Erstes Buch 1 Schwül und dunstig lag der heiße Nachmittag über dem Bergwald . An den Buchen rührte sich kein Blatt , an den dunklen Fichten schwankte kein Wipfel . Aus der Tiefe des Tales klang zuweilen ein verschwommener Laut herauf – die schwere Luft erstickte jeden Ton zu einem unbestimmten Geräusch . Sonst keine Stimme des Lebens , kein Vogelruf im Bergwald . Nur manchmal ein leises Rascheln , wenn ein dürrer Zweig durch die Blätter fiel . In dieser Stille ein leichter Schritt . Auf dem tiefer liegenden Pfad , zwischen sonnigem Laubwerk , schimmerte ein weißes Gewand . » Gundi ? « Der fragende Ruf klang durch den stillen Wald wie der Ton einer silbernen Glocke . Dann ein perlendes Lachen . An einer Wendung des Pfades erschien eine schlanke Mädchengestalt in duftigem Sommerkleid . Hut und Fächer flogen ins Moos , und zu Füßen einer riesigen Buche , die mit weitgespannten Ästen den Platz überschattete , ließ sie sich niedersinken . Leuchtend hob sich die weiße Gestalt mit ihren feinen Linien aus dem grünen Grund ; unter dem Saum des Kleides lugten die schmalen Füßchen hervor , deren zierliche Schuhe von den scharfen Steinen des Bergpfades übel gelitten hatten ; zwischen dem kurzen , fein gefälteten Ärmel und dem hohen blaßgelben Lederhandschuh zeigte sich ein schmaler Streif des rosigen Armes ; unter raschen Atemzügen , von denen sie jeden wie eine Erquickung zu genießen schien , hob und senkte sich die junge Brust . Gleich einer Blume , die in der Sonne dürstet , hing das Köpfchen auf die Schulter ; ein schmales , edles Gesicht , nun freilich glühend wie Purpur , umrahmt von aschblondem Haar , dessen losgesprungene Löckchen sich schimmernd um die Stirne kräuselten ; darunter zwei große blaue Augen , lichter als das Blau der Veilchen , dunkler als die Bläue des Himmels und staunend , strahlend in heiterer Lebensfreude . Als sie den Schatten gesucht , war es diesen lachenden Augen entgangen , daß an dem Stamm der Buche ein Täfelchen befestigt hing , ein » Marterl « . Das verwitterte Bild mit der halb erloschenen Schrift erzählte , daß an dieser Stelle vor Jahr und Tag der Tod ein Leben zerbrochen habe . Hier ruhte sie , lächelnd und träumend in ihrer Jugend und Schönheit . Und die Erde , auf der sie ruhte , hatte Blut getrunken . Gewannen die dunklen Schatten , die den Ort umschwebten , Macht über die junge Seele ? Das Lächeln schwand von den Lippen des Mädchens , der Frohsinn ihres Gesichtes verwandelte sich in sinnenden Ernst . Ihre Augen blickten ziellos durch eine Bresche des Waldes hinunter in die Tiefe , in der zwischen steilen Ufern der schöne Bergsee gebettet lag , umwoben von Dunst und Sonnenglast . Der glatte Spiegel des Wassers war anzusehen wie straff gespannte , schimmernde Seide . Da flog es dunkel über den See . Ein schwerer Wolkenball hatte sich vor die Sonne geschoben , die schon nahe dem Grat der westlichen Berge stand . Und das ganze Bild der Landschaft war plötzlich verwandelt . Es schien , als hätte der See sich emporgehoben aus der Tiefe , sein Glanz und Schimmer war erloschen , wie ein riesiger Smaragd , tiefgrün und düster , dehnte sich die wellenlose Flut zwischen den steilen Felsenufern , die näher gerückt erschienen und schwermütige Farben zeigten . Trüber Schatten dämmerte , ein sachtes Flüstern erhob sich in den Blättern , die Wipfel und Zweige der Fichten begannen zu schwanken , und wie eine Unglückskunde den sorglosen Schläfer weckt , so flog ein rauschender Windstoß durch den Wald . Dann wieder Stille . Nur fern aus den Lüften klang noch ein murrender Hall . Die Einsame blickte scheu umher , hinunter auf den See , den schon ein feines Netz von Linien überkräuselte , und empor zum Himmel , der sich rasch mit Gewölk zu umziehen begann . Ihre Stimme hatte sorgenden Klang , als sie gegen den Pfad hinunterrief : » Tante Gundi ? « Ein ächzender Laut war die Antwort . Aus der Senkung des Pfades tauchte eine rundliche Gestalt hervor . Ein schillerndes Seidenkleid von altmodischem Schnitt umzwängte die ausgiebigen Formen der ältlichen , mehr als wohlgenährten Dame . Den Strohhut hatte sie am Gürtel befestigt , und während sie mit den Händen das Kleid gerafft hielt , trug sie den Sonnenschirm unter den Arm geklemmt . Die zu einem Nest geschlungenen Zöpfe hatten sich gegen das linke Ohr verschoben , und ihr tiefes Schwarz stach gegen die ergrauende Farbe der glatt über die Schläfe gescheitelten Haare sehr bedenklich ab . Das hochgeborene Fräulein Adelgunde von Kleesberg schien auch sonst mit Toilettenkünsten sehr vertraut ; das verrieten die schwarzen Striche über den kleinen , hurtigen Augen und der weiße , flaumige Teint der gepolsterten Wangen . Das war nun freilich eine Kunst , die sich wenig schickte für eine Wanderung durch den steilen Bergwald . Die reichlichen Perlen , die der Erschöpften von der Stirne sickerten , hatten Furchen durch den weißen Teint gezogen , und wo dieser Perlen Weg gegangen war , glühte eine dunkelrote Linie der erhitzten Haut durch den Puder . Der Anblick , den die alternde Dame bot , rechtfertigte das Lachen , mit dem sie von ihrem harrenden Schützling empfangen wurde . » Tante Gundi , wie siehst du aus ! « Fräulein von Kleesberg schien eine wütende Entgegnung auf der Zunge zu haben , aber Erschöpfung und Atemnot benahmen ihr die Sprache . Sie ließ den Sonnenschirm fallen und sank mit einem Seufzer in das Moos . Da verwandelte sich die heitere Laune des Mädchens in Erbarmen . » Armes Tantchen ! Nun mach' ich mir wahrhaftig Gewissensbisse ! « » Kitty ! Du bist ein Ungeheuer ! « Fräulein von Kleesberg keuchte noch was von » Narretei « , von » Hitze « und » schattigem Park « , von » Schaukelstuhl « und » verwünschten Bergen « , von » Eigensinn « und » kindischer Ungeduld « . Dabei zerrte sie das Taschentuch hervor , um Stirn und Wangen zu trocknen ; als sie das Tüchlein sinken ließ , glich ihr brennendes Vollmondgesicht einer Palette , auf der man Weiß und Rot und Schwarz in konfusen Mischungen durcheinandergerieben hatte . Mühsam unterdrückte Kitty das Lachen . » Wie kannst du mir böse sein , weil ich Papa eine Stunde früher sehen wollte . Seit vier Monaten , seit der Hahnenjagd , hab' ich ihn nicht mehr gesehen . Und denk' nur , die Freude , die es ihm machen wird , wenn ich ihn so überrasche , mitten im Bergwald – « Ihre Worte erloschen unter einem dumpfen Rauschen , das den Wald durchzog . Sie warf einen Blick zum Himmel ; dort oben sag es schon bedrohlich aus . Spähend blickte sie zur Höhe des Waldes und sagte kleinlaut : » Lange kann Papa nicht mehr ausbleiben . Hier müssen wir mit ihm zusammentreffen . Er hat keinen anderen Weg , um vom Jagdhaus herunter an den See zu kommen . « Auch Gundi Kleesberg schien das dumpfe Rauschen , das über den Wald gefallen , nicht geheuer zu finden und vergaß alle Müdigkeit . » Herr du mein Gott im Himmel , da kommt ein Gewitter ! Fort ! Nach Hause ! « » Tantchen , ich bitte dich – « » Nein ! Ich bleibe keine Sekunde mehr ! « Mühselig raffte Gundi Kleesberg sich auf und jammerte : » Ich hab' es mir gleich gedacht , daß bei dieser Narrheit so was herauskommt ! « Stöhnend hob sie ihren Sonnenschirm von der Erde und trippelte hastig davon , jeden unsicheren Tritt mit leisem Aufschrei begleitend . In Mißvergnügen blickte Kitty ihr nach , unschlüssig , ob sie folgen sollte . Ein rollender Donner entschied ihren Zweifel . Sie warf noch einen sehnsüchtigen Blick empor durch den wogenden Bergwald und rief mit glockenheller Stimme : » Papa ! « Nur das Rauschen des Windes gab ihr Antwort . Schon wollte sie gehen ; da fiel ihr Blick auf das Martertäfelchen an der Buche . Neugierig bog sie einen überhängenden Zweig beiseite . Mit ländlicher Kunst war auf dem Täfelchen eine waldige Berggegend abgebildet ; ein grün gekleideter Mann , die Büchse im Arm , lag ausgestreckt auf der Erde , und über seiner Stirn schwebte ein rotes , von einem Schein umzogenes Kreuzlein . Unter dem Bilde stand in verwaschener Schrift zu lesen : » Hier an dieser Stelle wurde Anton Hornegger , Gräflich Egge-Sennefeldischer Förster , am heiligen Johannistag erschossen aufgefunden . Böse Tat ist hier geschehen , Und der Mörder ist entflohn , Gottes Aug' hat ihn gesehen , Gottes Zorn erreicht ihn schon ! R. I.P . Wanderer , ein Vaterunser ! « Unwillkürlich bekreuzte sich Kitty . Ein leises Grauen kam ihr aus dem Gedanken , daß sie hier geruht hatte , auf dieser Erde , die getränkt war mit dem Blut eines Ermordeten . » Tante Gundi ! « stammelte sie und fing zu laufen an . Hinter ihr rauschte der Bergwald , und über das finstere Gewölk leuchtete der Schein des ersten Blitzes , der sich in der Ferne entlud . Eine Minute , und Kitty hatte Tante Gundi eingeholt , die der erste Blitz um das letzte Restchen ihrer Fassung brachte . Wie eine Verzweifelte beteuerte sie , daß ihr Leben eine grausame Qual , daß sie nur zum Elend geboren wäre . Eine Lungenentzündung war das Gelindeste , was sie für sich als Ende dieses » neuen Unglücks « prophezeite , in das sie » wieder einmal aus blinder Liebe « hineingerannt wäre . Kitty schwieg und half nach Kräften , um diesem ausgewachsenen Häuflein Jammer den Niederstieg auf dem unbequemen Wege zu erleichtern . Nur einmal , als Tante Gundis Klagelied sich in scheltende Gereiztheit gegen die » Anstifterin des Unglücks « verwandelte , bracht Kitty ihr Schweigen : » Ich habe dir doch gesagt : bleib du zu Hause und laß mich allein gehen ! « Auch im Stadium hochgradiger Verzweiflung vergaß Adelgunde von Kleesberg nicht , was sie ihrer Stellung schuldig war . Zürnend hob sie das brennende Gesicht und erklärte : » Eine Gräfin Egge-Sennefeld in deinem Alter geht nicht allein . « Schmollend verzog Kitty das Mäulchen . » Ach was , hier