußtritte des Glücks ist von dem Gepolter , womit das Unglück einherschreitet , oft schwer genug zu unterscheiden . Es ist immer aber hübsch von beiden , wenn sie nicht in unhörbaren Gummiüberschuhen herangeschlichen kommen . Fac , ut valeas . « Der Alte ging mit der Lampe , und der Knabe warf sich seufzend auf das harte Lager . In der Stube schritt der Schreiber auf und ab und horchte kopfschüttelnd auf das bitterliche Weinen , in welchem sich das arme zusammengepreßte Herz des Knaben , jetzt wo es dunkel und still umher war , unaufhaltsam Luft machte . » Armes Kind « , murmelte der Alte . » Weine nur , spül rein die junge Seele ! Wer weiß , wozu du bestimmt bist ? Mit harter Hand faßt das Schicksal vor allem gern seine Günstlinge ; ruhig , auf makadamisiertem Pfad – alle Viertelmeile ein Meilenzeiger – läßt es nur die wandeln , welchen das Los der goldenen Mittelmäßigkeit aus der geheimnisvollen Urne fiel . Nicht in Goldwolken hüllt das Schicksal seine Erkorenen ; in den dunkeln Mantel des Schmerzes , der Gebrechen , der Krankheit und jeglichen Elends hüllt es sie und reißt sie durch das Leben . Und neidisch ist das Schicksal ; wie manchen hohen Geist hat es für sich behalten in dem dunkeln Mantel , wie selten fällt die Hülle von der Schulter eines Auserwählten , wie selten wird ein Individuum für die übrige Menschheit denkmalreif und ein würdiger Gegenstand für Toaste , Reime und Festessen . « Es war gut , daß dem Alten über diesen Gedanken die Pfeife ausging ; während er sie von neuem in Brand setzte , lächelte er über sich selbst , rieb sich die Stirn und brummte : » Sieh , Fiebiger , hab ich dich wieder ? Alter Knabe , wirst du die Dinge außerhalb der Schreibstube nie so sehen , wie sie alle übrigen verständigen Leute erblicken ? Du setzest mich in Erstaunen , Fritze Fiebiger ! Hebräer , Griechen und Lateiner sind einig , daß es vor allem übel ist , mit der Nase ein Loch in das Firmament stoßen zu wollen ; man vergißt darüber die Löcher im realen Erdboden , liegt drin und wird ausgelacht . Hier haben wir den großen Redner und Oberbürgermeister Marcus Tullius Cicero , welcher keine Verse machen kann , aber sehr gern die des Ennius zitiert : Keiner schaut , was vor dem Fuß liegt , Himmelsräum' ausspähen sie . Und hier hebt der semitische Weise die Hände empor und hält sich mit denselben Worten über dieselben sternguckenden Naturen auf . Wir wollen beiden kein Ärgernis weiter geben , Fiebiger , wie sehr wir dich auch beneiden mögen , Heinrich Ulex . Kurz und bündig , Fiebiger , was willst du nun mit diesem Jungen , welchen du von der Straße aufgelesen hast , anfangen ? 's ist doch in Wahrheit ein Brief mit fremdem Siegel und fremder Aufschrift . « In diesem Augenblick erschien dem Polizeischreiber die Verantwortlichkeit , welche er sich aufgeladen hatte , nicht mehr so klein wie vorhin . Bedenklich nahm er seinen Weg durch das Gemach wieder auf ; die Geister seiner großen Register ließen ihn vollständig in Ruhe ; sie wagten sich nicht hervor aus ihren Folianten , und somit hatte der Schreiber wenigstens etwas erreicht . Fünftes Kapitel Große Gesellschaft bei dem Bankier Wienand ; Mr. Warner aus New Orleans wird dem Freifräulein Juliane von Poppen vorgestellt Der Wagen , welcher Fräulein Helene Wienand und den Doktor Pfingsten von dannen führte , hielt in einer ruhigen , breiten Straße vor einem großen , stattlichen , ganz modernen Hause , welches sich durch nichts von seinen Nachbarn , welche ebenfalls groß , stattlich und modern waren , auszeichnete . Je weniger charakteristisch ein Gegenstand ist , desto schwerer ist er zu beschreiben ; wir beschreiben deshalb das Haus des Bankiers Wienand auch nicht . Hoffentlich wird ein großer Teil der Leser selbst in ähnlichem Backstein-Mauerwerk wohnen und deshalb eine eingehende Beschreibung gähnend überschlagen . Gott segne ihn für den guten Geschmack ! Im untern Teil des Hauses befanden sich die Geschäftszimmer des Bankiers , die Räume der Dienerschaft und so weiter , im ersten Stock die Gesellschaftszimmer und das Reich Helenes . Wir haben es nur mit dem ersten Stock zu tun . Hinter dem Hause befand sich ein reinlich gepflasterter Hof mit dem Wagenschuppen , Pferdestall und so weiter . Ein zierliches eisernes Gitter trennte diesen Hof von einem kleinen Garten , mit welchem wir es im nächsten Frühling ebenfalls zu tun haben werden . Hohe Brandmauern umgaben diesen Hof und Garten von allen Seiten , so daß man glauben konnte , in letzterm vollkommen vor neugierigen Augen gesichert zu sein , was aber nicht der Fall war , wie wir ebenfalls im nächsten Frühling zu beweisen gedenken . Jetzt führen wir den Leser in den glänzend erleuchteten Salon durch ebenso glänzend erleuchtete und ausgestattete Nebenzimmer , in welchen Spieltische aufgestellt sind . Der Bankier gab eine große Soiree ; – werfen wir einen Blick auf die Gesellschaft , aber einen vorsichtigen , daß wir uns nicht kompromittieren . Mehrere Stunden waren verflossen , seit Robert Wolf von dem berichteten Unfall betroffen worden war ; die Gesellschaft , welche sich bei dem Bankier Wienand versammelte , war ziemlich vollständig gegenwärtig . Zwei Diener reichten Tee umher ; an den Spieltischen hörte man die gewöhnlichen Redensarten ; es war ein Überfluß von altern und jüngern Damen , von weißen Westen , bunten Uniformen , schwarzen Fracks vorhanden . Ehe wir uns den Einzelheiten hingeben , können wir den Totaleindruck