Erstes Kapitel Georg von Wergenthin saß heute ganz allein bei Tische . Felician , sein älterer Bruder , hatte es vorgezogen , nach längerer Zeit wieder einmal mit Freunden zu speisen . Aber Georg verspürte noch keine besondere Neigung , Ralph Skelton , den Grafen Schönstein , oder andere von den jungen Leuten wiederzusehen , mit denen er sonst gern plauderte ; er fühlte sich vorläufig zu keiner Art von Geselligkeit aufgelegt . Der Diener räumte ab und verschwand . Georg zündete sich eine Zigarette an , dann ging er nach seiner Gewohnheit in dem großen , dreifenstrigen , nicht sehr hohen Zimmer hin und her und wunderte sich , wie dieser Raum , der ihm durch viele Wochen wie verdüstert erschienen war , allmählich doch das frühere freundliche Aussehen wiederzugewinnen begann . Unwillkürlich ließ er seinen Blick auf dem leeren Sessel am oberen Tischende ruhen , über den durch das offene Mittelfenster die Septembersonne hinfloß , und es war ihm , als hätte er seinen Vater , der seit zwei Monaten tot war , noch vor einer Stunde dort sitzen gesehen ; so deutlich stand ihm jede , selbst die kleinste Gebärde des Verstorbenen vor Augen , bis zu seiner Art die Kaffeetasse fortzurücken , den Zwicker aufzusetzen , in einer Broschüre zu blättern . Georg dachte an eines der letzten Gespräche mit dem Vater , das im Spätfrühling stattgefunden hatte , kurz vor der Übersiedlung in die Villa am Veldeser See . Georg war damals eben aus Sizilien heimgekommen , wo er den April mit Grace verbracht hatte , auf einer melancholischen und ein wenig langweiligen Abschiedsreise , vor der endgültigen Rückkehr der Geliebten nach Amerika . Er hatte wieder ein halbes Jahr oder länger nichts Rechtes gearbeitet ; nicht einmal das schwermütige Adagio war niedergeschrieben , das er in Palermo , an einem bewegten Morgen am Ufer spazierengehend , aus dem Rauschen der Wellen herausgehört hatte . Nun spielte er das Thema seinem Vater vor , phantasierte darüber mit einem übertriebenen Reichtum an Harmonien , der die einfache Melodie beinahe verschlang ; und als er eben in eine wild modulierende Variation geraten war , hatte der Vater , vom anderen Ende des Flügels her , lächelnd gefragt : Wohin , wohin ? Georg , wie beschämt , ließ den Schwall der Töne verklingen , und nun , herzlich wie immer , doch nicht in so leichtem Ton wie sonst , hatte der Vater mit dem Sohn ein Gespräch über dessen Zukunft zu führen begonnen , das diesem heute durch den Sinn zog , als wäre es von mancher Ahnung schwer gewesen . Er stand am Fenster und blickte hinaus . Drüben der Park war ziemlich leer . Auf einer Bank saß eine alte Frau , die eine altmodische Mantille mit schwarzen Glasperlen um hatte . Ein Kindermädchen spazierte vorbei , einen Knaben an der Hand , ein anderer , ganz kleiner , in Husarenuniform , mit angeschnalltem Säbel , eine Pistole im Gürtel , lief voran , blickte stolz um sich und salutierte einem Invaliden , der rauchend des Weges kam . Tiefer im Garten , um den Kiosk , saßen wenige Leute , die Kaffee tranken und Zeitung lasen . Das Laub war noch ziemlich dicht , und der Park sah bedrückt , verstaubt und im ganzen viel sommerlicher aus , als sonst in späten Septembertagen . Georg stützte die Arme aufs Fensterbrett , beugte sich vor und betrachtete den Himmel . Seit dem Tode seines Vaters hatte er Wien nicht verlassen , trotz vieler Möglichkeiten , die ihm offen standen . Er hätte mit Felician auf das Schönsteinsche Gut fahren können ; Frau Ehrenberg hatte ihn in einem liebenswürdigen Brief in den Auhof eingeladen ; und zu einer Radtour durch Kärnten und Tirol , wie er sie längst plante , und zu der er sich allein nicht entschließen konnte , hätte er leicht einen Gefährten gefunden . Aber er blieb lieber in Wien und vertrieb sich die Zeit mit dem Durchblättern und dem Ordnen von alten Familienpapieren . Er fand Erinnerungen bis zu seinem Urgroßvater , Anastasius von Wergenthin , der aus der Rheingegend stammte und durch Heirat mit einem Fräulein Recco in den Besitz eines alten längst unbewohnbaren Schlößchens bei Bozen gekommen war . Auch Dokumente zur Geschichte von Georgs Großvater waren vorhanden , der im Jahre 1866 als Artillerieoberst vor Chlum gefallen war . Dessen Sohn , Felicians und Georgs Vater , hatte sich wissenschaftlichen , hauptsächlich botanischen Studien gewidmet und in Innsbruck das Doktorat der Philosophie abgelegt . Als Vierundzwanzigjähriger lernte er ein junges Mädchen kennen aus alter österreichischer Beamtenfamilie , das sich , vielleicht mehr um den engen und beinahe ärmlichen Zuständen ihres Hauses zu entfliehen , als aus innerstem Beruf , zur Sängerin ausgebildet hatte . Der Freiherr von Wergenthin sah und hörte sie zum ersten Male im Winter in einer Konzertaufführung der Missa solemnis , und schon im Mai darauf wurde sie seine Frau . Im zweiten Jahre der Ehe kam Felician , im dritten Georg zur Welt . Drei Jahre später begann die Baronin zu kränkeln und wurde von den Ärzten nach dem Süden geschickt . Da die Heilung auf sich warten ließ , wurde der Haushalt in Wien aufgelöst , und so fügte es sich , daß der Freiherr mit den Seinen durch viele Jahre eine Art von Hotel- und Wanderleben führen mußte . Ihn selbst führten Geschäfte und Studien manchmal nach Wien , die Söhne aber verließen ihre Mutter beinahe niemals . Man lebte in Sizilien , in Rom , in Tunis , in Korfu , in Athen , in Malta , in Meran , an der Riviera , zuletzt in Florenz ; keineswegs auf großem Fuß , aber doch standesgemäß ; und nicht so sparsam , daß nicht ein guter Teil des freiherrlichen Vermögens allmählich aufgezehrt worden wäre . Georg war achtzehn Jahre alt , als seine Mutter starb . Neun Jahre waren seither verflossen , aber unverblaßt war ihm die Erinnerung an jenen Frühlingsabend , da Vater und Bruder zufällig nicht daheim gewesen waren , und er allein und ratlos am Bett der sterbenden Mutter gestanden hatte , während durch die eilig aufgerissenen Fenster , mit der Luft des Frühlings , das Reden und Lachen von Spaziergängern verletzend laut hereinklang . Die Hinterbliebenen kehrten mit dem Leichnam der Mutter nach Wien zurück . Der Freiherr widmete sich seinen Studien mit einem neuen , wie verzweifelten Eifer . Früher hatte man ihn nur als vornehmen Liebhaber gelten lassen , jetzt begann man ihn auch in akademischen Kreisen durchaus ernst zu nehmen , und als er zum Ehrenpräsidenten der botanischen Gesellschaft gewählt wurde , hatte er diese Auszeichnung nicht allein dem Zufall eines adeligen Namens zu danken . Felician und Georg ließen sich als Hörer an der juridischen Fakultät einschreiben . Aber der Vater selbst war es , der es dem Jüngern nach einiger Zeit freistellte , die Universitätsstudien aufzugeben und sich seinen musikalischen Neigungen entsprechend weiter zu bilden , was dieser dankbar und erlöst annahm . Doch auch auf diesem selbstgewählten Gebiete war seine Ausdauer nicht bedeutend , und oft wochenlang hintereinander konnte er sich mit allerlei Dingen beschäftigen , die von seinem Wege weit ablagen . Diese spielerische Anlage war es auch , die ihn jene alten Familienpapiere mit einem Ernst durchblättern ließ , als gälte es wichtigen Geheimnissen der Vergangenheit nachzuforschen . Manche Stunde verbrachte er bewegt über Briefen , die seine Eltern in früheren Jahren miteinander gewechselt hatten , über sehnsüchtigen und flüchtigen , schwermütigen und beruhigten , aus denen ihm nicht nur die Hingeschiedenen selbst , sondern auch andere halbvergessene Menschen neu lebendig wurden . Da erschien ihm der deutsche Lehrer wieder , mit der traurigen blassen Stirn , der ihm auf langen Spaziergängen den Horaz vorzudeklamieren pflegte ; das braune , wilde Kindergesicht des Prinzen Alexander von Mazedonien tauchte auf , in dessen Gesellschaft Georg in Rom die ersten Reitstunden genommen hatte ; und in einer traumhaften Weise , wie mit schwarzen Linien an einen blaßblauen Horizont gezeichnet , ragte die Pyramide des Cestius auf , so wie Georg sie , von seinem ersten Ritt aus der Campagna heimkehrend , in der Abenddämmerung erblickt hatte . Und wenn er ins Weiterträumen geriet , zeigten sich Meeresufer , Gärten , Straßen , von denen er gar nicht wußte , aus welcher Landschaft , welcher Stadt sein Gedächtnis sie bewahrt hatte ; Gestalten schwebten vorbei , manche vollkommen deutlich , die ihm einmal nur in gleichgültiger Stunde begegnet waren , andere wieder , mit denen er zu irgend einer Zeit viele Tage zusammen gewesen sein mochte , schattenhaft und fern . Als Georg nach Sichtung jener alten Briefe auch seine eigenen Papiere in Ordnung brachte , fand er in einer alten , grünen Mappe musikalische Entwürfe aus der Knabenzeit , die ihm bis auf die Tatsache ihres Vorhandenseins so vollkommen entschwunden waren , daß man sie ihm ohne weiteres als die Aufzeichnungen eines anderen hätte vorlegen können . Von manchen war er angenehm schmerzlich überrascht , denn sie schienen ihm Versprechungen zu enthalten , die er vielleicht niemals erfüllen sollte . Und doch spürte er gerade in der letzten Zeit , daß sich irgend etwas in ihm vorbereitete . Er sah es wie eine geheimnisvolle aber sichere Linie , die von jenen ersten hoffnungsvollen Niederschriften in der grünen Mappe zu neuen Einfällen wies ; und das wußte er : die zwei Lieder aus dem west-östlichen Divan , die er heuer im Sommer komponiert hatte , an einem schwülen Nachmittag , während Felician in der Hängematte lag und der Vater auf der kühlen Terrasse im Lehnstuhl arbeitete , hätte nicht der erstbeste ersinnen können . Wie von einem gänzlich unerwarteten Gedanken überrascht wich Georg einen Schritt vom Fenster zu rück . Mit solcher Deutlichkeit war er noch nie inne geworden , daß seine Existenz seit dem Tode des Vaters bis zum heutigen Tage gleichsam unterbrochen gewesen war . An Anna Rosner , der er jene Lieder im Manuskript zugesandt , hatte er die ganze Zeit über nicht gedacht . Und wie ihm nun einfiel , daß er ihre wohllautende , dunkle Stimme wieder hören und sie auf dem etwas dumpfen Pianino zum Gesang begleiten durfte , sobald er nur wollte , war er angenehm bewegt . Und er erinnerte sich des alten Hauses in der Paulanergasse , des niederen Tors , der schlecht beleuchteten Stiege , die er bisher nicht öfter als drei- oder viermal hinaufgegangen war , wie man an Liebgewordenes und längst Bekanntes denkt . Im Park drüben ging ein leichtes Wehen durch die Blätter . Über der Stephansturmspitze , die dem Fenster , durch den Park und einen beträchtlichen Teil der Stadt getrennt , gerade gegenüberlag , erschienen dünne Wolken . Ein langer Nachmittag , völlig ohne Verpflichtungen dehnte sich vor Georg aus . Im Laufe der zwei Trauermonate , so wollte es ihm scheinen , hatten sich alle Beziehungen früherer Zeit gelockert oder gelöst . Er dachte an den verflossenen Winter und Frühling , mit ihrem vielfach verschlungenen und wirren Treiben , und allerlei Erinnerungen tauchten bildhaft vor ihm auf : Die Fahrt mit Frau Mariannen im geschlossenen Fiaker durch den verschneiten Wald . Der maskierte Abend bei Ehrenbergs , mit Elses tiefsinnig-kindlichen Bemerkungen über die » Hedda Gabler « , der sie sich verwandt zu fühlen behauptete , und mit Sissys raschem Kuß unter den schwarzen Spitzen der Larve . Eine Bergtour im Schnee , von Edlach aus auf die Rax , mit dem Grafen Schönstein und Oskar Ehrenberg , der ohne angeborene alpine Neigungen gern die Gelegenheit ergriffen hatte , sich zwei hochgeborenen Herren anzuschließen . Der Abend bei Ronacher mit Grace und dem jungen Labinski , der sich vier Tage darauf erschossen , man hatte nie recht erfahren , ob wegen Grace , wegen Schulden , aus Lebensüberdruß , oder ausschließlich aus Affektation . Das seltsame glühend-kalte Gespräch mit Grace auf dem Friedhof im schmelzenden Feberschnee , zwei Tage nach Labinskis Begräbnis . Der Abend im heißen , hochgewölbten Fechtsaal , wo Felicians Degen die gefährliche Waffe des italienischen Meisters kreuzte . Der nächtliche Spaziergang nach dem Paderewski-Konzert , auf dem der Vater ihm so vertraut wie nie zuvor von jenem fernen Abend sprach , da die verstorbene Mutter in dem gleichen Saal , aus dem sie eben kamen , in der Missa solemnis gesungen hatte . Und endlich erschien ihm Anna Rosners hohe , ruhige Gestalt , am Klaviere lehnend , das Notenblatt in der Hand , die blauen , lächelnden Augen auf die Tasten gerichtet ; und er hörte sogar ihre Stimme in seiner Seele klingen . Während er so am Fenster stand und in den Park hinunterschaute , der sich allmählich belebte , empfand er es wie beruhigend , daß er zu keinem menschlichen Wesen in engerer Beziehung stand , und daß es doch manche gab , mit denen er wieder anknüpfen , in deren Kreis er wieder eintreten durfte , sobald es ihm nur beliebte . Zugleich fühlte er sich wunderbar ausgeruht , für Arbeit und Glück bereit wie