im Gebirge , in Papas eigenem Walde ! « Und nach kurzem Schweigen fügte sie bei : » In meinem Alter ? Siebzehn Jahre ! Wie alt muß man denn werden , um allein gehen zu dürfen ? « » So alt wie deine Mutter war , als sie ihre eigenen Wege ging . « Nein , Tante Gundi sagte das nicht ; es blieb in ihren Gedanken ; sie sagte nur : » Ich hoffe , daß du dieses Alter niemals erreichen wirst ! « Kitty fand nicht Zeit , über den Sinn dieser unverständlichen Wendung nachzudenken . Die ersten schweren Tropfen fielen klatschend auf die Blätter . Ohne ein ausgiebiges Bad schien das Abenteuer nicht ablaufen zu wollen . Kitty faßte die Gundi Kleesberg , die jetzt dem Weinen näher war als dem Schelten , energisch unter den Arm , um sie in rascheren Gang zu bringen . An einer Biegung des Pfades jubelte sie : » Wir sind gerettet ! « Zwischen Büschen schimmerten die grauen Bretter einer Scheune , die im Winter zur Fütterung des Hochwildes diente . Hundert Schritt seitwärts durch den Wald , und das schützende Dach war erreicht , ehe das Unwetter begann . Die Scheune war von drei Seiten geschlossen . Da hatten die beiden Flüchtlinge auch den Sturmwind nicht zu fürchten , der den schwer fallenden Regen in schiefen Strähnen über den Berghang peitschte . Erschöpft sank Adelgunde von Kleesberg auf ein Restchen Heu , das vom Wildfutter des letzten Winters noch verblieben war ; das Gesicht drehte sie gegen den finsteren Winkel , um die Blitze nicht zu sehen . Kitty hatte rasch ihre gute Laune wiedergefunden . » Das ist lieb von Papa , daß er so zärtlich für seine Hirsche sorgt – und für mich , wenn ich zufällig in den Regen komme ! « Sie lauschte . Was war das ? Eine Stimme ? Dazu noch eine singende ! Und eine jener Weisen , wie sie in den Bergen heimisch sind . Nun erblickte Kitty den Sänger . Geradeswegs kam er den steilen Bergwald heruntergestürmt , den Schutz der Hütte suchend . Es war ein Jäger in grauer Lodenjoppe und kurzer Lederhose , die Büchse hinter dem Rücken , in den Händen den Bergstock , den er klirrend zwischen die Steine stieß , um sich auf dem abschüssigen Hang hinwegzuschwingen über Felsbrocken und gestürzte Bäume . Mit großen Augen sah Kitty ihm entgegen und wußte nicht , ob sie mehr über die eiserne Kraft dieses Burschen staunen sollte oder über den sorglosen Mut , mit dem er bei jedem Sprung um Hals und Glieder spielte . Jetzt hatte er die Hütte erreicht . Ohne die Damen zu gewahren , trat er unter das vorspringende Dach . Gewehr und Bergstock lehnte er an die Bretterwand , schüttelte sich , daß die Tropfen von der Joppe flogen , und während er das grüne Filzhütl abnahm , um das Wasser fortzuschleudern , das sich in der hohlen Krempe angesammelt hatte , lachte er : » Sakra noch amal , jetzt hätt mich aber 's Wetter bald erwischt ! « Bald erwischt ? Er troff vor Nässe am ganzen Leib . Dabei trug er den aus grobem Loden geschnittenen Wettermantel sorgfältig gerollt zwischen den Riemen des Rucksackes . Für sich selbst hatte er nicht gesorgt ; aber das blaue Taschentuch hatte er um das Schloß der Büchse gebunden , damit die Waffe von der Nässe nicht leiden möchte . Lachend blickte er hinaus in das Strömen und Gießen . Die lichtbraunen Haare , die sich sonst in widerspenstigen Ringeln durcheinanderkräuselten , klebten ihm feucht und glatt an Stirn und Schläfen , ein hübsches , männliches Gesicht umrahmend . Aufgezwirbelt saß ein braunes Bärtchen über dem lachenden Mund . Hell und offen blitzten die Sterne seiner dunklen Augen in die Welt , und ihr froher Blick milderte den Ernst der Stirne . Ein greller Blitz fuhr über den Bergwald hin , der Donner schmetterte , und aus dem Schuppen klang Tante Gundis Wimmerschrei . Der Jäger spitzte die Ohren . » Mir scheint , da hör ich wen ? « Rasch griff er nach Bergstock und Büchse und trat in die Hütte . Kitty erkannte ihn . » Aber das ist doch unser Franzl ! « Der Jäger machte verblüffte Augen . » Mar ' und Joseph ! Gnädigs Fräuln ! Ja , wie kommen denn Sie daher ? « » Das Gewitter überraschte uns . Ich wollte Papa erwarten . « » Da hätten S' lang warten dürfen ! Der Herr Graf kommt heut nimmer runter . « » Kommt nicht ? « Ein Schatten flog über Kittys Züge . » Er weiß doch , daß ich gestern in Hubertus eingetroffen bin . Ich habe heut früh den alten Moser mit der Nachricht zur Hütte hinaufgeschickt . « » Ja , der Herr Graf hat 's Briefl kriegt . « » Und kommt nicht ? « Kitty fragte erschrocken : » Papa ist krank ? « Franzl lachte . » Aber Fräuln Konteß ! Unser Herr Graf ? Und krank ? Der reißt Bäum aus mit seine sechzig Jahr. Ah na ! Dem fehlt kein Haarl net ! « » Aber weshalb kommt er nicht ? Es muß ihm doch Freude machen , mich wiederzusehen . « Betroffen schaute Franzl in Kittys Augen ; der Klang ihrer Worte brachte ihn aus seiner fröhlichen Ruhe . » Aber freilich , « stammelte er , » gwiß freut er sich ! Aber gwiß ! « Kitty stand schweigend ; ihre Finger knitterten an den Blättern des Fächers . » Aber schauen S' , Fräuln , deswegen müssen S' Ihren Hamur net verlieren ! « tröstete Franzl . » Der Herr Graf hat halt an sakrisch guten Gamsbock im Wind . Sie wissen ja , wie er is . Da laßt er net aus , bis der Bock sein Kügerl net droben hat . « » Ein Gemsbock ! « Kittys Augen füllten sich mit Tränen . » Aber Fräuln Konteß ! « Franzl nahm den Hut ab und kraute sich hinter dem Ohr . » Ich kann ja nix dafür ! « Nun hörte er aus der Tiefe des Schuppens ein leises Gewimmer . » Was is denn ? « Er trat näher . » Jegerl , 's alte Fräuln ! « Gundi Kleesberg hielt das Gesicht tief eingedrückt in das Heu , und Franzl suchte die Wimmernde aufzurichten . » Fräuln ! Um Herrgotts willen ! Was haben S' denn ? Is Ihnen was gschehen ? « Die Kleesberg stöhnte : » O Gott , o Gott , dieses entsetzliche Gewitter ! « Nun mußte der Jäger lachen . » Aber sind S' doch gscheit ! Dös hört schon wieder auf . In die Berg kommt so was gschwind , aber lang dauert 's net . Da , es wird schon aber bißl lichter im Gwölk ! « Zögernd richtete Tante Gundi sich auf . Im gleichen Augenblick fuhr nahe bei der Hütte ein Blitz herunter ; aller Grund schien verwandelt in Flammen , und Erde und Luft erzitterten unter einem rasselnden Donnerschlag . Ächzend warf Gundi Kleesberg sich wieder über das Heu ; auch Kitty wich mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe der Hütte zurück . » Macht nix ! « lachte Franzl . » Is schon gschehen ! « Mit diesem letzten Schlag hatte das Unwetter sich ausgetobt . Es folgten nur noch schwache Blitze , die matt hinleuchteten über das wogende Gewölk und einen sanft verrollenden Donner weckten . Während Franzl unter geduldigem Trösten neben der Kleesberg stehenblieb , trat Kitty unter das Vordach der Hütte hinaus und trank in tiefen Zügen die würzige Luft , die den Wald durchhauchte . Die Wolken klüfteten sich , helles Licht floß über Berg und See , und der Regen versiegte . In sachten Stößen strich der Wind durch die Bäume und schüttelte die Tropfen von allem Gezweig . Rings um die Hütte hatte sich eine breite Pfütze gebildet , und überall auf dem Berghang sprudelten die Regenbäche . » Da wird sich der Heimweg hart machen , « meinte Franzl , » wie , zeigen S' amal her , gnädigs Fräuln , was haben S' denn für Schucherln an ? « Kitty hob das Kleid und streckte das Füßchen vor . » Da schaut's schlecht aus ! « jammerte Franzl . » Hundert Schritt in so einer Nässen , und 's Schucherl fallt Ihnen wie Zunder vom Füßl . « Sorgenvoll betrachtete Kitty den überschwemmten Grund . » Aber wie kommen wir nach Hause ? « » Gar net schlecht ! Passen S' nur auf ! « Franzl zog den Wettermantel aus dem Bergsack und warf die Büchse hinter den Rücken . Dann rollte er den Mantel auseinander und schlang das weiche Tuch mit scheuer Achtsamkeit um Kitty . Gleich einer grauen Mumie stand sie von den Schultern bis zu den Füßen eingehüllt , und wie sie das Köpfchen reckte , um Kinn und Wangen aus den Falten des Mantels frei zu bekommen , war sie einem Schmetterling zu vergleichen , der aus der Puppe schlüpfen will . Noch ehe sie recht begriff , was mit ihr geschehen sollte , hatte Franzl sie auf seine Arme gehoben wie ein Kind , dessen Last er kaum zu spüren schien . Lächelnd ließ sie ihn gewähren ; dann plötzlich stammelte sie : » Aber was geschieht mit Tante Gundi ? « » Alles der Reih nach ! « erwiderte Franzl . Jetzt wurde Gundi Kleesberg lebendig . Händeringend kam sie und schwor die heiligsten Eide , daß sie um alles in der Welt nicht allein bliebe in diesem » gräßlichen « Wald . Franzl tröstete : » Wölfe und Bären gibt 's net bei uns , und die Mäus haben noch nie an Menschen anpackt . Bleiben S' nur schön da , bis ich wiederkomm ! Ich trag 's gnädig Fräuln nunter ins Kapuzinerhäusl , da kann's warten unter Dach , bis a Schiffl kommt . In zehn Minuten bin ich wieder da . « Während die Kleesberg wie eine Niobe jammerte , trat er hinaus in den Wald und wanderte mit sicherem Schritt davon . Als eine steilere Stelle kam , blickte er lachend zu Kitty auf und sagte : » Es geht schon ! Meine Füß haben Augen im Wald und eiserne Zähn zum Beißen ! Tun S' Ihnen net fürchten , gnädigs Fräuln ! « Lächelnd schüttelte Kitty das Köpfchen , schob eine Hand aus den Falten des Mantels heraus und nahm den Strohhut ab ; der Wind , der ihre Wangen umwehte , tat ihr wohl ; träumend blickte sie in den stiller werdenden Wald , und ihre Züge nahmen einen sinnenden Ausdruck an : » Sag ' mir , Franz – der Förster Anton Hornegger , das war dein Vater ? « » Ja , gnädigs Fräuln ! Wie kommen S' jetzt da drauf ? « » Ich bin dort oben bei der Buche gewesen . Das war ein schweres Unglück für dich und deine Mutter ! « Franzl antwortete nicht gleich . » D' Mutter hat's freilich schwer verwunden , und 's Unglück hat aus ihr an alts