in der Sprache der Zeit , der Börsensprache , charakterisieren . Wir finden , daß die Stimmung der Gesellschaft im allgemeinen eine feste war und daß das Geschäft der Unterhaltung sich auf der soliden Bahn ruhigen Fortschritts bewegte . Komplimente und Schmeicheleien fanden mit den bestehenden Gegenkomplimenten Nehmer und Nehmerinnen . Nach Skandal vielseitige Nachfrage ; Stadtklätschereien aber leider loco unverändert , fest – jedoch beliebt . Politik ziemlich schwankend , in Musik und Theater lebhaftes Geschäft , günstige Stimmung für den letzten Roman ; wissenschaftliche Fragen und Wahrheit still und flau . Die ältern Damen befanden sich in sehr fester Haltung , die jüngern Damen zur Notiz schwimmend und flott . Die ältern Herren unverändert – Konsumgeschäft . Die jüngern Herren in matter Haltung zur Notiz . Nach zwei Uhr sanken die Kurse der Unterhaltung ; die Notierungen aus der letzten Stunde der Gesellschaft sind uns nicht zugegangen . Wir können uns zu den Einzelheiten wenden . Mit kindlichem Schauder haben wir in unserer Jugend in Raffs Naturgeschichte gelesen , wie in den Dschungeln , den Schilfwäldern Hinterindiens , der Elefant mit dem Rhinozeros in einen Kampf auf Leben und Tod gerät , wie das letztere Untier das erstere unterläuft , ihm mit seinem Horn den Bauch aufschlitzt und zuletzt , seinen zappelnden Gegner auf der Nase tragend , mit Triumphgeheul davonrennt , zum Ergötzen der frommen geduldigen Hindus und zum Erstaunen der langen leberkranken Engländer und der semmelblonden , langgelockten Rulebritannierinnen . In dem Salon des Bankiers Wienand stand der Elefant neben dem Ofen , wärmte als ein tropisches Tier seine Posteriora und war ein wolleerzeugender Grundbesitzer vom Lande . Das Nashorn aber trug auf der Spitze seiner Nase eine grüne Brille , welche ihm ein höchst lächerliches Aussehen gab , und wurde es Herr Kommissionsrat tituliert . Sobald der Elefant das Nashorn erblickte , ließ er die Frackschöße vom linken Arm fallen , setzte die Teetasse in die Fensterbank , ließ ein dumpfes Schnauben hören und kam seinem Gegner aus dem Ofenwinkel halbwegs entgegen . Das Rhinozeros schnob gleichfalls , und es entstand ein merkwürdiger Kampf über die Preiswürdigkeit einer Wollieferung ; aber das Resultat dieses Kampfes war ein ganz anderes , als die Naturgeschichte angibt . Der Elefant besiegte das Nashorn ganz und gar ; er vernichtete es vollständig , er trampelte es moralisch zu Boden , und wäre dem armen Hornträger nicht sein Hausfreund , ein besonnener Mann und Freund seiner Gattin , zu Hülfe gekommen , wer weiß , was daraus entstanden wäre . Dieser Hausfreund trug die Uniform eines Husarenrittmeisters , er schien sich vorzüglich und mit Glück auf die Kultur eines ungeheuern Schnurrbarts gelegt zu haben und sprach mit Bewußtsein , über dies haarige Ungetüm weg , durch die Nase . Sein Vetter , im Ministerium des Kultus angestellt , befand sich ebenfalls in der Gesellschaft , kultivierte aber hinter seinem Klapphut nichts weiter als sich selber in einem ununterbrochenen Gegähne . Ein Wirklicher Geheimer Rat von wohltuender Fülle der Erscheinung unterhielt sich mit einem unwirklichen , welchen man recht gut als ein Lesezeichen hätte in ein Buch legen können . Es befanden sich überhaupt viele Juristen in dieser Gesellschaft ; denn der Bankier hatte viel mit ihnen zu tun . Vollständig beherrschten sie jedoch das Gespräch nicht , obgleich sie es gern gemocht hätten . Auch ein sehr wohlgekleideter Dichter war zugegen , wurde aber , obgleich er sich durch nichts Außergewöhnliches auszeichnete , von dem anständigen und gottlob größern männlichen Teil der Gesellschaft mit mitleidiger Verachtung vermieden – omnes hi metuunt versus , odere poetas . Dieser Dichter hatte ein anerkannt vortreffliches Trauerspiel verfaßt , aber einen von der Regierung zur Beförderung der dramatischen Kunst ausgesetzten Preis von tausend Talern deshalb nicht erhalten , weil Shakespeare , Goethe und Schiller Besseres ihrerzeit geleistet hatten . Der Mann hatte an diesem Abend das Vergnügen , über die Billigkeit des Verfahrens und die Versunkenheit der Literatur mancherlei zu hören von einem nichtssagenden Herrn , welcher gestern durch eine Spekulation in Guano das Zwanzigfache des für das Drama ausgesetzten Preises verdient hatte . Harmlos und gelassen lächelnd , trug der Poet sein Mißgeschick und diese Unterhaltung ; höflich war er bereit , die Verbreitung der künstlichen Dungmittel sowie des Vogelmistes als den schlagendsten Beweis der fortschreitenden menschlichen Intelligenz anzusehen . Christliches Bankiertum mit jüdischer Legierung und jüdisches Bankiertum mit feudaler Betitelung war in der Wienandschen Gesellschaft , wie sich das von selbst verstand , am stärksten vertreten . Drei bis vier Stockbürokraten standen ebenso weitbeinig über ihrer engen Welt wie Julius Cäsar in Shakespeares Trauerspiel über der seinigen . Sie folgten jedoch zugleich äußerst ehrfurchtsvoll den Spuren einer Exzellenz , die sich in der Soiree befand . Obgleich es nur eine außer Kurs gesetzte war , so umgab sie doch ein achtungsvoller Kreis deutscher Männer auf Schritt und Tritt und horchte den seltenen Worten , die ihr entfielen , mit dienstergebenster Entzücktheit . Und doch gibt es vielleicht im Volksbewußtsein keinen Titel , der unangenehmer berührte als das abgeschmackte Wort » Exzellenz ! « Es klebt ihm etwas Lächerliches und zugleich