niemals zuvor . Er war voll guter und kühner Vorsätze , seiner Jugend und Unabhängigkeit sich mit Freuden bewußt . Zwar fühlte er mit einiger Beschämung , daß , in diesem Augenblick wenigstens , seine Trauer um den hingeschiedenen Vater sehr gemildert war ; doch fand er für diese Gleichgültigkeit einen Trost in sich , da er des quallosen Endes gedachte , das dem teuren Mann beschieden war . Im Garten , heiter mit den beiden Söhnen plaudernd , war er auf und abgegangen , hatte mit einem Mal um sich geschaut , als hörte er ferne Stimmen , hatte dann aufgeblickt , zum Himmel empor , und war plötzlich tot auf die Wiese hingesunken , ohne Schmerzenslaut , ja ohne Zucken der Lippen . Georg trat ins Zimmer zurück , machte sich zum Fortgehen fertig und verließ das Haus . Seine Absicht war es , ein paar Stunden herumzuspazieren , wohin der Zufall ihn führen mochte , und abends endlich wieder an seinem Quintett weiterzuarbeiten , wofür ihm nun die rechte Stimmung gekommen schien . Er überschritt die Straße und betrat den Park . Die Schwüle hatte nachgelassen . Noch immer saß die alte Frau mit der Mantille auf der Bank und starrte vor sich hin . Auf dem sandigen Rund um die Bäume spielten Kinder . Um den Kiosk waren alle Stühle besetzt . Im Wetterhäuschen saß ein glattrasierter Herr , den Georg vom Sehen kannte , und der ihm durch seine Ähnlichkeit mit dem alten Grillparzer aufgefallen war . Am Teich kam Georg eine Gouvernante entgegen , mit zwei schön gekleideten Kindern und betrachtete ihn mit leuchtendem Blick . Als er aus dem Park auf die Ringstraße trat , begegnete ihm Willy Eißler in langem dunkelgestreiften Herbstpaletot und sprach ihn an : » Guten Tag , Baron , sind Sie auch schon wieder in Wien eingerückt ? « » Ich bin schon lange zurück « , erwiderte Georg . » Nach dem Begräbnis meines Vaters hab' ich Wien nicht mehr verlassen . « Ja , ja , natürlich ... Gestatten Sie , daß ich Ihnen nochmals ... « Und Willy drückte Georg die Hand . » Und was haben Sie denn heuer im Sommer getrieben ? « fragte Georg . » Allerlei . Tennis gespielt , gemalt , Zeit vertrödelt , einige amüsante und noch mehr langweilige Stunden verlebt ... « Willy sprach äußerst rasch , wie mit einer absichtlichen leisen Heiserkeit , scharf , salopp , mit ungarischen , französischen , wienerischen , jüdischen Akzenten . » Übrigens , wie Sie mich da sehen « , fuhr er fort , » bin ich heute früh aus Przemysl gekommen . « » Waffenübung ? « » Jawohl , letzte . Ich sag 's mit Wehmut . So sehr ich mich dem Greisenalter nähere , es hat mir doch noch immer Spaß gemacht , so mit den gelben Aufschlägen umherzuwandeln , Sporen klirrend , Säbel scheppernd , eine Ahnung drohender Gefahr verbreitend , und von mangelhaften Lavaters für einen bessern Grafen gehalten zu werden . « Sie spazierten weiter , dem Gitter des Stadtparks entlang . » Gehen Sie vielleicht zu Ehrenbergs ? « fragte Willy . » Nein , ich denke gar nicht daran . « » Weil 's der Weg ist . Haben Sie übrigens gehört , Fräulein Else soll verlobt sein . « » So ? « fragte Georg gedehnt . » Mit wem denn ? « » Raten S ' Baron . « » Am Ende Hofrat Wilt ? « » O fröhlich ! « rief Willy . » Der denkt wohl nicht daran ! Die Verschwägerung mit S. Ehrenberg könnte ihm doch am Ende die Ministerkarriere erschweren heutzutage « » Rittmeister Ladisc ? « riet Georg weiter . » Ah dazu ist Fräulein Else doch zu gescheit , daß sie dem hineinfällt . « Jetzt erinnerte sich Georg , daß sich Willy vor ein paar Jahren mit Ladisc geschlagen hatte . Willy fühlte Georgs Blick , zwirbelte den blonden , in polnischer Art herabhängenden Schnurrbart mit etwas nervösen Fingern hin und her und sprach rasch und beiläufig : » Der Umstand , daß ich mit dem Rittmeister Ladisc einmal eine Differenz gehabt hab' , kann mich nicht hindern , in loyaler Weise anzuerkennen , daß er immer ein versoffenes Schwein gewesen ist . Ich hab' nämlich eine unüberwindliche , auch durch Blut nicht abzuwaschende Abneigung gegen die Leute , die sich bei den Juden anfressen und schon auf der Treppe über sie zu schimpfen anfangen . Bis ins Kaffeehaus kann man doch warten . Aber strengen Sie sich nicht weiter mit dem Raten an , Heinrich Bermann soll der Glückliche sein . « » Nicht möglich « , rief Georg . » Warum ? « fragte Eißler . » Einer wird 's ja doch schließlich werden . Bermann ist zwar kein Adonis , aber er ist auf dem Wege zum Ruhm ; und das Gemisch von Herrenreiter und Athleten in höchster Vollendung , das sich Else offenbar erträumt hat , wird sie ja doch kaum finden . Vierundzwanzig Jahre ist sie indessen alt geworden , vor Salomons Taktlosigkeiten und Witzen dürfte ihr auch schon genügend grausen ... also ... « » Salomon ? ... ach ja ... Ehrenberg « . » Sie kennen ihn auch nur unter dem Namen › S ‹ ? ... S. heißt natürlich Salomon , und daß nur S. auf der Tafel an der Tür steht , ist eine Konzession , die er den Seinen gemacht hat . Wenn es nach ihm ginge , möchte er am liebsten zu den Gesellschaften , die Madame Ehrenberg gibt , im Kaftan und mit den gewissen Löckchen erscheinen . « » Sie glauben ... ? Er ist doch nicht so fromm ? « » Fromm ... o fröhlich ! Mit der Frömmigkeit hat das allerdings nichts zu tun . Es ist nur Bosheit , hauptsächlich gegen seinen Sohn Oskar mit den feudalen Bestrebungen . « » Ach so « , sagte Georg lächelnd . » Ist denn Oskar nicht schon längst getauft ? Er ist ja Reserveoffizier bei den Dragonern . « » Ach darum ... Nun , ich bin auch nicht getauft und trotzdem ... Ja , es gibt immer ein paar Ausnahmen ... Mit einigem guten Willen ... « Er lachte und fuhr fort : » Was übrigens Oskar anbelangt , so möchte er gewiß lieber katholisch sein . Aber das Vergnügen beichten gehen zu dürfen , käme ihm vorläufig doch noch zu teuer zu stehen . Es wird wohl auch im Testament vorgesehen sein , daß Oskar nicht überhüpft . « Sie waren vor dem Café Imperial angelangt . Willy blieb stehen . » Ich habe da ein Rendezvous mit Demeter Stanzides . « » Grüßen Sie ihn , bitte . « » Danke bestens . Kommen Sie nicht mit hinein , auf ein Eis ? « » Danke , ich bummle noch ein bißchen . « » Sie lieben die Einsamkeit ? « » Auf so allgemeine Fragen läßt sich schwer antworten « , erwiderte Georg . » Allerdings « , sagte Willy , wurde plötzlich ernst und lüftete den Hut . » Habe die Ehre , Herr Baron . « Georg reichte ihm die Hand . Er fühlte , daß Willy ein Mensch war , der ununterbrochen eine Stellung verteidigte , wenn auch ohne dringende Notwendigkeit . » Auf Wiedersehen « , sagte er mit unvermittelter Herzlichkeit . Er empfand es , wie schon öfters , als beinahe sonderbar , daß Willy Jude war . Schon der alte Eißler , Willys Vater , der anmutige Wiener Walzer und Lieder komponierte , sich kunst- und altertumsverständig mit dem Sammeln , zuweilen auch mit dem Verkauf von Antiquitäten befaßte und seinerzeit als der berühmteste Boxer von Wien gegolten hatte , mit seiner Riesengestalt , dem langen , grauen Vollbart und dem Monokel , sah eher einem ungarischen Magnaten ähnlich , als einem jüdischen Patriarchen ; aus Willy aber hatten Anlage , Liebhaberei und eiserner Wille das täuschende Ebenbild eines geborenen Kavaliers gebildet . Was ihn jedoch vor andern jungen Leuten seines Stammes und seines Strebens auszeichnete , war der Umstand , daß er gewohnt war , seine Abstammung nie zu verleugnen , für jedes zweideutige Lächeln Aufklärung oder Rechenschaft zu fordern und sich gelegentlich über alle Vorurteile und Eitelkeiten , in denen er oft befangen schien , selber lustig zu machen . Georg schlenderte weiter . Die letzte Frage Willys klang ihm nach . Ob er die Einsamkeit liebte ? ... Er erinnerte sich daran , wie er in Palermo ganze Vormittage allein herumspaziert war , während Grace ihrer Gewohnheit gemäß bis Mittag im Bette lag . Grace ... Wo mochte sie jetzt sein ... ? Seit sie in Neapel von ihm Abschied genommen , hatte sie nichts mehr von sich hören lassen , wie es übrigens verabredet gewesen war . Er dachte an die tiefblaue Nacht , die über den Wassern schwebte , als er nach jenem Abschied allein nach Genua gefahren war , und an den seltsamen , leisen , wie märchenhaften Gesang zweier Kinder , die dicht aneinandergeschmiegt , gemeinsam in einen Plaid gehüllt , an der Seite ihrer schlafenden Mutter auf dem Verdeck gesessen waren . Mit wachsendem Behagen spazierte er unter den Leuten weiter , die in sonntäglicher Lässigkeit an ihm vorübergingen . Mancher freundliche Frauenblick begegnete dem seinen und schien ihn darüber trösten zu wollen , daß er an diesem schönen Feiernachmittag einsam und mit allen äußern Abzeichen der Trauer umherwandelte . Und wieder tauchte ein Bild in ihm auf . Er sah sich auf einer hügeligen Wiese liegen , spät abends , nach einem heißen Junitag . Dunkelheit ringsum . Tief unter ihm Gewirr von Menschen , Lachen und Lärm , glitzernde Lampions . Ganz nah aus dem Dunkel Mädchenstimmen ... Er zündet die kleine Pfeife an , die er nur auf dem Land zu rauchen pflegt ; beim Schein des Zündhölzchens sieht er zwei hübsche , ganz junge Bauerndirnen , beinah noch Kinder . Er plaudert mit ihnen . Sie haben Angst , weil es so finster ist ; sie schmiegen sich an ihn . Plötzlich Geknatter , Raketen in der Luft . Von unten ein lautes » Ah « . Bengalisches Licht , violett und rot , über dem unsichtbaren See in der Tiefe . Die Mädchen den Hügel hinab , verschwinden . Dann wird es wieder dunkel , und er liegt allein , schaut in die Finsternis hinauf , die schwül auf ihn herabsinken will . Dies war die Nacht vor dem Tage gewesen , da sein Vater sterben mußte . Und auch ihrer dachte er heute zum erstenmal . Er hatte die Ringstraße verlassen , nahm die Richtung der Wieden zu . Ob die Rosners an diesem schönen Tage zu Hause waren ? Immerhin lohnte es den kurzen Weg , und jedenfalls zog es ihn mehr dorthin , als zu Ehrenbergs . Nach Else sehnte er sich gar nicht , und ob sie wirklich Heinrich Bermanns Braut sein mochte oder nicht , war ihm beinahe gleichgültig . Er kannte sie schon lange . Sie war elf , er vierzehn Jahre alt gewesen , als sie an der Riviera miteinander Tennis gespielt hatten . Damals glich sie einem Zigeunermädel . Blauschwarze Locken umwirbelten ihr Stirn und Wangen , und ausgelassen war sie wie ein Bub . Ihr Bruder spielte schon damals den Lord , und Georg mußte noch heute lächeln , wenn er sich erinnerte , wie der Fünfzehnjährige eines Tages im lichtgrauen Schlußrock , mit weißen , schwarztamburierten Handschuhen und einem Monokel im Aug , auf der Promenade erschienen war . Frau Ehrenberg war damals vierunddreißig Jahre alt , hoheitsvoll , von übergroßer Gestalt , dabei noch schön , hatte verschleierte Augen und war meistens sehr müde . Es blieb unvergeßlich für Georg , wie eines Tages ihr Gemahl , der millionenreiche Patronenfabrikant , die Seinen überraschte und einfach durch sein Erscheinen der ganzen Ehrenbergischen Vornehmheit ein rasches Ende bereitet hatte . Georg sah ihn noch vor sich , so wie er während des Frühstücks auf der Hotelterrasse aufgetaucht war ; ein kleiner , magerer Herr mit graumeliertem Vollbart und japanischen Augen , in weißem schlecht gebügelten Flanellanzug , einen dunklen Strohhut mit rotweiß gestreiftem Band auf dem runden Kopf , und mit schwarzen , bestaubten Schuhen . Er redete sehr gedehnt , immer wie höhnisch , selbst über die gleichgültigsten Dinge ; und so oft er den Mund auftat , lag es unter dem Schein der Ruhe wie eine geheime Angst auf dem Antlitz der Gattin . Sie versuchte sich zu rächen , indem sie ihn mit Spott behandelte ; aber gegen seine Rücksichtslosigkeit kam sie nicht auf . Oskar benahm sich , wenn es irgend möglich war , als gehörte er nicht dazu . In seinen Zügen spielte eine etwas unsichere Verachtung für den seiner nicht ganz würdigen Erzeuger , und Verständnis suchend lächelte er zu den jungen Baronen hinüber . Nur Else war zu jener Zeit sehr nett mit dem Vater . Auf der Promenade hing sie sich gern in seinen Arm , und manchmal fiel sie ihm vor allen Leuten um den Hals . In Florenz , ein Jahr vor seiner Mutter Tod , hatte Georg Else wiedergesehen . Sie nahm damals Zeichenstunden bei einem alten , grau- und wirrhaarigen Deutschen , von dem die Sage ging , daß er einmal berühmt gewesen wäre . Er selbst verbreitete das Gerücht über sich , daß er seinen frühern , sehr bekannten Namen , als er sein Genie schwinden fühlte , abgelegt und die Stätte seines Wirkens , die er niemals nannte , verlassen hätte . Schuld an seinem Niedergang trug , wenn man seinen Berichten glauben durfte , ein dämonisches Frauenzimmer , das er geheiratet , das in einem Eifersuchtsanfall sein bedeutendstes Bild zerstört und durch einen Sprung vom Fenster ihr Leben geendet hatte . Dieser Mensch , den sogar der siebzehnjährige Georg als eine Art von schwindelhaftem Narren erkannte , war der Gegenstand von Elses erster Schwärmerei . Sie war