und stills Weiberl gmacht . Ich , mein Gott , ich war selbigsmal noch a kleiner Bub , der net recht verstanden hat , was er verliert . Jetzt weiß ich , was dös heißt , kein Vater nimmer haben . Manchmal kommen so Sachen über ein' , wo man kein Rat nimmer weiß , und wo jeder andere Bursch zum Vater geht und fragt . Wen frag denn ich ? D' Mutter will ich net veralterieren mit meinen Sorgen . Sonst hab ich kein Menschen net . « Die Worte waren ruhig gesprochen ; dennoch klang aus ihnen etwas empor wie aus dem Schacht eines Brunnens . Herzlich hingen Kittys Augen an dem Gesicht des Jäger . » Man weiß noch immer nicht , wer es getan hat ? « » Nix ! Net der gringste Verdacht ! Aber leben tut er schon noch , derselbig ! Und wann mich unser Herrgott liebhat , führt er mich amal zamm mit ihm . « Kitty fühlte den Arm erzittern , der sie umschlungen hielt . » Und wenn der Strich , der bei der Rechnung gmacht wird , weg geht über mich – auf so was muß unsereiner gfaßt sein alle Tag . So is halt 's Jägerleben in die Berg . Da gehst im Wald umanand und denkst an nix . Und hinter die Bäum steht einer drin . Und auf amal , da kracht's . Und aus is 's ! Wenn's sein muß , in Gotts Namen ! Tust halt den letzten Schnaufer , schaust noch amal auffi zu die höchsten Wänd , machst deine Lichter zu , und bhüt dich Gott , du schöne Welt ! Ich denk mir , so hat 's mein Vater gmacht . Wer weiß , leicht mach ich 's ihm nach amal . « Die Sonne war über die Seeberge schon hinuntergesunken ; nun lugte sie aus einem tiefen Talspalt wieder hervor , und der goldige Schein , den sie warf , durchleuchtete das von Tropfen glitzernde Laub und wob einen wundersamen Schimmer um die feuchten Stämme . Die kleinen Vögel des Waldes waren lebendig geworden und huschten umher ; doch ihr Gezwitscher erlosch unter einem dumpfen Rauschen , das vom nahen Seeufer einhertönte . Kitty schien kein Auge zu haben für die leuchtende Schönheit des Bergwaldes . Was sie gehört hatte , gab ihr zu denken . » Franz ? Du hast von Sorgen gesprochen . Was für Sorgen sind das , die du hast ? « Ein heftiges Wort schien dem Jäger auf der Zunge zu liegen . Doch er schüttelte den Kopf . » Ah , nix ! So Jagergschichten halt ! « » Kann ich dir helfen ? « Wieder schüttelte er den Kopf und sah dankbar zu ihr auf . Nun lächelte sie , und der Schelm erwachte in ihren Augen . » Bist du verliebt ? « Franzl lachte . » Das ging mir grad noch ab ! Ich muß mich eh schon giften gnug . « Sie schlug ihn leicht mit dem Fächer auf den Mund und lachte mit ihm . Nun war der ebene Grund erreicht , und Franzl stand ratlos . Der Wetterbach , der hier in den See mündete – in trockener Zeit ein Bächlein , das mit einem Schritt zu übersetzen war – hatte sich in einen tobenden Gießbach verwandelt , der in einem nahen Felsenwinkel aus steiler Höhe niederstürzte und mit schäumenden Wellen über das grobe Steingeröll wegrauschte . Von dem Stege , der sonst über das Bett des Baches führte , war keine Spur mehr zu sehen ; seine Balken mochten weit draußen schwimmen im See . Und hinüber mußten die beiden , der Zugang zum See war ihnen abgeschnitten , da der Gießbach zur Linken hart an eine steil in den See abfallende Felswand lenkte . Jenseits des Baches lag eine sanft ansteigende , mit alten Ahornbäumen bestandene Grasfläche , die sich vom Seeufer zwischen dem Bach und einer verwitterten Felswand bis zur Schlucht des Wasserfalles emporhob . Über die Wipfel der Bäume herüber lugte das Türmlein einer Eremitage , die an die Felswand angebaut war . Sehnsüchtig schaute Kitty dort hinüber und streifte mit besorgtem Blick die schäumenden Wellen . Franzl hatte den Ausweg schon gefunden : eine gestürzte Fichte , die den Bach überbrückte . Rasch entschlossen schritt er auf den Baumstamm zu . Kitty sträubte sich , als sie seine Absicht erkannte . Franzl lachte . » Tun S' Ihnen net fürchten , gnädigs Fräuln ! Über so a Bäuml geh ich weg in der stockfinstern Nacht . Lassen S' mir nur den Hals schön frei . « Kitty verstand ihn kaum , das Rauschen des Wassers übertönte seine Worte . Und nun hatte er die luftige Brücke schon betreten . Sicher , wie auf ebener Erde , schritt er über den schwankenden Stamm . In Kitty erwachte die Angst ; der Anblick des schießenden Wassers machte sie schwindeln . Stammelnd schlang sie die Arme um den Hals des Jägers . Unter diesem Ruck drohte Franzl das Gleichgewicht zu verlieren . » Lassen S' mein Hals aus ! « mahnte er ; nur noch angstvoller umklammerte sie ihn ; und da begann er auf dem schwankenden Stamm zu laufen . Schon war er bis auf wenige Schritte dem Ufer nahe , da glitt ihm auf dem nassen Baum der Fuß aus . Von Kittys Lippen flog ein Schrei . Im Wanken wagte Franzl den Sprung ans Ufer . Glücklich erreichte er den festen Grund , doch die Bürde , die er trug , raubte ihm beim Aufsprung das Gleichgewicht , und er drohte sich rücklings zu überschlagen . In diesem Augenblick griffen zwei fremde Arme helfend zu und rissen den Stürzenden auf sicheren Grund . Kitty war einer Ohnmacht nahe . Sie fühlte nur , daß sie aus Franzls Armen glitt , und als sie die Augen öffnete , lag sie an der Brust eines jungen Mannes , und neben ihr stand Franzl , lachend , aber mit blassem Gesicht . In Verwirrung richtete Kitty sich auf . Schwer wie Blei lag ihr die überstandene Angst in allen Gliedern . Sie mußte den Arm ergreifen , den der junge Fremde ihr bot . Was er sagte , konnte sie bei dem Rauschen des Wassers nicht verstehen . Den besten Weg über trockene Plätzchen suchend , führte er sie zur Eremitage und ließ sie auf die Steinbank niedersinken , die neben der Tür in die Mauer des kapellenartigen Häuschens eingelassen war . Halb aus Bruchsteinen , halb aus dicken Baumklötzen gefügt , mit niederer Tür , zwei kleinen Fenstern und einem zierlichen Glockentürmchen über dem Rindendach , lehnte sich die Klause an die graue Felswand . Unter dem vorspringenden Dach war an den Balken des Firstes eine rote Marmortafel befestigt , die in verblaßter Goldschrift die Worte trug : » Hier wohnt das Glück . « Wer hatte die Klause erbaut ? Wer diese Inschrift angebracht ? Und wie reich mußte jenes Glück , das hier erblüht war , gewesen sein , da jene , die es genossen , den Drang empfunden hatten , ihren Dank in Stein zu meißeln . Das Flecklein Erde , das diese Hütte trug , schien wie geschaffen , um ein verschwiegenes Glück vor dem Blick der Menschen zu bergen . Vom rauschenden Wildbach , vom weiten See , den das Gezweig der Bäume verschleierte , und von ragenden Felswänden umgrenzt , schob sich das kleine , samtgrüne Tal in das Herz des Berges , wie ein feines Kämmerchen inmitten eines riesigen Palastes , versteckt und abgeschieden , geschmückt mit allen Reizen der Natur . Frischer und würziger hauchte nach dem vertobten Gewitter die reine Bergluft , saftiger leuchtete alles Grün an Busch und Bäumen . Hell glitzerten die über alle Felsen niederrinnenden Wasserfäden , und in buntem Feuer leuchteten die vom Dächlein der Klause fallenden Tropfen . Nun erlosch der rote Sonnenschein , und alle Farben der Umgebung dämpften sich wie von einem zarten Schleier überzogen . 2 Kitty vermochte noch immer kein Wort zu sprechen ; die Hände im Schoß und ohne Bewegung saß sie auf der Steinbank und sah dem Jäger nach , der den Wetterbach schon wieder überschritten hatte . Auch der junge Fremde schwieg . Er stand neben der Bank und betrachtete forschend den gesenkten Mädchenkopf , als möchte er diese feingeschwungenen Linien und die schimmernden Töne des gewellten Haares in sein Gedächtnis prägen . Hätte nicht der Feldstuhl , die zusammengeklappte Staffelei und der Malkasten , der an der Mauer im Trockenen lag , den Beruf des jungen Mannes bezeichnet – schon dieser prüfend gleitende Blick und die schlanken Hände hätten den Künstler verraten . Er mochte einige Jahre über zwanzig zählen ; seiner Jugend widersprach die stille Schwermut der dunklen Augen und der gereifte Ernst des schmalen , herb geschnittenen Gesichtes ; glatt legte sich das kurze Braunhaar über die Stirn und mischte sich an den Schläfen mit dem schattigen Flaum des jungen Bartes , der sich um Wangen und Lippen kräuselte . Dieser Mund mit dem strengen Zug , in dem sich Kraft und Entschlossenheit verriet , war doch sanft geschwellt und hatte ein mildes , verträumtes Lächeln . Das Gesicht war nicht schön zu nennen , aber dieser Mund und diese Augen fesselten . Der hager aufgeschossene Körper war unausgeglichen , jugendlich eckig ; dazu eine leicht vorgeneigte Haltung , wie sie nachdenklichen Naturen eigen ist ; dennoch war die Gestalt nicht übel anzusehen ; der leichte graue Sommeranzug , so bequem er saß , hatte modischen Schnitt , die Wäsche war wie Schnee , die weiße Seidenkrawatte tadellos geknüpft . Man merkte an ihm keine Spur von jener bei jungen Künstlern häufigen Vorliebe für das Nachlässige , aber auch keinen Zug vom Stutzer ; er schien für seine äußere Erscheinung zu sorgen , weil es die Art eines wohlerzogenen Menschen ist , sich gut zu kleiden . Je länger er niederblickte auf das liebliche Bild des Mädchens , desto wärmer wurde der Glanz seiner Augen ; er schien eine Freude zu genießen : die Freude des Künstlers an jener Schönheit , die noch unberührt ist von der rauhen Hand des Lebens und einer Blütenknospe am Morgen gleicht . Als hätte Kitty diesen Blick empfunden , so hob sie plötzlich die Augen . Das fremde Gesicht verwirrte sie , und dennoch hielt die stumme Sprache dieser Züge ihren Blick gefangen ; das war eines von jenen Gesichtern , die auch ohne Worte von trüber Zeit erzählen . Ihre Verwirrung schien ansteckend zu wirken . Verlegen suchte der junge Künstler nach Worten , und endlich brachte er die Frage heraus , ob sie den Schreck des kleinen