Unheimliches an . Ich weiß nicht , ist das Theater oder etwas anderes , » Kabale und Liebe « oder unsere vortreffliche Diplomatie schuld daran ? Selbst Wolfgang Goethes hohe Göttergestalt läuft komisch schillernd an , wenn man auf das Piedestal : Exzellenz ! schreibt . Die Jünglinge , welche in den Urwäldern Germaniens den Ur , das Elen und den Römer jagten , trugen nicht einen Frack und nicht den Hut in der Hand ; – auch meldet Tacitus nicht , daß sie ein Stück Glas in die Augen kniffen und sich so unbeschreiblich allein mit sich selber eins fühlten wie die Jünglinge im Salon des Bankiers Wienand . Wir wollen uns zu den Damen wenden , und die heilige Zahl der Charitinnen möge uns dabei zur Seite stehen . Ein hellglänzender Schein geht über das graue Konzeptpapier ; mit Naivität gepaarte holde Anmut erscheint neben matronenhafter Würde , Vorblüte und Nachblüte schmiegen sich aneinander ; Flittergold sucht echtes , treues , wahres Gold zu überfunkeln , und gelingt ihm das öfters , als man für möglich halten sollte . Alle Übergangsformationen der weiblichen Welt , vom sechzehnten bis zum sechsundsechzigsten Jahre , kommen zur Erscheinung ; der Liebhaber von Frühlingssonnenschein und Blütenstaub wie der Antiquitätenliebhaber finden gleichmäßig nach Neigung und Geschmack den Stoff zur Begeisterung . Die ewige Sehnsucht des Menschen nach dem Schönen wie die ironische Lust am Häßlichen können auf gleiche Weise befriedigt werden . Aber sollen wir uns hier auch auf Einzelheiten ein lassen ? Stille ! stille ! Das Auge , die Religion und die Frauen lassen nicht mit sich spaßen ; das interessanteste Studium ist zugleich das mühsamste und gefährlichste , und weder leidenschaftliche Entzückung und raffaeleske Begeisterung noch zynisches Grinsen stehen uns dazu genügend zu Gebote . Hüten wir uns ; was wir sagen , bedecken wir mit Rosen und besprengen es mit Kölnischem Wasser ; für die Bemerkungen , welche späterhin andere Herren in diesem Kapitel machen , nehmen wir die Verantwortung nicht auf uns . Laß die Leute selbst sehen , wie sie mit den Damen zurechtkommen ! Nach dem Tee und Spiel wurde bei dem Bankier Wienand gegessen , worauf das junge Volk mit den alten Empfindungen , nach hergebrachter Weise , tanzte . Wir aber lassen die große Welt brausen und gleiten verstohlen in das Gemach Helenes , wo es am stillsten und wo die Beleuchtung gedämpfter ist ; denn die junge Bewohnerin dieses Raumes hatte sich noch immer nicht recht von ihrem Schrecken erholt , und nur die Kürze der Zeit hatte überhaupt ein Absagen der Gesellschaft verhindert . Der Bankier Wienand war ein sehr reicher Mann , welcher sein einziges Kind fast abgöttisch liebte . Keinen Wunsch konnte Helene fassen , welchem er nicht auf halbem Wege entgegenkam ; mit allem , was ihr Herz verlangte , umgab er sie , und so war auch ihr Zimmer der Gegenstand des gerechten Neides mancher andern jungen Dame in der Stadt . Auf die beliebte Dekorationsmalerei wollen wir uns jedoch auch an dieser günstigen Stelle nicht einlassen ; wir beschränken uns darauf , mitzuteilen , daß Teppiche , Bilder , Gerätschaften , Vorhänge usw. in vollster Harmonie miteinander waren und daß alles wiederum in Harmonie mit dem lieblichen , nur ganz wenig verzogenen Wesen war , welches in diesem duftenden Raume atmete . Die erste Regel des guten Geschmacks : nirgends zuviel , nirgends zuwenig ! kam zur vollsten Geltung , in der Zimmerausstattung wie in der jungfräulichen Gestalt Helenes selbst . Zurückgelehnt in die Kissen eines Diwans in der Nähe der Tür , welche in den Salon führte , saß Fräulein Wienand , noch recht bleich und angegriffen aussehend , umgeben von einigen nähern Freunden . Die Gesellschaft hatte den Unfall vernommen und besprochen ; das junge Mädchen hatte dieselben Bedauerungsformeln , Glückwünsche mit den selbstverständlichen Variationen hundertfältig anhören und beantworten müssen ; jetzt waren die Kräfte des armen Kindes vollständig zu Ende ; es stützte das schmerzende Köpflein mit der weißen Hand , und der Sanitätsrat Pfingsten hatte auf Bitten des Bankiers mit ärgerlichem Gebrumm seine Karten – es waren sehr gute ! – einem andern Herrn gegeben und saß jetzt wieder in einem Lehnstuhl neben der Tochter des Hausherrn . Auf der andern Seite derselben saß im Diwan eine kleine hagere Dame , welche einmal den Fuß gebrochen und deshalb einen Krückstock neben sich hatte , in schwarze Seide gekleidet war und auf dem grauen Haar ein winzig kleines Mützchen trug . Sie hatte trotz ihres Alters ein sehr weißes Gesicht , merkwürdig beweglich und ausdrucksvoll ; ihre Augen waren schwarz und voll Leben und ausdrucksvoll wie ihre Züge . Diese kleine Dame war das Freifräulein von Poppen , eine Hausfreundin des Bankiers Wienand und eine Person , welche eine wichtige Rolle in dieser unwichtigen Geschichte spielt . Im folgenden Kapitel werden wir mehr über sie sagen , in dem vorliegenden lauscht sie , höchlichst interessiert , dem Bericht , welchen der Polizeirat Tröster , der jetzt in Frack und weißer Weste sehr nobel aussieht , über Robert Wolf und den Polizeischreiber Fiebiger gibt . Das Freifräulein kannte den Schreiber sehr genau – kannte mehr Menschen , als sonst die Leute ihres Standes kennen . Der Polizeirat , welcher ebenfalls vom Spieltisch abgerufen war , erzählte , was die hohe Polizei wußte , so kurz als möglich und mit manchem sehnsuchtsvollen Blicke nach der Tür . Mit einem Seufzer der