damals vierzehn Jahre alt , die Wildheit und Unbefangenheit der Kindheit war dahin . Vor der Tizianschen Venus in den Uffizien glühten ihr die Wangen in Neugier , Sehnsucht und Bewunderung , und in ihren Augen spielten dunkle Träume von künftigen Erlebnissen . Öfters kam sie mit ihrer Mutter in das Haus , das die Wergenthins am Lungano gemietet hatten ; und während Frau Ehrenberg die leidende Baronin in ihrer müd-geistreichen Weise zu unterhalten suchte , stand Else mit Georg am Fenster , führte altkluge Gespräche über die Kunst der Präraffaeliten und lächelte der vergangenen kindischen Spiele . Auch Felician erschien zuweilen , schlank und schön , blickte mit seinen kalten , grauen Augen an Dingen und Menschen vorbei , sprach ein paar höfliche Worte , halblaut , beinahe wegwerfend , und setzte sich ans Bett seiner Mutter , der er zärtlich die Hand streichelte und küßte . Gewöhnlich ging er bald wieder fort , nicht ohne für Else einen herben Duft von uralter Vornehmheit , kaltblütiger Verführung und eleganter Todesverachtung zurückzulassen . Stets hatte sie den Eindruck , als begebe er sich an einen Spieltisch , an dem es um Hunderttausende herging , zu einem Duell auf Tod und Leben , oder zu einer Fürstin mit rotem Haar und einem Dolch auf dem Nachttisch . Georg erinnerte sich , daß er sowohl auf den schwindelhaften Zeichenlehrer , als auf seinen Bruder ein wenig eifersüchtig gewesen war . Der Lehrer , aus Gründen , über die niemals etwas verlautete , wurde plötzlich entlassen , und kurz darauf fuhr Felician mit dem Freiherrn von Wergenthin nach Wien . Nun spielte Georg noch öfter als früher den Damen auf dem Klaviere vor , Fremdes und Eigenes , und Else sang mit ihrer kleinen , etwas schrillen Stimme leichtere Schubertsche und Schumannsche Lieder vom Blatt . Sie besuchte mit ihrer Mutter und Georg die Galerien und Kirchen ; als das Frühjahr wiederkam , gab es gemeinschaftliche Spazierfahrten auf dem Hügelweg oder nach Fiesole , und lächelnde Blicke gingen zwischen Georg und Else hin und her , die von einem tieferen Einverständnis erzählten , als tatsächlich vorhanden war . In dieser etwas unaufrichtigen Art spielten die Beziehungen weiter , als der Verkehr in Wien aufgenommen und fortgesetzt wurde . Immer von neuem schien Else von dem gleichmäßig freundlichen Wesen wohltätig berührt , mit dem Georg ihr auch dann entgegentrat , wenn sie einander monatelang nicht gesehen hatten . Sie selbst aber war von Jahr zu Jahr äußerlich sicherer und innerlich unruhiger geworden . Ihre künstlerischen Bestrebungen hatte sie früh genug alle fallen lassen , und im Laufe der Zeit erschien sie sich zu den verschiedensten Lebensläufen ausersehen . Manchmal sah sie sich in der Zukunft als Weltdame , Veranstalterin von Blumenfesten , Patronesse von großen Bällen , Mitwirkende an aristokratischen Wohltätigkeitsvorstellungen ; öfters noch glaubte sie sich berufen in einem künstlerischen Salon unter Malern , Musikern und Dichtern als große Versteherin zu thronen . Dann träumte sie wieder von einem mehr ins Abenteuerliche gerichteten Leben : sensationelle Heirat mit einem amerikanischen Millionär , Flucht mit einem Violinvirtuosen oder spanischen Offizier , dämonisches Zugrunderichten aller Männer , die sich ihr näherten . Zuweilen schien ihr aber ein stilles Dasein auf dem Land , an der Seite eines tüchtigen Gutsbesitzers , das erstrebenswerteste Ziel ; und dann erblickte sie sich im Kreise von vielen Kindern , womöglich mit früh ergrautem Haar , ein mild resigniertes Lächeln auf den Lippen , an einfach gedecktem Tisch sitzen und ihrem ernsten Manne die Falten von der Stirne streichen . Georg aber fühlte immer , daß ihre Neigung zur Bequemlichkeit , die tiefer war , als sie selbst ahnte , sie vor jedem unbedachten Schritt schützen würde . Sie vertraute Georg mancherlei an , ohne jemals ganz ehrlich mit ihm zu sein ; denn am öftesten und ernstesten hegte sie den Wunsch , seine Frau zu werden . Georg wußte das wohl , aber nicht allein darum erschien ihm das neueste Gerücht von ihrer Verlobung mit Heinrich Bermann ziemlich unglaubwürdig . Dieser Bermann war ein hagerer , bartloser Mensch mit düstern Augen und etwas zu langem schlichten Haar , der sich in der letzten Zeit als Schriftsteller bekannt gemacht hatte , und dessen Gebaren und Aussehen Georg , er wußte selbst nicht warum , an einen fanatischen jüdischen Lehrer aus der Provinz erinnerten . Das war nichts , was Else besonders fesseln , oder nur angenehm berühren konnte . Allerdings , wenn man länger mit ihm sprach , änderte sich jener Eindruck . Eines Abends im vergangenen Frühjahr war Georg mit ihm zusammen von Ehrenbergs fortgegangen , und sie waren in eine so anregende Unterhaltung über musikalische Dinge geraten , daß sie bis drei Uhr früh auf einer Ringstraßenbank weitergeplaudert hatten . Es ist sonderbar , dachte Georg , wie vieles mir heute durch den Kopf geht , woran ich kaum mehr gedacht hatte . Und ihm war , als wenn er in dieser Herbstabendstunde allmählich aus der schmerzlich-dumpfen Versonnenheit vieler Wochen zum Tage emporgetaucht käme . Nun stand er vor dem Hause in der Paulanergasse , wo die Rosners wohnten . Er sah zum zweiten Stockwerk auf . Ein Fenster war offen , weiße Tüllvorhänge in der Mitte zusammengesteckt , bewegten sich im leichten Zuge des Windes . Rosners waren zu Hause . Das Stubenmädchen ließ Georg eintreten . Anna saß der Türe gegenüber , hielt die Kaffeetasse in der Hand und hatte die Augen auf den Eintretenden gerichtet . Der Vater , zu ihrer Rechten , las Zeitung und rauchte aus einer Pfeife . Er war glatt rasiert , nur an den Wangen liefen zwei schmale , ergraute Bartstreifen . Sein dünnes Haar von seltsam grünlichgrauer Färbung war an den Schläfen nach vorn gestrichen und sah aus wie eine schlecht gemachte Perücke . Seine Augen waren wasserhell und rot gerändert . Die beleibte Mutter , mit der wie von einer Erinnerung schönerer Jahre umwobenen Stirn , blickte vor sich hin ; ihre Hände , beschaulich ineinander verschlungen , ruhten auf dem Tisch . Anna stellte die Tasse langsam nieder , nickte und lächelte still . Die beiden Alten machten Miene aufzustehen , als Georg eintrat . Aber bitte , sich doch nicht stören zu lassen , bitte sehr « , sagte Georg . Da krachte etwas an der Seitenwand . Josef , der Sohn des Hauses , erhob sich vom Diwan , auf dem er gelegen hatte . » Habe die Ehre , Herr Baron « , sagte er mit einer sehr tiefen Stimme und strich sein über den Hals hinaufgeschlagenes , gelbkariertes , etwas fleckiges Sacco zurecht . » Wie befinden sich immer , Herr Baron ? « fragte der Alte , stand hager und etwas gebückt da und wollte nicht wieder Platz nehmen , eh sich Georg niedergelassen hatte . Josef rückte einen Stuhl zwischen Vater und Schwester . Anna reichte dem Besucher die Hand . » Wir haben uns lange nicht gesehen « , sagte sie und trank einen Schluck aus ihrer Tasse . » Sie haben traurige Zeiten durchgemacht , Herr Baron « , bemerkte Frau Rosner teilnahmsvoll . » Jawohl « , fügte Herr Rosner hinzu . » Wir haben mit großem Bedauern von dem schweren Verluste gelesen ... Und der Herr Vater haben sich doch immer der besten Gesundheit erfreut , so viel uns bekannt war . « Er sprach sehr langsam , immer , als wenn noch etwas kommen sollte , strich sich manchmal mit der linken Hand über den Kopf und nickte , während er zuhörte . » Ja , es ist sehr unerwartet gekommen « , sagte Georg leise und blickte auf den dunkelroten , verschossenen Teppich zu seinen Füßen . » Also ein plötzlicher Tod , sozusagen « , bemerkte Herr Rosner , und alles ringsum schwieg . Georg nahm eine Zigarette aus seinem Etui und bot Josef eine an . » Küß die Hand « , sagte Josef , nahm die Zigarette und verbeugte sich , indem er ohne ersichtlichen Grund die Hacken aneinander schlug . Während er dem Baron Feuer gab , glaubte er dessen Blicke auf sein Sacco gerichtet und bemerkte entschuldigend und mit noch tieferer Stimme als gewöhnlich : » Bureaujanker . « » Bureaujanker kommt von Bureau « , sagte Anna einfach , ohne ihren Bruder anzusehen . » Fräulein belieben die ironische Walze eingehängt zu haben « , erwiderte Josef heiter ; doch war es dem gehaltenen Ton seiner Rede anzumerken , daß er sich unter andern Verhältnissen minder angenehm ausgedrückt hätte . » Die Teilnahme war ja eine allgemeine « , begann der alte Rosner wieder . » Ich habe den Nachruf in der Neuen Freien Presse gelesen über den Herrn Papa ... von Herrn Hofrat Kerner , wenn ich mich recht erinnere ; er war ja höchst ehrenvoll . Auch die Wissenschaft hat einen herben Verlust erlitten . « Georg nickte verlegen und blickte auf seine Hände nieder . Anna sprach von ihrem verflossenen Sommeraufenthalt . » In Weißenfeld war's wunderschön « , sagte sie . » Gleich hinter unserm Haus war der Wald , mit sehr guten ebenen Wegen ... nicht wahr , Papa ? Da hat man stundenlang spazierengehen können , ohne einem Menschen zu begegnen . « » Und haben Sie denn ein Klavier draußen gehabt ? « fragte Georg . » Auch das . « » Ein greulicher Klimperkasten « , bemerkte Herr Rosner . » So ein Ding , das Stein erweichen , Menschen rasend machen kann . « » Es war nicht so arg « , sagte Anna . » Für die kleine Graubinger gut genug « , fügte Frau Rosner hinzu . » Die kleine Graubinger ist nämlich die Tochter vom Kaufmann im Ort « , erklärte Anna , » und ich hab ihr die Anfangsgründe des Klavierspiels beigebracht . Ein hübsches , kleines Mäderl mit langen , blonden Zöpfen . « » Es war eine Gefälligkeit für den Kaufmann « , sagte Frau Rosner . » Ja , aber es muß bemerkt werden « , ergänzte Anna , » daß ich außerdem eine wirkliche , das heißt bezahlte Stunde gegeben habe . « » Wie , auch in Weißenfeld ? « fragte Georg . » Kinder , von einer Sommerpartie . Es ist übrigens schade , Herr Baron , daß Sie kein einziges Mal bei uns auf dem Lande waren . Es hätte Ihnen gewiß gut gefallen . « Georg erinnerte sich nun erst , daß er sich zu Anna beiläufig geäußert hatte , er würde sie im Sommer gelegentlich einer Radpartie vielleicht einmal besuchen . » Der Herr Baron hätte wohl in dieser Sommerfrische nicht alles zu seiner Zufriedenheit vorgefunden « , begann Herr Rosner . » Warum denn ? « fragte Georg . » Es ist dort nicht eben den Bedürfnissen verwöhnter Großstädter Rechnung getragen . « » O ich bin nicht verwöhnt « , sagte Georg . » ... Waren Sie auch nicht auf dem Auhof ? « wandte sich Anna an Georg . O nein « , erwiderte dieser rasch . » Nein , ich war nicht dort « , setzte er minder lebhaft hinzu . » Man hat mich allerdings aufgefordert ... Frau Ehrenberg war so liebenswürdig . ... ich habe verschiedene Einladungen gehabt für den Sommer . Aber ich habe es vorgezogen , für mich allein in Wien zu bleiben . « » Es tut mir eigentlich leid « , sagte Anna , » daß ich Else beinah gar nicht mehr sehe . Sie wissen ja , daß wir im selben Institut waren . Es ist freilich schon lang her . Ich hab sie wirklich gern gehabt . Schade , daß man sich im Lauf der Zeit so voneinander entfernt . « » Wie kommt das nur ? « sagte Georg . » Ja , es liegt wohl daran , daß mir der ganze Kreis nicht besonders sympathisch ist . « » Mir auch nicht « , sagte Josef , der Ringe in die Luft blies . » Ich gehe seit Jahren nicht hin . Offen gestanden ... ich weiß ja nicht , wie Herr Baron zu dieser Frage Stellung nehmen ... ich bin den Israeliten nicht zugetan . « Herr Rosner blickte zu seinem Sohne auf . » Der Herr Baron verkehrt in diesem Haus , und es wird ihm ziemlich sonderbar erscheinen , lieber Josef ... « » Mir ? « sagte Georg verbindlich . » Ich stehe ja in keinerlei näheren Verbindungen mit dem Hause Ehrenberg , so gern ich mit den beiden Damen zu plaudern pflege . « Und fragend setzte er hinzu : » Aber haben Sie Else nicht im vorigen Jahr Singstunden gegeben , Fräulein Anna ? « » Ja . Vielmehr ... ich habe nur mit ihr korrepetiert . « » Das werden Sie heuer wohl wieder tun ? « » Ich weiß nicht . Sie hat bisher noch nichts von sich hören lassen . Vielleicht gibt sie 's ganz auf . « » Sie glauben ? « » Es wäre beinah zu wünschen « , versetzte Anna sanft , » denn eigentlich hat sie immer mehr gepiepst , als gesungen . Übrigens « , und jetzt warf sie Georg einen Blick zu , der ihn gleichsam von neuem begrüßte , » die Lieder , die Sie mir geschickt haben , sind sehr hübsch . Soll ich sie Ihnen vorsingen ? « » Sie haben sich die Sachen schon angeschaut ? Das ist nett . « Anna hatte sich erhoben . Sie führte beide Hände an ihre Schläfen und strich wie ordnend , leicht über ihr gewolltes Haar . Sie trug es ziemlich hoch frisiert , wodurch ihre Gestalt noch größer erschien , als sie war . Eine schmale , goldene Uhrkette war zweimal um den freien Hals geschlungen , fiel über die Brust herab und verlor sich in dem grauledernen Gürtel . Durch eine fast unmerkliche Kopfbewegung forderte sie Georg auf , ihr