Abenteuers völlig überstanden hätte . Da fand sie ihre heitere Laune ; lachend nickte sie und reichte ihm die Hand . » Ich danke Ihnen ! Sie haben mich vor einem unangenehmen Bad behütet . Der Wetterbach hat heut seine böse Stunde . Das hätte übel für mich ausfallen können . « Sie rührte die Schultern , als empfände sie ein leises Grauen ; doch gleich wieder lachte sie und erzählte vom Gewitter , vom Unterschlupf in der Wildscheune und von dem glücklichen Zufall , der » unseren guten Franzl « als Retter in der Not geschickt . Drollig schilderte sie den » kopflosen Schreck « , der sie befallen , als der Jäger den schwankenden Baum betrat . » Und ich hätte mir doch sagen müssen , daß ich sicher bin ! Ich kenne doch unseren Franzl ! « Sie unterbrach sich und blickte auf . » Wie waren Sie denn eigentlich so flink bei der Hand ? « » Das hab' ich meinem Fleiß zu danken . Ich bin schon seit dem Morgen hier und habe gearbeitet . « » Gearbeitet ? « Sie schien den Sinn dieses Wortes nicht zu verstehen . Da gewahrte sie die Geräte des Künstlers . » Ach , Sie malen ! « Dem respektvollen Staunen , mit dem sie ihren jungen Retter betrachtete , war es anzumerken , daß vor ihren Augen ein lebendiger Künstler nicht viel geringer wog als einst in vergangenen Zeiten vor dem Blick des Burgfräuleins der tapfere Ritter , der den Drachen überwand . Neugierig spähte sie nach dem Leinwandrahmen , der gegen die Mauer gelehnt stand . Der junge Maler schien nicht eitel zu sein ; sonst hätte er diesen Blick zu deuten gewußt . » Auch mich hat das Gewitter überrascht , mitten in der besten Arbeit , « erzählte er , » und ich mußte eine Stunde hier unter der Tür sitzen . Aber es war herrlich , so hineinzuschauen in den Zorn der Natur . Sie ist immer schön , ob sie lächelt oder grollt , fast schöner noch in ihrem Zorn als in ihrem Frieden . Wenn ich sie so toben sehe , fühl' ich auch , daß ich ihr in solchen Augenblicken näher komme als in sonniger Stunde . In der Sonne steht sie vor mir wie ein Geheimnis in bunten Kleidern . Im Sturme seh' ich die Riesin , wie sie vor meinem Blick die Hülle zerreißt . Ich spähe ihr in das wildpochende Herz , und mir ist , als flösse in mich etwas über von ihrer Kraft . « Er sagte das ruhig , wie man selbstverständliche Dinge äußert . Kitty blickte zu ihm auf mit großen Augen . Er begegnete diesem Blick , und leichte Röte schlich über seine schmächtigen Wangen . » Als es vorüber war , hörte ich den Wildbach kommen . Und da lief ich hinunter . Es war prachtvoll anzusehen , wie das harmlose Wasserschlänglein in wenigen Minuten sich zum brüllenden Ungeheuer auswuchs . Und wie ich so stehe , seh' ich Sie plötzlich drüben aus dem Wald hervorkommen , auf dem Arm des Jägers . Das war ein so köstliches Bild , daß ich es mit ein paar Strichen zu fassen suchte . « Er griff an seine Taschen . » Wo hab' ich denn nur – ? « Nun erschrak er . » Ach du lieber Himmel ! « und mit langen Beinen sprang er zum Wildbach hinunter . Verblüfft sah ihm Kitty nach ; kaum war er zwischen den Bäumen verschwunden , da huschte sie auf den Leinwandrahmen zu , hob ihn von der Erde und machte sonderbare Augen , als sie die begonnene Studie sah . Etwas Außerordentliches hatte sie zu entdecken erwartet . Statt dessen sah sie ein Wirrsal noch nasser Farbenflecke , die sich flimmernd durcheinanderschlangen und den Vorwurf des Bildes kaum erkennen ließen : die Felswand in greller Sonne und zu ihren Füßen die Klause , übergossen von den Lichtern , die durch das Gezweig der Bäume fielen . Ein Kennerauge hätte gestaunt über die Kraft und Kühnheit , die sich in diesem raschen Erfassen einer malerischen Stimmung verriet . Kitty aber stellte sehr enttäuscht die Leinwand wieder gegen die Wand . Zu ihrem weiteren Ärger gewahrte sie noch , daß sie mit den behandschuhten Fingern in die nasse Farbe geraten war . » Pfui ! « murrte sie und säuberte die Fingerspitzen an der Balkenwand . Kaum saß sie wieder auf der Steinbank , als er vom Ufer heraufgestiegen kam , in der Hand ein graues Buch , das er mit dem Taschentuch abwischte . » Es ist glücklicherweise sehr günstig gefallen , als ich es fortwarf , um die Hände frei zu bekommen ! « sagte er lächelnd . Dann schlug er das Buch auf und reichte es ihr . Ein Laut freudiger Überraschung glitt beim Anblick des Blattes von Kittys Lippen . Wohl waren die beiden Figuren nur mit flüchtigen Strichen gezeichnet , aber jede Linie saß , und das kleine Bildchen hatte warmes Leben und bestrickenden Reiz . Glücklich blickte Kitty zu dem Künstler auf . » Ist das wirklich so hübsch gewesen – wie hier ? « Er sah sie an . » Das da , das ist ja gar nichts . Das ist Asche . Was ich gesehen habe , war Licht , Farbe , etwas ganz unbeschreiblich Schönes . « Die Augen schließend , rührte er mit den Fingern an die durchsichtigen Lider . » Aber hier sitzt es , fest ! Und ich weiß , ich bring' es heraus . « Rauschend kam der Abendwind über die Felsen niedergezogen ; die Äste der Bäume schwankten und schüttelten die Regentropfen ab . Erschrocken deckte Kitty den Arm über das Skizzenbuch , denn ein paar große Tropfen , wie Tränen , waren auf das Blatt gefallen . Und als der Wind die Bäume wieder zauste , sprang Kitty auf und flüchtete mit dem Buch in die Klause . Der junge Mann folgte ihr , und da saß sie schon an dem roh gezimmerten Tisch und tupfte achtsam mit dem Handschuh die auf das Papier gefallenen Tropfen fort . » Es hat nichts geschadet ! « versicherte sie lachend und hielt das Buch schief gegen das Licht des Fensters . » Man sieht nur noch ein wenig die feuchten Flecke . « Wieder vertiefte sie sich in die Betrachtung des Bildchens ; dann begann sie im Skizzenbuch zurückzublättern ; ein paar Studien hatte sie bestaunt , als sie plötzlich aufblickte und verlegen fragte : » Darf ich denn ? « Er nickte lächelnd und trat an ihre Seite . Das Licht , das durch Tür und Fenster fiel , hatte in dem geschlossenen Raum schon einen Schleier der beginnenden Dämmerung . Ein seltsame Stimmung webte zwischen den Mauern und erzählte von erlöschenden Erinnerungen . Neben dem Tische standen nur zwei plumpe Holzbänke in dem kahlen Raum ; doch es war ihm anzumerken , daß er in vergangener Zeit einen freundlicheren Anblick geboten hatte . Die Decke war noch von einer zart geblumten Tapete bedeckt ; aber das Regenwasser , das durch die Lücken des Daches gedrungen , hatte häßliche Flecken gebildet . Auch an den Wänden hingen noch Streifen der Tapete , mit Hunderten von Namen bedeckt . Wer hier im Lauf der Jahre vor Sonne oder Regen Schutz gesucht , Sommergäste , Touristen , Jäger , Sennerinnen , Almbauern und Schiffer , alle hatten den Drang empfunden , ihre Namen an diesen geduldigen Wänden zu verewigen . Viele Namen standen paarweise , von einer Herzlinie umschlungen . Hatten die Träume , die aus diesem Zeichen redeten , sich erfüllt ? Oder war das Leben über sie hinweggerollt wie die glättende Eisenwalze über den Kies der Straße ? Von manchem , der vor Jahr und Tag seinen Namen an diese Wand geschrieben , mochte nichts anderes mehr übrig sein als nur der Name . Inmitten dieser toten Vergangenheiten klang Kittys helle Stimme , ihr Lachen und die Freude , mit der sie jede Skizze begrüßte , deren Modell sie erkannte . Bald fand sie eines ihrer Lieblingsplätzchen am See , eine Straße oder ein Häuschen des Dorfes , bald wieder Köpfe und Gestalten , die einen fremd , die anderen ihr wohlbekannt . Mehrere der Skizzen waren mit dem Namen des Künstlers gezeichnet : Hans Forbeck . Kitty blätterte weiter . Flüchtige Wolkenstudien , Baumschläge und Gebirgsveduten wechselten mit Skizzen , deren wirre Linien sie nicht verstand : Bilderideen , mit ein paar hastigen Strichen festgehalten . Wieder wandte Kitty eines der Blätter . Und erschrocken stammelte sie : » Wie traurig ! « » Die Stubenarbeit eines Regentages ! « sagte er leise , fast entschuldigend . Die Zeichnung des Blattes war sorgfältiger als die der anderen Skizzen , die graue Arbeit des Stiftes mit zarten Farbtönen überhaucht . Eine öde , fast unabsehbare Heide , dürr und kahl ; der Himmel ist mit schwerem Gewölk bedeckt , durch dessen spärliche Klüfte kaum eine matte Helle quillt , wie eine Ahnung des verschleierten Lichtes . Über die Heide führt ein rauher Steinpfad , von niederem Dorngestrüpp umwachsen . Und auf dem Pfade liegt , halb zur Erde gesunken , mit aufgestütztem Arm und das entkräftete Haupt gegen die Schulter geneigt , die Gestalt einer Genie , todmüde und schmerzverloren , in Lumpen gehüllt , mit zerzausten Schwingen . Kitty hob die Augen . » Herr Forbeck ? « Schüchtern sprach sie seinen Namen aus . » Was soll das vorstellen ? Das Unglück ? « » Nein . « Er zögerte . » Meine Kindheit . « Nun verstand sie , was aus seinem Gesicht beim ersten Anblick zu ihr gesprochen hatte . Ein leises Zucken ging um ihren Mund . Sie mußte der eigenen Kindheit denken . Auch ihrer Kindheit hatte die Liebe gefehlt , die Liebe der Mutter . Vor dreizehn Jahren war ihre Mutter in der Fremde gestorben – auf einer Reise , hatte man ihr gesagt . Sie senkte die Augen auf das Blatt . » Wie traurig das ist ! « Zwei Tränen rannen ihr langsam über die Wangen . Mit unbehilflichem Lächeln wandte Forbeck sich ab und trat unter die offene Tür . Leise schwankten die Zweige der Bäume ; der Fall der Tropfen , der von ihnen niederging , begann schon zu versiegen . Auch das Rauschen des Wetterbaches schien sich bereits zu dämpfen ; aber der Lärm seiner Wellen war noch immer laut genug , um die beiden Stimmen zu übertäuben , die vom jenseitigen Ufer herüberklangen . Franzl hatte die Kleesberg glücklich durch den Wald heruntergebracht . Das war ein hartes Stück Arbeit gewesen , um so härter , da Franzl zur Stütze für seinen