Befriedigung ließ er sich von dem Freifräulein zum Whist zurückschicken . Juliane von Poppen schüttelte den Kopf , gleich allen andern Leuten , über die Idee des Schreibers ; aber sie schien dabei zugleich innerlich recht zu lachen . » Bitte , lieber Herr Doktor , erzählen Sie uns noch ein wenig von diesem wunderlichen Schreiber ! « bat Helene Wienand , und wenngleich das Freifräulein die Achseln zuckte , so tat sie doch mündlich keinen Einspruch , sondern setzte sich nur bequemer zurecht in den Kissen des Diwans mit einer Miene , welche deutlich sagte : › Was kann der davon wissen ? Nun gut , ich will alles über mich ergehen lassen . Schwatzt zu . ‹ Der Sanitätsrat rieb in der Ermangelung eines Stockknopfes die Nase mit dem Knöchel des Zeigefingers und sagte : » Meine Damen , von allen Menschen , die mir auf meinem Lebenswege entgegengetreten sind , beneide ich diesen am meisten ! « » Weshalb ? « fragte das Freifräulein . » Er kennt die Menschen so gut wie ich ; aber – er ärgert sich nicht darüber wie ich « , knurrte Pfingsten . Er horchte nach dem Salon und schüttelte die Faust nach derselben Richtung : » Hören Sie , das war die Stimme des großen Kirchennachtlichts , des Konsistorialrats Krokisius . Sollten Sie es für möglich halten , daß dieser treffliche Herr vorhin gegen die Baronin Silberstein behauptete , Goethe habe durch die Weinszene in Auerbachs Keller jedenfalls , unbedingt und unter allen Umständen das Wunder der Hochzeit zu Kana verspotten wollen ?! « » Sie wollten uns von dem alten Fiebiger erzählen , Doktor « , sagte das Freifräulein ; aber Pfingsten hielt horchend die Hand an das Ohr : » Das war das silberne Gelächter – mehr doch Britannia- oder Christoffelgelächter – unserer reizenden Witwe Everilde von Strippelmann . Die Dame ist doch der wahre Pirat und Flibustier des Ballsaals ! Wie sie mit aufgespannten Segeln einherstreicht ! Wie sie Breitseiten gibt ! Fräulein Helene , wenn Sie etwas lernen wollen , so studieren Sie die kecken Handstreiche weiblicher Koketterie an dieser – diesem reizenden Motiv . « » Kommen Sie auf den alten Fiebiger , Doktor ! « rief das Freifräulein , merklich bedeutungsvoll nach ihrem Handstock greifend . » Ich bitte Sie , Gnädigste , bin ich nicht dabei ? Die Gelegenheit ist günstig . Hier sitze ich im Winkel und horche auf das Wortgeplätscher dort hinter der Tür , kann auch , wenn es mir beliebt , einen Blick durch die Ritze in das Gewühl der weitärmeligen Pierrots und Harlekins , der schwarzbemäntelten Pantalons , der grämlichen Anstandsdamen , der allerliebsten flitterhaften Kolumbinen werfen . Ich ärgere mich darüber ; Fritze Fiebiger würde sich nicht darüber ärgern . Ich glaube , der Mann kann zu seinem Privatvergnügen den Staub im Sonnenstrahl in ein Universum der Narrheit verwandeln , weil ihm dieser Erdball mit allem , was daran hängt , noch nicht ausgiebig genug ist . « Das Freifräulein lächelte jetzt und nickte ; der Arzt sprach weiter : » Mir spiegelt sich die Welt am besten in einem Glase Rheinwein , dem andern strahlt sie am vorteilhaftesten aus einem schönen Auge , einem dritten aus einem klaren Waldquell ; Ihr Herr Neffe , Fräulein von Poppen , sieht sie im besten Licht in dem Spiegel , welcher seine liebenswürdige Person in Lebensgröße zurückwirft , weil er nichts damit zu tun haben mag : dieser Schreiber aber legt sich so weit als möglich aus dem Fenster einer Wohnung , in der kein Student hausen möchte , raucht einen Knaster , den kein Schäfer vertragen kann , und lacht – lacht . Ich lache nicht , wenn ich mich aus dem Fenster lege ! Wodurch hat sich dieser unverschämte alte Knabe in aller Welt den Göttern so beliebt gemacht ? Unsereiner hat doch auch seine Verdienste , muß sich aber allstündlich halb zu Tode ärgern und kriegt höchstens ein Ordenszeichen vierter Klasse zum fünfzigjährigen Jubiläum . « » Woher kennen Sie diesen Herrn Fiebiger so genau ? « fragte das Freifräulein . » Die Polizei und die Medizin treffen wohl einander « , brummte der Sanitätsrat . » Übrigens haben wir auch die Jahre dreizehn und vierzehn zusammen durchgemacht . « Juliane von Poppen sagte : » Sie stammen doch wohl aus ganz verschiedenen Lebenssphären ? « » Jene Zeit leimte die Menschen schon zusammen , heute freilich ist der Leim längst wieder aufgeweicht . Ja , wir bewegen uns in unsern verschiedenen Sphären , der Rat im Medizinalkollegium und der Schreiber in der Polizeistube . « In immer tieferes Nachdenken versank Juliane von Poppen , während Pfingsten der andächtig lauschenden Helene noch allerlei Einzelheiten über den alten Humoristen in der Musikantengasse mitteilte . » Ihm zunächst auf der Leiter des Glücks « , meinte er , » setze ich den großen Reisenden und Menschenfischer Faber . Der eine in seiner Dachstube hockend oder seine Tage in dem denkbar widerlichsten Amte verkritzelnd , der andere mit dem weitesten Spielraum für seine Beine durch alle Völker und Länder streifend , sind einander verwandt wie zwei gleichschenkelige Dreiecke , und der Gesichtskreis des einen ist nicht weiter als der des andern – sie haben beide gute Augen . « » Und jetzt will er diesen armen jungen Mann , welcher beinahe durch mich getötet worden wäre , bei sich aufnehmen ? « » Tröster sagt 's ; so sind diese Glücklichen , wenn 's ihnen zu wohl wird – « » Sie sind ein kalter Egoist , Pfingsten « , sagte das kleine Freifräulein trocken . » Lassen Sie diesen Friedrich Fiebiger , Sie kennen