zu folgen . Er stand auf und sagte : » Wenn 's erlaubt ist ... « » Bitte sehr , bitte sehr , natürlich « , sagte Herr Rosner . » Herr Baron wollen so freundlich sein , mit meiner Tochter ein wenig zu musizieren . Sehr schön , sehr schön . « Anna war in das Nebenzimmer getreten . Georg folgte ihr und ließ die Tür offen stehen . Die weißen Tüllvorhänge vor dem geöffneten Fenster waren zusammengesteckt und bewegten sich leise . Georg setzte sich an das Pianino und griff ein paar Akkorde . Indes kniete Anna vor einer alten , schwarzen , teilweise vergoldeten Etagere und holte die Noten hervor . Georg modulierte in die Anfangsakkorde seines Liedes . Anna fiel ein , und zu Georgs Melodie sang sie die Goetheschen Worte . » Deinem Blick mich zu bequemen , Deinem Munde , deiner Brust , Deine Stimme zu vernehmen , War mir erst' und letzte Lust . « Sie stand hinter ihm und schaute über seine Schulter in die Noten . Zuweilen beugte sie sich ein wenig vor , und dann fühlte er an der Schläfe den Hauch ihrer Lippen . Ihre Stimme war viel schöner , als seine Erinnerung sie bewahrt hatte . Im Nebenzimmer wurde etwas zu laut gesprochen . Ohne den Gesang zu unterbrechen , lehnte Anna die Türe zu . Josef war es gewesen , der sein Organ nicht länger hatte bändigen können . » Ich werde noch einen Sprung ins Kaffeehaus hinüber schauen « , sagte er . Man erwiderte nichts . Herr Rosner trommelte leise auf den Tisch , und seine Gattin nickte scheinbar gleichgültig . » Also adieu . « Bei der Tür wandte sich Josef wieder um und bemerkte mit mäßiger Festigkeit . » Mama , wenn du vielleicht einen Moment Zeit hast ... « » Ich hör schon « , sagte Frau Rosner , » es wird ja kein Geheimnis sein . « » Nein . Es ist ja nur , weil ich mit dir ja ohnedies in Verrechnung bin . « » Muß man ins Kaffeehaus gehen ? « fragte der alte Rosner einfach , ohne aufzublicken . » Also es handelt sich nicht ums Kaffeehaus . Es ist überhaupt ... Ihr könnt mir 's glauben , daß es mir selber lieber wär , wenn ich euch nicht anpumpen müßt' . Aber was soll der Mensch tun ? « » Arbeiten soll der Mensch « , sagte der alte Rosner leise und schmerzlich , und seine Augen röteten sich . Die Frau warf einen traurigen und strafenden Blick auf den Sohn . » Also « , sagte Josef , knöpfte den Bureaujanker auf und wieder zu , » das ist doch wirklich ... wegen jedem Guldenzettel ... « » Pst « , sagte Frau Rosner mit einem Blick gegen die angelehnte Tür , durch die jetzt , nachdem der Gesang Annas geendet , nur das gedämpfte Klavierspiel Georgs hereinklang . Josef beantwortete den Blick der Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung : » Arbeiten soll ich , sagt der Papa . Als ob ich 's nicht schon bewiesen hätte , daß ich 's kann . « Er sah zwei fragende Augenpaare auf sich gerichtet . » Jawohl hab ich's bewiesen , und wenn es nur auf meinen guten Willen ankäm , hätt' ich überall mein Auskommen gehabt . Aber ich hab halt nicht das Temperament , mir was gefallen zu lassen , ich laß mich nicht ausschreien von meine Chefs , wenn ich mich einmal eine Viertelstunde verspäten tu ... oder so was . « » Die Geschichte kennen wir « , unterbrach ihn Herr Rosner müde . » Aber schließlich , weil wir schon davon sprechen , du wirst dich ja doch wieder um irgendwas umschauen müssen . « » Umschauen ... gut ... « ,erwiderte Josef . » Aber zu einem Juden bringt mich keiner mehr ins Geschäft . Das würde mich bei meinen Bekannten ... jawohl in meinem ganzen Kreis würde mich das lächerlich machen . « » Dein Kreis ... « , sagte Frau Rosner , » wer ist denn dein Kreis ? Kaffeehausfreunderln . « » Also bitte , weil wir schon davon reden « , sagte Josef , » es hängt auch wieder mit dem Guldenzettel zusammen . Ich habe jetzt ein Rendezvous im Kaffeehaus mit dem jungen Jalaudek . Ich hätt 's euch lieber erst gesagt , wenn die Sache perfekt wird ... aber ich seh schon , ich muß früher mit der Farb heraus . Also der Jalaudek , das is der Sohn von dem Stadtrat Jalaudek , von dem berühmten Papierhändler . Und der alte Jalaudek ist bekanntlich eine sehr einflußreiche Persönlichkeit in der Partei ... sehr intim mit dem Herausgeber vom » Christlichen Tagesboten « , Zelltinkel heißt er . Und beim » Tagesboten « da suchen sie jetzt junge Leute von gefälligen Umgangsformen , Christen natürlich , für das Inseratengeschäft . Und da hab ich heute mit dem Jalaudek Rendezvous im Kaffeehaus , weil er mir versprochen hat , sein Alter wird mich beim Zelltinkel empfehlen . Das wär etwas Ausgezeichnetes ... da bin ich aus'm Wasser . Da kann ich in der kürzesten Zeit hundert oder auch hundertfünfzig Gulden im Monat verdienen . « » Ach Gott « , seufzte der alte Rosner . Draußen ging die Glocke . Rosner blickte auf . » Das wird der junge Doktor Stauber sein « , sagte Frau Rosner und warf einen besorgten Blick nach der Tür , durch die Georgs Klavierspiel noch leiser drang als früher . » Also Mama was is eigentlich ? « sagte Josef . Frau Rosner nahm ihre Geldbörse und reichte ihrem Sohn seufzend einen Silbergulden . » Küß die Hand « , sagte Josef und wandte sich zum Gehen . » Josef « , rief Herr Rosner . » Es ist doch einigermaßen unhöflich grade in dem Augenblick , wenn ein Besuch kommt ... « » Ah , ich dank schön , ich muß nicht von allem haben . « Es klopfte , Doktor Bertold Stauber trat ein . » Entschuldigen vielmals , Herr Doktor « , sagte Josef , » ich bin grad im Weggehen . « » Bitte « , erwiderte Doktor Stauber kühl , und Josef verschwand . Frau Rosner forderte den jungen Arzt auf , Platz zu nehmen . Er setzte sich auf den Divan und horchte nach der Seite hin , von wo das Klavierspiel kam . » Der Baron Wergenthin « , erklärte Frau Rosner etwas verlegen . » Der Komponist . Anna hat eben gesungen . « Und sie schickte sich an , ihre Tochter herein zu rufen . Doktor Berthold hielt sie ganz leicht am Arme fest und sagte freundlich . » Nein . Ich bitte Fräulein Anna nicht zu stören , absolut nicht . Ich habe nicht die geringste Eile . Es ist übrigens ein Abschiedsbesuch . « Der letzte Satz kam wie hervorgestoßen aus seiner Kehle ; doch lächelte Berthold zugleich verbindlich , lehnte sich bequem in die Ecke und strich mit der rechten Hand den kurzen Vollbart zurecht . Frau Rosner sah ihn förmlich erschreckt an . Herr Rosner fragte : » Ein Abschiedsbesuch ? Haben Herr Doktor Urlaub genommen ? Das Parlament ist doch erst vor kurzer Zeit zusammen getreten , wie man den Zeitungen entnehmen konnte . « » Ich habe mein Mandat niedergelegt « , sagte Berthold . » Wie ? « rief Herr Rosner aus . Jawohl niedergelegt « , wiederholte Berthold und lächelte zerstreut . Das Klavierspiel hatte plötzlich aufgehört , die angelehnte Tür tat sich auf . Georg und Anna erschienen . » O Doktor Berthold « , sagte Anna und streckte ihm , der rasch aufgestanden war , die Hand entgegen . » Sind Sie schon lange da ? Haben Sie mich vielleicht singen gehört ? « » Nein , Fräulein Anna , das hab ich leider versäumt . Nur ein paar Töne auf dem Klavier hab ich vernommen . « » Der Baron Wergenthin « , sagte Anna , als wollte sie vorstellen . » Die Herren kennen sich doch ? « » Gewiß « , erwiderte Georg und reichte Berthold die Hand . » Der Doktor kommt uns einen Abschiedsbesuch machen « , sagte Frau Rosner . » Wie ? « rief Anna erstaunt aus . » Ich verreise nämlich « , sagte Berthold und schaute Anna ernst und undurchdringlich in die Augen . » Ich gebe meine politische Karriere auf « , setzte er dann wie spöttisch hinzu ... » besser gesagt , ich unterbreche sie auf eine Weile . « Georg lehnte im Fenster , die Arme über der Brust verkreuzt , und betrachtete Anna von der Seite . Sie hatte sich gesetzt und sah ruhig zu Berthold auf , der aufrecht dastand , die eine Hand auf die Lehne des Divans gestützt , als wenn er eine Rede halten wollte . » Und wohin reisen Sie ? « fragte Anna . » Nach Paris . Ich will im Pasteurschen Institut arbeiten . Ich kehre wieder zu meiner alten Liebe zurück , zur Bakteriologie . Es ist eine reinlichere Beschäftigung als die Politik . « Es war dunkler geworden . Die Gesichter verschwammen , nur die Stirne Bertholds , der gerade dem Fenster gegenüberstand , war noch in Helle getaucht . Es zuckte um seine Brauen . Eigentlich hat er seine besondere Art von Schönheit , dachte Georg , der regungslos in der Fensterecke lehnte und sich von einer angenehmen Ruhe durchflossen fühlte . Das Stubenmädchen brachte die brennende Lampe und hing sie über dem Tisch auf . » Aber die Journale « , sagte Herr Rosner , » brachten noch keinerlei Meldung , daß Herr Doktor Ihr Mandat zurückgelegt haben . « » Das wäre auch verfrüht « , erwiderte Berthold . » Meine Parteigenossen kennen wohl meine Absicht , aber die Sache ist noch nicht offiziell . « Diese Nachricht « , sagte Herr Rosner , » wird nicht verfehlen , in den beteiligten Kreisen großes Aufsehen zu erregen . Besonders nach der bewegten Debatte von neulich , in die Herr Doktor mit solcher Entschiedenheit eingegriffen haben . Herr Baron haben wohl gelesen « , wandte er sich an Georg . » Ich muß gestehen « , erwiderte Georg , » ich verfolge die Parlamentsberichte nicht so regelmäßig , als man eigentlich müßte . « » Müßte « , wiederholte Berthold nachsichtig . » Man muß wahrhaftig nicht , obzwar die Sitzung neulich nicht uninteressant war . Wenigstens als Beweis dafür , wie tief das Niveau einer öffentlichen Körperschaft sinken kann . « » Es ist sehr hitzig zugegangen « , sagte Herr Rosner . » Hitzig ? ... Nun ja , was man bei uns in Österreich hitzig nennt . Man war innerlich gleichgültig und äußerlich grob . « » Um was hat es sich denn gehandelt ? « fragte Georg . » Es war die Debatte anläßlich der Interpellation über den Prozeß Golowski ... Therese Golowski . « » Therese Golowski ... « , wiederholte Georg . » Den Namen sollt ich kennen . « » Natürlich kennen Sie ihn « , sagte Anna . » Sie kennen ja Therese selbst . Wie Sie uns das letztemal besucht haben , ist sie eben von mir fortgegangen . « » Ach ja « , sagte Georg , » eine Freundin von Ihnen . « » Freundin möcht ich sie nicht nennen ; das setzt doch eine gewisse innere Übereinstimmung voraus , die nicht mehr so recht vorhanden ist . « » Sie werden Therese doch nicht verleugnen « , sagte Doktor Berthold lächelnd , aber herb . » O nein « , erwiderte Anna lebhaft , » das fällt mir wahrhaftig nicht ein . Ich bewundere sie sogar . Ich bewundere überhaupt alle Leute , die imstande sind , für etwas , was sie im Grunde nichts angeht , so viel zu riskieren . Und wenn das nun gar ein junges Mädchen tut , ein hübsches junges Mädchen wie Therese ... « , sie richtete die Worte an Georg , der gespannt zuhörte » so imponiert mir das noch mehr . Sie müssen nämlich wissen , daß Therese eine der Führerinnen der sozialdemokratischen Partei ist . « » Und wissen Sie , wofür ich sie gehalten habe ? « sagte Georg . » Für eine angehende Schauspielerin ! « » Herr Baron , Sie sind ein Menschenkenner « , sagte Berthold . » Sie wollte wirklich einmal zur Bühne gehen « , bestätigte Frau Rosner kühl . Ich bitte Sie , gnädige Frau « , sagte Berthold , » welches junge Mädchen von einiger Phantasie , das überdies in engen Verhältnissen lebt , hat nicht in irgend einer Lebensepoche mit einer solchen Absicht wenigstens gespielt ? « » Es ist hübsch , daß Sie ihr verzeihen « , sagte Anna lächelnd . Berthold fiel es zu spät ein , daß er mit seiner Bemerkung eine noch empfindliche Stelle in Annas Gemüt berührt haben mochte . Aber um so bestimmter fuhr er fort : » Ich versichere Sie , Fräulein Anna , es wäre schade um Therese gewesen . Denn es ist gar nicht abzusehen , wieviel sie für die Partei noch leisten kann , wenn sie nicht irgendwie aus ihrer Bahn gerissen wird . « » Halten Sie das für möglich ? « fragte Anna . » Gewiß « , entgegnete Berthold . » Für Therese gibt es sogar zwei Gefahren : entweder redet sie sich einmal um den Kopf ... « » Oder ? « fragte Georg , der neugierig geworden war . » Oder sie heiratet einen Baron « , schloß Berthold kurz . » Das verstehe ich nicht ganz « , sagte Georg ablehnend . » Daß ich gerade Baron sagte , war natürlich ein Spaß . Setzen wir statt Baron Prinz , so wird die Sache klarer . « » Ach so ... Jetzt kann ich mir ungefähr denken , was Sie meinen , Herr Doktor ... Aber was für einen Anlaß hatte das Parlament , sich mit ihr zu beschäftigen ? « » Ach ja . Im vorigen Jahre zur Zeit des großen Kohlenstreikes hielt Therese Golowski in irgend einem böhmischen Nest eine Rede , die eine angeblich verletzende Äußerung gegen ein Mitglied des kaiserlichen Hauses enthielt . Sie wurde angeklagt und freigesprochen . Man könnte daraus vielleicht schließen , daß die Anschuldigung nicht besonders haltbar gewesen sein dürfte . Trotzdem meldete der Staatsanwalt die Berufung an , ein anderes Gericht wurde designiert und Therese zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt , die sie übrigens soeben absitzt . Und damit nicht genug , wurde der Richter , der sie in erster Instanz freisprach , versetzt ... irgendwohin an die russische Grenze , von wo es keine Wiederkehr gibt . Nun , über diesen Fall haben wir eine Interpellation eingebracht , sehr zahm meiner Ansicht nach . Der Minister erwiderte , ziemlich heuchlerisch , unter dem Jubel der sogenannten staatserhaltenden Parteien . Ich habe mir erlaubt , darauf zu replizieren , vielleicht etwas energischer , als man es bei uns gewohnt ist ; und da man von den gegnerischen Bänken aus nichts Sachliches erwidern konnte , hat man versucht , mich mit schreien und schimpfen tot zu machen . Und was das kräftigste Argument einer gewissen Sorte von Staatserhaltern gegen meine Ausführungen war , können Sie sich ja denken , Herr Baron . « » Nun ? « fragte Georg . » Jud halts Maul « , erwiderte Berthold mit schmal gewordenen Lippen . » O « , sagte Georg verlegen und schüttelte den Kopf . » Ruhig Jud ! Halts Maul ! Jud ! Jud ! Kusch ! « fuhr Berthold fort und schien in der Erinnerung zu schwelgen . Anna sah vor sich hin . Georg fand innerlich , es wäre nun genug . Ein kurzes , peinliches Schweigen entstand . » Also darum ? « fragte Anna langsam . » Wie meinen Sie ? « fragte Berthold . » Darum legen Sie das Mandat nieder ? « Berthold schüttelte den Kopf und lächelte . » Nein , nicht darum . « » Herr Doktor sind über diese rohen Insulte gewiß erhaben « , sagte Herr Rosner . » Das will ich nicht eben behaupten « , erwiderte Berthold . » Aber immerhin mußte man auf dergleichen gefaßt sein . Der Grund meiner Mandatsniederlegung ist ein anderer . « » Und darf man wissen ... ? « fragte Georg . Berthold sah ihn durchdringend und doch zerstreut an . Dann erwiderte er verbindlich : » Gewiß darf man . Nach meiner Rede begab ich mich ins Büfett . Dort begegnete ich unter andern einem der allerdümmsten und frechsten unserer freigewählten Volksvertreter , dem , der wie gewöhnlich , auch während meiner Rede , der Allerlauteste gewesen war ... dem Papierhändler Jalaudek . Ich kümmerte mich natürlich nicht um ihn . Er stellt eben sein geleertes Glas hin . Wie er mich sieht , lächelt er , nickt mir zu und grüßt heiter , als wäre nichts geschehen : » Habe die Ehre , Herr Doktor , auch eine kleine Erfrischung gefällig ? « » Unglaublich ! « rief Georg aus . » Unglaublich ? ... Nein , österreichisch . Bei uns ist ja die Entrüstung so wenig echt wie die Begeisterung . Nur die Schadenfreude und der Haß gegen das Talent , die sind echt bei uns . « » Nun , und was haben Sie dem Mann geantwortet ? « fragte Anna . » Was ich geantwortet habe ? Nichts , selbstverständlich . « » Und haben Ihr Mandat niedergelegt « , ergänzte Anna mit leisem Spott . Berthold lächelte . Zugleich aber zuckte es um seine Brauen wie gewöhnlich , wenn er unangenehm oder schmerzlich berührt war . Es war zu spät , ihr zu sagen , daß er eigentlich gekommen war , sie um Rat zu fragen wie in früherer Zeit . Und doch , das fühlte er , er hatte klug daran getan , sich gleich beim Eintritt jeden Rückzug abzuschneiden , seinen Verzicht auf das Mandat als bereits vollzogen , seine Reise nach Paris als unmittelbar bevorstehend anzukündigen . Denn nun wußte er ja , daß Anna ihm wieder einmal entglitten war , vielleicht auf lange . Daß irgend ein Mensch sie ihm wirklich und auf immer nehmen konnte , das glaubte er freilich nicht , und auf diesen eleganten , jungen Künstler eifersüchtig zu sein , der so ruhig mit verkreuzten Armen dort am Fenster stand , dazu wollte er sich auf keinen Fall verstehen . Schon manchmal war es geschehen , daß Anna für einige Zeit wie in einem für ihn fremden Element gleichsam verzaubert dahinschwebte . Und vor zwei Jahren , da sie ernstlich daran dachte , sich der Bühne zu widmen und ihre Rollen zu studieren begann , hatte er sie eine kurze Zeit hindurch völlig verloren gegeben . Später , als sie durch die Unverläßlichkeit ihrer Stimme genötigt wurde , ihre künstlerischen Pläne fahren zu lassen , schien sie wohl wieder zu ihm zurückzukehren ; aber diese Epoche hatte er mit Absicht ungenutzt verstreichen lassen . Denn eh' er sie zu seiner Gattin machte , wollte er irgend einen Erfolg errungen haben , entweder auf wissenschaftlichem oder politischem Gebiet , und von ihr wahrhaft bewundert sein . Er war auf dem Weg dazu gewesen . An der gleichen Stelle , wo sie jetzt saß und ihm mit klaren , aber wie fremden Augen ins Gesicht schaute , hatte sie die Korrekturbogen seiner letzten medizinisch-philosophischen Arbeit vor sich liegen gehabt , die den Titel trug : Vorläufige Bemerkungen zu einer Physiognomik der Krankheiten . Und dann , als sich sein Übergang zur Politik vollzog , zu der Zeit , da er in Wählerversammlungen Reden hielt , sich durch ernste geschichtliche und nationalökonomische Studien für den neuen Beruf vorbereitete , hatte sie sich seiner Vielseitigkeit und seiner Energie herzlich gefreut . All das war nun vorüber . Allmählich schien sie gerade seine Fehler , die ihm ja selbst durchaus nicht verborgen waren , insbesondere seine Neigung , sich an den eigenen Worten zu berauschen , mit schärferen Blick zu sehen als früher , und dadurch begann er wieder seine Sicherheit ihr gegenüber mehr und mehr zu verlieren . Er war nicht ganz er selbst , wenn er zu ihr oder in ihrer Gegenwart sprach . Auch heute war er nicht mit sich zufrieden . Mit einem Ärger , der ihm selbst kleinlich vorkam , ward er sich bewußt , daß er seine Begegnung im Büfett mit Jalaudek nicht wirksam genug vorgetragen hatte und daß er seinen Ekel vor der Politik viel glaubhafter hätte darstellen müssen . » Sie haben ja wahrscheinlich recht , Fräulein Anna , « sagte er , » wenn Sie darüber lächeln , daß ich wegen dieses läppischen Abenteuers mein Mandat niedergelegt habe . Ein parlamentarisches Leben ohne Komödienspiel ist ja überhaupt nicht möglich . Ich hätte es bedenken und selber mitagieren , dem Kerl womöglich zutrinken sollen , der mich öffentlich beschimpft hat . Das wäre bequem , österreichisch und vielleicht sogar das Richtigste gewesen . « Er fühlte sich wieder im Zuge und sprach lebhaft weiter : » Es gibt am Ende doch nur zwei Methoden , mittels deren in der Politik praktisch etwas zu leisten ist ; entweder durch eine großartige Frivolität , die das ganze öffentliche Leben als ein amüsantes Spiel betrachtet , die in Wahrheit für nichts begeistert , gegen nichts entrüstet ist , und der die Menschen , um deren Glück oder Elend es sich doch im letzten Sinn handeln sollte , vollkommen gleichgültig bleiben . So weit bin ich nicht , und ich weiß nicht , ob ich jemals dahin gelangen werde . Ehrlich gesagt , ich hab es mir schon manchmal gewünscht . Die andre Methode aber ist : bereit sein , in jedem Augenblick für das , was man das Rechte hält , seine ganze Existenz , sein Leben im wahrsten Sinne des Wortes « Berthold schwieg plötzlich . Sein Vater , der alte Doktor Stauber , war eingetreten und wurde herzlich begrüßt . Er reichte Georg , der ihm von Frau Rosner vorgestellt wurde , die Hand und sah ihn so freundlich an , daß sich Georg sofort zu ihm hingezogen fühlte . Er sah offenbar jünger aus , als er war . Sein langer , rötlichblonder Bart war nur von einzelnen grauen Fäden durchzogen , und das schlicht gekämmte lange Haar zog in dichten Strähnen zu dem breiten Nacken hin . Die Stirn , die von auffallender Höhe war , gab der ganzen , ein wenig untersetzten , ja hochschultrigen Erscheinung eine gewisse Würde . Die Augen , wenn sie nicht eben mit einiger Absicht gütig oder klug schauten , schienen sich hinter den müd gewordenen Lidern gleichsam für den nächsten Blick auszuruhen . » Ich habe Ihre Mutter gekannt , Herr Baron « , sagte er ziemlich leise zu Georg . » Meine Mutter , Herr Doktor ... ? « » Sie werden sich kaum daran erinnern . Sie waren damals ein kleiner Bub von drei , vier Jahren . « » Sie waren ihr Arzt ? « fragte Georg . » Ich besuchte sie zuweilen als Vertreter des Professors Duchegg , bei dem ich Assistent war . Sie haben damals in der Habsburgergasse gewohnt , in einem alten Haus , das längst niedergerissen ist . Ich könnte Ihnen heute noch die Einrichtung des Zimmers schildern , in dem Ihr Herr Vater mich empfing ... der leider auch allzufrüh gestorben ist ... Auf dem Schreibtisch stand eine Bronzefigur und zwar ein gepanzerter Ritter mit einer Fahne . Und an der Wand hing eine Kopie nach einem Van Dyck aus der Liechtensteingalerie . « » Ja « , sagte Georg verwundert über das gute Gedächtnis des Arztes , » ganz richtig . « » Aber ich habe da die Herrschaften in einem Gespräch unterbrochen « , fuhr Doktor Stauber fort , in dem ein wenig melancholisch singenden und doch überlegenen Ton , der ihm eigen war , und ließ sich in die Ecke des Divans sinken . » Eben teilt uns Doktor Berthold zu unserm Erstaunen mit « , sagte Herr Rosner , » daß er sich entschlossen hat , sein Mandat niederzulegen . « Der alte Stauber richtete einen ruhigen Blick auf seinen Sohn , den dieser ebenso ruhig erwiderte . Georg , der dies Augenspiel bemerkte , hatte den Eindruck , daß hier ein stilles Einverständnis waltete , das keiner Worte bedurfte . » Ja « , sagte Doktor Stauber , » mich hat es allerdings nicht überrascht . Ich habe immer das Gefühl gehabt , daß Berthold im Parlament nur wie zu Gaste sitzt , und bin eigentlich froh , daß er nun eine Art von Heimweh nach seinem wahren Beruf bekommen hat . Ja , ja , dein wahrer , Berthold « , wiederholte er wie zur Antwort auf ein Stirnrunzeln seines Sohnes . » Damit ist ja nichts für die Zukunft präjudiziert . Nichts erschwert uns die Existenz so sehr , als daß wir so häufig an Definitiva glauben ... und daß wir die Zeit damit verlieren , uns eines Irrtums zu schämen , statt ihn einzugestehen und unser Leben einfach neu zu gestalten . « Berthold erklärte , daß er in spätestens acht Tagen abreisen wolle . Jeder weitere Aufschub hätte keinen Sinn . Es wäre auch möglich , daß er nicht in Paris bliebe . Seine Studien konnten eine weitere Reise not wendig machen . Ferner war er entschlossen , alle Abschiedsbesuche zu unterlassen ; wie er hinzusetzte , hatte er ohndies allen Verkehr früherer Jahre in gewissen bürgerlichen Kreisen , wo sein Vater eine ausgebreitete Praxis übte , vollkommen aufgegeben . » Sind wir uns denn nicht diesen Winter einmal bei Ehrenbergs begegnet ? « fragte Georg mit einiger Genugtuung . Das ist richtig « , erwiderte Berthold . » Mit Ehrenbergs sind wir übrigens entfernt verwandt . Das Bindeglied zwischen uns ist merkwürdigerweise die Familie Golowski . Jeder Versuch , Ihnen das näher zu erklären , Herr Baron , wäre vergeblich . Ich müßte sie eine Wanderung durch die Standesämter und Kultusgemeinden von Temesvar , Tarnopol und ähnlichen angenehmen Ortschaften unternehmen lassen und das möcht ich Ihnen doch nicht zumuten . « » Und übrigens « , fügte der alte Doktor Stauber resigniert hinzu , » weiß der Herr Baron gewiß , daß alle Juden miteinander verwandt sind . « Georg lächelte liebenswürdig . In Wirklichkeit aber war er eher enerviert . Seiner Empfindung nach bestand durchaus keine Notwendigkeit , daß auch der alte Doktor Stauber ihm offizielle Mitteilung von seiner Zugehörigkeit zum Judentum machte . Er wußte es ja , und er nahm es ihm nicht übel . Er nahm es überhaupt keinem übel ; aber warum fingen sie denn immer selbst davon zu reden an ? Wo er auch hinkam , er begegnete nur Juden , die sich schämten , daß sie Juden waren , oder solchen , die darauf stolz waren , und Angst hatten , man könnte glauben , sie schämten sich . » Gestern hab ich übrigens die alte Golowski gesprochen « , fuhr Doktor Stauber fort . » Die arme Frau « , sagte Herr Rosner . » Wie gehts ihr denn ? « fragte Anna . » Wie wirds ihr gehen ... Sie können sich denken ... die Tochter eingesperrt , der Sohn Freiwilliger auf Staatskosten , wohnt in der Kaserne ... Stellen Sie sich das vor , Leo Golowski als Patriot ... Und der Alte sitzt im Kaffeehaus und schaut zu , wie die andern Leut Schach spielen . Er selbst hat doch nicht mehr die zehn Kreuzer , um das Spielgeld zu zahlen . « » Die Haft von Therese muß übrigens bald abgelaufen sein « , sagte Berthold . » Dauert doch noch zwölf , vierzehn Tage « , erwiderte sein Vater ... » Na , Annerl « , wandte er sich dann an das junge Mädchen , » es wäre wirklich schön von Ihnen , wenn Sie sich wieder einmal in der Rembrandtstraße anschauen ließen ; die alte Frau hat eine fast rührende Schwärmerei für Sie . Ich versteh wirklich nicht warum « , setzte er lächelnd hinzu , während er Anna beinah zärtlich betrachtete . Sie aber sah vor sich hin und erwiderte nichts . Die Wanduhr schlug sieben . Georg erhob sich , als wenn er nur dieses Zeichen erwartet hätte . Herr Baron verlassen uns schon « , sagte Herr Rosner aufstehend . Georg bat die Anwesenden , sich nicht stören zu lassen , und