jammernden Schützling nur den einen Arm frei hatte ; unter dem andern Arme schleifte er ein schweres Brett , das er von der Wildscheune losgerissen hatte , um über den von Felsblöcken durchsetzten Wildbach einen Steg zu bauen . Während Gundi Kleesberg in Verzweiflung die Hände rang , ließ er das Brett vom Ufer gegen den nächsten Felsblock fallen . Er trat auf den improvisierten Steg hinaus und schaukelte sich , um die Festigkeit des Brettes zu prüfen und Tante Gundis Mut zu erwecken . » So , Fräuln , kommen S' nur ! « lachte er . » Da schauen S' her ! « Er schaukelte sich , daß das schwingende Brett die schießenden Wellen fast berührte . » Dös Brettl , dös tragt Ihnen leicht , da dürften S' noch a paar gute Pfündln mehr haben ! « » Nein , nein , nicht um die Welt ! « kreischte Gundi Kleesberg und streckte wehrend die Arme , als sollte sie mit Gewalt in den sicheren Tod geschleift werden . » Lieber bleib ich die ganze Nacht ! « Während ihr die Tränen der Angst über die Schlotterwangen kollerten , schrillte ihre Stimme : » Kitty ! Kitty ! Du Ungeheuer ! « Zu allem Jammer erwachte in ihr noch ein neuer . » Wo ist sie denn ? Ich sehe sie nicht ! « » Sie wird halt mit dem jungen Herrn Maler im Kapuzinerhäusl sein . « Franzl streckte die Hände . » Also weiter , Fräuln , kommen S ' ! « Er hatte Tante Gundi beruhigen wollen . Aber der Schreck , den ihr seine Worte einjagten , sprach aus ihren weit aufgerissenen Augen . Keuchend rang sie nach Luft . » In der Klause ? Mit einem – « Da ging ihr schon wieder der Atem aus . Aber ihre Angst hatte plötzlich alle Komik verloren . » In der Klause ? Das ist gerade der richtige Platz ! Als hätten wir nicht schon genug an jenem ersten – « Versagte ihr die Stimme , oder verschluckte sie ein Wort , das nicht über ihre Lippen kommen durfte ? » Nein ! Nein ! Und wenn es mein Leben kostet ! Das will ich verhindern ! « Tante Gundi richtete sich auf wie eine Löwin , die ihr Junges verteidigt . Und als wäre die stille , friedliche Klause ein Abgrund der Gefahr , aus dem sie das ihrer Obhut anvertraute Mädchen erlösen mußte , so stürzte sie auf das Ufer zu und klammerte sich an die Hände des Jägers . Kaum hatte sie das Brett betreten , kaum fühlte sie dieses bedenkliche Schaukeln , kaum sah sie unter ihren Füßen das schießende Wasser , da war es wieder vorbei mit ihrem Löwenmut . Aber Franzl hielt fest . Da gab es kein Zurück mehr . Ihre Seele mit einem Stoßgebetlein dem Herrn empfehlend , stieß Tante Gundi einen klagenden Schrei aus und schloß in Schwindel die Augen . Trotz des rauschenden Lärmes , den der tobende Bach erhob , klang dieser Schrei bis zur Klause . Forbeck lauschte . Aber da hörte er hinter sich einen Ausruf fröhlicher Überraschung . » Köstlich ! Jeder Zug ! Dieser Mund ! Dieses Zwinkern im Auge ! Als stünde er vor mir , wirklich und wahrhaftig ! « So sprudelten Kittys Worte . » Herr Forbeck ! Wie kommen Sie zu diesem Bild ? « Was Kittys Jubel erweckt hatte , war das Brustbild eines alten Jägers mit geflickter Joppe und mürbem Filzhut , auf dem eine geknickte Spielhahnfeder saß . » Nicht wahr , ein famoser Kerl , dieser alte Waldbär ! « sagte Forbeck , der Kittys Freude nicht völlig zu begreifen schien . » Ein Typus von Jäger und Bauer ! Echter Volksschlag . Sehen Sie nur diese knochige Stirn an , diesen Falkenblick im Auge , diese Adlernase und den gewalttätigen Mund ! Was da in jeder Linie liegt an Kraft und rücksichtsloser Derbheit ! Und dieser zausige weiße Bart ! Das ist unglaublich charakteristisch . Der Alte muß einen Zorn haben wie der Sturmwind , und dann fährt er wohl mit seinen schwieligen , sonnverbrannten Fingern in diesen Bart und zerrt – « Forbeck verstummte . Die Sache mochte ihm nun doch etwas sonderbar erscheinen , denn Kitty lachte , daß ihr die Tränen kamen . » Köstlich ! Aber wie sind Sie denn zu diesem Bild gekommen ? « » Ich machte vor einigen Tagen eine Bergpartie , und da ist mir der Alte in der Nähe einer Sennhütte in den Weg gelaufen . Er stach mir gleich in die Augen , und so bat ich ihn , mir eine Stunde zu sitzen . « » Und das hat er getan ? « » Natürlich ! Er schien riesig geschmeichelt , als ich ihn › Herr Förster ‹ titulierte . Und er wußte wohl auch , daß ich es nicht umsonst verlangte . « Kitty schien von einer Ekstase heiterer Laune befallen . » Und Sie wissen nicht , wer das ist ? Wirklich nicht ? « Vor Lachen vermochte sie kaum weiterzusprechen . » Das ist doch mein Papa ! « Forbeck trat verblüfft zurück . Er begriff nicht . Wie kam dieser alte » Waldbär « – vielleicht war er doch kein gewöhnlicher Waldaufseher , wie sein Äußeres vermuten ließ , sondern wirklich ein wohlbestallter Förster – aber wie kam ein schlichter Förster zu einer solchen Tochter mit diesem zierlichen Wuchs und diesem holden Gesichtchen – und noch mehr : zu einer Tochter in so vornehm gewählter Kleidung , mit schwedischen Handschuhen und dem eleganten Schuhwerk . Dieses Kleid und was dazu gehörte – das wog den halben Jahresverdienst eines Försters auf ! Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf : eine Theaterprinzessin ? Er wußte nicht , warum er diesen Gedanken so unangenehm empfand , fast wie einen Schmerz . Aber nein ! Er durfte nur in diese strahlenden Augen blicken , auf diesen kindlichen Mund , um den sinnlosen Einfall wieder zu verwerfen . Dadurch wurde die Sache für ihn noch unbegreiflicher . Der alte » Waldbär « , den er dort oben gefunden – der war echt ! An dem war nicht zu zweifeln ! Das Rätsel war dieses Mädchen . Schon wollte Forbeck eine Frage stellen , da ließen sich vor der Klause hastige Schritte vernehmen . Es wurde finster in der Tür , und Gundi Kleesberg stolperte über die Schwelle . » Kitty – « Nun sah sie den jungen Maler – das Licht des Fensters fiel hell auf sein Gesicht – und Gundi Kleesberg taumelte an die Wand , erschrocken wie vor dem Anblick eines Gespenstes . Verwundert blickte Forbeck auf die ihm fremde Dame , und Kitty stellte ihr Lachen ein . » Tantchen ? Was ist dir ? « Gundi Kleesberg schien sich zu erholen . » Aber so sprich doch ! Was ist dir ? « » Nichts , nichts ! Wer ist – dieser Herr ? « » Herr Maler Forbeck ! « stammelte Kitty , während der junge Mann sich verbeugte . Um über den unbehaglichen Augenblick hinüberzukommen , faßte Kitty das Skizzenbuch . » Tante Gundi , ich muß dir was zeigen , was Herr Forbeck gezeichnet hat , du wirst Augen machen – « Die Kleesberg hatte beim Klang dieses Namens , den sie noch nie in ihrem Leben gehört , erleichtert aufgeatmet . Scheu ließ sie die Augen an dem jungen Mann emporgleiten und schüttelte den Kopf . » Tantchen , sieh doch ! « Beim Klang dieser Stimme war Gundi Kleesberg plötzlich ihrer Stimme mächtig . Mit dem Zorn einer Furie schoß sie auf Kitty zu , umklammerte ihre Hand und schüttelte sie , daß das Skizzenbuch zu Boden fiel . » Laß das ! Und komm ! Das ist kein Ort für dich ! Über Forbecks Gesicht flog brennende Röte . Dann hob er schweigend das Buch von der Erde . » Aber Tante ? « stammelte Kitty verlegen . » Komm ! « In ungestümer Hast zog die Kleesberg das junge Mädchen zur Tür hinaus . Kitty Lippen zuckten . » Aber Tante Gundi ! Herr Forbeck – « » Komm ! « Gundi Kleesberg hielt fest und suchte so schnell als möglich aus der Nähe der Klause zu kommen . » Aber Tante , ich bitte dich ! Herr Forbeck hat mich doch gerettet ! Was muß er denken von mir ! « » Komm nur ! « Tante Gundi schlug einen bei ihrer Schwerfälligkeit überraschenden Sturmschritt an . Das Staunen machte Kitty verstummen . Seit jenem Tag , an welchem Adelgunde von Kleesberg aus dem Stift gekommen war , um sich in eine sehr weitschichtige » Tante « zu verwandeln und die Obhut über das junge mutterlose Mädchen zu übernehmen – seit jenem Tage bis zu dieser Stunde hätte Kitty niemals ahnen mögen , daß in diesem » fleischgewordenen Schaukelstuhl « – wie Graf Egge das alte Fräulein getauft hatte – eine so wieselflinke Beweglichkeit verborgen läge . Kitty meinte ein Wunder zu sehen . Halb schmollend , halb lachend , ließ sie sich von Tante Gundi weiterziehen . Einmal blickte sie wohl über die Schulter zurück , aber die Klause war schon hinter der Felswand verschwunden . Da kam auch Franzl vom Seeufer hergelaufen und rief : » Ich hab a Schiffl ! « » Gott sei Dank ! « Gundi Kleesberg verhielt den stürmischen Schritt . Ihre Kräfte waren zu Ende . 