doch blutwenig von ihm . Wen haben wir hier ? « » Lupus in fabula , der Hauptmann von Faber mit seinem jungen Yankee – der Papa Wienand « , sagte der Doktor und seufzte im geheimen : › Gottlob , so komme ich endlich doch noch zu meinem L'hombre . Falsch ist alles , die Menschen und die Karten ; ich ziehe aber die letzteren vor . ‹ Der Bankier Wienand konnte an diesem denkwürdigen Abend , von der Sorge für seine Gesellschaft in Anspruch genommen , immer nur einige Augenblicke in dem Zimmer seiner Tochter weilen . Höchstens durfte er dann und wann den Kopf hineinstecken und sich nach ihrem Befinden erkundigen . Jetzt erschien er – ein wohlbehäbiger Herr mit stahlgrauem Haar , etwas harten Gesichtslinien und einem Zug lächelnden Selbstbewußtseins um den Mund , gleich einem Sonnenstrahl , der um einen eisernen feuerfesten Geldschrank spielt . Er kam Arm in Arm mit Konrad von Faber und einem jungen stattlichen Herrn mit rötlichem Haar und Bart , der mit sicherm Anstand vor den Damen sich verneigte und von dem Hauptmann vorgestellt wurde als : Herr Friedrich Warner aus New Orleans . « Der Sanitätsrat benutzte die gute Gelegenheit , dem Boudoir Helenes zu entschlüpfen . Während er zu den Spieltischen zurückschlüpfte , murmelte er aber : » Ein prachtvoller Menschentypus , dieser junge Deutschamerikaner . Ich liebe diese breitschultrigen Gesellen mit diesen blonden Löwenmähnen und den vollen Bruststimmen . Man fühlt sich dabei in seiner Rasse noch für einige Zeit gesichert ; 's ist ein Trost für einen Arzt heutiger Epoche . « Um diese Zeit stand der Polizeischreiber Fiebiger in der Musikantengasse mit untergeschlagenen Armen vor dem Lager seines Schützlings . » So habe ich nun « , sprach er , » den Griff in das volle Menschenleben getan . Was hab ich gepackt ? Eine Handvoll Glück oder Unglück ? Wir wollen sehen . Eines ist sicher ; als William Shakespeare seine schönen Verse über den Mann , › der nicht Musik hat in sich selbst ‹ , dichtete , da verstand er unter Musik jedenfalls nicht solche Nasallaute , wie sie der Junge hier jetzt hervorbringt . Bah , es ist besser , zu schnarchen als zu schluchzen . Soll mich doch wundern , was Ulex dazu sagen wird . « Der Schreiber nahm die Lampe von dem Stuhl wie der auf und schlich auf den Zehen aus der Kammer . Er zog seinen Oberrock wieder an , setzte den Hut auf , schloß sorglich die Tür seiner Wohnung und versenkte den Schlüssel in seine Hosentasche und verließ das Haus . Um die Ecke der Musikantengasse biegend , schritt er eine zweite Gasse hinab , bis in einen Winkel , wo er vor einer niedrigen schwarzen Pforte stillstand . Diese Pforte führte auf einen umfangreichen Hof voll Gerümpel aller Art ; der Schreiber trat hinein , und der schwere Türflügel schlug sogleich hinter ihm zu . Ein Licht flimmerte aus der Höhe , es flimmerte in dem Giebel des Astronomen Heinrich Ulex . Es war derselbe Schein , welchen man auch aus der Kammer sah , in der jetzt Robert Wolf schlief . Tastend fand Friedrich Fiebiger seinen Weg über den Hof , und in einer Ecke desselben stieg er eine Wendeltreppe empor . Sie führte empor zum Gemach des Sternsehers . Sechstes Kapitel Expektoration des Autors über die Einsamkeit ; Lebensläufe aus vergangenen Tagen werden erzählt O Einsamkeit , du starke Göttin , der Königlich Großbritannische und Kurfürstlich Hannoversche Leibarzt Johann Georg Zimmermann , hypochondrischen Angedenkens , hat vier dicke Bände über deine Süßigkeiten und deine Schrecknisse geschrieben ; ich werde das nicht tun . Eine starke Göttin nenne ich dich , o Einsamkeit , weil die Wirkungen deiner Macht grenzenlos sind im Guten wie im Bösen . Je nachdem du dem Menschen die lichtblaue oder die dunkelfarbige Seite deines Schleiers über die Augen hängst , führst du seine Seele in die stillsten Auen irdischen Friedens , irdischer Glückseligkeit , stürzest du sein Ich in die gräßlichste Nacht der Verzweiflung und des Wahnsinns . Du bist eine gewaltige Zauberin , Einsamkeit ; Mutter der Kunst , der Weisheit und des Heldentums bist du und bevölkerst doch die Welt mit Gespenstern , Fratzen , mit allem Gaukelspiel der Hölle . Mutter bist du und doch eine Jungfrau : dem einen Maria die Allbeseligende , dem andern die eiserne Gestalt des Mittelalters , deren Arme zerfleischende Messer verbergen . Deine Arme breitest du aus : Kommet her zu mir alle , die ihr betrübt , mühselig und beladen seid , ich will euch euerer Last entledigen , ich will euch trösten ! Deine Arme breitest du aus : Kommet her zu mir , ihr Verstockten , ihr Fanatiker , ihr Verbrecher , ihr Unglücklichen jeder Art ; das Bittere soll bitterer werden , härter das Harte , schlechter das Schlechte , giftiger jedes Gift ! – Im größten wie im kleinsten wirkst du , Einsamkeit ; die Flammen der Sinnlichkeit löschest du und schürst du zum verzehrenden Brande ; anders erscheinst du jeglichem Menschen : dem Alter auf andere Art als der Jugend , dem Weibe anders als dem Mann , der Jungfrau anders als der Mutter . Mir bist du bona Dea , o Einsamkeit , die gute Göttin des Lebens ; ich bitte dich , sei auch eine gute Göttin allen denen , welche ihr Auge auf dieses Blatt werfen ; ich bin ihnen gewogen , darum zeige ihnen deine holdeste Gunst und Kraft ! Dicht am Dorfe Poppenhagen im Winzelwalde liegt das adelige Gut , der Poppenhof , welchem das Privilegium nobilitatis beigelegt war und damit die Vogtei und Untergerichtsbarkeit . Danach konnten die