reichte allen die Hand . » Es ist merkwürdig « , sagte der alte Stauber , » wie Ihre Stimme an die Ihres verstorbenen Herrn Vaters erinnert . « » Ja , man hat es mir vielfach gesagt « , entgegnete Georg . » Ich selbst konnte es allerdings nie finden . « » Es gibt keinen Menschen auf der Welt , der seine eigene Stimme kennt « , bemerkte der alte Stauber , und es klang wie der Beginn eines populären Vortrags . Aber Georg empfahl sich . Anna begleitete ihn , trotz seiner leisen Abwehr , ins Vorzimmer und ließ etwas absichtlich , wie es Georg vorkam die Türe halboffen stehn . » Es ist schade , daß wir nicht länger musizieren konnten « , sagte sie . » Mir tuts auch leid , Fräulein Anna . « » Das Lied hat mir heut noch besser gefallen , als beim erstenmal , wie ich mich selber begleiten mußte . Nur zum Schluß verläuft es ein bißchen ... ich weiß nicht , wie ich sagen soll . « » Ich weiß , was Sie meinen . Der Schluß ist konventionell , das hab ich gleich gefühlt . Hoffentlich kann ich Ihnen bald was Besseres bringen , Fräulein Anna . « » Lassen Sie mich aber nicht zu lange darauf warten . « » Gewiß nicht . Also Adieu Fräulein Anna . « Sie reichten einander die Hände und lächelten beide . » Warum sind Sie nicht nach Weißenfeld gekommen ? « fragte Anna leicht . » Es tut mir wirklich leid , aber sehen Sie , Fräulein Anna , ich hätte wahrhaftig heuer keine angenehme Gesellschaft vorgestellt , das können Sie sich wohl denken . « Anna sah ihn ernst an . » Glauben Sie nicht « , sagte sie , » daß man Ihnen vielleicht hätte helfen können manches tragen ? « » Es zieht , Anna « , rief Frau Rosner von drinnen . » Ich komm ja schon « , erwiderte Anna etwas ungeduldig . Aber Frau Rosner hatte die Tür schon geschlossen . » Wann darf ich wiederkommen ? « fragte Georg . » Wann es Ihnen angenehm ist . Allerdings ... ich müßte Ihnen eigentlich eine schriftliche Stundeneinteilung geben , damit Sie wissen , wann ich zu Hause bin , und damit wäre auch noch nichts getan . Oft geh ich spazieren , oder habe Besorgungen in der Stadt , oder schau mir Bilder an , oder Ausstellungen ... « Das könnte man doch einmal zusammen tun « , sagte Georg . » O ja « , erwiderte Anna , nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche und entnahm diesem ein winziges Notizbuch . » Was haben Sie denn da ? « fragte Georg . Anna lächelte und blätterte in dem Büchlein . » Warten Sie nur ... Donnerstag elf Uhr wollte ich mir die Miniaturausstellung in der Hofbibliothek ansehen . Wenn Sie das auch interessiert , so können wir uns dort treffen . « » Aber sehr gern . « » Also schön . Dort können wir gleich besprechen , wann Sie mich das nächstemal zum Singen begleiten . « » Abgemacht « , sagte Georg und reichte ihr die Hand . Es fiel ihm ein , daß gewiß , während hier draußen Anna mit ihm plauderte , sich drin im Zimmer der junge Doktor Stauber ärgern oder gar kränken mochte . Und er wunderte sich , daß er diesen Umstand selbst offenbar unangenehmer empfand als Anna , die doch im ganzen ein gutmütiges Wesen zu sein schien . Er löste seine Hand aus der ihren , nahm Abschied und ging . Als Georg auf die Straße kam , war es ganz dunkel geworden . Langsam schlenderte er über die Elisabethbrücke an der Oper vorbei der inneren Stadt zu und ließ , unbeirrt durch Geräusch und Treiben rings umher , sein Lied in sich nachtönen . Er fand es seltsam , daß Annas Stimme , die im kleinen Raume so reinen und gesunden Klang gab , jede Zukunft auf der Bühne und im Konzertsaal versagt sein sollte , und noch seltsamer , daß Anna unter diesem Verhängnis kaum zu leiden schien . Freilich war er sich nicht klar darüber , ob Annas Ruhe auch den wahren Ausdruck ihres Wesens widerspiegelte . Er kannte sie wohl flüchtig schon seit einigen Jahren ; aber erst eines Abends im vergangenen Frühling waren sie einander näher gekommen . Im Waldsteingarten hatte sich damals eine größere Gesellschaft Rendezvous gegeben . Man speiste im Freien , unter hohen Kastanienbäumen , vergnügt , angeregt und berückt von dem ersten warmen Maiabend des Jahres . Georg sah sie alle wieder , die damals gekommen waren . Frau Ehrenberg , die Veranstalterin der Zusammenkunft , absichtlich matronenhaft mit einem lose sitzenden , dunkeln Foulardkleid angetan ; Hofrat Wilt , wie in der Maske eines englischen Staatsmanns , mit vornehm schlampigen Gebärden und mit dem gleichen , etwas wohlfeilen Ton der Überlegenheit für sämtliche Dinge und Menschen ; Frau Oberberger , die mit dem grau gepuderten Haar , den blitzenden Augen und dem Schönheitspflästerchen auf dem Kinn einer Rokokomarquise ähnelte ; Demeter Stanzides mit den weiß glänzenden Zähnen , und auf der blassen Stirn die Müdigkeit eines alten Heldengeschlechtes ; Oskar Ehrenberg , mit einer Eleganz , die viel vom ersten Kommis eines Modehauses , manches von der eines jugendlichen Gesangskomikers und auch einiges von der eines jungen Herrn aus der Gesellschaft hatte ; Sissy Wyner , die ihre dunkeln , lachenden Augen von einem zum andern sandte , als sei sie mit jedem einzelnen durch ein andres lustiges Geheimnis verbunden ; Willy Eißler , der heiser und fidel allerlei heitre Geschichten aus seiner Militärzeit und jüdische Anekdoten erzählte ; Else Ehrenberg , von zarter Frühlingsmelancholie umflossen in weißem englischem Tuchkleid , mit den Bewegungen einer großen Dame , die sich zu dem Kindergesicht und der zarten Figur anmutig und beinahe rührend ausnahmen ; Felician , kühl und liebenswürdig , mit hochmütigen Augen , die zwischen den Gästen hindurch zu andern Tischen und auch an diesen vorbei in die Ferne sahen ; Sissys Mutter , jung , rotbackig und plappernd , die überall zugleich mitreden und überall zugleich mithören wollte ; Edmund Nürnberger , in den bohrenden Augen und um den schmalen Mund jenes fast maskenhaft gewordene Lächeln der Verachtung für ein Welttreiben , das er bis auf den Grund durchschaute , und in dem er sich doch manchmal zu seinem eigenen Erstaunen selbst als Mitspieler entdeckte ; endlich Heinrich Bermann , in einem zu weiten Sommeranzug , mit einem zu billigen Strohhut , mit einer zu lichten Kravatte , der bald lauter sprach und bald tiefer schwieg als die andern . Zuletzt , ohne jede Begleitung und in sicherer Haltung war Anna Rosner erschienen , hatte mit leichtem Kopfnicken die Gesellschaft begrüßt und ungezwungen zwischen Frau Ehrenberg und Georg Platz genommen . » Die hab ich für Sie eingeladen « , bemerkte Frau Ehrenberg leise zu Georg , der sich bis zu diesem Abend mit Anna auch in Gedanken kaum beschäftigt hatte . Jene Worte , vielleicht nur einem flüchtigen Einfall der Frau Ehrenberg entsprungen , wurden im weiteren Verlauf des Abends wahr . Von dem Augenblick an , da die Gesellschaft aufbrach und ihre fidele Reise durch den Volksprater antrat , überall , in den Buden , im Ringelspiel , vor dem Wurstel und auch auf dem Heimweg in die Stadt , der spaßhafter Weise zu Fuß gemacht wurde , hatten sich Georg und Anna zusammen gehalten und waren endlich , von lustigen und törichten Gesprächen umschwirrt , in eine ganz vernünftige Unterhaltung geraten . Ein paar Tage später war er bei ihr und brachte ihr , wie versprochen , den Klavierauszug von » Eugen Onegin « und einige von seinen Liedern ; bei seinem nächsten Besuch sang sie ihm diese Lieder und manche von Schubert vor , und ihre Stimme gefiel ihm sehr . Bald darauf nahmen sie für den Sommer voneinander Abschied , ohne jede Spur von Wehmut und Zärtlichkeit ; Annas Einladung nach Weißenfeld hatte Georg nur als Höflichkeit aufgefaßt , so wie er seine Zusage verstanden glaubte ; und im Vergleich zu der Harmlosigkeit des bisherigen Verkehrs durfte die Stimmung des heutigen Besuchs Georg wohl eigentümlich erscheinen . Auf dem Stephansplatz sah sich Georg von jemandem gegrüßt , der auf der Plattform eines Stellwagens stand . Georg , der etwas kurzsichtig war , erkannte den Grüßenden nicht gleich . » Ich bins « , sagte der Herr auf der Plattform . » O , Herr Bermann ! Guten Abend « , Georg reichte ihm die Hand hinauf . » Wohin des Wegs ? « » Ich fahre in den Prater . Ich will unten nachtmahlen . Haben Sie etwas besondres vor , Herr Baron ? « » Nicht das geringste . « » So kommen Sie doch mit . « Georg schwang sich auf den Omnibus , der eben weiterzurumpeln begann . Sie erzählten einander beiläufig , wie sie den Sommer verbracht hatten . Heinrich war im Salzkammergut gewesen , später in Deutschland , von wo er erst vor ein paar Tagen zurückgekommen war . » Ach in Berlin « , meinte Georg . » Nein . « » Ich dachte , daß Sie vielleicht in Angelegenheit eines neuen Stückes ... « » Ich habe kein neues Stück geschrieben « , unter brach ihn Heinrich etwas unhöflich . » Ich war im Taunus und am Rhein , in verschiedenen Orten . « Was hat er denn am Rhein zu tun , dachte Georg , obwohl es ihn nicht weiter interessierte . Es fiel ihm auf , daß Bermann zerstreut , ja beinahe verdüstert vor sich hinschaute . » Und wie steht 's denn mit Ihren Arbeiten , lieber Baron ? « fragte Heinrich plötzlich lebhaft , während er den dunkelgrauen Überzieher , der ihm um die Schulter hing , enger um sich schlug . » Ist Ihr Quintett fertig ? « » Mein Quintett ? « wiederholte Georg verwundert . » Hab' ich Ihnen denn von meinem Quintett gesprochen ? « Nein , nicht Sie ; aber Fräulein Else sagte mir , daß Sie an einem Quintett arbeiten . « » Ach so , Fräulein Else . Nein , ich bin nicht viel weiter gekommen . Ich war nicht gerade in der Stimmung , wie Sie sich denken können . « » Ach ja « , sagte Heinrich und schwieg eine Weile . » Und Ihr Herr Vater war noch so jung « , fügte er langsam hinzu . Georg nickte wortlos . » Wie geht's Ihrem Bruder ? « fragte Heinrich plötzlich . » Danke recht gut « , erwiderte Georg etwas befremdet . Heinrich warf seine Zigarre über die Brüstung und zündete sich gleich wieder eine neue an . Dann sagte er : » Sie werden sich wundern , daß ich mich nach Ihrem Bruder erkundige , den ich kaum jemals gesprochen habe . Er interessiert mich aber . Er stellt für mich einen in seiner Art geradezu vollendeten Typus dar , und ich halte ihn für einen der glücklichsten Menschen , die es gibt . « » Das mag wohl sein « , erwiderte Georg zögernd . » Aber wie kommen Sie eigentlich zu der Ansicht , da Sie ihn kaum kennen ? « » Erstens heißt er Felician Freiherr von Wergenthin-Recco « , sagte Heinrich sehr ernst und blies den Rauch in die Luft . Georg horchte mit einigem Erstaunen auf . » Sie heißen wohl auch Wergenthin-Recco « , fuhr Heinrich fort , » aber nur Georg und das ist lang nicht dasselbe , nicht wahr ? Ferner ist Ihr Bruder sehr schön . Sie schauen allerdings auch nicht übel aus . Aber Leute , deren hauptsächliche Eigenschaft es ist , schön zu sein , sind doch eigentlich viel besser dran als andre , deren hauptsächliche Eigenschaft es ist , begabt zu sein . Wenn man nämlich schön ist , so ist man es immer , während die Begabten doch mindestens neun Zehntel ihrer Existenz ohne jede Spur von Talent verbringen . Ja , gewiß ist es so . Die Linie des Lebens ist sozusagen reiner , wenn man schön als wenn man ein Genie ist . Übrigens ließe sich das alles besser ausdrücken . « Was hat er denn , dachte Georg unangenehm berührt . Sollte er vielleicht auf Felician eifersüchtig sein ... wegen Else Ehrenberg ? Auf dem Praterstern stiegen sie aus . Der große Strom der Sonntagsmenge flutete ihnen entgegen . Sie nahmen den Weg in die Hauptallee , wo es nicht mehr belebt war , und gingen langsam weiter . Es war kühl geworden . Georg machte Bemerkungen über die herbstliche Abendstimmung , über die Leute , die in den Wirtshäusern saßen , über die Militärkapellen , die in den Kiosken spielten . Heinrich entgegnete anfangs obenhin , später gar nicht und schien endlich kaum zuzuhören , was Georg ungezogen fand . Er bereute es beinahe , sich Heinrich angeschlossen zu haben , umsomehr , als es sonst gar nicht seine Art war , flüchtigen Aufforderungen ohne weiteres zu folgen ; und er entschuldigte sich vor sich selbst , daß er es diesmal nur aus Zerstreutheit getan hätte . Heinrich ging neben ihm her , oder auch ein paar Schritte voraus , als hätte er Georgs Anwesenheit vollkommen vergessen . Noch immer hielt er den umgehängten Überzieher mit beiden Händen fest , trug den weichen , dunkelgrauen Hut in die Stirn gedrückt und sah , was Georg plötzlich empfindlich zu stören begann , höchst unelegant aus . Heinrich Bermanns frühere Bemerkungen über Felician kamen ihm nun abgeschmackt und geradezu taktlos vor , und zu rechter Zeit fiel ihm ein , daß so ziemlich alles , was er von den schriftstellerischen Leistungen Heinrichs kannte , ihm wider den Strich gegangen war . Zwei Stücke von ihm hatte er gesehen : eines , das in den untern Volksschichten spielte , unter Handwerkern oder Fabrikarbeitern und mit Mord und Totschlag endete ; das andere , eine Art von satirischer