3 Langsam glitt der Nachen über den stillen See , der unter den sinkenden Schatten des Abends in tiefgrünen Farben spielte . Hinter dem Schifflein lagen die den halben See umziehenden Berge mit ihren schwarzen Fichtenwäldern , mit den grauen Wänden und den grünen Almen in der Höhe , auf denen noch helle Sonne lag . Am Ufer , dem der Nachen entgegensteuerte , sah man einen belebten Gasthof und eine Reihe weißer Villen , aus deren einer die Solfeggien einer herrlichen Altstimme und die Töne eines Flügels erklangen . Hinter den roten Dächern der Villen dehnte sich ein welliges Gelände mit den zerstreuten Häuschen und Gehöften des Dorfes . An ihre Gärten schloß sich , von einer roten Mauer umzogen , ein weitgedehnter Park , über dessen kugelige Ulmenwipfel sich das Dach und die Türmchen von Schloß Hubertus erhoben . Von den Insassen des Nachens achtete niemand der Schönheit dieses Bildes , das nach dem reinigenden Gewitterregen in seinen Farben so frisch und so neu erschien , als wäre es eben jetzt aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen . Der alte Schiffer führte , im Spiegel des Bootes stehend , in gleichmäßigem Takt das Ruder ; Franzl , der auf dem Schnabel des Schiffes ein nicht sehr bequemes Plätzchen gefunden , wischte mit dem Ärmel die Rostflecken von dem Lauf seiner Büchse ; und Kitty saß , dem Stiftsfräulein den Rücken kehrend , in schmollendes Brüten versunken . Plötzlich erwachte sie . Franzl hatte sie leis auf das Knie getippt und flüsterte : » Schauen S' das alte Fräuln an ! « Kitty blickte über die Schulter zurück und erschrak vor dem kummervollen Anblick , den Tante Gundi bot . Breit lag ihr das rote Doppelkinn auf dem schwer atmenden Busen , tiefe Furchen kreuzten die Mundwinkel , und über die welken Wangen , von denen auch die letzte Spur der Schminke geschwunden war , kollerten dicke Perlen . Waren es Schweißtropfen oder Tränen ? Wohl beides zugleich . Aus dem zerfallenen Gesichte redete die Sprache eines tiefen , bedrückenden Schmerzes . Das fühlte Kitty , und im Augenblick war ihr Groll vergessen . Hurtig schwang sie die Füßchen über das Brett und faßte die Hände des Fräuleins . » Tante Gundi ! Was hast du ? « Die Kleesberg sah mit verstörten Augen auf , als hätte man sie bei einer bösen Tat ertappt . » Laß mich , du – « Sie wandte mit einem übelgelungenen Versuch von Würde das Gesicht und blickte krampfhaft ins Wasser , um ihre Tränen zu verbergen . Kitty schwieg . Mit scheuer Sorge hingen ihre Augen an Tante Gundi , und im stillen begann sie sich Vorwürfe zu machen . Sie wußte sich freilich keiner anderen Sünde zu zeihen als der einzigen , daß sie in der begreiflichen Ungeduld , nach langer Trennung den Vater um eine Stunde früher zu sehen , die erste Ursache zu dem für Gundi Kleesberg so übel verlaufenen Abenteuer gegeben hatte . An allem anderen war sie schuldlos . Alles andere war gekommen – sie wußte selbst nicht wie ! Knirschend fuhr der Nachen an das Ufer . Kaum hatte die Kleesberg festen Fuß unter sich , und kaum gewahrte sie die Gruppen der Schiffer und Sommergäste , da hatte sie ihre verlorene Fassung wiedergefunden . Der Seewirt , der die zum Schloß Hubertus gehörige Fischerei in Pacht hatte , kam gerannt , um den » gnädigen Damen « seine Aufwartung zu machen . Kitty reichte ihm freundlich die Hand , Gundi Kleesberg rauschte an ihm vorüber , mit dem Aplomb einer Königin , deren Würde mehr in die Breite ging als in die Höhe . Franzl schwang die Büchse auf den Rücken und wanderte davon . Bald verstummte hinter ihm der Lärm des belebten Ufers , und zwischen Haselnußstauden ging sein Weg über stille Wiesen . Ein paar hundert Schritte trennten ihn noch von seinem Haus . Nun führte der Fußweg gegen einen hohen Zaun , bei dem ein paar rohgezimmerte Stufen den Überstieg erleichterten ; und drüben lag ein schmaler , von zwei tischhohen Bretterplanken eingefaßter Pfad . Da hörte Franzl über den Zaum her eine Männerstimme – sie redete jene zweifelhafte Bauernsprache , die der Jäger manchmal in den Sennhütten von jungen Touristen zu hören bekam – und ihr erwiderte eine zornige Mädchenstimme : » Aus'm Weg , du ! « Neugierig drückte Franzl die Haselnußzweige auseinander und gewahrte einen kniemageren Touristen , dessen Rucksack , Joppe und Lederhose an diesem Tage wohl zum erstenmal die Berge erblickt hatten ; quer in den Händen hielt er einen wahren Baum von Bergstock , mit dem er einem jungen , schmucken Mädel den schmalen Pfad verlegte . » 's Zollheben is 'n alter Brauch , « erklärte der kühne Wegelagerer in seinem zweifelhaften Dialekt , » und drum sog i dir , du saubers Diandl , du kommst mir nit ummi , eh du nit dein Zoll zahlt hast . « » Gehst aus'm Weg ? « » Nit um die Welt . Da müßt ich woltern erscht von dein süßen Göscherl mein Bussarl haben ! Und wann du 's nit gern gibst – « Da griff das Mädel mit zwei gesunden Fäusten zu . » Wart , dir gib ich a Bußl , du Zibebenkramer ! « Zuerst machte der Bergstock einen Purzelbaum , dann sein Besitzer ; die morsche Bretterplanke krachte , und hinter ihr verschwand der besiegte Ritter , daß für eine kurze Weile nur noch seine frisch genagelten Schuhe zu sehen waren . Das Mädel wischte die Hände über die Hüften , näherte sich dem Überstieg , hörte das Gelächter des Jägers und gewahrte über dem Zaunrand sein braunes Gesicht mit den lustigen Augen , die in Wohlgefallen an ihr hingen . Franzl erkannte sie nicht , sie mußte eine Auswärtige sein . Das gestrickte braune Leibchen , das die Brust und die runden Arme knapp umschloß , und die weiße Halskrause – das war fremde Tracht . Aber woher auch immer , sie war in einer Luft gewachsen , die gesund und sauber macht . Und wie gut der halbverrauchte Zorn zu ihrem frischen , sonnverbrannten Gesichte stand , zu den blaugrauen Augen und der festen Stirn , über der die blonde Haarkrone sich so bedenklich verschoben hatte , daß die schweren Zöpfe zu fallen drohten . Der erste Blick , den sie auf den Jäger geworfen , war kein sonderlich freundlicher gewesen . Sie schien eine neue Wegsperre zu befürchten . Doch sein Lachen wirkte ansteckend , und sie lachte mit . » Madl ! Den hast bös auszahlt . « » Wie's ihm ghört hat ! So a Grashupfer ! Aber z'erst , da bin ich a bißl erschrocken . « » Hättst kein Kummer net haben brauchen . Wann 's gfehlt hätt , wär schon ich bei der Hand gwesen . « Sie nickte ihm freundlich zu . » Vergeltsgott ! Aber es hat 's net braucht . Der hat net amal 's Schneidergewicht . Den muß man mit Schmalz einreiben , daß er fett wird . Wo is er denn ? « Sie guckte über die Schulter ; als sie den Pfad noch immer leer sah , meinte sie besorgt : » Er wird doch nit ungut gfallen sein ? « » Gott bewahr ! Grad rappelt er sich in d' Höh ! « Hinter der geknickten Bretterplanke erschien der grasgrüne Spitzhut mit der trauernden Hahnenfeder . » No also ! « Mit diesem Wort schien die Sache für sie erledigt . An dem Gezweig eine Stütze suchend , stieg sie auf die Kante des Zaunes , faßte die Hand , die ihr der Jäger reichte , und sprang zu Boden . » Bhüt dich Gott , Jager ! « grüßte sie lächelnd . » Bhüt dich Gott auch ! « Sie schritt davon , und Franzl sah ihr betroffen nach . Nun plötzlich , an ihrem Lächeln , war ihm etwas aufgefallen ; er mußte sie schon einmal gesehen haben . Nach wenigen Schritten blieb sie stehen und sah sich um . Die Augen der beiden trafen sich , und eines schien dem andern sagen zu wollen : » Mir scheint , ich müßt dich kennen ! « Aber sie schwiegen , und das Mädel ging ; hinter den Haselnußstauden verschwand es ; nur ein paarmal leuchtete zwischen dem Grün noch die weiße Schürze . Franzl schob von hinten den Hut in die Stirn ; das tat er immer , wenn er zu denken hatte . Dann stieg er über den Zaun und folgte dem eingeplankten Pfad . Hinter den Brettern sah er den traurigen Ritter stehen , der ratlos einen handbreiten Riß in seiner neuen Lederhose musterte . Lachend streckte Franzl die Hand über die Planke und klopfte ihn auf die Schulter . » Ja , Mannderl , bei uns kosten die Busserln Hosenfleck ! In der Stadt sind s' billiger . « Nach kurzem Weg erreichte der Jäger sein Heimwesen , ein freundliches Haus mit frisch geweißter Mauer und grünen Fensterläden , Hofraum und Garten mit Sorgfalt gepflegt , der ganze Besitz von einem hohen Staketenzaun umschlossen . Als Franzl das Pförtchen öffnete , erhob sich von einem der Gartenbeete ein alte Frau mit stillen Augen und weißem Faltengesicht , das von dem grauen , tief in die Schläfe gekämmten Haar wie von einer verblaßten Haube umrahmt war . » Grüß dich Gott , Bub ! « » Grüß Gott , Mutter ! Wie geht's allweil ? « » Es tut's . Und dir ? Is dir 's allweil gut gangen am Berg ? « » Am Berg ? Da droben geht 's eim allweil gut ! « lachte Franzl . Seine Mutter schien ein feines Ohr zu haben . Dieses Lachen klang nicht wie sonst . Und die Liebe in Menschen , die Unglück erfuhren , ist immer furchtsam . Forschend hingen die Augen der Försterin an ihrem Sohn . » Franzl ? Hat der Herr Graf wieder gscholten ? Oder fangt der Schipper seine scheinheiligen Gschichten wieder an ? « » Gott bewahr ! Nix , gar nix ! Mußt dir denn allweil Sorgen machen , wo keine sind ? « Er faßte die Hand der Mutter und streichelte die welken Finger . » Geh , du Sorgenhaferl , du alts ! « Die Horneggerin , wenn einmal eine Sorge in ihr wach geworden , war so leicht nicht wieder zu beruhigen . » Warum kommst denn heim ? Mitten unter der Woch ? « » Treiber muß ich bstellen , der Herr Graf will riegeln . Und was ich fragen will , Mutter – is bei uns net grad a Madl vobeigangen ? « Ja . Warum fragst ? Hast es nimmer kennt ? Bist doch mit ihr in d' Schul gangen ! Die Bruckner-Mali ! « » Die Maaali ? « Der Name hing ihm an der Zunge wie ein zehnsilbiges Wort . Daß er aber auch die Mali nicht gleich erkannt hatte ! Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen , bis im Försterhaus das blutige Unglück Einkehr hielt , vor vierzehn Jahren . Da war der Bub durch Wochen nicht von der Seite der Mutter gewichen ; und als er eines Abends die kleine Freundin wieder suchte , war sie verschwunden . Eine ältere Schwester , die in eine weit entfernte Ortschaft geheiratet , hatte das Mädel zu sich genommen . Und jetzt war die Mali wieder heimgekehrt ? Sie hatte sich sauber ausgewachsen ! Und weshalb sie gekommen war , das meinte Franzl zu erraten . Dem Bruckner , ihrem Bruder , war das Weib gestorben , er hatte drei Kinder , Not und Krankheit in der Stube . Da waren ihm zwei gesunde Arme zur Hilfe mehr als nötig . Und daß die Mali zwei feste Arme besaß , davon hatte Franzl sich vor einem Viertelstündchen zur Genüge überzeugt – er und noch ein anderer ! » Die Mali ! Jetzt is dös gar die Mali gwesen ! « Mit vergnügtem Schmunzeln schüttelte Franzl den Kopf und folgte der Mutter ins Haus . Der Abend sank , und aus den Wiesen begann ein dünner Nebel zu dampfen , der sich gleich einem weißen Schleier über die Haselnußstauden aller Pfade legte . – Noch vor Einbruch der Dämmerung hatten auch Kitty und Tante Gundi das Parktor von Schloß Hubertus erreicht . Auf dem ganzen Wege hatten sie kein Wort miteinander gewechselt . Als aber Gundi Kleesberg die Hand nach der Torklinke streckte , verstellte ihr Kitty den Weg . » Tante Gundi ? Bist du mir böse ? « » Ach , Kind ! « Die Kleesberg umschlang mit beiden Armen das Mädchen und küßte ihm die Wange so zärtlich , wie nur eine bekümmerte Mutter ihr Kind zu küssen vermag . » Wie kann ich dir böse sein ? Ich hab' dich lieb . Und habe nur dich . Wir beide brauchen uns . Ich bin deine Mutter , du bist mein Kind ! « Sie betraten den Park , und klirrend fiel hinter ihnen das hohe , schmiedeeiserne Tor ins Schloß . Es hallte unter den Bäumen , und ein ungestümes Flattern und Gerüttel ließ sich vernehmen . Eine breite Allee , von alten Ulmen halb überdacht , führte in gerader Linie zum Schlosse . Blumenduft und Heugeruch erfüllten die Luft . Inmitten der Allee weitete sich ein großes Kiesrondell , auf dem sich ein mächtiger , aus Eisenstangen und grobem Drahtgeflecht gebildeter Käfig erhob . Er barg die sieben Steinadler , die Graf Egge im Laufe mehrere Jahre als halbflügge Vögel aus ihren Nestern gehoben . Während Kitty und Tante Gundi vorüberschritten , begann im Käfig ein grauenhafter Spektakel . Gleich schwarzen Schatten huschten in der Dämmerung die aus ihrer Ruhe aufgescheuchten Adler durcheinander ; fauchend und mit gellenden Schreien warfen sie sich gegen das Drahtgeflecht und rüttelten an ihrem Kerker ; unter dem Klatschen der Flügelschläge hörte man das Knirschen des Drahtes , wenn die scharfen Fänge in das Flechtwerk griffen . Tante Gundi beeilte sich , an dem Käfig vorüberzukommen . » Eine merkwürdige Liebhaberei , das ! « grollte sie . » Dieser Aasgeruch , mitten zwischen den Rosenbeeten ! Pfui ! « Kitty schwieg ; diese Vögel waren eine Freude ihres Vaters , eine lebendige Trophäe seines kühnen Jägermutes . Aus dem Schlosse fiel schon der Lichtschein einzelner Fenster in die Allee . Nun zeigte sich ein weiter , fein besandeter Platz mit Blumenbeeten , exotischen Gewächsen und einer plätschernden Fontäne , von deren hohem , gleich mattem Silber leuchtendem Strahl ein feiner Staubregen gegen die finsteren Bäume dampfte . In der Tiefe des Platzes erhob sich Schloß Hubertus , eine Mischung von gotischem Kastell und moderner Villa . Man sah es auf den ersten Blick : hier wohnte ein großer Jäger vor dem Herrn . Über jedem Fenster war ein mächtiges Hirschgeweih an der Mauer befestigt – eine Sammlung , anzusehen wie eine riesige , die Geweihbildung aller Hirschgattungen demonstrierende Wandtafel ; hier hing der konfuse Hauptschmuck des lappländischen Renntiers , die wuchtige Schaufel des schwedischen Elchs , der stämmige Schlag der böhmischen Wälder , das Zentnergeweih des amerikanischen Wapiti , der Urhirsch aus der Bukowina , das massige Kronengeweih des Bakonyerwaldes , die gefingerte Schaufel des Dambockes , der weichlich gezeichnete Hauptschmuck des gefütterten Parkwildes und das schlanke , schön verästelte Geweih des stolzen Edelhirsches der deutschen Berge . Jede dieser Trophäen hatte Graf Egge auf seinen Jagdreisen mit der eigenen Kugel gewonnen , unter jedem der Geweihe war ein weißes Täfelchen angebracht , auf dem die Heimat des Hirsches und der Tag verzeichnet standen , an dem das Wild gefallen . Jetzt verschleierte tiefe Dämmerung diese stolze Jägerchronik , und wie ein Gewirr von dürren Ästen starrten die hundert Enden aus der Mauer . Lichtschein fiel aus der offenen Tür über die steinerne , von wildem Wein und Jerichorosen umrankte Veranda , zu der drei breite Stufen emporführten . Als Kitty und Tante Gundi die Veranda betraten , kam ihnen ein junger Diener entgegen , der sich besorgt erkundigte , ob die Damen nicht ins Gewitter geraten wären . » Nein , Fritz , « sagte Kitty , » wir kommen trocken nach Hause . Wo ist mein Bruder ? « » Der Herr Graf arbeiten in seinem Zimmer . « Durch einen breiten Flur , dessen Wände von den Steinfliesen bis zur Decke mit Jagdtrophäen aus aller Welt bedeckt waren , eilte Kitty zur Treppe . Auch hier im Treppenhaus wie in den Korridoren des oberen Stockes hing Geweih neben Geweih an allen Wänden . Kitty öffnete eine Tür und schob das Köpfchen durch den Spalt . » Stört man nicht ? « » Komm nur ! « erwiderte eine ruhige Männerstimme . Das matte Licht einer mit chinesischem Schirm bedeckten Studierlampe füllte den nicht allzu großen , einfach möblierten Raum . Bücher , Zeitungen und Broschüren lagen , da es an Schränken fehlte , überall umher , auf dem Tisch , auf allen Stühlen . Der große Schreibtisch war von einem Ringwall dicker Bände umzogen , so daß für Lampe , Tintenzeug und Aktenmappe nur ein kleiner Raum verblieb . Man glaubte sich in dem Zimmerchen eines fleißigen Studenten zu befinden , der vor dem Examen steht . Aber Graf Tassilo , Kittys ältester Bruder , hatte die Schuljahre längst hinter sich . Er nahm den Schirm von der Lampe und erhob sich : eine schlanke , vornehme Gestalt mit einem energischen Kopf , einem scharfgeschnittenen Gesicht und einem Knebelbart , wie König Ludwig II. ihn zu tragen pflegte . Die Härte der Züge , die Tassilo vom Vater hatte , wurde gemildert durch den ruhigen Glanz der Augen , die den Augen der Schwester glichen . Man konnte lesen in diesem Gesicht und Blick : da steht ein Mensch , der mit sich im klaren ist und weiß , was er will ; eine starke , zähe , an Arbeit und Selbstbeherrschung gewöhnte Natur mit warm fühlendem Herzen . Aber es mochten schwere Kämpfe gewesen sein , in denen er das sichere Gleichgewicht seines Lebens gewonnen ; das verriet die tiefgeschnittene Furche zwischen den Brauen . Graf Tassilo stand im dreißigsten Jahr , doch hätte man ihn wohl um einige Jahre älter geschätzt . Herzliches Wohlgefallen leuchtete beim Anblick der Schwester aus seinen Augen . Wie das lichte Figürchen auf ihn zugeflattert kam , das war auch , als wehte ein frischer Frühlingshauch in die ernste Stube . Kitty umschlang den Bruder . » Guten Abend , Tas ! « Lächelnd hielt er sie fest und streichelte ihr Haar . » Nun ? Ist Papa gekommen ? « Sie hob wie in unbehaglichem Empfinden die Schultern . Ein Schatten ging über das Gesicht des Bruders . Er gab die Schwester frei und ließ sich nieder . » Ich hätt' es dir voraussagen können . Aber ich wollte deine Freude nicht stören . Möglich wär' es ja doch gewesen – « » Nein , ganz unmöglich ! « fiel Kitty ein , als hätte sie das Bedürfnis , ihren Vater zu verteidigen . » Er konnte nicht kommen , absolut nicht ! Franzl hat es mir gesagt . Weißt du , Tas , da droben steht irgendwo ein ganz fabelhafter Gemsbock . Papa muß ihn haben ! « » Natürlich ! Ein Gemsbock ! « Als wollte er über das Thema wegkommen , sagte er mit veränderter Stimme : » Ich habe mich gesorgt um dich . Wo wart ihr , als das Wetter kam ? « » Droben im Wald , trocken und sicher , in der Wildscheune . « Sie begann zu erzählen und fand ihre Laune wieder . Drollig schilderte sie Tante Gundis Verzweiflung , das Erscheinen des Jägers und ihren Niederstieg zum Wetterbach – » ganz à la Paul et Virginie ! « Dann verstummte sie , als wäre das Abenteuer zu Ende . Lächelnd beugte sie sich über den Schreibtisch und begann in den aufgeschlagenen Akten zu blättern . » Und du , Tas ? Du hast natürlich wieder mit den Ellbogen zwei Löcher in deinen Schreibtisch gebohrt und den herrlichen Abend versäumt . Über was grübelst du schon wieder ? « » Ich sammle das Material zu einer Verteidigung . « » Wohl ein sehr interessanter Fall ? « » Für mich , gewiß . « Um was handelt es sich ? Um einen Unschuldigen ? « » Nein , Kind , um einen Gewohnheitsdieb . « » Aber Tas ! « Erschrocken hingen Kittys Augen an dem ernsten Gesicht des Bruders . » Wie kannst du dich mit einem solchen Menschen befassen ? Du ! Mit einem gemeinen Verbrecher ! « » Ein Verbrecher ? Ja . Aber noch mehr ein Kranker . Ich hoffe , daß er zu heilen ist . « » Davon laß nur Papa nichts merken . « » Er sorgt dafür , daß mir die Gelegenheit fehlt . « » Wenn er es aber doch erfährt , was wirst du ihm sagen ? « Tassilo streifte mit der Hand über Kittys Scheitel . » Nichts . « » Ja , Tas , das wird wohl das beste sein . Widerspruch verträgt er nicht . Und ich bin überzeugt , daß er dir die letzte Geschichte vom Frühjahr noch immer nicht vergessen hat . Es war aber auch ein netter Streich ! « » Meinst du ? « » Ein Graf Egge-Sennefeld ! Und verteidigt einen auf frischer Tat ertappten Wilddieb ! Na , erlaube mir , Tas – « Er klopfte sie mit beiden Händen auf die Wangen und sagte , wie man zu einem Kinde spricht : » Dir erlaube ich alles . « Ein Diener erschien in der Tür : der Tee stünde bereit . Tassilo nahm einige Zeitungen vom Schreibtisch und reichte seiner Schwester den Arm . Das Speisezimmer lag zu ebener Erde ; ein großer , wenig behaglicher Raum , dem es anzumerken war , daß er die längste Zeit des Jahres leer stand . In der Mitte der lange Tisch , mit grünem Tuch überspannt und nur zur Hälfte weiß gedeckt . Auf jeder Seite der Flurtür stand eine altertümliche Kredenz , und geschnitzte Holzbänke mit verblaßten Kissen zogen sich rings um die Mauern . Wände und Decke waren mit gebräuntem Lärchenholz getäfelt . Die Luft des Zimmers hatte einen leisen Geruch , der an die Apotheke erinnerte ; er ging von den hundert präparierten Vögeln aus , die den Schmuck der Wände bildeten ; da zwischen abnorme Rehgehörne und in silberne Zwingen gefaßte Eberzähne ; an der Decke hingen , mit ausgebreiteten Schwingen , gegen zwanzig Adler , die sich sacht bewegten : von den zwei großen Moderateurlampen , die auf der Tafel standen , stieg die erhitzte Luft in die Höhe und staute sich unter den Flügeln . Eine offene Seitentür ließ in ein finsteres Zimmer blicken , darin die polierte Brüstung eines Billards funkelte . Als Kitty auf der Tafel nur zwei Gedecke sah , fragte sie : » Fritz , wo ist Tante Gundi ? « » Das gnädige Fräulein haben sich zurückgezogen und haben Siphon und Eispillen verlangt . « » Ach du Barmherziger ! Jetzt hat sie wieder ihre Migräne ! « Kitty lief davon . Als sie nach ein paar Minuten zurückkehrte , berichtete sie kleinlaut : » Sie hat sich eingesperrt . Die Arme ! « Tassilo schien nicht zu hören ; er hatte sich bereits bedient , und während er mit der Rechten in langsamen Pausen den Teelöffel oder die Gabel führte , hielt er mit der Linken die Zeitung unter die näher gerückte Lampe . Erst als Kittys Teller klapperte , schien er die Rückkehr der Schwester zu bemerken und wollte die Zeitung aus der Hand legen . » Lies nur , Tas ! « » Wenn du erlaubst , ich finde untertags keine Zeit dafür . « Eifrig vertiefte er sich wieder in den unterbrochenen Artikel . Eine stille Viertelstunde verrann . Kitty erhob sich . » Du arbeitest wohl nach Tisch ? « Tassilo zögerte mit der Antwort , und eine feine Röte erschien auf seiner Stirn . » Später , ja ! Und du ? « » Was soll ich machen ? Du hast Arbeit und Tante Gundi Migräne . Ich krieche ins Nest . Gute Nacht , Tas ! « Sie küßte ihn , blieb vor ihm stehen und sagte seufzend : » Tas , du bist alt geworden . « » Meinst du ? « Er lächelte , seltsam verträumt . » Ich bin der Meinung , daß meine Jugend erst begonnen hätte . « Kitty lachte gezwungen . » Das ist riesig komisch ! Jugend hat Rosengeruch . Du riechst nach Akten . Armer Tas ! Na , gute Nacht ! « Sie wollte gehen ; der Bruder faßte ihre Hand und hielt sie fest ; seine Augen hatten Glanz , und ein bekennendes Wort schien auf seiner Zunge zu liegen ; doch er lächelte wieder . » Gute Nacht – du Kind ! « Kitty schlich davon , bummelte durch den Flur , an dessen Wänden die wirren Schatten der vielen Geweihe leise zuckten , und stieg über die Treppe hinauf . Seufzend öffnete sie die Tür ihres Zimmerchens , tappte in die Finsternis und machte Licht . Der kleine Raum hatte ein freundliches Ansehen , ohne zu verraten , daß hier die Tochter eines Edelmannes wohnte , dessen Besitz nach Millionen zu zählen war . Graf Egge , der auf seinen Jagdreisen und Pirschgängen , wenn es eine seltene Beute zu machen galt , das Nachtlager auf blanker Erde nicht scheute , hatte auch seine Kinder nie verwöhnt ; nur zur Hälfte aus Überzeugung , zur andern Hälfte aus einer Eigenschaft , für welche Sparsamkeit das mildeste Wort ist . Er knauserte in allen Dingen , die nicht die Jagd betrafen ; seine drei Söhne hatten knapp bemessene Apanagen , aber seine Hirsche Winterfutter in Hülle und Fülle : aus Franken ließ er das saftigste Kleeheu kommen , aus Ungarn den besten Mais , aus der Maingegend die fettesten Kastanien . Die billigen Stoffe für Kittys Stübchen , das man im vergangenen Sommer für den flügg gewordenen Klostervogel eingerichtet hatte , waren wohl aus der nächsten Stadt verschrieben ; aber die Möbelgestelle hatte der Boottischler des Seewirtes angefertigt ; und der Zauner-Wastl , der Dorfsattler – der übrigens den Ruf eines Universalgenies genoß und im Schloß Hubertus als eine Art Faktotum verkehrte – hatte die Polsterung übernommen . Die Sache war gar nicht so übel ausgefallen . Der weiße Leinenplüsch mit den mattblauen Streifen machte sich gut zu dem farblos polierten Lindenholz ; dazu die lichte Tapete ; das Stübchen sah aus wie frisch aus der Wäsche gekommen . Die Dielen waren blank , ohne Teppich ; nur vor dem Bett lag eine graue Hirschdecke . Der Tisch , die Kommode , zwei Etageren und alle sonstigen verfügbaren Plätzchen waren dicht angeräumt mit zierlichem Kram , mit Kolonnen von Photographien in blinkenden Rähmchen , über die das größere , mit französischer Widmung beschriebene Bild der Soeur supérieure hinausragte wie die Hirtin über die kleine Herde . Kitty wollte das offene Fenster schließen . Draußen plätscherte die Fontäne , und das steigende Mondlicht fiel schon über die Baumwipfel . Sinnend blickte Kitty hinaus in dieses Gewirr von finsteren Schatten und dämmerigem Licht ; statt das Fenster zu schließen , ließ sie sich auf einen Sessel sinken und lehnte sich mit beiden Armen über das Gesimse . Vor ihren träumenden Augen spann sich der Mondschein immer weiter , die Konturen des Laubwerkes mit einem schleierhaften Dunst überziehend . Die Nähe verschmolz mit der nebeligen Ferne in einen einzigen blaßgrauen Ton , so daß die weite Fläche der Wipfel mit den an den Park sich schließenden Wiesen und Wäldern fast anzusehen war wie eine von mattem Zwielicht überwobene unabsehbare Heide . Vor Kittys Gedanken belebte sich das Bild : verschwommen hob sich aus der Dämmerung ein verschlungener Pfad , rauh von Steinen , umwachsen von niederem Dorngestrüpp ; und zwischen den Dornen lag entkräftet die Gestalt einer Genie , mit schmerzvollen Zügen , in Lumpen gehüllt und mit zerzausten Schwingen . » Wie traurig ! « zitterte es leis von Kittys Lippen . Sie war so tief in diese Erinnerung versunken , daß sie den Schritt nicht hörte , der unter ihrem Fenster langsam über den Kiesgrund ging und in der Ulmenallee verklang . 4 Graf Tassilo verließ den Park und wanderte auf der mondhellen Straße dem Dorf entgegen . Nach einer Viertelstunde erreichte er den See . In weitem Kreise leuchteten die Fenster aller Villen . Auf der von Windlichtern erhellten Terrasse des Wirtshauses waren einige Tische mit Sommergästen besetzt , und am Ufer standen ein paar junge Burschen und Mädchen unter halblautem Geplauder beisammen . Sie verstummten bei Tassilos Ankunft ; einer der Burschen rannte davon , verschwand in der Schiffshütte , und man hörte das Klirren einer Kette und das Gepolter eines Bootes , das aus der schwarzen Hütte tauchte und am mondhellen Ufer anlegte : ein zierlicher Nachen , die Bänke mit Polstern belegt , der Steuersitz von einem geschnitzten Geländer umgeben . Der Knecht stieg aus , und Graf Tassilo übernahm die Ruder . Die weite Seebucht quer durchschneidend , glitt der Nachen einer Villa entgegen , aus deren Garten sich eine weiße Steintreppe zum Wasser senkte . Als der Kahn sich näherte , klang eine leise Stimme : » Tassilo ? Du ? « » Ja , Kind ! « Der Nachen legte an , und Graf Tassilo erhob sich , um die schlanke Gestalt des Mädchens zu umfangen , das ihn auf der Treppe erwartet hatte . » Anna ? « fragte eine andere Frauenstimme von der Villa her . » Willst du nicht den Mantel nehmen ? « » Nein . Die Luft ist so lind und warm wie in der Sonne ! « Von Tassilo gestützt , bestieg das Mädchen den Nachen , ließ sich im Spiegel nieder , schob das Boot von der Mauer ab und faßte die Schnüre des Steuers . Von kräftigen Ruderschlägen getrieben , rauschte der Kahn dem tieferen See entgegen ; im Mondlicht funkelten die Tropfen , die von den Rudern fielen , und hinter dem Steuer verblieb im dunklen Wasser eine leuchtende Furche . Eine Weile schwiegen die beiden ; dann sagte Tassilo : » Verzeih ' mir , daß ich dich warten ließ ! Bist du nicht ungeduldig geworden ? « » Ich habe schon gefürchtet , daß ich dich heute nicht mehr sehen würde . Aber nun bist du ja gekommen ! « Die warme melodische Stimme klang in der Nachtstille wie leiser Gesang . » Ich war nicht Herr meiner Zeit . Seit gestern ist meine Schwester in Hubertus . « Die Antwort zögerte . » Ich weiß – « » Das macht dir Sorge ? Nein , Anna , sei ruhig ! Wie alles andere kommt , ich weiß es nicht . Aber meine Schwester wirst du im Sturm gewinnen . Sie schwärmt für dich . Und sie soll auch die erste sein , die es erfährt . Endlich muß ja doch gesprochen werden , die Entscheidung ist nicht länger aufzuschieben . Ich will nicht , daß man im Dorfe anfängt , über dich zu klatschen . « Eine Hand legte sich auf die seine . » Ich danke dir . « » Aber Kind ! « Er küßte die weißen Finger und faßte die Ruder wieder . » Ich liebe dich und will , daß auch die andern dich ehren , wie du es verdienst . Deshalb muß diese schiefe Stellung ein Ende nehmen . Ich habe einen Entschluß gefaßt . Dieser Tage kommen meine Brüder für eine Woche nach Hubertus , und ich vermute , daß uns Papa , um sich das Wiedersehen zu erleichtern , in die Jagdhütte bestellen wird . Diese Gelegenheit will ich benützen . Wie Robert und Willy sich dazu stellen werden , weiß ich nicht . Aber mit ihnen werde ich rasch ins klare kommen . Mein Vater freilich – « » Du fürchtest ? « » Furcht ? « Er beugte sich über die Ruder und sah mit glücklichem Lächeln in das schöne Mädchengesicht . » Nein , Anna ! Aber bang ist mir . Nicht vor den Kämpfen , die meiner warten , denn ich weiß , daß ich sie überstehen werde . Mir ist nur bang vor dem unverdienten Glück , das über mich herfallen wird . « Eine Hand schloß ihm die Lippen . Es wurde still im Boot , die Ruder schleiften , und mit sachtem Plätschern glitt der Nachen an einer steil aus dem Wasser ragenden Felswand vorüber . Der Kessel der Berge öffnete sich , einer riesenhaften Grotte vergleichbar und überflutet von allem Zauber der sommerlichen Mondnacht . Nun der schwebende Anschlag einer wunderbaren Altstimme . Wie der klingende Traum einer Glocke , so zitterte die Fülle dieser herrlichen Töne hinaus in das Schweigen der Nacht – Schumanns » Lied der Braut « . Und wie dieses Lied gesungen wurde , das war mehr als nur die Gabe einer vollendeten Künstlerin ; es war Gesang , in dem sich alles Denken und Fühlen , die ganze Seele eines liebenden Weibes erschöpfte . » Laß mich ihm am Busen hangen , Mutter , Mutter , laß das Bangen , Frage nicht : Wie soll sich's wenden ? Frage nicht : Wie soll das enden ? Enden ? Enden soll es nie ! Wenden ? Noch nicht weiß ich , wie ! Laß mich ihm am Busen hangen ! Laß mich ! « Wie ein verlorener Klang aus weiter Ferne hallte das Echo der letzten Worte von den steinernen Wänden der Berge . Dann tiefes Schweigen .