jedesmaligen Delinquenten » in solchen Delictis , so nicht in die peinliche Halsgerichtsordnung laufen , nach Beschaffenheit der Umstände ohngehindert mit einer Geldbuße beleget , incarceriret , auch mit Anschließung an das Halseisen , so auf dem Hofe befindlich , bestraffet werden « . Am vierzehnten April 1803 sollte diesem Privilegio gemäß das Halseisen der Witwe Ulex aus dem Dorfarmenhause umgelegt werden . Ihr Mann war , wie der Vater Robert Wolfs , Forstwart auf dem Eulenbruch gewesen und hatte als blutjunger Mensch die Annexionskriege des Alten Fritz mitgemacht . Als Unteroffizier des Regiments Pasewalk invalid entlassen , heiratete er , indem er das erste junge weibliche Wesen aufgriff , welches ihm bei seiner Rückkehr aus dem Garnisonsdienst am Eingange des Dorfes Poppenhagen entgegenlief . Aus dieser Zufallsehe entsproß Heinrich Ulex der Sternseher . Um das Jahr achtzehnhundertundeins starb der Forstwart an einer Wilddiebskugel , welche eine alte Wunde aus dem Bayrischen Erbfolgekriege von neuem aufriß , und die Witwe zog mit ihrem Jungen nach Poppenhagen hinab in das Siechenhaus . Sie war dem Trunke ergeben und nahm es nicht allzu genau mit dem Mein und Dein . In der Kunst , Hühner zu stehlen , hatte sie es zu einer wahren Virtuosität gebracht , und wir benutzen die Gelegenheit , unsern Leserinnen zuzuraunen , daß es nicht nur eine Kunst ist , Herzen , sondern auch eine Kunst , Hühner zu stehlen . Vergeblich suchte die fromme Wirtswitwe Fiebiger , die ebenfalls mit ihrem Sohne Fritz ihre letzten Jahre in dem Siechenhause hinbrachte , moralisch auf die Sünderin einzuwirken ; das Unterfangen war zu gefährlich und trug höchstens einige Kratzwunden ein . Die Fiebigerin war aber so still und demütig , wie die Witwe des Forstwarts wild und rebellisch war ; sie konnte daher am vierzehnten April 1803 nur in den Winkel kriechen und die schreckliche Aussetzung ihrer Mitgenossin im Hunger und Elend des Armenhauses mit vors Gesicht gehaltener Schürze bejammern . So stand denn unter dem trüben Himmel des regenhaften Tages auf dem Gutshofe die Ulexin im Halseisen , während der Großvater Leons von Poppen , der Rittmeister außer Dienst Gotthelf von Poppen , mit der Tonpfeife im Fenster lag und das diebische Weib mit den greulichsten Flüchen und Schimpfwörtern überschüttete , während die Bauern , ihre Weiber und Kinder samt den Gutsknechten mit abgezogenen Hüten , wenn auch angstvoll , so doch sehr befriedigt gafften . Ein zerlumpter , verwahrlost blickender Knabe wurde neben dem Halseisen von einem etwas jüngern , wohlgekleideten Knaben geneckt und mißhandelt und suchte sich schreiend an dem Lumpenrocke des gefesselten , beschimpften Weibes zu halten . Der eine Junge war Heinrich Ulex , der Sohn der Hühnerdiebin , der andere war Theodor von Poppen , der Vater Leons . Zitternd , mit atemloser Bangnis sah Fritze Fiebiger von dem Düngerhaufen aus dem häßlichen Schauspiel zu , und dasselbe tat ein kränklich blickendes Mädchen von der Tür aus , die in den Gutsgarten führte . Juliane von Poppen hieß die Kleine ; ihre Mutter war tot , ihr Vater kümmerte sich wenig um sie , er zog bei weitem seinen Sohn , der einige Jahre jünger als das Mädchen war , vor . Hübsch war die Kleine jedenfalls nicht zu nennen , sie war zu bleich dazu ; aber sie war mitleidig und hatte jetzt Tränen in den großen schwarzen Augen . Es war ein für ihr Alter winziges , nervöses Ding , und als sich der heulende , zerlumpte Betteljunge vor der Gerte ihres Bruders von der Schürze der Frau im Halseisen in ihre eigene Nähe flüchtete , machte sie sich von der Hand der Bonne los und trat mit abwehrenden Armen und geballten Händen dem jugendlichen Tyrannen und Dynasten vom Poppenhof entgegen . Der Rittmeister oben im Fenster lachte darüber aus vollem Halse ; aber Junker Theodor schien nun die größte Lust zu haben , seinen Stock gegen die Schwester zu gebrauchen . Nur des Vaters ernstliches : » Laß die kleine Katze ! « konnte seinem Zorn Halt gebieten , ohne ihm jedoch Einhalt zu tun . Seit den frühesten Kindertagen herrschte eine tiefe Abneigung zwischen den Geschwistern , was man leider viel häufiger findet , als man gewöhnlich annimmt . In dem schwächlichen , magern Körper des Mädchens steckte eine starke , willenskräftige Seele , welche hielt , was sie erfaßt hatte , Kenntnisse , Zuneigung und Abneigung , Liebe und Haß . Juliane von Poppen ward von dem Tage , wo seine Mutter am Halseisen stand , die erklärte Beschützerin von Heinrich Ulex , und der arme Knabe hing ihr dagegen mit der Ergebenheit eines Hundes an . Sie nahm das ganze Armenhaus unter ihre besondere Protektion , aber vorzüglich , wie gesagt , den Sohn der Hühnerdiebin . Sie hatte noch öfters Gelegenheit , ihn gegen die Ungeschlachtheit des Vaters und die Roheit des Bruders zu schützen , und wenn es ihr auch nicht gelang , jedes Ungewitter von ihm abzuwenden , so konnte sie doch manchen Blitz und Donner unschädlich seitwärts lenken . Es entstand allmählich zwischen dem Fräulein von Poppen und dem Sohn der diebischen Bettlerin ein eigentümliches Verhältnis . Das Mädchen hatte in der Gesellschaft ihres Vaters und Bruders traurige , freudenlose Tage hingebracht ; jetzt fand sie zum erstenmal auf ihrem Lebenswege ein Wesen , welches ihr alles zuliebe tat , was sie nur irgend verlangen mochte . Unklare Gefühle , geschöpft aus einer Bibliothek sentimentaler Romane , dem einstigen Eigentum der verstorbenen