Gesellschaftskomödie , bei deren Erstaufführung es einen Skandal gegeben hatte , und die bald wieder vom Repertoire verschwunden war . Übrigens hatte Georg den Autor damals noch nicht persönlich gekannt und an der ganzen Sache kein weiteres Interesse genommen . Er erinnerte sich nur , daß Felician das Stück geradezu lächerlich gefunden und daß Graf Schönstein geäußert hatte , wenn es nach ihm ginge , dürften Stücke von Juden überhaupt nur von der Budapester Orpheumsgesellschaft aufgeführt werden . Insbesondere aber hatte Doktor von Breitner , getauft und objektiv , seiner Empörung Ausdruck gegeben , daß so ein hergelaufener junger Mensch eine Welt auf die Bühne zu bringen wagte , die ihm selbstverständlich verschlossen war und von der er daher unmöglich etwas verstehen konnte . Während Georg all dies wieder einfiel , steigerte sich sein Ärger über das manierlose Weiterlaufen und beharrliche Schweigen seines Begleiters zu einer wahren Feindseligkeit , und halb unbewußt begann er allen Insulten recht zu geben , die damals gegen Bermann vorgebracht worden waren . Er erinnerte sich jetzt auch , daß ihm Heinrich von allem Anfang an persönlich unsympathisch gewesen war , und daß er sich zu Frau Ehrenberg ironisch über die Geschicklichkeit geäußert , mit der sie auch diesen jungen Ruhm sofort für ihren Salon einzufangen gewußt hatte . Else freilich hatte gleich Heinrichs Partei genommen , ihn für einen interessanten und manchmal sogar liebenswürdigen Menschen erklärt und Georg prophezeit , er würde über kurz oder lang mit ihm gut Freund werden . Und tatsächlich war in Georg , zum mindesten von jenem Gespräch heuer im Frühjahr nachts auf der Ringstraßenbank , eine gewisse Sympathie für Bermann zurückgeblieben , die bis zum heutigen Abend vorgehalten hatte . Längst waren sie an den letzten Gasthäusern vorbei . Neben ihnen lief die weiße Fahrstraße einsam und gerade zwischen den Bäumen in die Nacht hinaus , und sehr entfernte Musik tönte nur mehr in abgerissenen Klängen zu ihnen her . » Wohin denn noch « , rief Heinrich plötzlich aus , als hätte man ihn wider Willen hierher geschleppt , und blieb stehen . » Ich kann wirklich nichts dafür « , bemerkte Georg einfach . » Entschuldigen Sie « , sagte Heinrich . » Sie waren so sehr in Gedanken vertieft « , entgegnete Georg kühl . » Vertieft will ich eben nicht sagen . Aber es passiert einem manchmal , daß man sich so in sich selbst verliert . « » Ich kenne das « , meinte Georg ein wenig versöhnt . » Man hat Sie übrigens im August auf dem Auhof erwartet « , sagte Heinrich plötzlich . » Erwartet ? Frau Ehrenberg war wohl so freundlich , mich einmal einzuladen , aber ich hatte keineswegs zugesagt . Haben Sie sich längere Zeit dort aufgehalten , Herr Bermann ? « » Längere Zeit , nein . Ich war einige Male oben , aber immer nur auf ein paar Stunden . « » Ich dachte , Sie hätten oben gewohnt . « » Keine Idee . Ich hab' unten im Gasthof logiert . Ich bin nur gelegentlich hinauf gekommen . Es ist mir dort zu laut und bewegt ... das Haus wimmelt ja von Besuchen . Und die Mehrzahl der Leute , die dort verkehren , kann ich nicht ausstehen . « Ein offener Fiaker , in dem ein Herr und eine Dame saßen , fuhr an ihnen vorüber . » Das war ja Oskar Ehrenberg « , sagte Heinrich . » Und die Dame ? « fragte Georg und sah etwas Hellem nach , das durch die Dunkelheit leuchtete . » Kenn ' ich nicht . « Sie nahmen den Weg durch eine finstere Seitenallee . Wieder stockte das Gespräch . Endlich begann Heinrich : » Fräulein Else hat mir auf dem Auhof ein paar von Ihren Liedern vorgesungen . Einige hatte ich übrigens schon gehört , von der Bellini , glaub' ich . « Ja , die Bellini hat sie vorigen Winter in einem Konzert gesungen . « » Nun , diese Lieder und einige andre von Ihnen sang Fräulein Else . « » Wer hat sie denn begleitet ? « » Ich selbst , so gut ich eben konnte . Ich muß Ihnen übrigens sagen , lieber Baron , die Lieder haben eigentlich noch einen stärkern Eindruck auf mich gemacht , als das erstemal im Konzert , trotzdem Fräulein Else ja beträchtlich weniger Stimme und Kunstfertigkeit besitzt , als Fräulein Bellini . Andererseits muß man freilich bedenken , daß es ein prachtvoller Sommernachmittag war , an dem Fräulein Else Ihre Lieder sang . Das Fenster stand offen , man sah drüben die Berge und den tiefblauen Himmel ... aber es bleibt noch immer genug für Sie übrig . « » Sehr schmeichelhaft « , sagte Georg , von Heinrichs spöttelndem Ton peinlich berührt . » Wissen Sie « , fuhr Heinrich fort und sprach , wie er es manchmal tat , mit zusammengepreßten Zähnen und unnötig heftiger Betonung , » wissen Sie , es ist im allgemeinen nicht meine Gewohnheit , Leute , die ich zufällig auf der Straße sehe , auf den Omnibus heraufzubitten , und ich will es ihnen lieber gleich gestehen , daß ich es ... wie sagt man nur ... als einen Wink des Schicksals betrachtet habe , wie ich Sie plötzlich auf dem Stephansplatz erblickte . « Georg hörte ihn verwundert an . » Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr so gut als ich « , fuhr Heinrich fort , » an unser letztes Gespräch auf jener Ringstraßenbank . « Nun erst fiel es Georg ein , daß Heinrich damals ganz flüchtig von einem Opernstoff gesprochen , der ihn beschäftigte , worauf Georg ebenso beiläufig , und eher scherzhaft , sich als Komponisten angeboten hatte . Und absichtlich kühl entgegnete er : » Ach ja , ich erinnere mich . « » Nun , das verpflichtet Sie zu nichts « , erwiderte Heinrich noch kühler als der andere , » um so weniger , als ich , die Wahrheit zu sagen , an meinen Opernstoff überhaupt nicht mehr gedacht hatte , bis zu jenem schönen Sommernachmittag , an dem Fräulein Else Ihre Lieder sang . Wie wär's übrigens , wenn wir uns hier niederließen ? « Der Gasthausgarten , in den sie eintraten , war ziemlich leer . Heinrich und Georg nahmen in einer kleinen Laube , nächst dem grünen Staketgitter , Platz und bestellten ihr Nachtmahl . Heinrich lehnte sich zurück , streckte seine Beine aus , betrachtete Georg , der beharrlich schwieg , mit prüfenden , fast spöttischen Augen und sagte plötzlich : » Ich glaube mich übrigens nicht zu irren , wenn ich annehme , daß Ihnen die Sachen , die ich bisher gemacht habe , nicht gerade ans Herz gewachsen sind . « » O « , erwiderte Georg und errötete ein wenig , » wie kommen Sie zu dieser Ansicht ? « » Nun ich kenne meine Stücke ... und kenne Sie . « » Mich ? « fragte Georg beinahe verletzt . » Gewiß « , erwiderte Heinrich überlegen . » Übrigens habe ich den meisten Menschen gegenüber diese Empfindung und halte diese Fähigkeit sogar für meine einzige absolute , unzweifelhafte . Alle übrigen sind ziemlich problematisch , find' ich . Insbesondere ist meine sogenannte Künstlerschaft etwas durchaus mäßiges , und auch gegen meine Charaktereigenschaften wäre manches einzuwenden . Das einzige , was mir eine gewisse Sicherheit gibt , ist eigentlich nur das Bewußtsein , in menschliche Seelen hineinschauen zu können ... tief hinein , in alle , in die von Schurken und ehrlichen Leuten , in die von Frauen und Männern und Kindern , in die von Heiden , Juden , Protestanten , ja selbst in die von Katholiken , Adeligen und Deutschen , obwohl ich gehört habe , daß gerade das für unsereinen so unendlich schwer , oder sogar unmöglich sein soll . « Georg zuckte leicht zusammen . Er wußte , daß Heinrich insbesondere bei Gelegenheit seines letzten Stückes von konservativen und klerikalen Blättern persönlich aufs heftigste angegriffen worden war . Aber was geht das mich an , dachte Georg . Schon wieder einer , den man beleidigt hat ! Es war wirklich absolut ausgeschlossen , mit diesen Leuten harmlos zu verkehren . Höflich , fremd , in einer ihm selbst kaum bewußten Erinnerung an die Erwiderung des alten Herrn Rosner gegenüber dem jungen Doktor Stauber , äußerte er : » Eigentlich dachte ich mir , daß Menschen wie Sie über Angriffe von jener Art , auf die Sie offenbar anspielen , erhaben wären . « » So ... dachten Sie das ? « fragte Heinrich in dem kalten , beinahe abstoßenden Ton , der ihm manchmal eigen war . » Nun « , fuhr er milder fort , » zuweilen stimmt es ja . Aber leider nicht immer . Es braucht nicht viel dazu , um die Selbstverachtung aufzuwecken , die stets in uns schlummert ; und wenn das einmal geschehen ist , gibt es keinen Tropf und keinen Schurken , mit dem wir uns nicht innerlich gegen uns selbst verbünden . Entschuldigen Sie , wenn ich › wir ‹ sage ... « » O , ich habe schon ganz ähnliches empfunden . Freilich hatte ich noch nicht Gelegenheit , der Öffentlichkeit so oft und so exportiert gegenüberzustehen , wie Sie . « » Nun wenn auch ... ganz das Gleiche wie ich werden Sie doch niemals durchzumachen haben . « » Warum denn ? « fragte Georg ein wenig gekränkt . Heinrich sah ihm scharf ins Auge . » Sie sind der Freiherr von Wergenthin-Recco . « » O darum ! Ich bitte Sie , es gibt heutzutage eine ganze Menge Leute , die gerade deswegen gegen einen voreingenommen sind und es einem gelegentlich vorzuhalten wissen , daß man Baron ist . « » Ja , ja , aber es liegt doch ein anderer Ton darin , das werden Sie mir zugeben , und auch ein anderer Sinn , wenn man einem den Freiherrn , als wenn man einem den Juden ins Gesicht schleudert , obzwar das letztere bisweilen ... Sie verzeihen schon ... der bessere Adel sein mag . Nun , Sie brauchen mich nicht so mitleidig anzuschauen « , setzte er plötzlich grob hinzu . » Ich bin nicht immer so empfindlich . Es gibt auch andre Stimmungen , in denen mir überhaupt nichts und niemand etwas anhaben kann . Da hab ich nur dieses eine Gefühl : was wißt Ihr denn alle , was wißt Ihr denn von mir ... « Er schwieg , stolz , mit einem höhnischen Blick , der sich durch das Blätterwerk der Laube ins Dunkle bohrte . Dann wandte er den Kopf , sah ringsumher und sagte einfach , in einem neuen Ton , zu Georg : » Sehen Sie doch , wir sind bald die einzigen . « » Es wird auch recht kühl « , sagte Georg . » Ich denke , wir bummeln noch ein wenig durch den Prater . « » Gern . « Sie erhoben sich und gingen . Auf einer Wiese , an der sie vorüberkamen , lag feiner , grauer Nebel . » Bis in die Nacht hält die Sommerlüge doch nicht mehr an . Nun wird es bald endgültig vorbei sein « , sagte Heinrich mit unverhältnismäßiger Bedrücktheit , und wie zum eigenen Trost fügte er hinzu : » Nun , man wird arbeiten . « Sie kamen in den Wurstelprater . Aus den Gasthäusern tönte Musik , und Georg teilte sich sofort etwas von der fröhlich-lauten Stimmung mit , in die er nun mit einem Male aus den Traurigkeiten eines herbstlichen Wirtshausgartens und einer etwas gequälten Unterhaltung geraten war . Vor einem Ringelspiel , aus dem ein riesiger Leierkasten phantastisch-orgelhaft ein Potpourri aus dem » Troubadour « ins Freie sandte und an dessen Eingang ein Ausrufer zur Reise nach London , Atzgersdorf und Australien aufforderte , erinnerte sich Georg wieder der Frühjahrspartie mit der Ehrenbergschen Gesellschaft . Auf dieser schmalen Bank , im Innern des Raumes , war Frau Oberberger gesessen , den Kavalier des Abends , Demeter Stanzides , zur Seite und hatte ihm wahrscheinlich eine ihrer unglaublichen Geschichten erzählt : daß ihre Mutter die Geliebte eines russischen Großfürsten gewesen ; daß sie selbst mit einem Anbeter eine Nacht auf dem Hallstädter Friedhof verbracht , natürlich ohne daß etwas geschehen war ; oder daß ihr Gatte , der berühmte Reisende , in einem Harem zu Smyrna in einer Woche siebzehn Frauen erobert hatte . In diesem rotsamtgepolsterten Wägelchen , mit Hofrat Wilt als Gegenüber , hatte Else gelehnt , damenhaft anmutig , ungefähr wie in einem Fiaker am Derbytag und hatte doch verstanden , durch Haltung und Miene zum Ausdruck zu bringen , daß sie , wenn es darauf ankäme , gerade so kindlich sein konnte wie andre einfältige , glücklichere Menschen . Anna Rosner , lässig die Zügel in der Hand , würdig , aber mit einem etwas verschmitzten Gesicht , ritt einen weißen Araber ; Sissy wiegte sich auf einem Rappen , der sich nicht nur im Kreise mit den andern Tieren und Wagen drehte , sondern außerdem hin und herschaukelte . Unter der kühnen Frisur mit dem riesigen , schwarzen Federhut blitzten und lachten die frechsten Augen , über den ausgeschnittenen Lackschuhen und durchbrochenen Strümpfen flatterte und flog der weiße Rock . Auf zwei fremde Herren hatte Sissys Erscheinung so seltsam gewirkt , daß sie ihr eine unzweideutige Einladung zuriefen , worauf eine kurze , geheimnisvolle Unterhaltung zwischen Willy , der sofort zur Stelle war , und den zwei ziemlich betretenen Herren erfolgte , die anfangs durch das nonchalante Anzünden neuer Zigaretten ihre Position zu retten versuchten , aber dann plötzlich in der Menge verschwunden waren . Auch die Bude mit den » Illusionen « und Lichtbildern hatte für Georg ihre besondere Erinnerung . Hier , während