Mutter , durchspukten das phantastische Köpfchen ; die junge Chatelaine gebrauchte den erworbenen Einfluß , um den Knaben aus dem Armenhause an sich zu fesseln wie eine kleine geistreiche Fee einen blöden , dickköpfigen , ehrlichen Kobold . Da gab es für Heinrich Ulex Aufträge der verschiedensten Art . Seltene Blumen mußten gesucht werden in den Wäldern und auf den Bergen ; auf glänzende Steine , zierliche Moose , Vogeleier und Federn mußte Jagd gemacht werden , zum phantastischen Schmuck des Zimmers des Fräuleins . Es verging kaum ein Tag , an welchem die Kinder nicht miteinander verkehrten in Wald und Feld oder hinter den Gartenhecken von Poppenhagen . Und niemand durfte etwas merken von der Vorliebe des Fräuleins für ihren Kobold als Fritz Fiebiger , der Sohn der Wirtswitwe . Er wurde von Zeit zu Zeit in allerlei wichtige Geheimnisse der beiden andern hineingezogen und ging dann und wann mit auf die Jagd nach Blumen , Steinen und Vogeleiern . Juliane von Poppen , welche vor ihrem Vater sich fürchtete und ihren Bruder haßte , wurde in der Einsamkeit des Waldes , in der Gesellschaft der beiden Knaben zum fröhlichen , liebenswürdigen Kinde . Das altkluge Gesichtchen verlor die bleiche Farbe , der ernste Mund lernte allmählich das heitere Lachen , und die schwarzen Augen behielten wohl ihren Glanz , aber nicht ihre scheue Unstetigkeit . Es rauscht und plätschert manch ein Bach durch den Winzelwald , und der große Forst , im Jahre 1803 noch viel wilder und dunkler als heute , bot manch ein geheimnisvolles Versteck , ganz gemacht , daselbst Märchen zu erzählen und auf Märchen zu horchen . An einem solchen Fleckchen , wo die Waldvögel in die Lektion des Fräuleins vom Poppenhof hineinsangen , wo die Sonne zitternde Schattenbilder auf das Lesebuch im Schoß der kleinen eifrigen Lehrerin warf , lernten Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger das Lesen und Schreiben . Hier füllte dem armen Heinrich das elfenhafte , phantastische Mädchen das Herz mit den Gestalten und Bildern ihrer eigenen Lektüre . Ritter und Damen , Tyrannen , Henker , schuldlose Opfer , unglückliche Verliebte , Totengerippe , Gespenster , Räuber , Riesen und Zwerge zogen vorüber ; und in wonnigem Bangen lauschten die beiden Kinder geheimnisvollen Klängen in der Ferne , sahen Gestalten hinter den Stämmen in der Dämmerung des Waldes und drängten sich scheu aneinander vor den Geistern und Schauern , welche sie selbst beschworen hatten . Dem mit gefalteten Händen horchenden Heinrich war oft zumute , als werde die Lehrerin mit ihrem Waldblumenkranz und den blitzenden schwarzen Augen sich gleich selbst in solch ein verschwebendes Bild auflösen und im Waldschatten , Vogelsang und Rauschen der Wasser verschwinden . Wie aber schreckten die Kinder auf , wenn ein Laut des wirklichen Lebens sie in ihrer Einsamkeit störte ; wenn die Axt des Holzhauers in der Nähe erklang oder das Pfeifen des Hirten . Da schoß das eine hierhin ins Versteck , das andere dorthin . Und wenn dann gar der Rittmeister von Poppen mit seinen Hunden durch den Wald ritt , begegnete ihm wohl sein Töchterlein einsam auf einem verwachsenen Pfade oder trat ihm aus dem Dickicht entgegen und ließ sich , stumm die Augen niederschlagend , anschnauzen über solch albernes Umherstreifen : den Knaben gewann sie dadurch Zeit , tiefer in die Wildnis zu flüchten . Zwei Jahre hindurch dauerte dies Verhältnis , harmlos und unschuldig . In ihrer Einsamkeit waren Heinrich und Juliane wie die Erstgeborenen der Erde , als der Baum der Erkenntnis noch unberührt stand im Paradiese . » Sie schämeten sich nicht « , wie das Buch der Erschaffung so unbeschreiblich lieblich sagt . Und so kamen sie , ohne es zu merken , der Grenze der Kindheit immer näher . Im Herbst des Jahres 1806 gelangte jedoch das süße Spiel der Einsamkeit zu einem plötzlichen jähen Ende , und der Sohn der Bettlerin und das adelige Fräulein erwachten wie aus einem hübschen Traume . Am zwanzigsten September dieses Jahres , um die sechste Abendstunde , an einem düstern nebeligen Tage , warf ein armes Weiblein , welches im Gehölz in der Nähe des Poppenhofes Reisig für ihren Küchenherd gesammelt hatte , ihren Tragkorb mit hellem Aufkreischen weit von sich , schleuderte ihre schweren Holzschuhe von den Füßen , um schneller laufen zu können , und stürzte halb sinnlos vor Angst und Schrecken dem Dorfe Poppenhagen zu . Das Weiblein hatte ein Gespenst gesehen . Unter den Tannen war eine lange , hagere , schwarze Gestalt , stocksteif aufgerichtet , langsam und unhörbar durch die Nebeldämmerung grad auf die Holzleserin zugeschritten . Diese unheimliche Gestalt , dieses Gespenst war die Gouvernante , welche auf dem Poppenhofe angekommen war , um dem gnädigen Fräulein den Ton und die Wissenschaft der schönen Welt beizubringen . Mademoiselle Amalie Schnubbes Blütenzeit war noch in die Blütenzeit der Sentimentalität gefallen ; aber diese Epoche lag weit zurück und – sauer gewordene Mandelmilch ist ein sehr unangenehmes Getränk ! Mademoiselle Schnubbe nahm ihre Aufgabe sehr ernst , und ihre kalte knöcherne Hand zerknickte erbarmungslos die wenigen Blumen , mit welchen die arme Juliane ihr einsames verlassenes Kinderleben schmücken konnte , eine nach der andern , würdevoll , methodisch und vornehm . Freilich versuchte das Mädchen anfangs gegen die Lehren und Pflichten des bon ton sich aufzulehnen ; aber ihre Kräfte erlahmten fürs erste bald , wenn