Daphne sich in einen Baum verwandelte , hatte ihm Sissy ein leises » remember « ins Ohr geflüstert und ihm damit den Maskenball bei Ehrenbergs ins Gedächtnis gerufen , an dem sie , wohl nicht für ihn allein , den Spitzenschleier zu einem flüchtigen Kuß gelüftet hatte . Dann kam die Hütte , wo die ganze Gesellschaft sich hatte photographieren lassen : die drei jungen Mädchen , Anna , Else und Sissy in genienhafter Pose , die Herren mit himmelnden Augen ihnen zu Füßen , so daß das Ganze etwa ausgesehen hatte , wie die Apotheose aus einer Zauberposse . Und während Georg sich jener kleinen Erlebnisse entsann , schwebte ihm immer der heutige Abschied von Anna durch die Erinnerung und schien ihm von den angenehmsten Verheißungen erfüllt . Vor einer offenen Schießbude standen auffallend viel Leute . Bald war der Trommler ins Herz getroffen und wirbelte mit flinken Schlägen auf dem Fell , bald zersprang leise klirrend eine Glaskugel , die auf einem Wasserstrahl hin und her getanzt war , bald führte eine Marketenderin eiligst die Trompete zum Mund und blies drohend Appell , bald donnerte aus aufgesprungenem Tor eine kleine Eisenbahn , sauste über eine fliegende Brücke und wurde von einem andern Tor verschlungen . Da einige Zuschauer sich allmählich entfernten , rückten Georg und Heinrich vor und er kannten in den sichern Schützen Oskar Ehrenberg und seine Dame . Eben richtete Oskar das Gewehr auf einen Adler , der sich nahe der Decke mit ausgebreiteten Flügeln auf und ab bewegte , und fehlte zum erstenmal . Indigniert legte er die Waffe nieder , sah sich um , erblickte die beiden Herren hinter sich und begrüßte sie . Die junge Dame , das Gewehr an der Wange , warf einen flüchtigen Blick auf die Neuangekommenen , visierte gleich wieder angelegentlich und drückte ab . Der Adler ließ den getroffenen Flügel sinken und bewegte sich nicht mehr . » Bravo « , rief Oskar . Die Dame legte das Gewehr vor sich auf den Tisch hin . » Is genug « , sagte sie zu dem Jungen , der von neuem laden wollte , » g' wonnen hab ich eh . « » Wie viel Schuß warens ? « fragte Oskar . » Vierzig « , antwortete der Junge , » macht achtzig Kreuzer . Oskar griff in die Westentasche , warf einen Silbergulden hin und nahm den Dank des Ladenjungen mit Herablassung entgegen . » Erlaube « , sagte er dann , indem er beide Hände in die Seiten stützte , den Oberkörper leicht nach vorn bewegte und den linken Fuß vorwärts setzte , » erlaube Amy , daß ich dir die Herren vorstelle , welche Zeugen deiner Triumphe waren . Baron Wergenthin , Herr von Bermann ... Fräulein Amelie Reiter . « Die Herren lüfteten ihre Hüte , Amelie nickte zum Gegengruß ein paarmal hintereinander mit dem Kopf . Sie trug ein einfaches , weiß gemustertes Foulardkleid , darüber eine leichte Mantille von hellem Gelb mit Spitzen umsäumt und einen schwarzen , aber sehr vergnügten Hut . » Den Herrn von Bermann kenn ich ja « , sagte sie . Sie wandte sich an ihn : » Bei der Premiere von Ihrem Stück im vorigen Winter hab ich Sie gesehen , wie Sie herausgekommen sind sich verbeugen . Ich habe mich sehr gut unterhalten . Nicht , daß ich Ihnen das vielleicht aus Höflichkeit sag . « Heinrich dankte ernst . Sie spazierten weiter zwischen Buden , vor denen es stiller wurde , an Wirtshausgärten vorbei , die sich allmählich leerten . Oskar schob seinen rechten Arm in den linken seiner Begleiterin , dann wandte er sich an Georg : » Warum sind Sie denn heuer nicht auf dem Auhof gewesen ? Wir haben alle sehr bedauert . « » Ich war leider in wenig geselliger Stimmung . « » Natürlich , kann ich mir denken « , sagte Oskar mit dem gebotenen Ernst . » Ich war übrigens auch nur ein paar Wochen dort . Im August hab ich meine müden Glieder in den Wogen der Nordsee gestärkt , ich war nämlich auf der Isle of Wight . « » Dort soll es ja sehr schön sein « , sagte Georg , » wer geht denn nur immer hin ? « » Die Wyners , meinen Sie « , erwiderte Oskar . » Wenigstens wie sie noch in London gelebt haben , sind sie regelmäßig dort gewesen . Jetzt nur mehr alle zwei , drei Jahre . « » Aber das Ypsilon haben sie auch für Österreich beibehalten « , sagte Georg lächelnd . Oskar blieb ernst . » Der alte Herr Wyner « , erwiderte er » hat sich sein Recht auf das Ypsilon ehrlich erworben . Er ist schon in seinem dreizehnten Jahr nach England gekommen , hat sich dort naturalisieren lassen und als ganz junger Mensch ist er Kompagnon der großen Stahlfabrik geworden , die jetzt noch immer Black und Wyner heißt . « » Aber seine Frau hat er sich doch aus Wien geholt ? « » Ja . Und wie er vor sieben oder acht Jahren gestorben ist , ist sie mit den zwei Kindern hierher übersiedelt . Aber James wird sich hier nie eingewöhnen ... der Lord Antinous , Sie wissen ja , daß Frau Oberberger ihn so nennt . Jetzt ist er wieder in Cambridge , wo er seltsamerweise griechische Philologie studiert . Im übrigen ist auch Demeter ein paar Tage in Ventnor gewesen . « » Stanzides ? « ergänzte Georg . » Kennen Sie den Herrn von Stanzides , Herr Baron ? « fragte Amy . Jawohl . « » Also existiert er richtig « , rief sie aus . » Ja aber hörst du « , sagte Oskar . » Heuer im Frühjahr hat sie in der Freudenau auf ihn gesetzt und hat eine Masse Geld gewonnen , und jetzt fragt sie , ob er existiert . « » Warum zweifeln Sie denn an der Existenz von Stanzides , Fräulein ? « fragte Georg . » Ja wissen Sie , alleweil , wenn ich nicht weiß , wo er is , der Oskar , heißts : ich hab ein Rendezvous mit'n Stanzides , oder : ich reit mit'n Stanzides in' Prater . Stanzides hin , Stanzides her , es klingt mehr wie eine Ausred , als wie ein Nam. « » Jetzt schweig aber endlich einmal still « , sagte Oskar mild . » Stanzides existiert nicht nur « , erklärte Georg , » sondern er hat den schönsten , schwarzen Schnurrbart und die glühendsten schwarzen Augen , die es überhaupt gibt . « » Das is schon möglich , aber wie ich ihn g'sehn hab , hat er ausg'schaut wie ein Wurstel . Gelber Janker , grünes Kappel , violette Schleifen . « » Und sie hat vierzig Gulden auf ihn gewonnen « , ergänzte Oskar humoristisch . » Wo sind die vierzig Gulden « , seufzte Fräulein Amelie ... Plötzlich blieb sie stehen und rief : » Da bin ich aber noch nie mitgefahren . « » Das kann ja nachgeholt werden « , sagte Oskar einfach . Es war das Riesenrad , das sich vor ihnen mit seinen beleuchteten Wagen langsam , majestätisch drehte . Die jungen Leute passierten das Tourniquet , stiegen in ein leeres Kupee und schwebten empor . » Wissen Sie , Georg , wen ich heuer im Sommer kennen gelernt habe ? « sagte Oskar , » den Prinzen von Guastalla . » Welchen ? « fragte Georg . » Den jüngsten natürlich , Karl Friedrich . Er ist inkognito dort gewesen . Er ist sehr gut mit dem Stanzides , ein merkwürdiger Mensch . Ich kann Sie versichern « , setzte er leise hinzu , » wenn unsereins den hundertsten Teil von den Sachen reden möcht wie der Prinz , wir kämen unser Lebtag aus dem schweren Kerker nicht heraus . « » Schau Oskar « , rief Amy , » die Tische und die Leut da unten ! Wie aus einem Schachterl , nicht wahr ? Und die Masse Lichter dort , ganz weit , da gehts sicher nach Prag . Glauben S ' nicht , Herr Bermann ? « Möglich « , erwiderte Heinrich und starrte mit gefalteter Stirn durch die gläserne Wand in die Nacht hinaus . Als sie das Kupee verließen und ins Freie traten , war der Sonntagslärm im Verrauschen . » Die Kleine « , sagte Oskar Ehrenberg zu Georg , während Amy mit Heinrich vorausging , » die ahnt auch nicht , daß wir heute das letztemal zusammen im Prater spazieren gehen . « » Warum denn das letztemal ? « fragte Georg ohne tieferes Interesse . » Es muß sein « , erwiderte Oskar . » Solche Sachen dürfen nicht länger dauern als höchstens ein Jahr . Sie können sich übrigens vom Dezember an bei ihr Ihre Handschuhe kaufen « , fügte er heiter , aber nicht ohne Wehmut hinzu . » Ich richte ihr nämlich ein kleines Geschäft ein . Das bin ich ihr gewissermaßen schuldig , denn ich hab sie aus einer ziemlich sichern Situation herausgerissen . « » Aus einer sichern ? « » Ja , sie war verlobt . Mit einem Etuimacher . Haben Sie gewußt , daß es das gibt ? « Indessen war Amy und Heinrich vor einer Wendeltreppe stehen geblieben , die eng und kühn zu einem Plateau hinaufführte , und erwarteten die andern . Alle waren darüber einig , daß man den Prater nicht verlassen durfte , ohne auf der Rutschbahn gefahren zu sein . Sie sausten durchs Dunkel , hinab und wieder hinauf , im dröhnenden Wagen , unter schwarzen Wipfeln ; und dem dumpf rhythmischen Lärm entklang für Georg allmählich ein groteskes Motiv im Dreivierteltakt . Während er mit den andern die Wendeltreppe hinabstieg , wußte er auch schon , daß die Melodie von Oboe und Klarinette gebracht und von Cello und Kontrabaß begleitet werden müsse . Offenbar war es ein Scherzo , vielleicht für eine Symphonie . » Wenn ich ein Unternehmer wäre « , erklärte Heinrich mit Entschiedenheit , » so ließ ich eine Rutschbahn bauen , viele Meilen lang , die ginge über Wiesen , Abhänge , durch Wälder , Tanzsäle ; auch für Überraschungen auf dem Weg wäre gesorgt . « Jedenfalls , so fand er weiter , wäre nun die Zeit gekommen , das phantastische Element im Wurstelprater zu höherer Entfaltung zu bringen . Er selbst hätte vorläufig die Idee für ein Ringelspiel , das sich hoch und durch einen merkwürdigen Mechanismus , spiralig immer höher über den Erdboden drehen müsse , um endlich in einer Art von Turmspitze anzulangen . Leider mangelten ihm die notwendigen technischen Vorkenntnisse zur näheren Erklärung . Im Weitergehen erfand er burleske Figuren und Gruppen für die Schießbuden und sprach endlich die dringende Forderung nach einem großartigen Kasperltheater aus , für das originelle Dichter tiefsinnig-heitere Stücke entwerfen müßten . So war man an den Ausgang des Praters gelangt , wo Oskars Wagen wartete . Gedrängt , aber gut gelaunt fuhren sie nach einem Weinrestaurant in der Stadt . In einem separierten Zimmer ließ Oskar Champagner auftragen . Georg setzte sich ans Klavier und phantasierte über das Thema , das ihm auf der Rutschbahn eingefallen war . Amy lehnte in der Divanecke , und Oskar flüsterte ihr allerhand ins Ohr , worüber sie lachen mußte . Heinrich war wieder stumm geworden und drehte sein Glas langsam zwischen den Fingern hin und her . Plötzlich hielt Georg im Spielen inne und ließ die Hände auf den Tasten liegen . Ein Gefühl von der Traumhaftigkeit und Zwecklosigkeit des Daseins kam über ihn , wie manchmal , wenn er Wein getrunken hatte . Viele Tage war es her , daß er eine schlecht beleuchtete Treppe in der Paulanergasse hinuntergegangen war , und der Spaziergang mit Heinrich durch die herbstdunkle Allee lag in fernster Vergangenheit . Hingegen erinnerte er sich plötzlich so lebhaft , als wär es gestern gewesen , eines sehr jungen und sehr verdorbenen Wesens , mit dem er vor vielen Jahren ein paar Wochen in heiter-unsinniger Art verbracht hatte , etwa so wie Oskar Ehrenberg jetzt mit Amy . Eines Abends hatte sie ihn auf der Straße zu lange warten lassen , ungeduldig war er fort gegangen und hatte nie wieder etwas von ihr gehört oder gesehen . Wie leicht sich das Leben zuweilen anließ ... Er hörte das leise Lachen Amys , wandte sich und sein Blick begegnete den Augen Oskars , die über den blonden Kopf Amys hinweg die seinen suchten . Er empfand diesen Blick als ärgerlich , wich ihm absichtlich aus und schlug wieder einige Töne an , in volksliedartiger , melancholischer Weise . Er spürte Lust , all das aufzuzeichnen , was ihm heute eingefallen war , und sah auf die Uhr , die über der Tür hing . Es war eins vorbei . Dann verständigte er sich mit Heinrich durch einen Blick , und beide erhoben sich . Oskar deutete auf Amy , die an seiner Schulter eingeschlummert war , und gab durch ein lächelndes Achselzucken zu verstehen , daß er unter diesen Umständen noch nicht ans Fortgehen denken könne . Die beiden andern reichten ihm die Hände , flüsterten ihm gute Nacht zu und entfernten sich . Wissen Sie , was ich getan hab « , sagte Heinrich , » während Sie auf dem gräßlichen Pianino so wunderhübsch phantasierten ? Ich hab versucht mir den Stoff zurecht zu legen , von dem ich Ihnen im Frühjahr gesprochen hab . « » Ah den Opernstoff ! Das ist ja interessant . Wollen Sie ihn mir nicht einmal erzählen ? « Heinrich schüttelte den Kopf . » Ich möchte schon , aber das Malheur ist nur , wie sich eben herausgestellt hat , daß er eigentlich gar nicht vorhanden ist . Wie die meisten andern von meinen sogenannten Stoffen . « Georg sah ihn fragend an . » Im Frühjahr , wie wir uns das letztemal gesehen haben , da hatten Sie ja eine ganze Menge vor . « » Ja aufnotiert ist gar viel . Aber heut ist nichts mehr davon da als Sätze ... Nein , Worte ! Nein , Buchstaben auf weißem Papier . Es ist geradeso , wie wenn eine Totenhand alles berührt hätte .