das Joch auch kein dauerndes sein konnte . In dem Eishauch , mit welchem die winterliche Amalie ihre Schülerin umgab , versank das Frühlingsleben , welches die Natur in dieses junge Wesen gelegt hatte , in eine Art Winterschlaf . Die schreckliche Amalie besaß das Talent , unpassende Verhältnisse auszuspüren und zu Ende zu bringen , in einem erstaunlichen Grade . Sie spürte auch das Waldmärchen aus , welches zwischen Heinrich , Fritz und Juliane gespielt hatte , und verfehlte nicht , pflichtgemäß den gestrengen Papa davon in Kenntnis zu setzen . In einen wahren Wutanfall gerieten die beiden Poppen , Vater und Sohn , darüber ; die Heftigkeit des Zornes übertraf jede Schilderung , welche davon gemacht werden könnte . Zum Glück für Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger marschierten um diese Zeit die Franzosen in Deutschland ein , und das Heilige Römische Reich , in welchem schon so lange der Schwamm gesessen hatte , stürzte mit Gekrach zusammen vor dem Fußtritt des fremden Eroberers . In dem Wirrwarr , dem Kopfunter-Kopfüber , welches die Folge der Schlacht bei Jena war , konnten sich Heinrich und Fritz leichter aus dem Staube machen und der kleinherrlichen Willkür und Roheit sich entziehen , als es bei ruhigeren Zeitläuften möglich gewesen wäre . Sie nahmen kläglichen Abschied von ihren Müttern und gingen davon mit den winzigsten Bündeln , die sich vorstellen lassen . Die beiden Mütter hatten noch viel zu dulden , bis sich der Himmel ihrer erbarmte und sie beide am Hungertyphus der deutschen Kriegs- und Lehrjahre zu sich nahm . Sie wurden auf Kosten der Gemeinde , wie es ihnen zukam , im Winkel begraben , und als nach Jahren ihre Söhne die Gräber suchten , wußte niemand mehr ihre Stelle anzugeben . Es fand auch eine letzte Zusammenkunft zwischen Juliane und Heinrich Ulex statt , und das Fräulein von Poppen gab dem Jugendgespielen zum Gedenkzeichen an die glücklichste Zeit ihres Lebens ein Medaillon , in welchem sich Haare ihrer seligen Mutter und eine kleine Locke von der eigenen Schläfe befanden . Als die drei wieder zusammentrafen , wie war da alles anders geworden in der Welt , wie war so manche Schwungfeder im Flügel der Seele geknickt ; wie waren ihre Seelen matt vom Flug über die Welt , wie waren sie bedeckt mit dem Staub aus den Gassen und von den Märkten des Lebens ! Der November des blutigen Jahres 1806 fand Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger , ohne Kenntnis der Welt , ohne Hülfsmittel , ohne Zweck , freudlos und verlassen auf der Heerstraße , welche von fremden Truppenzügen , Zügen von Gefangenen , Marodeurs und abenteuerndem Gesindel wimmelte . Die Fährlichkeiten waren groß ; aber noch größer war doch das Glück der Jünglinge . Ein dunkler Trieb zog sie der Hauptstadt zu , und nach mancherlei Schicksalen langten sie vor den Toren an in einer Equipage des Kaisers Napoleon , nämlich auf einem Bagagewagen der Großen Armee . Eine Zeitlang bettelten und arbeiteten sie nach Gelegenheit , grade so heimatlos wie das ganze deutsche Volk , in den Gassen ; dann liefen sie einem Mann vor die Füße , welcher fast noch übler daran war als sie . Dieser Mann war ein untergeordneter Beamter der Polizei , namens Meiners , welchen der Sturm der Zeit von seinem ziemlich bequemen Sitz im Staatsorganismus Friedrichs des Großen heruntergehoben und unsanft auf den harten nackten Erdboden niedergesetzt hatte . Der Sekretarius hatte mit weinenden Augen den roten Kragen von dem preußischblauen Frack trennen müssen ; erst hatte er die Berlocken von der Uhr verkauft und dann die Uhr selbst . Ein wohlbehäbiges Bäuchlein , welches er vor der Katastrophe von Jena besaß , schaffte er gleichfalls allmählich ab ; seine Frau war kränklich , und sein einziger Sohn hatte vorläufig die gelehrten Bücher in den Winkel geworfen und die Philologie an den Nagel gehängt , um seine Eltern kräftiger unterstützen zu können . Meiners , der Exbeamte , arbeitete in dem Büro eines Advokaten , und in demselben Büro fand Fritz Fiebiger eine Stelle als Ausläufer . Rudolf Meiners hatte eine Stelle bei einem Buchhändler angenommen und ebendaselbst einen Platz für Heinrich Ulex ausgemacht . Nichts führt die Menschen mehr zusammen , als wenn sie in ihnen ungewohnte Zustände geworfen werden , nichts versteht das Gleichmachen besser als dira necessitas , die harte Notwendigkeit . Um seinem Berufe nicht ganz untreu zu werden , unterrichtete der frühere Philologe Rudolf die beiden Jünglinge Fritz und Heinrich . Aber nicht bloß Latein trieben die jungen Männer miteinander . Während die französischen Trommeln durch die Straßen wirbelten , saßen sie und forschten , wie es gekommen sei , daß diese fremden Trommeln so laut werden durften im Vaterlande . Der bleiche schwächliche Rudolf war ein begeisterter Lehrer , wenn er vom Auf- und Untergang der Völker , ihren großen Helden , Weisen , Dichtern und Verbrechern redete ; er hatte aber auch begeisterte Zuhörer , und vorzüglich der stille Heinrich Ulex trat ihm immer näher . So gingen die schweren Jahre hin , immer stolzer , höhnischer wirbelten die fremden Trommeln , immer eifriger dachten die drei Jünglinge darüber nach , was zu tun sei , diese frechen gehaßten Klänge zum Schweigen zu bringen . Sie waren viel früher darüber im klaren , als die Zeit , Gedachtes zu Taten zu machen , kommen wollte ; aber während des Wartens erwarb Heinrich Ulex mit Hülfe Rudolfs eine tüchtige Bildung .